Ulrich Hegner
Die Molkenkur
Ulrich Hegner

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Es war eine helle Mondnacht, als Gustav das Schloß verließ, allein und voll Trauer, er wollte von niemand begleitet sein, selbst nicht vom Professor. Das Pferd des Obersten, das er mitnahm, versprach er von Konstanz zurückzuschicken.

So ritt er langsam weiter, durch schweigende Dörfer und das Schattengewirre der Bäume, der unwiderstehliche Friedenszauber des stillen Mondenlichtes hatte nach und nach seine stürmischen Gefühle in weiche Wehmut aufgelöst. – Aber verloren in den Träumen der Vergangenheit war er schon geraume Zeit von der rechten Straße abgekommen, er geriet an das Wasser und da er in der Nähe Licht sah und in der Beglaubigung war, daß jenes nur der seichte Abfluß des ausgetretenen Rheins war, wo er, längs demselben hinreitend, den Weg wieder finden müsse, stürzte er jählings in die Tiefe des Stromes.

Der Fährmann, denn das Licht war in seiner Wohnung, hatte den Reiter gehört und sich aufgemacht in der Meinung, daß derselbe hinüber geführt sein wolle. Er hörte nun auch den Sturz und den Schrei des Sinkenden, und wie er sich näherte, erblickte er das Pferd, das sich aus dem Fluß losarbeitete, ans Land kam und einen Menschen, der mit dem Fuß in dem Steigbügel hing, hinter sich her zog. Es gelang ihm, das ermüdete Pferd aufzuhalten und den Verunglückten los zu machen, der kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Unverzüglich weckte er seine Tochter, schickte sie nach Hilfe in das benachbarte Dorf und bemühte sich indessen, den Unglücklichen ganz aufs Trockene zu bringen und zu forschen, ob wirklich kein Leben mehr in ihm zu finden sei.

Hilfe war bald da, der Pfarrer des Ortes war der ersten einer, die auf den Platz kamen. Schon das Rütteln und die Bemühungen des wackeren Fährmanns hatten einige leise Spuren des Lebens bei dem armen Gustav wieder zu wecken geschienen. Der Pfarrer ließ ihn auf einer Bahre in sein Haus tragen, warme Tücher wurden zurechtgemacht und alle Hilfsmittel, die ihm bekannt und zur Hand waren angewandt, bis es ihm gelang, dem Scheintoten wieder Atem und Bewegung zu geben. Aber Rede war noch keine bei ihm, er lag in völliger Betäubung.

Bald war er als eine Person aus dem nicht fernen Schlosse Grünenstein erkannt; Botschaft eilte ohne gehörige Vorsicht dahin, das ganze Schloß wurde aufgeschreckt. – Welch ein Morgengruß für die Freunde, für die aus ängstlichen Träumen erwachende Geliebte, der man die allgemeine Bestürzung nicht verbergen konnte, nicht verhehlen, daß ein Unfall den scheidenden Gustav betroffen habe! – War erst ihr Schmerz groß über die Trennung, so war jetzt ihr Leid unermeßlich. Sie hielt ihn für verloren, wollte ihn tot noch einmal sehen, mit ihm ins Grab. Kaum konnten die Freundinnen sie zurückhalten, daß sie nicht nacheilte dem Professor und dem Prediger, die sich sogleich zu dem Verunglückten auf den Weg gemacht hatten.

Diese fanden ihn zwischen Tod und Leben. Ein Wundarzt, der aus der Nachbarschaft herbeigeholt wurde, machte jedoch Hoffnung und brachte es durch angestrengte Bemühung dahin, daß er gegen Mittag wieder zur Besinnung kam und die Besuchenden es wagten, den tröstlichen Bericht nach Grünenstein zu senden, er könne wahrscheinlich gerettet werden. Diese schwankende Versicherung des Arztes vermochte den Professor desselben Tages noch in dem Wägelchen des Pfarrers nach Sennwald zu eilen, um den Obersten mit dem unglücklichen Vorfalle bekannt zu machen, ehe fremdes Gerede ihm zuvorkäme. Den Prediger ließ er bei dem Kranken.

Inzwischen erholte sich Gustav merklich, blieb aber doch noch sehr schwach und erst jetzt zeigte es sich, daß durch das Hängen im Steigbügel sein Fuß auf eine gewalttätige Weise aus dem Gelenke getrieben worden. Aber nun stellte sich ein heftiges Fieber ein, so daß der Landarzt sich nicht getraute, etwas an dem verrenkten Fuße zu machen, sondern noch geschicktere Mithilfe begehrte, wozu auch bereits Anstalt getroffen war.

Noch ehe der Tag verging, waren schon mehrere Boten aus Grünenstein gekommen, um sich nach dem Befinden Gustavs zu erkundigen; aber die Berichte entsprachen nicht dem Wunsche und machten den Zustand des liebenden Mädchens desto bedauernswerter. Es war ein Jammer, gegen den die teilnehmendste Freundschaft nichts vermochte. Sie klagte nicht, sie sprach nicht, nannte seinen Namen nicht, aber ihr Blick war immer in die Ferne gerichtet, als sähe sie etwas jenseits der Wände; bald rang sie die Arme wie im Gebet, das Zimmer auf und niedergehend, bald saß sie bewegungslos auf dem Bette, und stille Tränen quollen über die blassen Wangen, fuhr dann wieder schreckensvoll auf und verbarg ihr Gesicht am Busen der Freundin. Eine Nacht unendlicher Trauer.

Der Morgen mit seinem erheiternden Lichte kam und brachte auch bessere Nachricht von dem Zustande des Jünglings. Eine große Wohltat für sie und alle, denn ihre Kräfte hätten die steigende Besorgnis nicht länger ertragen mögen und täuschen konnte man sie nicht, weil sie jeden Bericht unmittelbar von dem Überbringer selbst vernehmen wollte.

Vor dem Mittag langte auch schon der Oberst an, der ohne dieses Unglück nicht so leicht von Sennwald wegzubringen gewesen wäre, indem ihm, durch eine unerwartete Entdeckung, der Engländer näher an das Herz gerückt worden. Dieser hatte nämlich von dem deutschen Arzte, der ihn pflegte, den Namen und Stand des Obersten erfahren und da er von seinem Vater, der ein englisches Kommando in Amerika gehabt, öfters gehört hatte, daß er mit einem deutschen Offizier, der so hieß, in vertrauter Bekanntschaft gestanden, so machte ihn das in den traurigen Tagen seines Schmerzenslagers begierig, einen Mann um sich zu haben, dem er sich in seiner Landessprache anvertrauen könnte und der wahrscheinlich ein Freund seines Vaters gewesen war. Er ließ deswegen, ohne etwas von seiner Vermutung zu sagen, durch den Arzt den Wunsch äußern, den Obersten zu sprechen. Dieser kam, und als sich die Mutmaßung des Engländers bewährte und er in demselben den Sohn seines ehemaligen Kriegsgefährten wirklich erkannte, so ließ er sich die Gelegenheit nicht entgehen, den jungen Wildfang, den ohnehin Schmerz und Einsamkeit besserer Weisung empfänglich gemacht hatten, zurückzuführen auf den Weg vernünftiger Ansicht seiner selbst und des Lebens und ihm das Erlittene als die Sühne seiner Verirrungen begreiflich zu machen. Es wurde ihm leicht, sein Zutrauen zu gewinnen und mit väterlichem Ansehen, dem der Sohn des Freundes gerne huldigte, noch manches von der harten Hülle, die seine edlere Natur umzogen hatte, abzustreifen. Demnach ward, um die ganze Kur äußerlich und innerlich zu vollenden, gemeinschaftlich (auch ohne Rücksicht auf den Vorwand wegen Gustav) beschlossen, daß der junge Mann als ein Freund des Hauses nach Grünenstein kommen sollte, sobald seine Brustwunde, und was ihn, obgleich weniger bedeutend, mehr zurückhielt, sein noch durch Verband entstelltes Gesicht es gestattete.

Da kam die unerwartete Erscheinung des Professors. Es bedurfte keiner Erinnerung, dem Obersten, sobald er das Unglück Gustavs vernommen, die schnelle Rückkehr nach Grünenstein notwendig zu machen; mit dem anbrechenden Morgen reiste er ab und der deutsche Arzt, der dem Engländer nicht mehr durchaus unentbehrlich war, nahm den Weg nach dem Dorfe, wo Gustav lag.

Es gibt Menschen, die von Kleinigkeiten niedergedrückt, von bedeutenden Widerwärtigkeiten hingegen gehoben werden, so der Oberst. Wir sollen, sagte er unterwegs zum Professor, die schönen Tage nicht haben, die wir uns geträumt, ein Nebel der Trübsal will sich auf uns niederlassen. Er komme: Über dem Nebel wandeln doch Sonne, Mond und Sterne in ungestörtem Frieden; was ist unser Geist, wenn ihn vorüberziehende Wolken ängstigen? Daß wir in der Not die Richtung nicht verlieren, das soll unsere Sorge sein! – Helfen Sie mir steuern, lieber Mann, fuhr er fort und ergriff die Hand des Freundes, mit Ihrem Beistande will ich durchkommen.

Der Professor antwortete nur mit einem treugesinnten Händedruck und bald hernach sprach er: Böse Tage sind oft in der Rückerinnerung die schönsten, wenigstens reden wir meist von denselben mit mehr Empfindung als von den guten, weil wir so manche lehrreiche Erfahrung an sie knüpfen. Nicht so wohl Widerstand, als mannhafter Überstand, wendet das Übel zur Wohltat.

 
Brief des Obersten an den Major von...

Grünenstein, 7. September

Nichts hätte mir erwünschter sein können, als Deine Nachricht von dem Wiederaufleben meiner Schwester, denn das Gegenteil hätte mich in der jetzigen Lage zu Grabe gedrückt, um so viel mehr, da Du sagst, sie habe auf unbekanntem Wege von dem hiesigen Verweilen Gustavs Kenntnis erhalten und Worte des Mißfallens darüber hören lassen. Dabei hat sie gewiß auch meinen Leichtsinn angeklagt und wie, wenn sie mit dieser Klage aus der Welt gegangen wäre! – Gott sei gedankt, daß wenigstens diese Last des Kummers von mir genommen ist, ich habe dessen ohnehin noch genug! Höre nur und behalte was ich Dir schreibe in Deiner verschwiegenen Seele, ich werde meiner Schwester schon das Nötige melden und dem Pastor auch.

Der junge Mann verließ, der getroffenen Einlenkung gemäß, das Schloß. Er tat es bei Nacht, stürzte zwei Stunden von hier mit dem Pferde in den Strom des Rheins, wurde für tot herausgezogen und liegt nun, zwar wieder auf der Besserung aber mit verrenktem Fuße, bei dem Pfarrer des Ortes, wo sich das Unglück zutrug. In Sennwald erhielt ich die Nachricht, sandte sogleich den anwesenden Arzt dem Unglücklichen zu Hilfe und eilte vorerst auf Grünenstein zurück, weil ich wohl vermuten konnte, der Vorfall müsse einen erschütternden Eindruck auf Clotilden gemacht haben. So fand ich es auch. Zwar waren kurz vor meiner Ankunft erträglich gute Nachrichten von Gustavs Befinden eingegangen, aber es hieß, das Fräulein wolle sie nicht glauben, und man schilderte mir ihren Zustand höchst beunruhigend, deshalb wollten mich die Frauen aus einfältiger Sorgfalt nicht zu ihr lassen, und mancherlei Bedenklichkeiten, die man einem nicht gern ins Gesicht sagt, malten sich auf ihren ängstlichen Mienen.

Soll ich mein liebes Kind nicht sehen? rief ich: Glaubt ihr etwa, Clotilde werde mich scheuen, oder gar mir Vorwürfe machen? Da kenn' ich sie besser, in welcher Lage sie auch sei, nie wird ihr Herz über ihren Oheim erschrecken, nie ihm Schuld geben, was das Schicksal allein getan und keine Vernunft voraussehen konnte! – Und damit drängte ich mich in ihr Zimmer und schloß die Türe hinter mir zu.

Sie lag auf dem Bette, blaß und erschöpft, stand jedoch hastig auf, als sie mich erblickte und schlang ihre Arme um meinen Hals und netzte meine Brust mit Tränen: Mein Vater! mein Wohltäter! ... Jetzt erst kann ich weinen ... Was macht er? ... Soll ich mich schämen? darf ich ihn nennen? Ist er tot?

Nenn' ihn, nenne ihn wie du willst, liebe Seele, rief ich tief gerührt: Aber erhole dich, Gustav lebt, du wirst ihn bald wieder sehen. Sei stark, sei getrost!

Wird er nicht sterben? sagte sie in gebrochenem Tone ... Gewiß nicht? ... und sah nach mir auf mit einem Blicke zweifelnder Wehmut.

Könnt' ich meinem Herzenskinde Unwahrheit vorgeben, in diesem Augenblicke? sagte ich und führte sie zu einem Ruhesitze, mich neben sie niederlassend: Unser Gustav ist außer Gefahr, sei nur ruhig!

Aber ihre ganze Seele war bewegt, sie fiel auf die Knie, ergriff meine Hand, ein Strom von Tränen floß darauf. Ich wollte sie aufrichten: Lassen Sie mich, sagte sie, es ist mir Erleichterung ... Aber warum gibt mir mein Vater keine Verweise? Warum zürnt er nicht dem ungehorsamen Kinde, das ihn hintergangen, das an dem Unglücke schuld ist? – Sie bog ihr Gesicht auf meine Knie.

Ich nahm sie in meinen Arm, drückte sie an mein Herz; das Sprechen kam mir schwer an: Du bist an keinem Unglücke schuld, liebes Mädchen! verbanne diese Gedanken. Keine Vorwürfe sollen das Heiligtum unserer Liebe entweihen ... Wir sind schwache, aber keine böse Menschen ... Das Verhängnis steht in der Macht des Herrn ... Sieh, heute noch besuche ich den Kranken und bringe ihm gute Worte, auch von dir ... Es würde ihm leid tun zu hören, daß du kleinmütig seist. –

Sie wurde nach und nach ruhiger. Nächst der Versicherung von Gustavs Wiederaufkommen war ihr auch durch mein Betragen ein Stein vom Herzen gewälzt; das edle Geschöpf, statt an Vorwürfe gegen mich zu denken, hatte sie dieselben von mir erwartet, schrieb sich selbst das Übel zu.

Ich übergab sie den ängstlich harrenden Freundinnen, die bald mit großem Vergnügen eine auffallende Veränderung in ihrer Gemütsstimmung wahrnahmen. – Gleich nach Tische fuhr ich dahin, wo sich Gustav befand.

Der deutsche Arzt war schon da und machte mit seinen anwesenden Kunstgehilfen Anstalt, dem Leidenden den verrenkten Fuß einzuziehen, weil er ihm große Schmerzen verursachte, die das Fieber vermehrten. Als ich vor sein Bett trat, reichte er mir die Hand entgegen: Ich habe gebüßt, gnädiger Herr, etwas von meiner Schuld ist abgetragen ...

Nicht so, lieber Gustav! nicht so! unterbrach ich ihn: Ich verlange keine Büßung, sondern daß du gesund und glücklich seist. – Er seufzte, lächelte und schwieg.

Ich setzte mich neben ihn: Clotilde wünscht es auch, sagte ich.

Weiß sie etwas von meinem Begegnis? erwiderte er lebhaft: Es hätte ihr weh getan, wenn ich ... Noch war es nicht meine Stunde. Was macht sie?

Ihr ernstes Verlangen ist, dich bald gesund nicht nur zu wissen, sondern auch zu sehen, darum pflege jetzt ruhig deiner Genesung, damit auch sie Ruhe habe. Wir erwarten es alle, alle von dir.

Er küßte mir die Hand: Nie habe ich Ihre Güte mißkannt, edler Mann, und ... wer aus den Armen des Todes kommt, muß frei reden ... auch nie mißbraucht. Nur der Schein der Welt mag gegen mich sein, was ist aber dieser Schein?

Für Freunde ist er nichts, lieber Gustav, sagte ich ... und wir sind Freunde. Beruhige also dein Gemüt, damit auch dein Vater erfreuliche Berichte erfahre.

Ihr guter Geist sorge für meinen Vater! Ich bin zu allem bereit, was die, die mich lieben, befriedigen kann.

Da die Ärzte auf Beschleunigung der Operation drangen, wurde sie jetzt vorgenommen, und da Gustav den Wunsch äußerte, daß ich zugegen sein möchte, so mußte ich es mir gefallen lassen, so nahe es mir ging. – Er hielt während der ganzen Verrichtung mit seinen beiden Händen die meinige gefaßt und harrte standhaft aus, wiewohl es lange währte und die Schmerzen groß waren, denn das Gelenk war übel zerrissen. Halb ohnmächtig wurde er nun im Bette zurecht gelegt, doch der deutsche Arzt (wahrhaft ein geschickter Mann) spricht mit Zuversicht von kurzer Frist der Heilung.

Nun bin ich wieder hier in Grünenstein und suche mich von allen diesen Anstrengungen, die mein bißchen Kraft beinahe erschöpft haben, zu sammeln. Es ist doch nun alles insofern in der Ordnung, daß die Gemüter sich wieder zur Gelassenheit kehren und kein neuer Ausbruch eines Sturmes droht und ich wieder mit dem Professor ruhig unter der Linde sitze. Soweit ist es mit unseren seligen Idealen gekommen, daß wir jetzt herzlich gern mit dieser negativen Ruhe vorliebnehmen und uns der Überzeugung ergeben, Gott habe aller Seligkeit hienieden das Wörtlein «Mühe» vorgesetzt, um sie menschlich zu machen.

Aber was ist mit den Kindern anzufangen? – Ich habe Dir mit Fleiß so umständlich über ihr beidseitiges Benehmen geschrieben, auf daß Du selbst urteilen mögest, ob ich anders hätte reden und handeln können. Ich sehe nun erst, wie tief ihre Liebe gewurzelt, wie fest das Band ist, das ihre Seelen umschlingt; Du hast vernommen, wie Clotildes Leben auf seinem Dasein ruht, und ich gestehe Dir, die Fassung und die mutvolle Sprache des Jünglings auf seinem Leidenslager haben, so unerwartet sie auch waren, ihm mein Herz noch mehr zugewandt. Dies Band zu zerreißen war außer meiner Macht und ist jetzt auch außer meinem Willen, ein neues Unheil müßte dessen Folge sein, da sei Gott vor! – Sage die Welt was sie wolle, was kümmert mich die Welt! Aber die Mutter, eine Frau von hohem Stande, oh, die wird nimmermehr einwilligen und Clotilde ist ihr Kind, nicht das meine, wird nicht eines von ihnen darüber zu Grunde gehen? Dieser Gedanke liegt schwer auf mir. – Freund, Lieber, Einziger! Da mußt Du helfen und raten und vor allen Dingen zu verhüten suchen, daß sie etwas von der Geschichte erfahre. Das meint auch der Professor: Aber darauf können Sie sich nicht verlassen, sagt er, das Gerücht hat magische Flügel, die es auf unbegreifliche Weise über Raum und Zeit hinwegtragen. – Das ist wahr, wie hätte sonst meine Schwester schon etwas ahnen und so plötzlich, wie Du meldest, auf den Einfall kommen können, ihre Tochter wieder bei sich zu haben? Es wäre denn, sie hätte den Absichten des Grafen B. Gehör gegeben, denen ich im Notfall schon begegnen wollte. – Indes müssen wir doch tun, was in unserem menschlichen Vermögen liegt, alles Unheil abzuwenden. Sage ihr fördersamst, ich sei selbst gesinnet, nicht mehr lange hier zu verweilen, denn der Herbst ist vor der Türe und mit ihm will ich scheiden, nur muß ich erst wieder zu Kräften kommen, ich bin ein alter Mann und fühle mich von der Mühe und Arbeit dieser letzten Tage sehr abgemattet.

Es hatte nun wirklich im Schlosse alles wieder seinen ruhigen Gang angenommen, Clotilde blühte wieder auf in stiller Freude über Gustavs Besserung und über des Oheims väterliche Milde, und die Freundinnen waren durch die schmerzlichen Vorfälle zu höherer Einfalt gestimmt und noch vertrauter unter sich geworden. Nur der Oberst fing an zu kränkeln, die heftigen Gemütsbewegungen, die unzeitigen Anstrengungen hatten ihn doch angegriffen. Er achtete anfänglich wenig darauf, erschrak aber fast, als sich das Übel auf die Brust werfen wollte, bis es sich zu seinem alten Feinde oder Freunde (bald gab er ihm diesen, bald jenen Namen) dem Podagra entschied, da ward er wiederum fröhlich: Ist's nur das? sagte er, dagegen kenne ich längst die besten Arzneien, ich decke meine Leiden mit dem Mantel der Geduld, Ihr sollt sehen, wie ich mich in dieses Gewand zu hüllen weiß!

Doch die Bewunderung wollte seiner Erwartung nicht immer entsprechen, es währte nicht lange, so nannte die Base, die ihm vorlesen mußte, jenes Gewand einen unsichtbaren Mantel. Nein, sagte die Chanoinesse, ich sehe den Mantel wohl, aber er ist ihm zu enge und bekommt zuweilen Risse. Gustav mag wohl gelassener sein, flüsterte Suschen zu Clotilde. Und Tobias versicherte die Kammermädchen, solange der gnädige Herr nicht auffahre, sei er recht geduldig.

Wir wollen billig sein, entschied der Professor: Geduld ist eine schweigende Tugend, die in der Gegenwart wenig Aufsehen macht und desto mehr in ihrer Abwesenheit vermißt und gepriesen wird. Daher sind die Geduldigen auch übel daran, denn sobald sie nur ein einziges Mal auffahren, wird nicht mehr an das gedacht, was sie stillschweigend ertragen haben.

Wirklich ertrug der Oberst seine Schmerzen, wenn auch nicht immer mit Geduld, doch mit Mut. Nur darin wich er von seiner gewohnten Stimmung ab, daß er manchmal über Sachen, die er in gesunden Tagen scherzweise aufgenommen hatte, sich jetzt ärgerte; so bekam denn freilich jedermann etwas zu hören. Selbst den deutschen Arzt, zu dem er doch viel Vertrauen gefaßt hatte, fuhr er etwas derb an, als dieser ihn in einer Stunde des Schmerzes besuchte und, wie er selten umhin konnte, gelehrt zu reden anfing und von «depotenzierter Nerventätigkeit, als dem Zustande der Hypochondrie, der durch den Prozeß der Desoxygenation in seine höchste Potenz gesteigert werde» sprach. Heilen Sie mich, wenn Sie können, rief der Patient ergrimmt, aber um Himmels willen verschonen Sie mich mit Ihren Potenzen! Ich will noch lieber hören, was Hippokrates auf griechisch gesagt hat, wenn ich es schon nicht verstehe, so kann ich doch denken, es ist etwas Gründliches. Aber hinter diesen sublimierten Prachtswörtern steckt nichts als Vornehmtun, denn ich bin überzeugt, man könnte sie meist alle auf einfache schon bekannte Ausdrücke zurückbringen. – Nichts für ungut, lieber Doktor! tat er jedoch bald darauf, als der Schmerz heftiger wurde, hinzu: ich bin eben aus der alten Schule, die für alles einen verständlichen Namen suchte und in eine neue mag ich nicht mehr gehen, als allenfalls in die Schule der Notwendigkeit, wo man zum Lernen nie zu alt ist.

In dieser Zeit, als der Oberst hier und Gustav dort krank lagen und der deutsche Arzt darum nur selten nach Sennwald hinkam, hatte der Engländer Langeweile bekommen und wurde begierig, das Leben auf Grünenstein, worüber er von dem Obersten und dem Arzte so viel Anziehendes gehört und in seiner Einsamkeit noch mehr geträumt hatte, mit eigenen Augen zu sehen. Da er es aber noch nicht wagte, sein Gesicht den Frauenzimmern zu zeigen, entschloß er sich, ohne jemand ein Wort zu sagen, einstweilen sein neues Leben damit anzufangen, daß er den, welchen er bisher als einen Feind betrachtet hatte, sich nunmehr zum Freunde zu machen suche, den jungen Mann, der gleich ihm dem Tode entronnen, die angebotene Versöhnung wohl nicht verschmähen werde. Er ließ sich also insgeheim in das Pfarrhaus bringen, wo sich Gustav aufhielt, fand dort auch noch ein Plätzchen und bald ward die Freundschaft geschlossen, welches unter jungen Leuten, die ein auffallendes Verhängnis vereinigt, eben nicht schwer ist.

Verborgen konnte er aber daselbst nicht bleiben, da immerfort Leute von dem Dorfe und von Grünenstein hin und her gingen. Sobald es also auf dem Schlosse bekannt war, daß der Engländer bei Gustav sei, so wurde die weibliche Neugier rege, und die Freundinnen beschlossen, einen Besuch, den Clotilde, nur von Suschen und dem Prediger begleitet, auf dem Dorfe hatte machen wollen, nunmehr in Gesamtheit abzustatten. Von dem Obersten war kein Hindernis zu besorgen, denn wie nach dem Sturme die Stille, so war jetzt auch ein feierliches Schweigen über die Angelegenheiten der Liebe eingetreten; es war, als wenn sich alles das Wort gegeben hätte, die Sache mit keiner Silbe zu berühren und doch war es keine Verabredung. Von Gustav sprach jedermann, selbst der Oberst, als von dem Freunde des Hauses mit der größten Teilnahme; Clotilde wurde mit zärtlicher Schonung behandelt, der glückliche Erfolg der Liebe war kein bloßer Wunsch mehr, sondern eine stillschweigende Voraussetzung. Man fühlte aber, daß man jetzt den guten Geist des väterlichen Oheims müsse walten lassen, dem jedoch nicht so sehr die Sache, als das Wie? derselben noch manches Bedenken erregte.

Da Gustavs Aufenthalt nur ein paar Stunden entfernt lag, so wurde der Besuch auf einen Nachmittag veranstaltet. Den Prediger schickte man als Eilreiter voraus, um den Kranken darauf vorzubereiten, da er aber Kürze halber einen Fußsteig eingeschlagen hatte, auf dem er nach einigen vergeblichen Versuchen nicht mehr fortkommen konnte, so war er genötigt zurückzureiten, so daß der Wagen geraume Zeit vor ihm im Dorfe anlangte und seine sorgsame Braut sich schon ängstlichen Gedanken hingab, bis er endlich in gestrecktem Galopp herangeflogen kam, um sie zu beruhigen.

Die Freundinnen hatten unterwegs, weil sie wußten oder ahnten, daß die Mehrzahl den Liebenden lästig sei, ausgemacht, Clotilde müsse anfänglich nur von einer Person begleitet vor Gustav erscheinen, da aber jede wünschte diese Person zu sein, so vereinigten sie sich darüber zum Lose und dieses fiel der Chanoinesse zu.

Es war ein warmer Septembertag, der Engländer saß auf einer Bank vor dem Hause und sah des Pfarrers Kindern zu, als die Kutsche um die Ecke des Hauses vorgefahren kam. Zum Entschlüpfen war es zu spät und der Anstand erforderte, den Frauen aus dem Wagen zu helfen, somit ward er erkannt und in die Bekanntschaft eingeführt, ehe er daran gedacht hatte. Sie erfuhren von ihm, daß der Kranke schlafe, übrigens, den noch unbeweglichen Fuß abgerechnet, sich wohl befinde.

Das Geräusch unserer Ankunft wird ihn wohl geweckt haben, sagte die Chanoinesse zum Engländer: Fragen Sie ihn, ob ihm nicht eine von uns im Traume erschienen, die er zu sehen wünschte?

Der Abgesandte brachte die Antwort, daß der glückliche Unglückliche sie mit Sehnsucht erwarte und so wankte Clotilde am Arm der Chanoinesse zu ihrem Geliebten. Letztere kam aber bald zurück: Die Kinder müssen allein sein! sagte sie bewegt.

Erzählen Sie uns doch, wie haben sie sich benommen?

– Wie zwei liebende Geschwister, die nach dem Tode sich im Himmel wieder finden ... O Gott, welch reine Seelen! rief sie und heiße Tränen stürzten über ihre Wangen.

Auch die Freundinnen weinten und waren doch fröhlich.

So eine Liebe, fuhr jene fort, habe ich noch nie gesehen, sie sprechen ohne Worte und verstehen sich ohne Rede; ihr Geist fliegt dem Begriffe voraus und ihre Empfindungen sind eins, ehe sich der Gedanke bildet und doch grenzt ihre Einfalt an das Erhabene. Es ist eine Rührung, die nicht auszuhalten und eine Wahrheit, die nicht zu beschreiben ist.

So was sieht man nicht alle Tage, sagte darauf die Base: Meine Gegenwart wird sie nicht stören! Sie sprang hinauf. Ihr folgte Suschen und dann die Schweizerin. – Die Chanoinesse blieb bei dem Engländer, den sie nach ihrer freien Weise sogleich unter die Linse ihrer geistigen Beschauung nahm. Da ihm aber wegen seiner Wunde das Sprechen noch beschwerlich war, er auch aus angeborener Schüchternheit nicht reden mochte, so war die Unterhaltung für sie, die so viel auf zusammenhängendem Gespräche hielt, nicht ganz erfreulich. Doch konnte sie sich des aufrichtigen Lobes nicht enthalten, als er mit vaterländischer Sinnesfestigkeit versicherte, daß er entschlossen sei, seinen neuen Freund nicht zu verlassen, solange dieser noch seiner bedürfe.

In seinem Lehnstuhle sitzend und den Fuß noch in Polster gehüllt, sah es der Oberst gerne, wenn sich die Gesellschaft der Freunde abends um ihn versammelte. Sie taten es willig, denn die Tage der Gegenwart waren jetzt wieder friedsam und heiter und das Verständnis der Gemüter glich, nach einem Gleichnisse der Chanoinesse, einem Regenbogen, der vielfarbig und doch eins sich über Grünenstein wölbte. Nur Gustav mangelte noch in ihrer Mitte an der Seite der jungfräulichen Clotilde, sie selbst, des Oheims Gewährung bewußt, vor dem sie nun kein Geheimnis mehr drückte, leuchtete in überschwenglicher Liebe und Bescheidenheit über alle; gleichwohl floß manche geheime Träne dem mütterlichen Verlangen nach ihr, das die Baronesse in ihren Briefen auf angelegentliche Weise äußerte.

An einem solchen Abend sprach der Oberst von seiner nahen Abreise, wozu er wirklich schon vorläufige Anstalten getroffen und sagte dann: Genug der Schweizerfreuden und Leiden, der Herbst kommt, sobald der vorbei ist und ich gehen kann, ziehe ich ab. Was sollte ich länger in der Schweiz tun? Der Winter ist für uns Alte nur in Bequemlichkeit und warmen Stuben erträglich, die habe ich zu Hause noch besser als hier. – Er wollte in diesem leichten Tone fortfahren, aber die Empfindung überwog: Lebt alsdann wohl, sprach er weiter, ihr teuren Unvergeßlichen, ich trage Euer Andenken im Innersten des Herzens mit, bewahrt auch das meine! Unsere Freundschaft bildete eine heitere Blume, bald werden die Blätter derselben einzeln und düster umherfliegen! – Er schwieg und niemand antwortete. Als er sah, daß sie alle gerührt und schweigend um ihn her saßen, fuhr er sich selbst ermutigend fort: Doch wir sollen einander nicht, der Zeit vorgreifend, rühren, wenn es wirklich ans Scheiden geht, ist es noch früh genug und auch dann soll man nicht viel Wesens machen, gute Freunde sehen einander nie zum letzten Male.

Wer diese Gewißheit mitnehmen kann, ist glücklich, sagte die Chanoinesse und sah dabei lächelnd auf Clotilde.

Ich verstehe Sie, erwiderte der Oberst: Es ist Zeit, daß ich mich auch hierüber ausspreche. Und indem er sich zu seiner Nichte wandte, sprach er: Was Gott zusammenfügen will, das darf ich nicht scheiden, was meine Standespflicht erforderte, hab' ich getan, aber wo diese mit der Menschlichkeit in Streit kommt, da kann keine Frage sein, welche vorziehen soll. Meinen Schritten folgte das Unglück auf dem Fuße nach, dies gebot mir sie einzustellen und die Angelegenheit der höheren Hand, die sich mir darin zeigte, zu überlassen. Der Mensch denkt, Gott lenkt, pflegt mein Freund zu sagen; Gustav wird dein sein und bleiben, liebes Kind, weil er deiner wert ist und die lenkende Macht es so haben will. Wenigstens soll, ich erkläre es hiemit feierlich vor allen, eure Verbindung an mir nicht nur kein Hindernis, sondern, wo es nötig sein wird, Unterstützung finden; denn verhehlen, Clotilde, mußt du dir's nicht, daß sich noch mächtige Schwierigkeiten zeigen werden. Unumgänglich notwendig ist es aber, daß Gustav jetzt sobald sein Fuß geheilt ist, auf Reisen gehe, um seine Bildung zu vollenden.

Und Sie, mein Lieber, sprach er zum Professor, möchte ich bitten, meine Gesinnungen, so wie ich sie ausgesprochen habe, unserem jungen Freunde zu hinterbringen, damit die Erklärung schon gemacht sei, wenn wir wieder zusammenkommen, denn mein Wohlwollen persönlich mit Worten an den Mann zu bringen, machte mir von jeher Mühe, weil mich der Dank beschämt.

Seltsamer Mann! sagte die Chanoinesse. – Clotilde aber fiel ihm um den Hals: Mein Vater! war alles, was sie sagen konnte.

Er herzte sie kindlich: Kommt Zeit, kommt Rat, mein Töchterchen, fuhr er fort, für einmal nehmt ihr die Hoffnung mit, sie ist am Leben das, was eine frohe Aussicht dem Reisenden.

Und ihre sittige Begleiterin ist die Geduld, tat der alte Professor hinzu, sie ist die Hütte, aus der man die Aussicht betrachten muß.

Auch mag es allerdings gut sein, fuhr jener fort, daß junge Leute sich früh in der Geduld üben, um sie im Alter zeigen zu können.

Wie der liebe Oheim, meinte die Schweizerin.

Das tue ich auch, rief er lachend, wenn Ihr schon der Verstockung hingegeben seid, es nicht sehen zu wollen. –

So wechselten Scherz und Ernst in ihren Unterhaltungen, denn der frohsinnige Alte liebte das in seinen guten Tagen und Stunden, und die Freundinnen fügten sich gern in seine Art und Weise, wiewohl sich die Chanoinesse anfänglich darüber aufhielt, als über eine gemeine Manier, die dem guten Tone und der Würde des Gesprächs zuwiderlaufe. Hingegen behauptete der Professor, das Gespräch an sich, als Form betrachtet, habe keine Würde, nur Geist und Gesinnung geben ihm diese, ohne jene Eigenschaft sei die Würde eine leere Importanz. Den Ernst in gemütlichen Scherz auflösen und mit Scherz den Ernst beginnen, das sei die wahre Kunst der Unterhaltung; jedes Gespräch das nur um eines angegebenen Tones willen fortgeführt werde und eine angenommene Richtung durchlaufen solle, führe zur Langeweile.

Und so ergab sich auch jene alles lebendig erfassende Dame bald der Gewohnheit, welche die beiden Alten angenommen und mit leiser Geistesüberlegenheit auf ihre ganze Umgebung verbreitet hatten: Die Freiheit der Seele in der Unbefangenheit rein menschlicher Empfindung zu suchen, freilich mit Hinsicht auf die Empfänglichkeit der Gesellschaft, aber aus bloßen Geisteskünstlichkeiten sich nichts zu machen. So kam es, daß die Chanoinesse jetzt schon manches für Vorurteil erkannte, was sie sonst als ein Erfordernis höherer Bildung angesehen und an sich selbst geschätzt hatte. Auch an ihr erwies sich der Einfluß des Umgangs mit männlicher Kraft, dem keine edle weibliche Natur auf die Dauer widersteht.

Tiefer war in dem deutschen Arzte seine Neulehre gewurzelt; er konnte und wollte sich nicht so leicht zu der obsoleten Klarheit der bejahrten Freunde herabdepotenzieren wie sie erwarteten, er hatte sich nun einmal in seine geheime Naturdynamik tüchtig hineingearbeitet und sich nicht nur den Schimmer, sondern die Wahrheit zu gestehen, auch den wesentlichen Sinn ihrer neuen Ausdrücke zu eigen gemacht, so daß weder der Spott des Obersten, noch die einfache Sprachweise des Professors viel über ihn vermochten, indem er beide im einzelnen übersah und zu übersehen glaubte. Sie fühlten das auch und wurden allgemach nachsichtig gegen seine wissenschaftliche Sprache: Ist doch im Grunde alles nur Terminologie, was wir vom Innern der Natur wissen, sagte der Oberst. Nur litten sie nicht, daß der Arzt seine Ansichten auch auf Sachen des Geschmacks übertrüge.

Als daher eines Tages von neuen Dichtungsproben der Freundinnen die Rede war, die, da sie sich längst in alemannischen Gedichten erschöpft hatten, nunmehr zur südlichen Art und Kunst hinneigten und belehrt von dem deutschen Arzt ihre weichen Empfindungen nur in weiblichen Reimen aussprechen zu müssen glaubten, wehrte ihnen das einer der Alten und tadelte den Ratgeber, der zu diesem Behuf mehrere Sonette als Muster zum Vorschein brachte. Sonette, sprach jener, taugen durch ihre Form nicht für die deutsche Poesie, ihr Inhalt mag auch noch so sehr von dichterischen Funken glühen und glänzen. Freilich ist es ein Vorzug unserer Sprache, alles nachahmen zu können. Es ist aber auch eine Schwachheit, alles nachahmen zu wollen; jede Sprache hat ihre eigentümlichen Schranken und soll sie haben, über die hinaus der gute Geschmack sich in bloße Mode verliert.

Ein Engländer, unterbrach ihn der Oberst, verglich die Sonette mit dem Bette jenes Tyrannen, wo den Fremden, welche sich hineinlegen mußten, was zu kurz auseinander gereckt und was zu lang war, abgeschnitten wurde.

Die deutsche Sprache, fuhr der Professor fort, ist glücklich, beide Reimendungen zu haben, die weibliche und die männliche, und beide stehen ihr gleich gut an, warum sollte sie die eine auswärtigen Vorbildern zulieb vernachlässigen? Der Italiener wäre stolz darauf, wenn seine weichliche Sprache unsere männlichen Reime mehr als nur zum Scheine hätte.

Und dem Engländer, sagte der Oberst, täte es wohl, wenn er die Einförmigkeit seines ernsten Gesangs wie wir durch Doppelreime unterbrechen dürfte. Aber beide werden sich wohl hüten, ihrem feststehenden Reimgebäude fremde Formen anzuflicken, welche die nationale Eigentümlichkeit verwirren, oder wohl gar, wie diejenigen Formen, von welchen wir sprechen, der Sprache mehr nehmen als geben.

Klopstock hat den Hexameter mit Glück eingeführt, entgegnete der Arzt.

Aber wir sprechen jetzt nur vom Reime, war die Antwort und da ist der wahre Dichter von dem halben schöngeistigen schon daran zu unterscheiden, daß jenem gewöhnlich die landesüblichen Versmaße genügen, um seine Schätze hineinzulegen, da hingegen der Halbe immer nach dem Modischen und Fremden hascht.

Lassen wir die Sonette, meine Damen, rief der Oberst, unser sei das deutsche Lied!

Aber der Professor war noch nicht fertig; er behauptete, die einfachste Tonweise sei der Innigkeit, die in echtdeutschen Dichtungen vorherrsche, angemessener als die verschlungensten Kunstketten des Auslandes. Und wie es geht, wenn man eine Meinung verficht, daß man oft aus Vorliebe auch dem Geringen einen höheren Wert beilegt, so zog er Verse hervor, die ein geistlicher Freund von ihm in der schlichten Form eines uralten Kirchenliedes verfertigt habe und führte dieselben als einen Versuch der Wirkung äußerlicher Einfalt an. Es ist ein Nachtlied, sagte er, und las:

Die Sonne zeigte golden sich,
Als sie am Abend von uns wich.
Sie schied so lieblich wie ein Freund,
Der wieder bald zu kommen meint.
Es breitete ihr Sterngewand
Die Nacht nun über Stadt und Land,
Und vor des Mondes mildem Schein
Entfloh Geräusch, trat Stille ein.
Aus Sternenglanz und Mondenlicht
Wem quillet Lieb' und Andacht nicht?
Jetzt rückt die Mitternacht heran,
Und alles schläft, was schlafen kann.
Längst von des Nachbars Fenster her
Begegnet mir kein Lichtstrahl mehr;
Er betete mit seinem Haus,
Und ruht nun von der Arbeit aus.
Nur noch des Turmes Hüter wacht,
Und schauet in die tiefe Nacht.
Umsonst, o Wächter, wachest du,
Sieht Gott der Herr nicht selber zu!
Hier bei der Lampe spätem Schein,
Wie hüllt mich einsam Schweigen ein!
Des Tages Mühe schwand dahin,
Und stille Ruh' ist mein Gewinn.
Mein ist der Trost: der treue Hirt
Die Schäflein nicht verlassen wird;
Vergäß den Sohn die Mutter – Ich
Will nie, spricht Er, vergessen dich! –
Wie sich mein Aug' im Schlummer neigt,
Zu Dir noch mein Gedanke steigt,
O Herr des Lebens! – Säume nicht,
Ruf aus der Nacht uns bald zum Licht!

Es ist wirklich zum Einschlafen, sagte der deutsche Arzt, die Chanoinesse zuckte die Achseln und die übrigen Frauenzimmer sahen einander an, der Oberst aber drückte seinem Freunde kräftig die Hand.

So geht's, sagte der Professor und steckte gelassen seine Verse ein: Das hat man davon, wenn man belehren will, es danken einem nur die, so schon belehrt sind.

Schon färbten sich die Trauben und nahte der Herbst und mit ihm die längstersehnte Hochzeit Suschens; diese sollte im Schlosse auf Unkosten des Obersten mit anständiger Pracht gefeiert werden, denn er wollte die treue Begleiterin seiner Nichte, die nunmehr als ihre Freundin betrachtet wurde und ihren rechtschaffenen Bräutigam ehren. Da aber dieser festliche Tag zugleich als das Ziel der Scheidung angesehen wurde, so war man geflissen darauf bedacht, die kurze Frist noch so genußreich als möglich zu machen. Es wurden kleine Reisen veranstaltet, die benachbarten Höhen und Schlösser besucht, sogar Seefahrten gemacht. Von dem allem hatte nun freilich der noch ins Zimmer gebannte Oberst nur, wie er sich ausdrückte, den Genuß von der zweiten Potenz, das heißt, den der Erzählung. Er behauptete aber, daß Leute von Jahren, die mit Natur und Menschen überhaupt bekannt seien, oft ebenso viel Vergnügen am Anhören und Ausfragen eines von seinem Gegenstande begeisterten Erzählers finden, als wenn sie die Sache selbst vor Augen gehabt hätten, weil ihnen das, was an lebendigem Eindruck abgeht durch die anziehende Beobachtung eines fremden Auffassens ersetzt werde.

Gleichwohl fehlte es ihm auch nicht an Gesellschaft, es kamen immer Nachbarn, selbst Bauern, mit denen er nach seiner Art Bekanntschaft gemacht hatte, zum Besuche. Der Hauptmann von Appenzell und sein Töchterchen waren zur Hochzeit eingeladen und wurden täglich erwartet, auch hatte man nicht gesäumt, den noch immer zum Gehen unfähigen Gustav, sobald er fortbringlich war, nach Grünenstein zu holen, und mit ihm kam der Engländer, so daß sich bald kein Plätzchen mehr in dem geräumigen Schlosse fand, das nicht besetzt war.

Solcher Gestalt hatte sich doch noch, selbst aus der Widerwärtigkeit, ein erfreulicher Verein befreundeter Seelen gebildet, wie ihn der Oberst anfänglich gewünscht hatte. Dem an Leib' und Seele genesenden Engländer gefiel dieses Gemeinwesen gar wohl, er nannte es einen gesellschaftlichen Vertrag, wo alle gehorchen und keiner befiehlt, und der Professor, der alles mit inländischen Augen betrachtete, verglich es mit einer Tagsatzung, wo viel verhandelt und wenig ausgemacht wird, wo aber die Mitglieder gerne weilen. Ich habe neulich von dem Garten des Epikurs gelesen, sagte die junge Base, damit möchte ich diesen Aufenthalt am liebsten vergleichen. Ich wahrhaftig auch, rief der Oberst, wenn es Gott gefiele, mich der Vergleichung würdig zu machen! aber du bist eine Schmeichlerin, Mädchen, und weißt, was ich gerne höre. Andere nannten es ein patriarchalisches Leben und die Frau Amtsrätin, die auch ein Gleichnis anbringen wollte, bemerkte, daß das Schloß ihr manchmal vorkomme wie die Arche Noahs, jedoch ohne die Tiere. Von dieser Zeit an hieß es oft, wir wollen in die Arche zurück, wenn die Gesellschaft abends von einem ermüdenden Besuche nach Hause ging, zuweilen auch wurde der Oberst als Erzvater begrüßt, wenn beim fröhlichen Mahle die Becher klangen.

Sonst zeigte sich die Frau Amtsrätin nicht mehr so häufig wie anfangs, eine nähere Angelegenheit gab ihr viel zu schaffen. Sie hatte eine Eroberung an dem Herrn von X gemacht, dem alten Offiziere, der bei der Feuersbrunst sie allein nicht verlassen und war jetzt im Begriffe, demselben ihr Herz zu schenken; da aber alte Herzen sich nicht so leicht hingeben wie junge und sie auf die Beharrlichkeit ihres Liebhabers sichere Rechnung machen konnte, so hatte sie eine Zeit der Prüfung festgesetzt, ehe sie das Jawort von sich gäbe. Der Mann lebte von einem kleinen Retraitegehalt aus Frankreich und war die Geduld selbst, dabei auch kein ungeschicktes Wesen für den gesellschaftlichen Umgang, indem er gut Boston spielte und mehrere weibliche Arbeiten aus dem Grunde verstand, auch sein Französisch sehr geläufig sprach. Er scheute aber das Schloß, weil alles dieses daselbst nicht vorzüglich geachtet noch getrieben wurde und darum hatte er die Frau Amtsrätin beredt, mit Zuzug von ein paar Gleichgesinnten beiderlei Geschlechts eine kleine Gesellschaft unter sich zu stiften, wo man bei einem ruhigen Kartenspiel und unterhaltendem Stricken vergnügter wäre als in dem Wirrwarr des Schlosses.

Der Verlust wurde nicht stark gefühlt, man hatte dagegen ein gefälliges Erwerbnis an dem Engländer gemacht, der durch die blutige Zurechtweisung seiner besseren Natur wieder näher gebracht, den Obersten wie seinen Vater oder wie ein Neugeweihter seinen Lehrer verehrte und seinen neuen Freund mit treuer Bruderliebe umfing. Er lernte von diesem Deutsch und lehrte ihn hingegen das Englische; beide taten es mit Eifer, denn man muß nicht glauben, daß das Treiben im Schloß ein bloßes Hingeben an Zerstreuung gewesen; wie hätte sich der ernste Professor mit leerem Genüsse befriedigen und der tätige Geist des Obersten sich mit Tändeleien begnügen können? Sie hatten Stunden und Tage wahrheitforschender Betrachtung und sahen es auch gerne, wenn sie die jüngeren Freunde an bedeutender Arbeit trafen. Daran ließ es auch die lehrreiche Chanoinesse nicht ermangeln, unter ihrer Anleitung wurde der naturgeschichtliche Kram fortgesetzt, und von ihr lernten auch die Freundinnen italienisch, nicht ohne den geheimen Wunsch, einmal noch davon Gebrauch zu machen. Ja, die Base hatte schon seit geraumer Zeit von dem Obersten, dessen Liebling sie war, weil ihr Köpfchen, wie er sagte, alles so schnell und richtig ergriff, Unterricht im Englischen genommen und benutzte nun auch dazu, soweit es der Anstand erlaubte, die Gegenwart des Engländers, der hinwieder gar nicht abgeneigt schien, sie zur Schülerin zu haben.

So sah das Schloß zuweilen aus wie ein Musensitz, von unten bis oben; denn auch Tobias unterließ nicht, in müßigen Stunden den Kammermädchen des Fräuleins und der Chanoinesse Vorlesungen zu halten, wozu er den Prediger um Bücher angesprochen und von ihm mit großer Bereitwilligkeit mehrere Schriften zur Beförderung des Sittlichguten, auch einige belehrende Romane erhalten hatte, wovon letztere zuerst gelesen, doch auch jene zuweilen vorgenommen und mit anständigem Stillschweigen bei der Arbeit angehört wurden. Als aber Tobias einmal einen Ritter- und dann einen Räuber-Roman brachte, wurden die Zuhörerinnen so hingerissen, dass alles andere auf der Seite blieb und selbst die Nadel mitunter stockte, bis das Abenteuer zu Ende war. Und da der Vorleser sich selbst in dieser Aufmerksamkeit gefiel und sogleich wieder mit einer ähnlichen Erzählung auftrat, so wurde das Wohlgefallen der Mädchen an diesen Dichtungen so laut und um sich greifend, daß bald die eine, bald die andere der Frauen aus dem höhern Stockwerke sich unvermerkt hinunter begab, um gleichsam im Vorbeigehen die schauerliche Geschichte mitanzuhören.

Suschen allein konnte an allen diesen gelehrten Belustigungen wenig Anteil nehmen, der Tag ihrer Verbindung rückte heran und sie hatte noch soviel mit Vorarbeiten zu ihrem künftigen Haushalt, wobei ihr jedoch die Freundinnen getreulich halfen, zu tun und so viel notwendige Bekanntschaften unter den Pfarrgenossen anzuknüpfen und war dann in freien Stunden so gern um ihren Bräutigam, daß ihr das Wegbleiben aus der Gesellschaft niemand übel nahm und der Oberst selbst es nicht ungern sah, damit sie sich desto leichter an die Entfernung von Clotilde gewöhne und ihnen beiderseits das Scheiden weniger schwerfalle.

Dafür ist schon gesorgt, sagte der Professor: Das Fräulein hat ein Scheiden vor sich, dessen Schmerz jeden anderen verschlingt, und Suschen tritt in einen Wechsel des Lebens, dessen Neuheit keiner anhaltenden Rührung Platz lässt.

Von Suschen lasse ich's gelten, erwiderte der Oberst, aber nicht von Clotilde, bei ihr ist jetzt nicht, wie bei jener, ein Gegengewicht von Lust. Das Scheiden von dem Freunde wird ihr die Trennung auf immer von der lange vertrauten Dienerin desto empfindlicher machen. Nur gegenstehende Empfindungen schließen einander aus, aber ein tiefbetrübtes Herz blutet stärker von einer neuen Wunde, als es ohne das schon innewohnende Leiden geschähe.

Sie haben recht, gestand jener: Schmerzhafte Gefühle sind sich befreundet, ein Leid bietet dem andern die Hand; neben der Leiche des Patroklus beweinten die Mägde auch ihr eigenes Elend. Sei behutsam, wenn du deinem Vater schreibst, sprach der Oberst zu Gustav: Bedenke sein offenherziges Wesen, das keine innere Bewegung verbergen kann, das will die Klugheit. – Gustav tat es, meldete dem Vater seine fortschreitende Genesung und ließ einige Worte von den Folgen des Unglücks fallen, die oft ein unerwartetes Glück begründen können. Auch der Oberst wollte noch einige Zeilen freundlicher Begrüßung beifügen und dachte sich während er schrieb so gutmütig in die entzückende Überraschung des Vaters hinein, daß er noch mehr offenbarte als der Sohn und den Pastor über etwas, das nicht wohl einem Brief anvertraut werden könne, an den Major wies, dessen Verstand er das Maß der Enthüllung an ihren gemeinschaftlichen Freund überlassen habe. Selbst Clotilde konnte ihrem Drange nicht widerstehen, und der Oheim wehrte es nicht, ein Wort der Verehrung und des unvergeßlichen Dankes an den Lehrer und Erfreuer ihrer Kindheit mitgehen zu lassen.

Das wird dem Pastor Freude machen, sagte der Oberst und rieb sich vergnügt die Hände, als er es dem Professor erzählte.

Ja wohl, meinte dieser: Aber wenn er so kindlich offen ist, so wird er einen Teilnehmer an seiner Freude haben müssen und sollte er es den Wänden erzählen, und so wird's auskommen. Und mag er auch nicht alles merken, so haben sie ihn doch neugierig gemacht, die Neugier ehrlicher Leute aber ist unvorsichtig, eher hätten Sie ihm alles sagen sollen. Doch, fügte er hinzu, unter die menschlichen Schwachheiten gehört auch diese, daß wir nicht selten das zuerst tun, wovor wir andere warnen.

Aber der Brief war schon abgegangen und der Oberst konnte nichts weiter machen, als dem Freunde recht geben. Das plagte ihn jedoch nicht lange, denn da ihn die Krankheit verlassen und er wieder in der freien Luft herumwandeln konnte wie zuvor, ward auch das Ruhegefühl der Genesung in ihm mächtiger als die Sorglichkeit: Ich bin, sagte er, der Vormund Clotildens, aber nicht des Schicksals, wo dessen ordnende Hand so sichtbar über den Ereignissen waltet, darf uns ein Fehlschritt, der aus guter Meinung geschehen, nichts kümmern, sein Gang steht darum nicht still. Oder glauben Sie nicht, daß eine höhere Waltung hier im Spiele sei? fragte er den Professor. – Wo ist sie es nicht? fragte hinwiederum dieser.

Nach dem Ausspruche des deutschen Arztes sollte der Oberst, alles Widerstandes ungeachtet, das benachbarte Bad in Kobelwies besuchen und mit ihm der Engländer, jener für seine Füße, denen nichts mehr fehlte, und dieser für seine Wunde, die beinahe geheilt war; die Notwendigkeit für beide wußte der Arzt unumstößlich darzutun. Sie waren demnach eines Morgens, allein von ihren Bedienten begleitet, weggeritten und hatten für die vorgeschriebene Zeit, gegen die Gewohnheit des Obersten, nur sehr wenig Bequemlichkeiten mitgenommen. Daraus glaubten die Freundinnen, die Base vorzüglich, anzunehmen, daß der Aufenthalt nicht lange dauern werde und jene tat des folgenden Tags den Vorschlag, morgen, da das Wetter noch so schön sei, den Badegästen einen unerwarteten Besuch abzustatten, wobei zugleich die dort befindliche Kristallhöhle, die einzige Merkwürdigkeit der umliegenden Natur, die sie noch nicht gesehen, untersucht und ihre Sammlung mit selbstgefundenen Seltenheiten vermehrt werden konnte.

Die Chanoinesse lobte den Vorschlag und der Hauptmann von Appenzell, der heute mit seinem Töchterchen angekommen war, billigte ihn, wollte aber nicht mitgehen, weil für ihn Bad und Höhle nichts Anziehendes mehr haben; der Professor mochte auch nicht, Gustav konnte nicht und der Prediger hatte eine Ausrede, weil Suschen in der Pfarrwohnung beschäftigt war. Also blieb die Chanoinesse ebenfalls zu Hause, um die Ehre der Bewirtung zu machen, und der deutsche Arzt war abwesend, der sich den Lustfahrenden sonst gern zum Gefährten gegeben hätte. Dem ungeachtet setzten sich mit Anbruch des Tages Clotilde, die Schweizerin und die Base allein in einen Wagen und fuhren unter Gesang und Scherz fröhlich ihre Straße.

Was wird der liebe Oheim sagen? hieß es unterwegs. Einen Freudensprung wird er machen, auch wenn er wieder das Podagra hätte, rief die Base. Und der Engländer, sagte die Schweizerin, der wird eine von uns ansehen und rot werden und die beiden anderen fragen, wie sie sich befinden. – Und dann die Kristallhöhle, hieß es weiter, das muß unvergleichlich sein, wenn wir mit Fackeln in ihren Schimmer, wie in einen unterirdischen Feenpalast treten! – Sie mochten den Augenblick kaum erwarten.

Allein, wie groß war ihre Bestürzung als sie erfuhren, die beiden Herren wären seit gestern schon wieder fort. Sie konnten es nicht glauben, meinten, man habe sie kommen sehen und wolle sie zum Besten haben; sie durchsuchten das ganze Haus, aber weg waren sie: Den Bergen zu, wohin sie einen Führer genommen haben, wiederholte der Wirt. Zum Glück trafen sie einen Bekannten des Schlosses an, der hier das Bad gebrauchte; dieser konnte ihnen sagen, der Oberst habe sich geäußert, er wolle den Kamor zu Pferde besteigen und dann über Gais, das er noch einmal sehen möchte, ins Rheintal zurückkehren.

Wenn er nicht vorher den Hals bricht, tat ein Anwesender hinzu. –

Das waren nun alles keine Nachrichten die den Freundinnen behagten, ein Strich durch die Freudenrechnung und dazu die Besorgnis für den väterlichen Oheim, der noch solch jugendliche Wagestücke unternahm. Jedoch über dem Mittagessen und bei dem tröstlichen Gedanken an des Obersten Begleitung faßten sie wieder Mut, so daß sie sich jetzt noch anstellten, die Kristallhöhle zu sehen. Als ihnen aber beim Eingange statt der Fackeln ein Stümpfchen Licht in die Hand gegeben wurde und sie mit demselben durch die nasse Öffnung auf Händen und Füßen hineinkriechen sollten, entsank ihnen das dichterische Herz, sie fanden dies untunlich und entsagten ihrer Wißbegierde und dem sternefunkelnden Feenpalast ihrer lebhaften Einbildung. Um jedoch nicht mit leeren Händen wegzugehen, nahmen sie beträchtliche Stücke von dem durchsichtigen Kalkspat der Höhle mit, die ihnen der Wirt aus seinem Vorrat unentgeltlich abtrat, weil er sie schon vorläufig in die Zeche verrechnet hatte.

Im weiblichen Unwillen über die Entwichenen, die ihren Besuch nicht abgewartet hatten, und um der Nachrede zu trotzen, als hätten sie eine vergebliche Reise gemacht, waren die Freundinnen anfänglich gesinnet, noch nach Sennwald und Werdenberg, vielleicht gar bis an den Walensee zu fahren. Allein das Mißgeschick verfolgte sie, denn im Vertrauen auf die Gastfreiheit des Obersten hatten sie nicht daran gedacht Geld mitzunehmen und waren jetzt kaum imstande, die Wirtsrechnung zu bezahlen, sie mußten deshalb gern oder ungern den nächsten Weg wieder dorthin nehmen, woher sie gekommen waren. Sie taten es indes nicht nur mit guter Miene, sondern gestanden sich am Ende noch insgeheim, daß ohne männliche Gesellschaft das Reisen doch langweilig sei und waren froh, als sie wieder im Schlosse anlangten.

Von sich und seinem Streifzuge gab der Oberst dem Major in folgendem Briefe Nachricht:

Grünenstein, Ende September

Erst jetzt zeigt sich das Land unseres Aufenthalts in seiner Fülle; eine unzählige Menge von Obstbäumen ist dieser Gegend eigen, die ganze Dörfer wie in einen Wald einhüllen und da sie dies Jahr reichlich Früchte getragen, so gewährte nicht nur der Anblick des Segens, unter dem sich die Zweige bogen, sondern auch das Gottlob der Leute schon ein frohes Ergötzen. Und dann die Lese selbst, welch ein Leben und Treiben von Alten und Jungen! jeder Baum ist belebt, die Menschen im fröhlichen Geschäfte des Sammelns und Eintragens kommen und gehen und verlieren sich malerisch in den Schatten. Ist aber diese Landlust vorüber, so steht die nahe Erwartung einer noch edleren bevor, denn die Frucht des Weinstocks ist zur Zeitigung gediehen und schon werden allenthalben Anstalten zur Weinlese gemacht; das Hämmern an Faß und Kufe ertönt freudig durch das ganze Land, die rings umherliegenden Landhäuser füllen sich mit Gästen, und uns werden täglich Geschenke der auserlesensten Trauben gebracht, wir empfangen und geben Besuche nah und fern, und so reich ist die Lage des Rheintales an überraschender Abwechslung, daß unsere Liebhaber der schönen Natur auf jedem Landsitz einen besonderen Reiz der Aussicht zu finden wissen. Dazu kommt noch der anhaltend heitere Himmel, der überhaupt in der Schweiz, und diesmal besonders, den Herbst zur schönsten Jahreszeit macht, denn der Frühling ist gewöhnlich zu kurz und der Sommer unbeständig.

Meine jugendliche Lust an diesem allem wird Dich nicht, würde aber manchen unserer heimatlichen Bekannten wahrscheinlich etwas befremden.

«Gottlob ich seh' es klar,
Ich bin nicht wie ich war;
Wenn auch, ich fühl' es wohl,
Noch nicht so wie ich soll!»

– hörten wir ehmals die mährischen Brüder singen und lächelten darüber, jetzt würde ich von Herzen in den Gesang einstimmen. Der Mensch soll nie an sich selbst verzagen, das Geistige in ihm bleibt doch, wenn er nur recht will, mächtiger als die Körperlichkeit, und aus jedem Drucke sproßt eine Blüte der Freude, die dem, der sie zu warten versteht, bald zur erquicklichen Frucht wird. Kein Alter macht für die Schönheit der Natur unempfindlich, nur der Griesgram tut es, und wenn ich jetzt halb wie ein Dichter davon spreche, so ist es ein Zeichen, daß ich einen Feind überwunden habe.

Aus dieser Lebendigkeit wollten sie mich nun in guter Meinung herausreißen und in ein Bad schicken, damit ich mich vollends erhole, als ob reine Fröhlichkeit nicht die beste Erholung gewährte. Der deutsche Arzt hat das mit vielen originellen Köpfen gemein, daß er Neigung zu einer Grille faßt und sie durch seinen Scharfsinn zu etwas Bedeutendem aufstutzen will; so hat er sich in ein Bauernbad, einige Stunden von hier verliebt, über dessen Bestandteile er neue Entdeckungen gemacht zu haben behauptet. Dahin verurteilte er mich und den verwundeten Engländer, der, was ich Dir im Sturme der letzten Tage zu schreiben vergessen, nicht nur aus einem Feinde unser Freund geworden ist, sondern auch, wer hätte es denken sollen? sich als Sohn des Commodore N., mit dem ich einst in so engen Verhältnissen gestanden, erzeiget hat.

Der Arzt wußte seinen Rat unseren Frauenzimmern so einleuchtend zu machen, daß sie mir darüber unaufhörlich in den Ohren lagen. Ich versprach es, um der Andringlichkeit los zu werden, redete aber mit dem Engländer ab, damit ein anderes Vorhaben zu verbinden, dessen Vollziehung die Sorgsamen nie zugegeben hätten.

Wir begaben uns also, da ich kein Geleit wollte, zu Pferde nach dieser Fontaine de Jouvence, wie sie der Engländer nannte, und nahmen nur soviel Kleidung mit als nötig war, uns nicht zu verraten. An Ort und Stelle trafen wir größtenteils arme Leute und krätzige Bauernweiber an, unter denen wir ohne Not nicht hätten leben können und waren desto froher, als wir morgens bei guter Zeit, unserem geheimen Vorsatze gemäß, die Reise auf den Kamor antreten konnten. Wir nahmen einen Wegweiser mit und unterwegs noch ein paar, und so kamen wir mit Mühe und Arbeit und Hilfe der Führer, bald zu Fuß, bald zu Pferd (an einigen Orten ließen wir eine Kuh vorausführen, um die Pferde in gelassener Richtung zu halten), gegen Mittag oben auf die Spitze des Berges, die sich mehr als viertausend Fuß über den unten fließenden Rhein erhebt.

Hier lagerten wir uns, erst zum Ausruhen und dann zum stärkenden Mahle und schauten in die weite friedliche Welt, denn friedlich wie der Himmel erscheint aus diesen mächtigen Höhen die Erde, wo man das Gewühl der Menschen nicht mehr sieht und die Stimme der Leidenschaft nicht mehr vernimmt. Alles zeigt sich nur still und groß, das Kleinliche und Unbedeutende, das Anmaßende und Ängstliche verliert sich. Und diese Erscheinung geht auch in die Seele des Wanderers über, Freiheit und Ruhe des Gemüts werden bald zur herrschenden, einzigen, beseligenden Empfindung, ach daß sie uns nimmer verließe.

Es war ein schöner Tag, ein wolkenloser Himmel, und was auf den Bergen selten ist, es wehten nur leichte, erfrischende Lüfte. Zur Seite hatten wir die starren Eisgebirge Appenzells, hinter uns die Bündner- und Tiroler-Berge und vor uns den Spiegel des Sees und unübersehbares Land. Ich freute mich wie ein Kind, daß mein Wunsch erfüllet war, auf einem Berge Abschied von der Schweiz zu nehmen, das Lebewohl zuzurufen, dem auch in seiner Verarmung noch glücklichen Lande, den Bergen und Tälern und Seen und Flüssen und Bäumen. Wir tranken auf das Wohl seiner biederen Bewohner und auf die Gesundheit unserer Freunde, die dort jenes weiße Pünktchen beleben, das man Grünenstein heißt; wer von ihnen hätte uns hier vermutet?

Auch meinen Reisegefährten ergriff auf dieser seelerhebenden Schauhöhe die »Flamme der Menschenfreundlichkeit« (Fiamma di carità), wie sie Dante beim Anblicke seiner Beatrice empfand und wie sie sich in jedem regt, der von dem wahren Schönen gerührt wird, es gehe aus von welchem Gegenstand es wolle. Möge Gott mir verzeihen, rief er, in dem Maße, wie ich von nun an der Freundschaft und milder Liebe leben will! – Er öffnete mir sein Herz und erzählte mir sein Leben, oft mit Tränen, nichts Niedriges kommt darin zum Vorschein, aber was bei diesen jungen Leuten, die mit ihrer Willkür und ihrem Gelde nie fertig werden häufig der Fall ist, Ausartung der Kraft in Eigensinn, übrigens ist er gebildeter und weiß mehr, als ich erwartet hatte.

Die Stunden flogen geschwinder dahin als unser Vergnügen, es war Zeit, daß wir uns von dem Göttersitze wieder auf die Erde herabließen; das ging nun aber meinerseits erbärmlich menschlich zu. – Genug, wir kamen hinunter und sehr ermüdet nach Appenzell, wo wir sogleich nach dem Hauptmann schickten, der aber schon tags vorher nach Grünenstein abgegangen war.

Der Engländer zeigte mir aus dem Fenster des Wirtshauses die Windfahne, nach welcher Simmenthal bei der Herausforderung geschossen hatte, fürwahr ein fertiger Schütze, denn das Fähnchen war mitten durchbohrt. – Ich fragte, was dieser Schuß für einen Eindruck auf ihn gemacht? – Ich gab mein Leben verloren, antwortete er: Aber ich wollte lieber sterben, als verzagt scheinen, doch hörte ich es gerne, als mein Gegner sich nicht schießen wollte; mit dem Schwerte, dachte ich, wird es sich schon geben, indessen hatte mir das Männchen Achtung eingeflößt, ich wäre bereitwillig gewesen, mit ihm Frieden zu schließen, wenn es die Ehre gestattet hätte. Aber geschlagen mußte nun einmal sein, er schien es selbst zu suchen; ich weiß nun warum und lobe ihn dafür.

Wir blieben diesen Abend in Appenzell, und da der Engländer ausgegangen war, die öffentlichen Gebäude zu sehen, woraus man, wie er meint, in Freistaaten vieles von dem Verstand und guten Willen der Regierungen abnehmen könne, nicht nur, ob sie die republikanische Sparsamkeit mit den Erfordernissen des guten Geschmacks zu vereinigen wissen, sondern auch, ob ihre Baulust nicht bloß örtliche Prachtliebe zum Grunde habe – so setzte ich mich inzwischen zu einigen Männern des Ortes hin, die im Wirtshause ihren Vesperwein tranken. Nachdem ich ihre Neugier über meine Person befriedigt hatte, denn das ist die erste Huldigung, die man der Landessitte bringen muß, wenn man an dem Gespräche teilhaben will, und nachdem ich als Freund des Hauptmanns erkannt war, schlossen sie auch ihre Gesinnungen auf, und wir wurden recht gute Bekannte. Auffallend war mir hier wiederum der Abstand, den Verschiedenheit der Regierungsart in der Eigenschaft der Bewohner zusammengrenzender Länder bewirkt. Selten ist ein Appenzeller, der nicht die Geschichte seines Landes und die Taten seiner Alten kenne und die Verfassung, die ihn nicht bloß leidend einschließt, als sein Eigentum schätze und schütze; von dem allem weiß der benachbarte Rheintaler, der Jahrhunderte unter unsichtbaren Regierungen und immer wechselnden guten und schlechten Landvögten gestanden, noch wenig und bekümmert sich auch nicht viel darum. In häuslicher Beziehung mag ihm das wohl gleichgültig sein, denn er wird durch diesen Mangel nicht ärmer, aber jener lebt doch in einer höheren Idee, die sein Wesen anziehender macht.

Der Engländer war mit dem, was er gesehen weniger zufrieden als ich mit dem Gehörten. Appenzell, behauptete er, müsse vor Jahrhunderten schöner und bedeutender gewesen sein als jetzt; dafür sprechen noch die alten Anlagen der Kirche an Gewölben, Mauern und Turm, wogegen das neuangeflickte Innere und Äußere, hölzern, vernachlässigt und dürftig sei. Noch mehr wußte er an dem Rathause auszusetzen, das ebenfalls in seinem Bau von einer besseren Vorzeit zeuge, aber jetzt nicht nur nicht nachgebessert, sondern nicht einmal, auch in den Gerätschaften, ordentlich und sauber gehalten werde.

Wenn der an Eleganz gewöhnte Brite nicht übertrieben hat, so muß man sich wirklich wundern, wie die Appenzeller, die sonst so reinlich in ihren Privatwohnungen sind, daß diese Reinlichkeit fast einen Nationalzug ausmacht, nicht auch eine kleine Summe Geld daran wenden, ihrem Rathause, wo doch die Regierung eines souveränen Volks sich besammelt, wenigstens innerlich ein ehrenfestes oder auch nur erträgliches Ansehen zu geben.

Zum Glücke sprach der Erzähler nicht deutsch und ich fand nicht für gut, ihn den anwesenden Bürgern zu übersetzen. Noch weniger hätte ich ihnen die Bemerkungen des Tobias mitteilen mögen, der den Engländer begleitet hatte und mir nachher noch mehrere Öffentlichkeiten beschrieb, die sich mit seiner Vernunft nicht recht reimen wollten. So fand er ... – Doch was halte ich Dich, den Fremden, Fernen, mit diesem Völklein und seinen Sachen auf! Du wirst finden, ich sei ganz zum Schweizer geworden, da mir das Kleine Teilnahme einflößt, als wär' es Großes. Was ist aber Groß und Klein? Wörter, deren Wert wir nach dem Maßstabe unserer Umgebungen zu bestimmen pflegen, und ich bin nun einmal in diesem Lande. Habe ich doch an großen Höfen ebensoviel, ja noch mehr des Kleinen gesehen als in der Schweiz, als selbst hier in dem Flecken Appenzell.

Den gediegenen, angestammten, ruhigen, nicht mit neumodischer Eitelkeit prangenden Freiheitssinn muß man diesen Menschen doch lassen, und ein wohlgebildeter Volksschlag ist es noch dazu, den auch meine Gefährten rühmten. Mag man sich auch, wie diese, über manche Geschmacklosigkeiten aufhalten, ich habe nichts dagegen, wo alle Meister sind, da hält es schwer, das Ungereimte von dem Herkömmlichen zu sondern, jedes Licht hat seinen Schatten. Die Appenzeller sind nicht das einzige Volk, bei dem der Geschmack in umgekehrtem Verhältnisse mit der Freiheit steht und stand. Wie lange blieben selbst die Römer in den Künsten zurück? Auch die Jahre, wo bei den Griechen die Kunst am höchsten stand, waren nicht der Zeitpunkt ihrer größten Freiheit.

Als wir des folgenden Tages über die Brücke ritten, kam uns ein vierschrötiger Kerl entgegen, der sich auf Händen und Knien fortbewegte, weil er keine Füße hatte; der sprach uns um ein Almosen an. Im Maule hing ihm ein krummes Tabakspfeifchen, woraus er behaglich rauchte, während er wie ein Bär einherkroch und uns die Pferde scheu machte. Ein »unglückliches Geschöpf und ein freier Landsmann, wer wollte den im Betteln stören? die Reiter mögen sehen, wie sie durchkommen und das Pfeifchen ist so ein Beiwesen, das man ihm auch nicht nehmen mag, was hat er sonst für Freude!« So sprach später der Hauptmann, als von dem Menschen die Rede war; was hätte ich antworten wollen?

In Gais, wo wir frühstückten, waren längst schon alle Kurgäste abgezogen; der Platz, sonst von geputzten Wandlern belebt, erschien jetzt still und frei, der große Gasthof geschlossen und sein Lärm verblaßt, eine Schaubühne ohne Personen, der Wirt hatte sein Kämmerlein, wo er sonst schweigselig wie ein Finanzminister saß, verlassen und seine Sprache wieder bekommen. – So kurze Zeit erst, und doch war mir das Vergangene wie die Erinnerung eines Schattenspiels!

Nicht ohne wehmütige Empfindung, die mich jedesmal begleitet, wenn ich von der Höhe nach der Tiefe gehe, nahm ich bei der Kapelle am Stoß von dem interessanten Hochlande den letzten Abschied, und wir stiegen dann zu dem im morgendlichen Silberduft schimmernden Gemälde des Rheintals hinab.

Fortsetzung, anfangs Oktober

Hier sind wir nun wieder, zwar nicht wenig mitgenommen von dem waglichen Ritte, dem Engländer hatte sich seine Wunde wieder entzündet, und ich mußte ein paar Tage das Bett hüten; dabei durften wir nicht einmal klagen, denn laute und stumme Vorwürfe verfolgten uns.

Nun aber ist alles wieder gut. Die geheimen und öffentlichen Vorbereitungen auf die Hochzeit, welche künftige Woche in meinem Hause statthaben soll, beschäftigen alle Hände und Geister der jungen Leute, nicht nur suchen sie einander in Gedichten zu überbieten, sondern es ist gar von einem kleinen Schauspiel in spanischer Form: »Die Burg der Eingeweihten«, die Rede, das aber wegen des geistlichen Standes des Bräutigams nicht am Tage der Hochzeit selbst, sondern später zum Abschiede aufgeführt werden soll.

Zum Abschied? Jawohl, es ist Zeit, daß ich gehe, ich hätte mit dem Aufwande, den ich hier mache, bis an die Säulen des Herkules reisen können doch es reut mich nicht; gereist hab' ich mein Leben lang genug, aber noch so viel harmlose Freuden, auf die ich schon verzichtet hatte und so viel teilnehmende Genossen um mich zu versammeln und im Einklang zu bewahren, wie es mir in diesem Lande gelungen, das war eine unerwartete Wohltat des Himmels, die um kein Geld zu teuer ist. – Nun soll freilich auch dies schöne Triebwerk auseinander gehen, das wird uns wehe tun! Jedoch der Professor hat recht: Es mag besser sein, daß es sich auf einmal auflöse, als daß nach dem menschlichen Unbestand hier und da ein Rad gebrechlich werde, oder ein Glied der Kette reiße und uns der Mangel längerer Tüchtigkeit peinlich auseinander treibe. Das Leben besteht aus guten und bösen Träumen, dieser da war ein guter.

Am längsten wird wohl Gustav hier verweilen, der noch nicht auf seinem Fuß stehen kann, ganz verlassen wird er jedoch nicht sein, denn geht auch Clotilde mit seiner Liebe hinweg, so bleibt ihm doch die Freundschaft in der Person des Engländers. – Wer zusammen gehört, wird sich auch wieder finden, nur muß man auf das Finden nie Verzicht tun, das ist es, was ich jetzt Clotilden und ihm sage, ihm den ich, nach allem, was vorgefallen, nicht mehr anders ansehen kann, als meinen Sohn, als den Geliebten meines Kindes, wiewohl mir der Handel oft noch mißlich genug erscheint. Der Würfel ist gefallen, rufe ich mit dem Professor aus, und tröste mich nach seiner Weise mit Sentenzen und Sprichwörtern; Du kannst nicht glauben, was das für eine bequeme Hausregel ist, die gleiche, nach welcher ehmals unsere verwundeten Soldaten in Stellen alter Kirchenlieder Trost und Balsam für ihre Leiden fanden.

Wieder finden aber werden sich nicht nur jene, die den süßen Ton der Liebe am reinsten angestimmt haben, sondern es sind auch noch andere aus unsrer Mitte, die in gemütlichem Zuge sich entgegen gehen, als wenn die Liebe bei uns einheimisch geworden wäre, doch man sagt, sie teile sich mit wie jede Dämonie. – O daß ich jemand um mich hätte, dem ich meine Beobachtungen anvertrauen könnte! Allein in Sachen der Zärtlichkeit ist der Professor gleichgültig, und parteilos ist sonst niemand hier als die Schweizerin; sie ist aber ein Frauenzimmer und die hören oft Mitteilungen dieser Art mit scheinbarer Befremdung an, wiewohl sie ihnen schon längst bekannt sind, das nimmt dem Vertrauen den Reiz. So vernimm also Du in der Ferne, was ich in der Nähe nicht anbringen kann.

Der Engländer ist ganz von der Base, wie wir sie nennen, einem geistvollen, niedlichen Schweizermädchen, das Augen hat wie eine Taube und ein Haar wie Gold, eingenommen und wozu ein feindlicher Hieb den Grund gelegt, das hat die Liebe vollendet: Er ist aus einem ungestümen Knaben so zahm geworden wie eine Jungfrau. Die Unschuld muß nie weit von einem Menschen gewichen sein, in dessen Busen sie so lauter zurückkehren kann; er errötet, wenn er mit ihr spricht und seine Worte sind Seufzer. Verstellung ist das nicht, sonst würde er sich in anderer Gesellschaft vergessen und für seine Zurückhaltung Ersatz suchen, allein, er ist nur da zu finden, wo sie oder Gustav ist. Die Base will zwar nichts merken lassen und sucht ihre muntere Laune beizubehalten, öfters noch zu steigern; es geht aber nicht allemal ohne Verwirrung ab.

Von einer anderen Art ist die fortschreitende Annäherung zwischen der Chanoinesse und dem Hauptmann von Appenzell, wo aber der schwächere Teil den Angriff macht, der jedoch nur geistige Liebe bezwecken soll. Was gleichwohl daraus noch werden kann, weiß ich nicht, denn ich bin von guter Hand belehrt worden, daß diese Stiftsfräulein auch heiraten dürfen.

Der deutsche Arzt findet alle diese Wahlverwandtschaften nicht nach seinem Sinne und bleibt oft geraume Zeit von uns weg. Denn selbst bis auf Clotildens Bernerzofe hat sich der Anfall erstreckt; diese ist in den alten Tobias verliebt, oder vielmehr er in sie. Ja wirklich, der alte Tobias! Er hat seit einiger Zeit den Kammer- und Küchenmädchen soviele Romane vorgelesen, daß endlich ein Teufelchen daraus in ihn gefahren, das ihm nun gewaltig im Kopf spukt und ihm einstweilen alle weiblichen Vorzüge und Liebenswürdigkeiten unter der Gestalt eines Bernermädchens zeigt. Sie ist schlau genug, eine gute Versorgung im Auge, diese Liebesflamme mit vestalischer Sorgfalt zu wahren. Es wird sich zeigen; ist der Anfall nicht vorübergehend, und hält sie sich gut, so mag sie ihn haben, sonst wird nichts daraus; ich werde meinen treuen alten Diener in keinem Fall im Stiche lassen.

Clotilde hat einen Brief der Freude an die Mutter über ihre Genesung und das nahe Wiedersehen geschrieben und dabei einen Strom von Tränen vergossen. Das arme Kind fühlt peinlich seine Lage zwischen dem offenen Hingeben an das Mutterherz und dem unwiderstehlichen Zuge zum Geliebten; sie klagt sich selbst des Unrechts an und vermag es doch nicht mehr zu ändern, sie weint nicht über sich selbst, aber mit Grund über den bevorstehenden Schmerz ihrer Mutter; ich möchte wahrlich oft mitweinen. – War gleich die jugendliche Irrung natürlich und ohne Leichtsinn, so will sie dennoch ihre Büßung haben, das ist die moralische Ordnung der Welt. Dem Buchstaben nach hat Clotilde gefehlt, spricht der Professor, im Geiste ist sie unschuldig, das wird kein böses Ende nehmen. – Wer dürfte den ersten Stein auf sie werfen? sagt freimütig die Chanoinesse und die übrigen mögen es denken.

In vierzehn Tagen sind wir auf der Rückreise, und wenn der Spätsommer noch so anhält, werden wir langsam durch Deutschland ziehen. Über einige häusliche Angelegenheiten und Einrichtungen, die ich anzutreffen wünschte, werde ich Dir noch besonders schreiben, der Brief ist ohnedies zu lange; nimm ihn als eine Einleitung zu den künftigen Gesprächen über unser Schweizerleben, wovon ihr den Winter hindurch noch genug werdet hören müssen. O daß ich Euch den echten Schweizermann, den Professor, diese Seele ohne Falsch, mitnehmen könnte; welch ein köstlicher Gewinn für unsre Winterabende! allein er ist nicht mehr aus seinem Vaterlande herauszubringen, würde aber auch mit der alten Einfalt seiner Sitten kaum mehr außer seinem Kreise gedeihen und höchstens für einen rohen Demant gelten, da er doch der leuchtendsten einer ist.

Was hab' ich nun von diesem allem? O genug zum stillen Wohlleben, wenn ich nur das Andenken an die angenehmen Erscheinungen mitnehme. Und bin ich nicht vom Podagra, so bin ich doch von dem weit größeren Übel des Unmuts geheilt worden und habe das natürliche Eigenmittel dagegen gefunden oder vielmehr wieder deutlich erkannt, nämlich den Leib zu ermüden, auf daß der Geist Ruhe habe, welches auch Plato, wie mich der Professor versichert, für den ersten, ursprünglich von Gott bestimmten Zweck der Arbeit und Anstrengung hält, wozu ich auch zu Hause gelangen kann, weil er sich uns allenthalben darbietet.

Doch ich muß abbrechen, um meinen Lobgesang nicht wieder von vorn anzufangen. Aus der Länge dieses Schreibens magst Du, als wenn Du es sonst nicht wüßtest, ersehen, wie gerne ich bei Dir bin.

Sie bringen eine unglückliche Botschaft? rief der Oberst ängstlich dem Professor entgegen, als dieser unerwartet mit mehr als gewöhnlichem Ernste zu ihm kam: Sie haben mit der deutschen Post einen schwarzgesiegelten Brief erhalten, mein Bedienter erkannte die Handschrift des Majors und das Siegel. Es ist jemand gestorben – ist es meine Schwester? mein banges Herz sagt es mir – verhehlen Sie mir nichts!

So war es: denn kaum war das Schreiben des Obersten abgegangen, so empfing der Professor diese traurige Nachricht mit dem Ersuchen des Majors (der an den Verrat des Siegels nicht dachte), seinen Freund als dessen Vertrauter darauf vorzubereiten, bis er ihm selbst mit nächster Gelegenheit das Mehrere melden werde.

Was soll ich sagen? antwortete der Professor: Ich sollte Sie vorbereiten, Sie sind es schon. – Gerne wollte ich Sie trösten, aber ich sehe Sie weinen; der Trost ist in den Tränen, ihnen gehört das erste Recht, sie sind die Ehre der Toten.

Bittere Tränen vergoß der Oberst und der Freund saß stille neben ihm.

Fassen Sie sich, hob endlich der Professor an: Wir müssen an das Fräulein denken, wie machen wir ihr den traurigen Vorfall bekannt?

Als sie eben darüber sprechen wollten, trat Clotilde selbst ins Zimmer. Sie hatte etwas von dem schwarzen Siegel vernommen, worüber Tobias, als er die Briefe brachte, ihrem Kammermädchen einige Besorgnis geäußert, und da sie bald darauf hörte, daß der Professor zur ungewohnten Stunde zu dem Obersten gegangen, setzte sie das in Unruhe und trieb sie auch dahin.

Sie sah den Brief auf dem Tische liegen und las den Schmerz des Oheims auf seinem Gesichte. – Was brauchte es mehr? sie stürzte in seine Arme und – wußte alles.

Groß war ihr Leid, und heftig ihre Klage, denn sie schonte ihrer selbst nicht mit Vorwürfen, und was sie je gegen ihre Mutter gefehlt haben mochte, das rächte sich jetzt schmerzlich in dieser Stunde des Leidens.

Der Professor ließ sie mit dem Obersten allein um die Freundinnen zu benachrichtigen, und bald war das ganze Schloß eine Behausung der Trauer, wer hätte nicht Anteil an der Betrübnis der Edlen nehmen wollen?

Nach einigen kläglichen Tagen erfolgte die nähere Anzeige des Majors, er schrieb, daß die Baronesse, seit geraumer Zeit schwächlich, aufs Neue von einer Unpäßlichkeit überfallen worden, die unvermutet und schnell in tödliche Krankheit übergegangen; allerdings habe sie sehr nach den abwesenden Lieben geseufzt, aber ihr letztes Wort sei Zufriedenheit, sei Segen und Zärtlichkeit für ihr teures Kind gewesen. – Am Ende meldete der Brief noch, daß in der Residenz schon etwas von Clotildens Liebe zu Gustav und von des Obersten Nachsicht, wahrscheinlich durch Reisende ruchbar geworden sei und großes Aufsehen bei der vornehmen Welt errege, wovon aber der Sterbenden nichts mehr zu Ohren gekommen, das sie noch hätte beunruhigen können.

Dafür dankte der Oberst dem Himmel, denn der Todesfall lag ohnedies schwer auf ihm; er hatte seine Schwester brüderlich geliebt und nicht geglaubt, daß er sie nie wiedersehen würde. Auch machte ihn die Ungewißheit, was er nun anfangen sollte, unruhig und er ging darüber mit den Freunden zu Rate. Meine Rückkehr, sagte er, täte in mancher Hinsicht wohl und hätte ich nicht den Major, der für häusliche Angelegenheiten besser zu sorgen versteht als ich, so müßte ich gehen, komme ich aber mit Clotilde nach Hause zurück, so müssen wir dem Gerüchte Rede stehen, das ist mir unmöglich und hier bleiben, das kann ich auch nicht.

Möchte es Ihnen bei uns gefallen, lieber Oheim! wünschte die Schweizerin. – Gehen Sie nach Italien, rief die Chanoinesse. – Lassen Sie sich Zeit, sagte der Professor.

Er ließ sich Zeit. – Unterdessen ging nicht nur die Weinlese für die Trauernden geräuschlos vorüber, sondern auch Suschens Hochzeit, worauf so glänzende Erwartungen erregt worden, wurde zwar im Schlosse, doch ohne Gepränge und ohne die vielen auswärtigen Gäste, aber mit desto wärmerer Teilnahme gefeiert. Der Oberst hatte eine herzliche Freude, der Braut am Hochzeitsmahle ganz unerwartet die Zusicherung auf ein ansehnliches Vermächtnis von seiner Schwester, die sterbend noch der treuen Begleiterin der Clotilde gedacht hatte, zu übergeben. Er selbst beschenkte sie reichlich, und als sie und der Bräutigam aufstanden, ihm zu danken, umarmte er beide mit einer Träne im Auge; man sah, der Gedanke, sie bald auf immer zu verlassen, tat ihm wehe: Auf dein Fest, liebes Suschen – ich nenne dich jetzt zum letztenmale mit dem vertraulichen Namen, sprach er – sind wir alle zusammen gekommen. Wir dachten einst bei der Abrede nur an Fröhlichkeit, nicht an den Schmerz der Trennung, nicht an das, was inzwischen vorgefallen; entspricht aber auch der heutige Tag jener fröhlichen Erwartung nicht, so werden wir seiner dennoch als eines Tages der Freude gedenken, weil er dein Glück begründet hat. Was hindert uns aber, meine Freunde alle, das Ganze unseres hiesigen Aufenthalts als ein solches Fest anzusehen, das uns in Liebe und Freundschaft vereinigte, als den kurzen Abschnitt eines unverstellten Menschenlebens in tadelloser Freiheit und geselligem Verständnis? eine ach, nur zu flüchtige Stunde, dergleichen uns wohl nimmer zuteil werden wird!

Sie fühlten alle die Wahrheit und den Schmerz dieser Rede; selbst die Frau Amtsrätin schluchzte laut. – Der Oberst verließ den Saal, Clotilde mit ihm, bald wurde auch Gustav abgeholt, der seinen Fuß noch wenig brauchen konnte; alle drei schlossen sich ein, und kamen bis zum Abend nicht wieder zum Vorschein.

Doch der übrigen Gesellschaft war noch manches Ergötzen bereitet. Neben dem was Ehrenmänner des Dorfes dem neuvermählten Pfarrherrn insbesondere zu geben veranstaltet hatten, sollte ihm noch im Namen der Gemeinde auf das Hochzeitsfest eine inwendig vergoldete silberne Schale überreicht werden. Zu diesem Geschäfte wurde von den Vorgesetzten mit preiswürdigem Feinsinne der Alte ausersehen, den der Prediger jüngst aus den Flammen gerettet hatte und so trat er von zwei derselben geführt in den Saal und bot mit zitternden Händen das Geschenk sprachlos dem Bräutigam entgegen. Alle Herzen waren von freudiger Wehmut durchdrungen, der Prediger aber hatte nur Tränen der innigsten Rührung statt Worte. – Dem innern Rande der Schale waren nächst der Tag- und Jahrzahl der Feuersbrunst einzig die Worte eingegraben: Ein guter Hirt läßt sein Leben für die Schafe. – Unten am Fuße stand der Name des Pfarrers und der Gemeinde.

Auch kam die junge Frau aus der idyllischen Hütte, blühend wie eine Rose, mit ihrem Jungen, dem Patchen der Anwesenden, und brachte der Gesellschaft einen Korb mit Früchten zum Geschenk und der Braut einen Stock Butter.

Unter die Armen der Gemeinde hatte der Oberst insgeheim allerhand Gaben austeilen, und den zwei jungen Burschen, die dem Prediger bei dem Brande beigestanden, jedem eine Kuh in den Stall bringen lassen. Der jungen Mannschaft wurde in der Nähe des Schlosses, wo eine der schönsten Aussichten des oberen Rheintals ist, ein Freischießen zum Besten gegeben, dem der größere Teil der Gesellschaft auch beiwohnte; das dauerte bis an den Abend und selbst in der Nacht vernahm man noch das ferne Jauchzen aus dem Dorfe.

Alles dieses, und anderes mehr noch, machte den Tag festlich; der Beschluß aber setzte demselben die Krone auf. Denn als man bei angehender Nacht wieder fröhlich beisammen saß, erschien der Oberst mit Gustav und Clotilde am Arme den Hochzeitsgästen, wie er sagte, noch ein neuverlobtes Paar zuzuführen und als seine lieben Kinder ihrer Freundschaft aufs neue zu empfehlen.

War je eine Teilnahme aufrichtig, eine Freude einstimmig, so war es jetzt. Ein lautes Frohlocken verbreitete sich durch den Saal und das ganze Haus, so daß auch der treue Tobias an der Spitze der Dienerschaft kam und alle mit unverstellter Ergebenheit verlangten, der jungen Herrschaft glückwünschend die Hände zu küssen.

Die Neuverehelichten hatten dem nunmehr in sicherer Liebe hochbeglückten Paare sogleich den Ehrenplatz eingeräumt. Es war ein erneuertes Fest, man war und pries sich glücklich im Wiederholen der Vergangenheit, im Zusammenfassen der Gegenwart. Und als man auf die Gesundheit des Obersten und der liebenden Beiden trank, erwiderte es jener mit dem Wunsche für die, welche, was sie noch nicht seien, noch werden können. Wer damit gemeint war, verstand es, schlug einen Moment den Blick nieder und schwieg errötend; die Frau Amtsrätin aber bezog es, ganz gegen die Absicht des Obersten, auf sich, dankte gar schön und erklärte, was alle schon wußten, daß heute wirklich auch der Tag sei, an dem sie Hand und Herz dem Herrn von X schriftlich zugesichert habe, auf dessen Schloß sie künftig ihre Wohnung aufschlagen werde; sie empfahl sich ebenfalls zu fortdauernder Freundschaft.

Auch das wurde mit Liebe aufgenommen und im Namen aller verbindlich von Gustav beantwortet. Zwar stimmte es den Flug der Begeisterung ein wenig herunter, doch der alte Professor fand es nicht außer der Ordnung: Denn, sagte er zu seinem Nachbar, es gehört zum irdischen Wohlsein, daß der Mensch nicht zu lange in den Lüften der Empfindung verweile.

Mit diesem Tage, dem die Trauer nur das Geräusch, aber nicht die Innigkeit der Freude genommen hatte, war die Wechselhöhe der Gastgenossenschaft erreicht, man fühlte das und mit diesem Gefühle, wenn auch schon die Neigung zum Beisammensein noch vorherrschte, war ohne Täuschung kein Bleiben mehr.

Der Oberst, dem wenig andere Wahl übrig blieb, wenn er weder nach Hause zurückkehren noch in der kalten Schweiz bleiben wollte, hatte dem Ermahnen der Mehrzahl nachgegeben und sich entschieden, den Winter jenseits der Alpen zuzubringen. Da die Schweizerin hieran keinen Anteil nehmen konnte, so wurde bei der Frau Amtsrätin ausgewirkt, daß die Base als Gesellschafterin Clotildes mitgehen dürfte, worüber beide hocherfreut waren. – Gustav sollte bis zu seiner gänzlichen Wiederherstellung noch auf dem Schlosse bleiben und dann mit dem Engländer, der sich nicht von ihm trennen wollte, auf Reisen gehen: Vielleicht treffen wir einander in Italien, hieß es, und dieses vielleicht war bei den Jünglingen schon ein bestimmter Vorsatz. Hingegen wollte die Chanoinesse, die sich viel mit der Bildung von des Hauptmanns Töchterchen abgab, noch einige Zeit in der Schweiz bleiben und dann ihr Stift besuchen.

Und so kam die Trennung. Erst aus den Armen Gustavs und von dem nun auf immer zurückbleibenden Suschen, wer will ihre Schmerzen beschreiben? – In Konstanz (der Hauptmann war schon früher verschwunden) schied die Chanoinesse und der Engländer; dieser im Gefühle des Glücks, nach einer seinen Wünschen antwortenden Unterredung mit der Base, die in Gegenwart des Obersten vorging. Die Chanoinesse nahm gar nicht Abschied, so war sie mit dem Obersten übereingekommen, allein sie trat den Rückweg mit zerrissenem Herzen an, denn Achtung und Liebe für den Alten hatten sich in ihr, je näher sie ihn kennengelernt, immer tiefer gewurzelt, sie liebte ihn selbst in seinen Schwachheiten.

In Bern blieb die freundliche Schweizerin zurück und fühlte sich wie verlassen mitten im Kreise der Ihrigen, und die Reisenden weinten lang um diese Seele voll Rechtlichkeit und Treue.

Noch war der alte Professor allein übrig, der dem Freunde das Geleit bis an die Berge gab. – Wo sehen wir uns wieder? fragte sich losreißend der Oberst. – In dem Reiche süßer Erinnerungen, antwortete der Professor, und eine menschliche Träne floß dem Einsamen über die Wange.


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