Ulrich Hegner
Die Molkenkur
Ulrich Hegner

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An die Baronesse von ...

Gais, 4. Juli

Endlich ist Euer Briefpaket angekommen. Ich danke Dir, gute Schwester, für Deine erfreuliche Nachricht, daß daheim alles gut gehe, so hab' ich's auch erwartet. Man meint zwar oft, wenn man eine lange Zeit nicht von zu Hause weggekommen ist, sich nicht mehr entfernen zu dürfen, ohne daß die ganze Hausordnung darunter leide, kaum ist man aber fort, so schwindet über den neuen Eindrücken das Andenken an die kleinlichen Sorgen zu Hause, wie nach dem Tode so manche materielle Peinlichkeiten schwinden, möchte ich hinzusetzen, wenn ich's nur sicher wüßte! – Man bekommt leichten Mut und läßt alles gehen wie es mag und gewöhnlich geht es auch ohne uns ganz gut wie meistens auch nach dem Tode.

Es lebe dein leichter Mut! wirst Du sagen. Ja, Schwester, über das was hinter mir ist, hatte ich selten einen schweren Mut, auch nicht über die Zukunft, nur das was mich umgibt, die Gegenwart, ist mir nie ganz recht und ängstigt und plagt mich auch jetzt noch nur gar zu oft, ungeachtet der heilsamen Ziegenmolkenkur, auf deren Wirkung Ihr so viel zählt.

Seit meinem letzten Briefe habe ich einen kleinen Absprung, denn der Aufenthalt hier langweilt mich, nach Konstanz am Bodensee gemacht, wovon ich dem Major Nachricht geben werde. Ich nahm jedoch nur den Tobias mit, denn Clotilde und ihr Mädchen haben ganz andere Dinge zu tun, sie sind verliebt – ja wahrhaftig – verliebt! Damit aber Dein Mutterherz nicht zu sehr erschrecke muß ich Dir sagen, daß ihre Liebe einstweilen noch an leblosen Gegenständen haftet, indessen kann ich für nichts gutstehen, wenn ihre Bewunderung für das helvetische Tempe, wie sie dies Land nennen, so fortgeht. Was sich jetzt ihrer Seelchen bemächtigt hat, das ist die Pflanzenkunde und sogar Versteinerungen, deren es hier in der Nähe viele gibt, haben den Weg in ihre weichen Herzen gefunden, denn die Mädchen treiben alles mit dem Herzen. Das ist ein Eifer und ein Studium, Du glaubst es nicht!

Zur Ergötzlichkeit lesen und verfertigen sie dann alemannische Gedichte, worin sie ebenso vergafft sind wie in die Naturgeschichte. Du siehst, Schwester, was ein vielumfassender Kopf vermag und was sich alles in Deiner Tochter entwickelt, nicht umsonst hatte sie so ein Verlangen mitzureisen, es war Ahnung! Vernimm, wie das alles zugeht:

Mit dem schönen Wetter hat sich eine große Anzahl Kurgäste eingefunden, gebildete Leute aus dem benachbarten Schwaben, auch wohl weiter her und viele Schweizer. Unter jenen ist eine Chanoinesse (Stiftsdame) aus M..., die an den Nerven leidet und deshalb eine Reise nach Italien machen mußte, woher sie jetzt eben zurückgekommen, um ihre Heilung hier zu vollenden. Diese ist sehr instruiert, redet von der Kunst und soll große Kenntnisse in der Naturgeschichte, hauptsächlich in der Botanik haben, wenigstens hat sie der Clotilde eine überschwengliche Neigung dafür beigebracht, sie spricht viel und sehr gut, führt einen großen Briefwechsel, lacht wenig und entscheidet viel. Auch gibt sie sich theoretisch mit der Volkserziehung ab, woran aber Deine Tochter bisher noch keinen Geschmack fand.

Sie imponiert durch ihren Verstand und weiß Teilnahme durch ihre Kränklichkeit zu erwecken. Dann aber ist auch noch eine muntere junge Schweizerin hier, beinahe das Gegenteil von jener, stets freudig, gefällig und offen, voll Gesundheit und Leben, reich, welches in der Schweiz soviel wie Adel gilt, jedoch ohne alle Anmaßung, und was das vorzüglichste ist und ihr besonders das neidlose Herz Deiner Tochter zugewandt hat, sie ist eine Dichterin. Diese drei sind nun unzertrennlich, Clotilde und die Schweizerin machen Verse und die Chanoinesse prüft sie. Sie üben sich aber, wie gesagt, meistens an Gedichten in der Volkssprache nach Art des Alemannischen. Und ob ich schon predige, daß das ein falscher Geschmack sei, daß es als ein Versuch zum Scherz etwa einem Dichter hingehen möge, insofern er die Naivität des Volkes in dessen Sprache zu legen wisse, so lassen sie es doch nicht und lachen mich nur aus und haben auch recht, denn ich sollte nicht predigen, wann hat je die Mode Vorstellungen vom Alter angenommen? – Eine bloße Mode ist es aber, die besonders hier im Lande im Gange ist, seit Hebel in seine berühmten Gedichte nicht nur die Sprache, sondern auch die ländliche Natur und den Geist des besseren Teils seines Volkes gebannt und alles Kleine mit so viel Liebe zu idealisieren gewußt hat. Du erinnerst Dich noch, wie wir schon zu Hause daran uns mühten, aber nie recht zum Verstehen gelangen konnten, nun verstehe ich sie vollkommen und mit großer Lust, besonders wenn sie die Schweizerin in ihrer eigenen Mundart, mit der ich durch Umgang näher bekannt bin, vorliest, denn es gibt in der Schweiz der Dialekte mancherlei, so daß sie oft einander selbst nicht verstehen. Man hätte denken sollen, nach Hebel wären alle diese Dichter verstummt, aber da stand im Gegenteil ein Heer von Unbesonnenen auf und hinkte ihm nach, und nun ertönen aus allen Ecken des Landes Lieder in der Volkssprache, ein unverständliches Gequake, Volkston aber nicht Volkswitz, sie sprechen freilich in Idiotismen, aber scherzen wie unmündige Kinder, oder moralisieren wie Schulmeister. Originalität und Meisterhaftigkeit haben ein Vorrecht zu allem und damit hat Hebel auch alles gut gemacht, sein Bändchen liest sich mit Wohlgefallen, aber wenn auch er durch den verdienten Beifall sich zu mehreren Bänden verleiten ließe, so würde er selbst erfahren, daß die Manier ermüdet, um so viel mehr, wenn sie noch durch Nachäffung verpfuscht und alltäglich geworden ist.

Das sage ich den Kindern oft, sie haben aber ihre Köpfchen oder ihre weiblichen Vernunftgründe, wogegen nicht aufzukommen ist. Die Schweizerin antwortet: Sie sagen ja selbst, lieber Oheim (so nennt sie mich), jene Gedichte gefallen Ihnen, also finden Sie sie schön, was soll man aber nachahmen, wenn das Schöne nicht? – Meinetwegen! so mag die eine Verse machen wie die Schweizerbauern und die andere wie die Mecklenburger-Biergesellen, wenn ihnen die gewöhnliche Sprache zu gering ist. Ich lasse ihnen die Freude und habe dafür meinen Spaß an Suschen, die sich auch an den Schweif des Pegasus, worauf die beiden Musen sitzen, gehängt hat. Diese hatte zuerst eine jungfräuliche Abneigung gegen das Alemannische, weil ihr das Wort zu stark vorkam, wie sie sagte, indem einem dabei der Sinn an »alle Männer« komme. Sie ließ sich aber belehren und meinte nun (von welchem Wahne auch Deine Tochter anfänglich nicht ganz frei war), jeder Volksdialekt sei Alemannisch, und unter dieser Benennung sang sie der Schweizerin ein plattdeutsches Lied vor, wovon diese Alemannierin kein Wort verstand. Neulich fragte sie, ob der Kuhreihen auch ein alemannisches Gedicht sei? Ein animalisches, versetzte der alte Professor aus Z.

Sie machen auch Scharaden und Logogryphe, ganze Bogen voll, die dann unter der Gesellschaft herumgeboten und enträtselt werden. Clotilde wird Dir ein paar Dutzend von den besten schicken, Du kannst sie dann dem Pastor geben, daß er sie in einen Musenalmanach einrücken und unsterblich machen lasse. Es ist ein unterhaltendes Spiel, wenn es nicht schriftstellerisch getrieben wird, indessen halte ich's doch im geistigen Verstande mit einer ehrlichen Frau Ratsherrin aus Gl..., welche hier die Kur braucht und gefragt, ob sie auch die Scharade liebe, erwiderte, sie esse sie nicht gern.

Soviel von unserem dichterischen Leben. Sei übrigens unbesorgt, eine Pedantin soll Dein Fräulein nicht werden, die Schweizerin ist es auch nicht, es sind beide unbefangene, muntere Kinder, die einen Augenblick nach einer neuen Weise tanzen. Die Leute meinen oft, sie haben den Geschmack und haben nur die Mode, welches mitunter ein Glück ist, denn der Geschmack ist inhärent, wenn er auch falsch ist, die Mode hingegen ist vorübergehend.

Den 6. Juli

Als Clotilde mit des Pastors Gustav Latein lernte, fragtest Du: Wozu das? und ich antwortete: Latein ist wie die Gottseligkeit zu allen Dinge nütze. Wenn sich meine Behauptung nicht schon früher bewährt hätte, so geschähe es gegenwärtig, denn wie wollte sie jetzt alle gelehrten Namen der Pflanzen, die sie täglich nach Hause bringt, behalten, wenn sie nicht etwas von jener Sprache wüßte?

Gartenblumen? – Mitnichten! die überläßt man den Bürgersfrauen. Das Vornehme ist jetzt gemein und das Gemeine vornehm geworden. Wiesenblumen, Heidekräuter, Moose und Flechten sind es, womit alle Gläser und Töpfe im Hause angefüllt sind und wozu? Um über ihre Fruktifikation etwas sagen zu können und ihre linnéischen Namen auswendig zu lernen, an mehr wird nicht gedacht.

Neulich sind sie mit mehreren Kurgästen in die nächsten Berge kräutern gegangen und mit ganzen Körben voll Beute zurückgekommen. Und nun sollte nach dem Verlangen der Chanoinesse alles beschrieben, zerlegt und aufbewahrt werden, das war aber der flüchtigen Jugend bald zu langweilig. Ein junger deutscher Arzt, der sie begleitet hatte, nahm indessen die Mühe auf sich und anerbot sich, den Damen in Abwesenheit der Chanoinesse, der ihre ausgedehnte Korrespondenz und übrige Studien viel Zeit wegnehmen, das Sexualsystem zu erklären. Ich habe es aber für Clotilde höflich ausgewichen und ihr eine französische Anleitung à la portée des Dames angeschafft, die dem Zweck hinlänglich Genüge leistet. Auch die Schweizerin, an die sich der Arzt vorzüglich wandte, deren fröhliche Weiblichkeit aber an allem, was trocken ist, gleichgültig vorüberstreicht, ward des gelehrten Unterrichts bald satt und hielt sich zu Clotilde und ihrem französischen Buche, welches mir lieb war, denn was hätte ihr Mann für Freude gehabt, wenn sie mit solchen polyandrischen und kryptogamischen Kenntnissen nach Hause gekommen wäre? – Zwar lachte die Chanoinesse über meine Bedenken und meinte, man müsse dabei an weiter nichts denken. Wie weit die Stiftsdamen ihrer Phantasie Meister sind, weiß ich nicht, aber von den Weltlichen hab' ich schon sagen hören, daß ihnen die Gedanken oft wider ihren Willen kommen.

Ich merke jedoch schon, daß dieser flüchtige Eifer nicht zur wissenschaftlichen Beharrlichkeit werden wird, da steht ihren poetischen Gemütern die Empfindsamkeit im Wege, sie hängen zuviel an den schönen Farben und zarten Formen der Pflanzen, haben Vorliebe für diese und jene, machen Freundschaft mit ihnen und können es nie recht übers Herz bringen, sie kaltblütig zu verstümmeln oder mit grausamer Hand in ein Herbarium hineinzukreuzigen. Die Namen, die hochklingenden, wollen sie wissen, das ist alles, das macht Effekt! Es gehört jetzt zum eleganten Ton, keine Reise zu machen, ohne sie zu beschreiben und keine Beschreibung, ohne von einigen aufgefundenen Blumen die linnéische Terminologie anzugeben, so daß der Reisende, wenn er nur ein Veilchen pflückt, das er mit Sehnsucht an den Busen der Geliebten zu heften wünscht, nie vergessen darf, das Corpus delicti mit Viola odorata Lin. zu bezeichnen, wobei der geduldige Leser nicht nur sein Wissen ehren, sondern ihm wohl auch noch eine Ähnlichkeit mit dem genialischen Rousseau zutrauen soll, der diese Kunde so beredt als den einzigen Trost in seiner Menschenverlassenheit anpries und auch darin das Los großer Männer teilte, daß er viele kleine zu Narren machte. Es ist unbegreiflich, wie magisch schnell sich modische Denkungsart verbreitet, und damit wird auch heutzutage diese liebliche Wissenschaft verhudelt, weil man alles ins Alltägliche hinabzieht und dann dabei stehen bleibt, das Forschen scheut und mit ärmlicher Kenntnis einen eintägigen Ruf erlangen kann. Um die Physiologie der Pflanze bekümmert sich keiner dieser Schreib- und Empfindseligen, wenn nur das Kunstwort richtig dasteht, so wie sie reisen, nicht um zu sehen, sondern um gesehen zu haben.

Auch die Chanoinesse scheint gar nicht tief in die gründliche Kenntnis eingedrungen zu sein, denn da ich eben Hallers Alpen vor mir hatte, fragte ich nach den dort angegebenen und so seltsam beschriebenen Blumen, allein sie wollte nichts davon wissen, weil die Namen nicht linnéisch wären. Und als ich in meiner Einfalt ein altes Kräuterbuch, das mir der Hauswirt geliehen, der Clotilde empfahl, sowohl wegen der Abbildungen als der angegebenen Eigenschaften der Pflanzen wegen, stieß jene es unwillig auf die Seite und sagte, ob ich einen Apotheker aus meiner Nichte machen wolle? Was hat man aber von den bloßen Namen, wenn man die Eigenschaften nicht weiß?

Ihrem richtigen Grundsatze gemäß, daß man bei solchen Erlernungen von dem nächsten ausgehen müsse, leben wir nun ganz von dem, was uns der Ritter Linné auftischt. Täglich laben wir uns an der Fragaria vesca Lin.; die liebliche Frucht des Prunus cerasus Lin. wird uns, obgleich noch sparsam, aus dem Rheintale heraufgebracht, so wie auch das Gemüse, worunter die Brassica oleracea Lin. mit ihren Spielarten uns viel zu schaffen macht. Hier gibt es weder Gärten noch Bäume noch Felder, woran aber das tiefere benachbarte Land einen Überfluß hat, daselbst wächst auch häufig die Vitis vinifera Lin. und daraus wird ein angenehmer roter Trank bereitet, der etwas Stärkendes und Erheiterndes hat und noch mehr Liebhaber findet, als das Erzeugnis von der Capra hircus Lin., das jeden Morgen unser wartet.

So führen wir ein poetisches und gelehrtes Leben über die Maßen. Alles was in die Sinne fällt wird besungen oder wissenschaftlich bezeichnet, so daß ich die heidnische Frage: Was werden wir essen oder trinken gar nicht mehr stellen mag, aus Besorgnis, mit einem süffisanten Lin. abgefertigt zu werden. – Dem Kammermädchen wollten die welschen Namen erst gar nicht in den Kopf, sie machte sich deshalb an Tobias, der in seiner Jugend ein Balbier gewesen und wollte wissen, was denn das Lin. hinter jedem Wort zu bedeuten hätte? Tobias erklärte ihr, dies sei das Diminutiv, womit die Schweizer alles was klein sei oder ihre Liebe habe benennen bis auf die Taufnamen, so laute auch der ihrige in der Schweizersprache Sus Lin. – Oft weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll, gestern kam die Chanoinesse mit dem Dianthus carthusianorum und sagte, sie ziehe solchen dem Dianthus caryophyllus (eine kleine wilde Nelke der schönen Gartennelke) weit vor, wegen seiner Bescheidenheit, als wenn die Gartennelke unbescheiden wäre! Und die Schweizerin hatte ihren Arm verbunden, um sagen zu können, sie sei von der Urtica dioica gebrannt worden.

Sonst wissen sie, wenn sie bei Verstande sind, so viel Anziehendes von dieser Bergreise zu erzählen, daß mir oft die Begierde kommt, selbst einmal diese Trümmer der Schöpfung aus der Nähe zu sehen, wenn ich nur wüßte, wie hineinkommen! Gefährlich muß es nicht sein, denn der Gesellschaft ist kein Leid widerfahren, als daß sie todmüde und mausnaß von einem Regen zurückkamen, der sie überfiel, weil sie einen Stein in das Wetterloch auf dem Kamor geworfen, welches Sturmerzeugnis der Arzt, ein Naturphilosoph, für keine Unmöglichkeit erklärte, indem der große Shakespeare berichte, daß viele Dinge unter dem Himmel geschehen, wovon sich unsre Philosophie nichts träumen lasse.

Noch ein widriger Zufall hat sie betroffen: Es ereignete sich, als sie des Nachmittags bei einer Sennhütte Rast hielten und Suschen sich mit einem jungen Alpensohne besprach, daß eine Ziege ihr einen großen Blumenstrauß, voll der seltensten Pflanzen, den sie in der Hand trug, unvermerkt abfraß, so daß sie nur noch den leeren Besen behielt, ein Verlust, der allen sehr nahe ging. Man wollte es erst der Chanoinesse verschweigen, sie erfuhr es aber doch und machte dem Mädchen gerechte Vorwürfe, daß sie im Gespräch mit einem gemeinen Burschen sich so weit vergessen könne, nicht auf die ihr anvertrauten wichtigen Blüten zu achten und so ihre Herrschaft um die Mühe des Tages zu bringen. Diese entschuldigte sich, sie habe nur zu wissen verlangt, wie er seine Zähne so weiß erhalte?

Hatte er denn so schöne Zähne?

Jawohl, und ein Gesicht wie Milch und Blut.

Wirklich? und wohl gewachsen?

Er sprang über eine mannshohe Hecke hinweg.

Es gibt schöne Leute in den Alpen. Und was gab er zur Antwort?

Ich soll am Sonntag nach Appenzell zum Tanze kommen, da wollte er mir's dann sagen.

Ei! den Tanz wollen wir sehen! endigte die Chanoinesse, und ward wieder gut.

 
An den Major von ...

Gais, 8. Juli

So wie die Schweizer das Heimweh an fremden Orten überfällt, hat es mich in der Schweiz gefunden. Ich sehne mich zurück, wo Du bist, zur Schwester, zum Pastor, selbst zum Schulmeister und Dorfschulze, ja zu Hund und Katze hätte ich bald gesagt. Ich will und muß wiederkehren zur ernsten Ordnung, zur ruhigen Stille, oder, wenn Du lieber willst, zur angewöhnten Bequemlichkeit, die ich nicht mehr missen kann, ob ich gleich fühle, daß das Herumziehen meiner Gesundheit behagt und jene Bequemlichkeit mir auch wieder zur Last fallen wird. Es ist eine zur Natur gewordene Unruhe in mir, daß ich oft selbst nicht weiß was ich will, am besten ist es, wenn ich gar nicht mehr über mich selbst nachdenke und in den Tag hineinlebe. Wer das nur könnte! – Dem sei wie ihm wolle, ich gehe nicht weiter, ist es nicht schon ein Widerspruch in Worten: herumlaufen, um Ruhe zu suchen? Sie ist nirgends, als wo Friede und Freiheit ist, Pax est tranquilla libertas, sagt Cicero. Aber wo sind diese? Frieden und Freiheit waren schon in der Jugend unsere großen Worte, die haben wir gesucht zu Wasser und zu Lande, im Felde und an Höfen, in großen Städten und in der Einsamkeit und so das Streben der männlichen Tätigkeit in Müh und Arbeit, Freud und Leid vollbracht und freilich auch Genuß dabei gefunden, aber es war doch nicht der Frieden und nicht die Freiheit und wenn diese köstlichen Güter irgendwo zu finden sind, so ist es, wenigstens für unsre Jahre, am heimatlichen Herde, wo man die kummerlosen Tage der Jugend verlebte, deren lebhafte Eindrücke mit so heiterer Anmut sich dem Alter wieder darstellen. Dies Gefühl ist das wahre Heimweh und liegt in unserer Natur. Wie das müdegejagte Tier wieder zu seinem ersten Lager zurückkehrt, so sucht auch jeder, der das rastlose Treiben der Welt kennt, zuletzt wieder die Stätte ruhiger Träume, aus der er in die Stürme der Welt trat. Ulysses sehnte sich sogar aus den Armen der Göttinnen wieder nach seinem steinigen Vaterlande, auch Plutarch kehrte nach Chäronea in Böotien zurück, und haben wir nicht den Mann, den die Fürsten ehrten, gekannt, der, während er öffentlich sein geliebtes Vaterland höhnte, in der Einsamkeit blutige Tränen nach einem stillen Winkel in der verspotteten Vaterstadt weinte! – Das ist der wahre Zug der Natur, sage ich; alles andre Gelüsten nach wärmerem Himmel und üppiger Erde ist, man mag ihm auch noch so schöne Namen geben, Unerfahrenheit jugendlicher Phantasie und noch öfter sentimentale Selbsttäuschung, einigen vorzüglichen Männern nachgesprochen, die ein entschiedenes Talent nach jenen fernen Gegenden hinzog, und ihnen das Recht erwarb, sie auf Unkosten andrer zu preisen:

»Nicht in Rom, in Magna Gräcia,
Dir im Herzen ist die Wonne da!«

sagt gleichwohl auch einer von ihnen. – Man will sich einen Schatz von Gefühlen sammeln, und vergeudet darüber sein Leben leer an Taten.

Der Engländer, wenn er das schöne Italien durchstreift hat, kehrt gerne wieder in sein freies Nebelland zurück, der Franzose in die Schule der Höflichkeit, der Schweizer in seine Berge, hat denn das deutsche Vaterland allein keine Anmut für seine Kinder? Gilt die deutsche Treue nichts mehr, nichts mehr der redliche Bürgersinn, wird Fleiß und Genügsamkeit nicht mehr geachtet, und ist die Bescheidenheit, die jedes Verdienst ehrte, von uns gewichen? Der Mensch muß das Glück erst in sich selbst und dann unter der Gesellschaft von Seinesgleichen suchen, ohne das wird ihm auch der heiterste Himmel nicht lachen, sollte dies aber unter einem ehrbaren Volke nicht so gut zu finden sein, als unter den schönern Larven Italiens? – Dies und noch mehr sag ich mir schon hier und sage es noch stärker, wenn man mich überreden will, weiter zu gehen, und mich wohl gar auf längere Zeit dort niederzulassen.

Um mich zu zerstreuen und doch auch etwas von der so gepriesenen Schönheit der Schweiz zu sehen, machte ich mit dem alten Professor aus Z. eine kleine Ausfahrt nach dem benachbarten Konstanz. Denn hier ist ein unfruchtbares Land, nichts zu sehen als Tannenwälder und unförmliche mit Grün bekleidete und von unzähligen toten Hecken durchschnittene Hügel, denen allein die vielen zerstreuten Häuser, das weidende Vieh und das muntere Rufen der Küher einiges Leben geben.

9. Juli

Dieser Professor ist mir eine liebe Erscheinung, die ich gerne um mich habe, weil sie aus eigenem Lichte leuchtet. Er ist aus der gründlichen Schule Bodmers und der Alten, hat aber von diesen weniger das Ästhetischschöne als das Sittlicheinfache sich zu eigen gemacht. Die alte klassische Welt kennt er durch und durch und lebt in ihren Sprüchen, er liest ihre Geschichte, und ist nicht unbekannt mit ihren Staatsverfassungen. Die moderne Politik hingegen ist ihm, so wie den meisten seiner Landsleute, sobald sie über den Notbedarf des Vaterlandes hinaus geht, fremd. Was soll ich, sagt er, meine Zeit mit dem Studium neuer Verfassungen verlieren, die man doch nur dann richtig beurteilen kann, wenn man unter ihnen lebt und das, was sie versprechen, mit der Erfahrung vergleichen kann oder muß? Die bloße Theorie derselben gibt uns nur eine idealische Ansicht, die selten mit der Wirklichkeit übereinstimmt. So wie ein Mensch im Porträt immer ein Sonntagsgesicht macht und erst dann wahr erscheint, wenn wir ihn in der Beweglichkeit des Lebens sehen, so ist es auch mit der Form der Staatsverfassungen, der Geist ist es, der sie beleben muß, und dies belebende Prinzip bleibt doch der, dem die Gewalt gegeben ist. Darum ist die Monarchie immer eine einfache Regierung, sie mag noch so viele künstliche Modifikationen haben, weil der Fürst ihr Geist ist und mit Kraft und Klugheit aus ihr macht, was er will; da ist also ohnehin nicht viel zu studieren. – So redet er, so denken die meisten, wissen aber gar wohl, wenn sie es schon nicht gestehen dürfen, daß auch bei ihren Gemeinstaaten samt und sonders die wirkliche Gewalt in den Händen von Wenigen liegt, die für das liebe Vaterland sorgen wie sie es gut finden. – Doch können wir's ihnen wehren, sagte er. – Wenn sie nicht gescheiter sind als ihr, erwiderte ich.

Was außerhalb der Schweiz vorgeht, das liest er in der Zeitung, und legt es mit der Zeitung auf die Seite, hingegen was in dem Lande selbst geschieht, das interessiert ihn bis auf Kleinigkeiten, er schmäht zwar oft darüber, wie alle Schweizer, aber, wie auch alle, mit geheimer Liebe. Von neueren Dingen spricht er mit vornehmer Zurückhaltung, damit er nicht auf den hier und dort noch schlummernden Parteigeist treffe, denn der ist, sagt er, das größte Übel, das die Hölle unter die Menschheit gespien, das niemand kennt, als wer in seinem giftigen Hauche gelebt hat. Sonst ist er über die wiederhergestellte Ruhe herzlich froh.

Seine Gestalt ist reinlich, seine Bewegung langsam, sein Inneres ohne Ehrgeiz. Wer sich nicht kann eigener Größe freuen, darf doch mit seinem Kleinen sich gütlich tun, meint er und das kann und tut er auch, ohne viel nach äußeren Vorzügen zu fragen. Denn, wiewohl in der Schweiz das Geld sehr geachtet ist, so haben die Schweizer doch noch einen Sinn für die Einfalt des Lebens, der sich bei uns, die wir uns in Rang und Titeln verloren haben, selten mehr findet. Zum Teil habe ich es schon selbst bemerkt, auch von glaubwürdigen Zeugen vernommen, daß selbst in den Hauptstädten des Landes, wo sonst von dem Unkraut der neueren Zeit viel aufgeschossen ist, ein rechtlicher Mann, bei dem Kopf und Herz an der wahren Stelle sind, auch bei den Optimaten in Ehr und Ansehen steht, wenn er gleich wie dieser Professor, keinem Menschen den Hof macht und sich selbst auf die anmaßungsloseste Weise von der Welt Herr und Diener zugleich ist, sich auch öfters über konventionelle Verhältnisse absichtlich hinwegsetzt oder sie wirklich nicht kennt.

Seine Freimütigkeit ist seiner äußeren Einfalt gleich und eines freigeborenen Menschen würdig, und da sie keine Bitterkeit hat, so zieht sie ihm auch selten Verdruß zu, zumal der ernste Mann über jede Antwort gelassen bleibt und dem Unfeinen bloß den Rücken kehrt. – Daß ich indes in leidenschaftlicher Aufwallung mich manchmal an diesem milden Gleichmut stoße, wirst Du wohl begreifen. Neulich erhielt er von zu Hause die Nachricht, daß daselbst von jungen Knaben ein vaterländisches Schauspiel aufgeführt worden und freute sich kindlich darüber, er kam immer wieder darauf zu sprechen und sprach davon nicht wie von einem Zeitvertreib, sondern wie von einer Anstalt zu höherer Bildung. Das wird, sagte ich endlich ärgerlich, wieder eine von Euren Schweizereien sein, womit Ihr einander die Ohren so voll macht und die kein Fremder mehr hören mag. Er nannte mir die Griechen, die auch durch Nationalschauspiele ihre Vorfahren ehrten und den Geist und Geschmack ihrer Jugend bildeten. Darüber geriet ich in Eifer: Seid Ihr denn Griechen? Wurden ihre Schauspiele von Knaben aufgeführt? Sie wählten ihren Stoff aus der homerischen und vorhomerischen Heldenzeit, ihrem heiligen Mythos, an dem ganz Griechenland teilnahm, Ihr von aufrührerischen Bauern! Ihre Dichter waren Äschylus und Sophokles, wer sind die Eurigen? Ihre Schauplätze wurden bald zu öffentlichen Marmorgebäuden, die Eurigen sind und bleiben Brettergerüste auf einer Zunft oder in einem Schuppen. Und die Zuhörer? Dort waren es die Häupter des Staats und das Volk im allgemeinen Interesse, hier eine Handvoll eleganter Stadtbewohner, ein Haufe abgeschmackter Dilettanten und die zärtlichen Eltern der spielenden Knaben, bei denen allen an keinen begeisternden Einfluß mehr zu denken ist. Ihr versprecht Euch patriotische Wirkung auf die Knaben, wenigstens doch Bildung des Geschmacks, aber dann müßt Ihr auch Verbildung erwarten, wenn die meisten Stücke keinen Geschmack haben. Vaterlandsliebe aber, diese heilige Gesinnung, muß, wenn sie gelehrt werden kann, aus dem lebenden Beispiel wackerer Bürger gelernt und aus den Büchern der Geschichte in ernster Betrachtung genährt werden, von der modernen Bühne herab tritt sie gewiß nicht unter das Volk, diese kann höchstens die Phantasie aufregen, der Einbildung vorübergehend eine Kraft vorspiegeln, die nicht im Charakter des flüchtig Aufgeregten ist, mithin auch im Drang der Wirklichkeit verschwände. Es gibt keine nachahmenden Helden. Wahre Größe und Tapferkeit kommt nicht nur durch die Einbildung in den Menschen, sonst hätten die Hermannsschlachten und Ritterromane schon lange unsere deutschen Heere zu Besiegern Europas gemacht. Laßt einmal Eure wackern Ahnen in Frieden ruhn, wie die Griechen könnt Ihr sie doch nicht brauchen. Euch ist ein anderer Mythos gegeben und bedenkt, wenn andere Nationen auch so ihre Heldentaten herumbieten wollten, was das für eine Ruhmredigkeit und Eifersucht gäbe, deren Lächerlichkeit man gewiß bald einsehen und zuletzt froh sein müßte, wieder zu der Bescheidenheit der Gegenwart zurückzukehren und im Fall der Not, mit Hintansetzung alles angelernten Hochsinns, aus eigener Kraft, wenn sie noch da ist, groß und gut handeln zu können.

Geduldig wie ein Märtyrer ließ er mich austoben, endlich verwunderte er sich, daß ich so ins Allgemeine hinein peroriere, wo nur von einem einzigen unschuldigen Falle die Rede sei. Mein jüngster Bruder hat das Stück geschrieben, sagte er, und zwei Söhne meiner Schwester halfen es spielen, arme Jungen, wenn ihr hörtet, wie man euch eure Herzensfreude beinahe zum Verbrechen und euren Ruhm zur Schmach macht! Lieber Baron, fuhr er fort, meine Hand ergreifend, Sie sehen und verurteilen durch ein getrübtes Teleskop aus der Ferne und außer aller Haltung, was Ihnen in der Nähe mit Ihren natürlichen gutmütigen Augen betrachtet, gewiß unschädlich, und vielleicht gar anständig und recht erschiene.

Siehe, Kamerad, da hast Du mich wieder einmal wie Du mich schon so oft gesehen, beschämt, wo ich recht zu haben erwartete, bloß um der verwünschten Gewohnheit willen, kleine Dinge in den Gesichtspunkt der großen zu stellen und die heutige Welt nach der alten zu messen, wovon ich nicht einmal weiß, ob meine Vorstellungen wahr sind. Ich fühlte meine alte Torheit und war über mich selbst ergrimmt und hätte ganze Ströme von Molken hinunter gießen mögen, wenn ich damit Milde in mein Urteil bringen könnte. Aber was vermögen da die Molken, ein Wolf kann hundert Schafe fressen, er wird dadurch nicht sanftmütig werden! – Laß mich zu mir selbst kommen.

Abends

Von meiner Reise wollte ich Dir erzählen und habe von dem Professor gesprochen. Es ist eine Lust von einem vorzüglichen Manne zu reden, unter jeglicher Form bleibt er der edelste Stoff. Wer will aber einen Menschen beschreiben mit seinem Licht und Schatten? Züge können wir wohl von ihm erzählen, führt man aber nur die guten an, so ist man einseitig, und wer mag gern von den andern reden! doch gehören beide ins Gemälde und wenn man auch alles gemalt zu haben glaubt, so ist es doch noch nicht der Mensch. Auch der Einfältigste ist unergründlich, wer erforschet das Innere des Klugen?

Den 10. Juli

Durch das Rheintal und obere Thurgau hinab, meist dem Rhein und Bodensee nach, ging unser Weg. Willst Du dies Wein- und Obstland näher kennenlernen, so laß Dir von unserem Pastor ein gutes Buch, Ebels Anleitung die Schweiz zu bereisen, geben, es ist voll sicherer Kenntnis alles dessen, was Natur und Geschichte merkwürdiges darbieten, nur wirst Du vielleicht mit mir finden, daß dessen Verfasser allzusehr der herrschenden Unart nachgegeben und zu viel für jene neue Gattung Reisender, die selbst Norick noch nicht kannte, da sie doch von der empfindsamen Art sein wollen, man könnte sie Aussichtler nennen, gesorgt hat. Das hat mir unterwegs viel Freude verdorben, ist es nicht unerträglich, keine halbe Stunde zurücklegen, und sich in dem Buche über die Beschaffenheit und Geschichte des Landes Rat erholen zu können, ohne von Aufforderungen zu »weiten, prächtigen, herrlichen Aussichten, Standpunkten, reizenden und außerordentlichen Naturszenen« unterbrochen zu werden, dergleichen man denn doch anderswo auch schon gesehen, ohne daß daselbst so viel Aufhebens davon gemacht wird. Ich wollte lieber, so unangenehm es ist, es lasse einer den Wagen um jeder anderen Leibesnot als um solcher Geistesbedürfnisse willen halten, wobei mir die Regungen und Rührungen, die ich haben soll, vorgesprochen werden und keine Antwort übrig gelassen ist, als Ach! und O! – Ich habe deswegen auch die Frauenzimmer gerne daheim gelassen, weil ich schon an ihren vorgreiflichen Empfindungen genug hatte. – Fühle, empfinde, phantasiere man meinetwegen so viel man wolle, das ist recht, es ist eine Gabe der Gottheit und die Freude des Lebens, nur sei man sparsam mit Aufforderungen, Anleitungen und Fingerzeigen dazu, denn diese sind gerade das Gift jedes wahren Gefühls, weil dabei keine Rücksicht auf die gegenwärtige Stimmung, auf Empfänglichkeit für Lust und Unlust genommen und die freie Willkür den Vorstellungen eines andern untergeordnet wird. Ich will damit dem Buche, das in jedes Schweizerreisenden Händen sein sollte, keinen Abbruch tun und weiß wohl, daß es die Liebhaberei der Zeit und also auch der Nutzen des Buches so haben wollen, allein neben jenen merkwürdigen gelehrten Wahrnehmungen und schätzbaren geschichtlichen Nachrichten, machen diese übermäßigen Anpreisungen der Naturschönheiten eine schlechte Figur und werden noch dadurch schädlich, daß sie eben in dieser gelehrten Gesellschaft mehr Wichtigkeit erhalten, als sie verdienen und manchen in den Wahn bringen, er treibe schon was Rechtes, wenn er diese Angaben alle bereise und mit seinen eigenen Gefühlen belege, oder, was noch ärger ist, gar das Unmögliche unternehme und jene Ansichten mit Worten beschreibe und der Welt preis gebe.

Kaum ist man am Stoß den Berg hinunter, so verändern sich Land und Leute, die Natur wird fruchtbarer und der Mensch gewöhnlicher. Die Leute haben mehr zu tun mit Acker- und Weinbau und der ausgedehnten Industrie, wovon St. Gallen der Mittelpunkt ist, dies macht sie geschmeidiger, ihr Leben mannigfaltiger und schleift die Ecken der Sonderbarkeit, welche der Müßiggang beim Appenzeller erzeugt ab, vermindert dann freilich auch das Selbstgefühl, die Genügsamkeit und den leichten Sinn, der das Hirtenvolk belebt. Das ist nun aber einmal so, daß die Gaben des Himmels öfters negativer Art sind.

Unter den drei Städten, wo wir uns aufhielten, gefiel mir Rorschach seiner reizenden Lage halber vorzüglich, denn hier kommen wirklich viele Naturschönheiten zusammen, der See ist drei Meilen breit und bildet da einen kleinen Hafen, der ziemlich lebhaft ist, das Gelände ist fruchtbar, mit Obstbäumen und Weinreben bedeckt und sehr bevölkert, es herrscht daselbst viel Betriebsamkeit und von einer Regierung merkt man nichts, keine imponierenden Kollegien, keine drückenden Großen, keine Satelliten, nichts das der Lebenslust, Geselligkeit und Freude an dem Eigentum hinderlich ist. Hier auf einem der herumliegenden mit Landhäusern besetzten Hügeln könnte ich wohnen, wenn ich einen fremden Aufenthalt wählen müßte, wiewohl es im Winter ebenso kalt sein muß wie bei uns und mir der Professor bewiesen hat, daß die Aussicht auf einen See, so reizend sie dem ungewohnten Auge ist, früher ermüdet als die aufs Land, weil das Wasser das ganze Jahr die gleiche einförmige Ansicht gewährt, die Landschaft hingegen sich mit den Jahreszeiten verändert.

Du erwartest keine Reisebeschreibung, sagtest Du schon beim Abschiede, nur einige Angaben der erhaltenen Eindrücke, und daß ich mit Dir schwatze, höre also weiter und nimm Vorlieb. – Konstanz liegt auch sehr angenehm zwischen dem Ober- und Untersee. Es hat leere Gassen, sagt man. Was tut das? Muß es denn immer von Menschen wimmeln, wo es einem wohl sein soll? Die Industrie mit ihren zwei Zungen und hundert Händen, muß sie uns immer umschwirren, damit wir nie zu uns selber kommen können? Bei einem außerordentlichen Vorfall allein ist der Zusammenfluß vieler Menschen anziehend, ist der Vorfall freudig, so erhebt die Teilnahme der Menge das Herz und bei einem allgemeinen Unglück ist Trost unter den Menschen, weil dann die Einsamkeit ängstigt, sonst habe ich allezeit gesehen, daß die Weisheit der Stille den Vorzug gab vor dem Getümmel. Es herrscht übrigens ein guter Ton unter den hiesigen Einwohnern, höheren und geringeren, soviel ich in der kurzen Zeit meines Aufenthalts habe wahrnehmen können. Die deutsche Umständlichkeit hat sich recht gut mit der schweizerischen Zutraulichkeit vereinbart, man ist bequem und ungezwungen. Schon unter der österreichischen Regierung soll hier viel Freiheit im Denken und Sprechen stattgefunden haben, so daß ein Genfer, der sich hier ansiedeln wollte, laut sagen durfte: Von der Zeit an, da die Kirchenversammlung zwei ehrliche Männer verbrannte, habe die Stadt kein Glück mehr und werde auch keines haben, solange noch der edle Johannes Hus die katholische Kanzel tragen müsse. Dem Propheten geschah nichts, man antwortete ihm nur, die Genfer hätten den Servet verbrannt und dennoch Glück gehabt. Aber den übertriebenen Eifer bereut, erwiderte der Genfer, und sein Bild nicht dauernder Verwünschung ausgesetzt.

Was soll ich Dir weiter von unserer Spazierfahrt melden? Soll ich Dir nach Art der neuen Reisemänner ein Gewitter mit zierlichen Ausdrücken beschreiben, als wenn noch kein Sterblicher dergleichen gesehen, damit Du mit mir die Größe der Natur, im Grund aber die Herrlichkeit meiner Worte bewundern könntest? Oder soll ich Dir, dem Vertrauten des Ozeans, einen Sturm auf dem Bodensee vormalen? Beides haben wir erfahren, und ich schweige von beiden. Aber von dem kann ich nicht schweigen, was auf den Sturm und das Gewitter folgte, der friedlichen, feierlichen Ruhe, womit unser Nachen noch eine Zeitlang über dem See schwebte, der Pracht des Regenbogens, der sich über das Wasser wölbte, der Klarheit, womit die Abendsonne ihr Gold über das anmutige Ufer verbreitete. Kommet zu mir alle, deren zarte Seelen trunken sind von den Schönheiten der Schweizernatur, ich will euch Genugtuung geben, ich will aus Überzeugung eingestehen, daß ihr zuweilen recht haben möget! Du selbst, mein Freund, hättest diesen Abend für das prächtigste Miniaturstück erklärt, das Du je gesehen.

Dieses trug sich zwischen Konstanz und Rorschach zu, welchen Weg wir auf dem Wasser nahmen. Unser Fahrzeug war gut gebaut, daher blieb ich, sobald die Segel herunter waren ruhig, so gut es unter Blitz, Donner und Regen einem Ungedeckten möglich ist und beobachtete den Professor, der mir gestand, daß er lieber auf dem Lande wäre, welches freilich auch in meinen Wünschen lag. Er suchte seinem beklemmten Geiste durch Unterhaltung Luft zu schaffen und erzählte mir viel von Aristippos und Epiktet und einer Schiffahrt, die dieser letztere auch nicht ohne Schrecken über das ionische Meer gemacht, und zuletzt wandte er sich in der Stille an einen noch größeren, der in ähnlicher Lage den Winden und Wellen gebot. Allein, ich sah von neuem klar ein, daß kein Räsonnement, keine Anstrengung des Glaubens, keine Erinnerung großer Beispiele die Gewalt ungewohnter äußerlicher Eindrücke zu tilgen vermöge, daß einzig angeborene Kraft oder Erfahrung und Übung oder Leidenschaft die Seelen gegen Gefahren verhärte. Denn obwohl er noch Meister über seine Gebärden und Sprache blieb und nicht wie die andern laut jammerte, so zitterte er doch, da ich hingegen von aller Angst befreit war, ungeachtet sein Geist gebildeter und sein Gemüt gelassener ist als das meinige. Wenn die Nerven vom Schreck erschüttert sind, so wird die Bangigkeit körperlich und kann noch eher durch materielle Mittel als durch Anstrengung des Geistes behoben werden. Die Matrosen besaufen sich, wenn sie alle Hoffnung aufgegeben haben, wie wir mehrmals erfahren, es ist ihre einzige Hilfsquelle gegen die Unerträglichkeit der Todesangst, und ich habe vernünftige Leute gesehen, die sie um ihren Zustand beneideten, freilich dann nach überstandener Gefahr froh waren, nicht wie jene getan zu haben.

Sonderbar ist es, daß diese Durchnässung, welches ich am meisten befürchtete, meiner Gesundheit nichts geschadet, denn unser Schiff war ohne Dach und wir blieben ganz den Regenströmen preisgegeben, zum Glücke war unser Wagen zu rechter Zeit in Rorschach angekommen, daß wir sogleich trockene Kleider anziehen konnten. Der Vorfall scheint mir eher wohlgetan und mich aufgeweckt zu haben. – Der Professor, welcher in der Gefahr auf dem Wasser sich mit christlichen Trostgründen beschäftigt und alle Weltweisheit unzureichend gefunden hatte, philosophierte nun in der Sicherheit wieder frei wie Montagne. Durch meine Unerschrockenheit habe ich in seinen Augen unverdienterweise gewonnen, der edle Mann aber durch sein Zagen in den meinigen nichts verloren, denn beides ist kein Gegenstand des Willens und die Furcht ist ohne Tadel, die sich in den Grenzen des Anstands zu halten vermag.

St. Gallen sollte man meinen, wäre hundert Meilen von Konstanz entlegen, so verschieden ist da alles. Hier ist die größte Handelsbetriebsamkeit in der ganzen Schweiz, daher eine sehr starke Bevölkerung in einem kleinen Raume, viel Geld, viel neue Häuser auch an den unfreundlichsten Orten; die nicht sehr bedeutende Gegend ist noch rings umher mit Bleichen belegt, die alle Aussicht zerstören, kein See, kein Fluß. – Woher der starke Handel in diesem abgelegenen Bergorte, da hingegen in dem zwischen zwei Seen gelegenen, vom Rhein durchströmten Konstanz nichts dergleichen gelingen will?

Der Handel verlangt Unabhängigkeit, sagen die Schweizer und berufen sich, nächst sich selbst, auf England, Holland und die Reichsstädte. Sie führen die Antwort an, die ein alter Pariser Großhändler dem Finanzminister Colbert gab, der einen Handlungsrat errichten und das Gewerbe unter Regeln bringen wollte: Laissez nous faire, Monseigneur! und meinen, sobald große Herren und Gelehrte hineinreden wollen, so entweiche der schnelle und subtile merkurialische Geist, der weder eine zu genaue Beleuchtung ertragen mag, noch sich durch etwas anderes als die jeweiligen Umstände leiten läßt.

Wer nun aber glücklicher sei, der müßige Konstanzer auf seinen leeren Gassen, oder der St. Galler in seiner geldwechselnden Schreibstube, das ist keine vernünftige Frage. Der ist es, der am unabhängigsten von seiner eigenen und fremden Leidenschaft lebt, sei er denn arm oder reich, jeder kann es, in großer oder kleiner Gesellschaft, auf den Bergen oder im Tale. Für meinen Wohnplatz würde ich jedoch den Ort wählen, wo die Natur freundlicher und das, was nur Mittel zum vernünftigen Lebensgenuß sein sollte, nicht so sehr Zweck ist, wo die Lebensart der guten Gesellschaft mehr Anstand und mehr Übereinstimmung mit meiner Lage und Gewohnheit hat. In den schweizerischen Handelsstädten ist kein Adel von Bedeutung, dort ist, wenn auch das Verdienst geehret ist, doch das reichste Haus das vornehmste und da manche, die vorher nichts galten, in kurzer Zeit zu großem Reichtum gelangen, so gerät dadurch der Ehrenwahn und das Vorrecht des Ansehens oft in sonderbare Hände und die meisten dieser Leute setzen dann den guten Ton in Aufwand, Geräusch und andere äußerliche Dinge, der doch nicht in diesen Dingen selbst, sondern nur in der Art und Weise ihres Gebrauchs, nicht in nachäffendem Wechsel, sondern im richtigen Gefühle der Anständigkeit besteht. Des Adelstolzes, der etwa noch in jener deutschen Stadt herrschen mag, bin ich schon gewohnt, der ist nur bürgerlichen Personen auffallend und drückend, aber auch dort bei weitem nicht so ausschließend, wie leider noch bei uns zu Hause und immerhin erträglicher als der Geldstolz, weil er im allgemeinen gesitteter ist und auch noch anderweitigem Verdienste Gerechtigkeit widerfahren läßt.

Übrigens haben denn doch die niederen Stände in der Schweiz manche Vorzüge vor den Deutschen. Es herrscht im Volke noch mehr Lebenslust, mehr Teilnahme am Ganzen, mehr Gleichheit, nicht nur des politischen, sondern auch des moralischen Rechtes, denn auch der stolzeste Reiche darf sich nicht unterstehen, einen Kleinen ungebührlich zu necken, wenn der es nicht dulden will, ja öfters begegnet dies umgekehrter Weise: Der Bauer fragt nicht nach dem Herrn als wenn er ihm schuldig ist, daher sind die Stände weniger getrennt, ein buntes Band lebendiger Geselligkeit umschlingt sie, da bei uns alles gesondert, beschränkt, beschnitten und dürre ist. In der Schweiz findet man, sagte mir ein gelehrter Deutscher, noch viel in Sitten, Gebräuchen und Sprache von dem alten Deutschland, wie es vor dem Dreißigjährigen Kriege war. So lebten und webten unsere Väter, Bürger, Geistlichkeit und Bauern, mit Mut und Lust, unverkünstelt und kräftig. Er führte mir zum Zeugnis eine Menge alter Schriften an, von Zinkgräfs deutschen Apophtegmen, die er ein merkwürdiges Denkmal dessen, was wir gewesen nannte, durch andere gleich- und vorzeitige Schriften, Gedichte und Ortsgeschichten empor bis zu der alten Märchenzeit und dem herrlichen Liede der Nibelungen.

Gleich bei St. Gallen führte uns der Weg in das Appenzellerland hinauf, zu den Söhnen der Freiheit, denn das sind sie, weil sie es glauben zu sein; jeder, auch der ärmste Junge, der den Gatter aufmacht, hat den Anstrich davon in Haltung und Worten. Der Charakter ist eingewurzelt durch viele Menschenalter und wird noch lange dauern. Wenn schon in einigen handelsführenden Dörfern manches neu geworden, so müssen doch gewaltige böse Geister kommen, ehe sie diesen guten Geist ganz wegzutreiben vermögen. – Doch davon ein andermal, der Brief hat ohnedies eine übermäßige Länge.

Lebe wohl, Gott sei mit Dir, Lieber, Getreuer! Ich brauche Dir nicht die weitere Besorgung meiner Angelegenheiten zu empfehlen, Du tust es gerne. Du nanntest mich Deinen rechten Arm, als Dir der Deine lahmgeschossen war, aber Du bist der meinige!

 
An die Baronesse von ...

Gais, 13. Juli

Warum ich Dein Kind nicht auf die Lustfahrt mitgenommen, wirst Du fragen. – Sie wollte nicht. Bei aller Empfänglichkeit für den Genuß der Naturschönheiten, hatte sie diesmal keine Lust. Nach Ausflüchten fragte ich nicht; war je ein Frauenzimmer um Entschuldigungen verlegen, liebe Schwester? Wahrscheinlich geschah es, wie das meiste in der Welt, aus mehreren Gründen, denn wenn einmal eine überwiegende Neigung für Ja oder Nein vorhanden ist, welches meistens instinktmäßig zugeht, so sucht der Geist Licht, und sieht sich nach Gründen um; er geht zur Pflicht, zur Höflichkeit, zur Selbsttäuschung und zur Überzeugung und macht sich da eine begreifliche Notwendigkeit zusammen, die sich hören läßt.

Der Grund Clotildes ließ sich hören, denn die Schweizerin will uns bald verlassen (wir wußten damals noch nicht, daß wir sie begleiten sollten), sie sind ein Herz und eine Seele, sie haben sich ewige Freundschaft gelobt und den hellen Stern der Leier zum künftigen Zeugen in jeder schönen Sommernacht genommen; der Mond ist ihnen nicht hoch genug und hat seine Launen. Und nun sich trennen, ehe es Zeit ist, den Becher der Freude ausschütten, ehe er leer ist! Das Grausame dieser Zumutung fühlte ich wohl und doch mußte ich an Clotilde ein Ehrenwort der Einladung fallen lassen. Kaum aber war es heraus, so trat die Schweizerin vor mich hin:

«Des rühme der blutige Tyrann sich nicht,
Daß die Freundin der Freundin gebrochen die Pflicht!»

Was wollte ich machen? Ich stand da wie König Dionys. »Ihr habt das Herz mir bezwungen«, sagte auch ich und bat mir ebenfalls aus, der Dritte in ihrem Bunde zu sein, welches sie jedoch nur mit einigem Achselzucken annahmen, wiewohl es ihnen weniger schwer fallen sollte, als jenen dort bei dem alten »Wüterich.«

Zudem hat Clotilde den Bodensee schon gesehen und macht sich nicht mehr viel daraus, denn er steht bei den Eingeweihten in geringer Achtung, der Vierwaldstättersee, das ist der klassische. Hier finden sich nicht nur «die heiligen Denkmale in der Geschichte der europäischen Menschheit», sondern auch wie die Anleitung zum Schweizerreisen weiter sagt, «an keinem See sieht man solche tiefe Schlagschatten, so dunkle Tinten, solche wunderbaren Wirkungen der Lichter.» Nach dieser Wiege der Freiheit steht ihr Verlangen und ihre romantische Sehnsucht sucht nach jenen dunklen Tinten; und freue Dich mit uns, meine Beste, wir werden sie sehen! Denn der Mann der Schweizerin hat uns zu sich einladen lassen und will uns selbst abholen, da machen wir alsdann diesen kleinen Umschweif mit frohem Mute. Auch heißt es ferner, «daß an diesem See ein herrlicher Boden sei zum Baden, in der prachtvollsten Aussicht des ganzen umbirgten Seeamphitheaters.» Da will ich dann den Tobias baden und mir seine Gefühle erzählen lassen, damit keiner der hohen Genüsse der Schweiz uns unberührt entrinne.

Zur Schadloshaltung für die entbehrte Reise hab' ich denn doch unserem Kinde eine Menge schöner «Chemiten, Bucciniten, Buccarditen, nebst unvermengten Telliniten, Musculiten und Terebratuliten» mitgebracht. Was dies sei, mußt Du nicht, wie Suschen in dunkler Erinnerung tat, im alten Testamente nachschlagen und mit den Cananitern, Hethitern, Hevitern, Ammonitern usw. verwechseln, sondern in der Naturgeschichte aufsuchen, es sind Versteinerungen, die sich bei St. Gallen finden. Denn das Studium der Natur geht noch immer seinen Gang, zwar nicht mehr mit dem kurzweiligen Feuer der Neuheit, aber doch noch mit Eifer, der sich nach und nach in stillen Fleiß auflösen wird; und dann ist es gut, dann erst kommt etwas dabei heraus. Du hast recht, jeder Anfang ist gebrechlich, man muß Geduld haben; jeder Liebhaberei hängt eine individuelle Schwachheit des Liebhabers an, die man gutmütig übersehen sollte. Und da ich nunmehr bemerke, daß es ihr doch Ernst ist, daß sie durch diese, wenn auch noch oberflächliche Erlernung und durch das belehrende Nachschlagen, das zum Sammeln notwendig ist, auf etwas Gründliches kommt und sich allmählich von der Reiseempfindelei, die ich allein nicht leiden kann trennt, so lasse ich sie gerne gewähren und unterstütze sie mit Freuden. Sie will zu Hause ein Schweizerkabinett anlegen und aus allen Naturreichen Merkwürdigkeiten dazu sammeln; auch Kunstwerke, Karten und Bücher sollen davon nicht ausgeschlossen sein. Siehe, das gibt Arbeit, und Arbeit ist löblich. Auch wird Dir das manche Besuche zuziehen, liebe Schwester, die Dir Deine selbstgewählte Entfernung aus der Stadt, wofern Du noch auf dem Beschluß beharrest, erträglicher machen werden. Nur muß man nicht mich zum Vorweiser des Kabinetts machen wollen; ich höre nicht gerne bewundern, da ist unser liebreicher Pastor der Mann dazu.

Die Kurgesellschaft ist mir nicht im Wege, ich ihr auch nicht. Ich verstehe mich mit jedermann und wenn die böse Stunde kommt, so gehe ich in die Einsamkeit. «Die gute Gesellschaft hier ist wie allenthalben und die schlechte ist vortrefflich», sagte ein französischer Marquis, den man über seinen Aufenthalt in der Provinz bedauerte. So ungefähr könnte ich jetzt auch sprechen, denn wenn ich nicht an der großen Tafel im Gasthof essen mag, weil mir da des Mittags die Tafelmusik fast die Ohren zersprengt und für mich kein «Beförderungsmittel der Selbstanschauung des organischen Wesens» noch auch «Gymnastik des ästhetischen zeitlichen Daseins» ist, wie der deutsche Arzt von der Tonkunst behauptet, so lasse ich, um nicht allein zu sein, aus anderen Wirtshäusern Gäste von geringerem Stande zu mir einladen und unterhalte mich mit ihnen oft ebenso gut, wie mit den Gebildeten, weil sie sich treuherziger hingeben sobald sie sich überzeugen, daß man sie nicht zum besten habe.

Da ist, zum Beispiel, ein alter, gichtbrüchiger Jäger, wie ich, der mir mit aller Weidmannsumständlichkeit beschreibt, wie man in der Schweiz jage, wo man froh ist, wenn man des Tages seinen Hasen schießt, dagegen aber kein Treibjagen kennt. Oder ich lade einen kupfernasigen Fleischer, der Buße tut und seinen Durst jetzt gern mit Molken löschen möchte, der kennt das ganze Schweizerland und seine Viehzucht, er erzählt mir die Abenteuer seiner Reisen und weiß mehr Unterhaltendes zu sagen, als jene Naturpinsel mit ihren großen Empfindungen und kleinen Gedanken. Auch kommt öfters ein phlegmatischer Müller zu mir, der sich unlängst von seiner jungen Frau hat scheiden lassen und nun, seinen Verdruß zu vergessen, denn die Molken sind für alles gut, hieher gekommen, der ist ein schweizerischer Rechtsgelehrter und Landrichter in seinem Bezirke und beschreibt mir den Gang der Prozesse, deren er selbst schon mehrere gehabt; er kennt alle Instanzen und weiß seine Geschichte mit persönlichen Anekdoten zu würzen, die man nirgends liest, die aber über die Justiz des Landes viel Aufschluß geben. Zu der Gesellschaft gehört auch ein Maler, der hier mit kleinen Bildnissen sich etwas verdienen möchte; sonst malte er lustige Bauernstücke mit einigem Geschmack, seitdem ihm aber ein ästhetischer Gönner, der will, daß die schönen Künste durchaus keinen andern als ernsthaft-historischen oder moralischen Zweck haben sollen, beliebt hat zu höheren Gegenständen überzugehen, muß er den Homer lesen, kann sich aber gar nicht darein finden und geht zu Grunde; ich gebe mir alle Mühe, ihn wieder herabzustimmen und habe ihm dafür den Eulenspiegel empfohlen.

Daß ich ja nicht einen reichen Käsehändler und seine Frau vergesse, die mich beide recht liebgewonnen haben, er ist mit seinem Gewerbe durch ganz Italien gekommen und muß seltsame Erfahrungen gemacht haben, so daß man oft glauben sollte, wir sprächen nicht von eben demselben Lande, denn wenn ich, anderen Nachrichten zufolge, die ewige Jugend der dortigen Natur rühme, so schimpft er auf die unerträgliche Hitze, die ihm alle seine Kräfte verdorben, und wenn ich die antiken Formen und den lebhaften Geist der Menschen bewundere, so sagt er, sie seien alle Spitzbuben. Seine Frau, eine runde, derbe Alpentochter, hat mir einen großen Käse zur Verehrung zugedacht, wie ich unter der Hand vernommen, der soll dann in Clotildes Schweizerkabinett den Liebhabern zur Bewirtung dienen. Noch einen Kaufmann aus dem Glarnerlande, der sich lange in Norwegen aufgehalten und behauptet, zwischen den dortigen Einwohnern und dem Hirtenvolke der Schweiz sonderbare Ähnlichkeiten gefunden zu haben, sollte ich umständlicher anführen, allein ich habe die Geduld Ew. Hochfreiherrlichen Gnaden bereits schon allzulange mit meinen gemeinen Freunden ermüdet und hätte es billig bei dem guten Ton abzubitten, an solchen Menschen ein Wohlgefallen zu finden, wenn meine gute Schwester dessen nicht schon gewohnt wäre. Indes wird man auf diese Weise über manches belehrt, was man innerhalb des Weichbildes der guten Gesellschaft nicht oder ganz anders hört. So habe ich über die Verhältnisse der Stände unter sich, über die Behandlung von Höheren gegen Geringere, über die öffentliche und geheime Popularität des Ehrgeizes, über Gericht und Recht, über den Kantonalcharakter und dergleichen vieles vernommen, wovon in der ganzen Bibliothek unseres Pastors kein Wort steht und das doch wahr ist.

Da die Chanoinesse von ganz anderen Empfindungen über Italien beseelt ist als mein Käsehändler, so wollte ich sie auf ihn aufmerksam machen, damit sie seine Ideen berichtigen könnte, denn er ist sonst ein ganz vernünftiger Mensch, sie machte aber ein saures Gesicht: Wo keine Liebe sei, sagte sie, da seien auch keine Ideen zu berichtigen! Ein verständiges, wahres Wort, nur daß es nicht auf mich und ihn paßt. Statt dessen gibt sie sich jetzt mit der Jugend ab.

Ich habe einmal gelesen, daß Personen weiblichen Geschlechts mehr Talente in sich vereinigen können als die Männer, daß es ihnen aber weniger gegeben sei, sie zusammen in eine genialische Wirkung zu bringen. So etwas sehe ich wenigstens jetzt an der Chanoinesse bewährt. Es ist zum Erstaunen, wieviel sie weiß und schnell faßt und wie klar sie das Begriffene wieder darstellt; allein in der Assimilation und innern Verarbeitung der aufgenommenen Ideen scheint es ein wenig zu hapern, daß dies aber dem Geschlechte charakteristisch sei, möchte ich nicht sagen. Höre nun weiter.

Unlängst schrieb ich Dir, daß sie sich auch mit der neuen Erziehungslehre beschäftige; seitdem habe ich vernommen, daß sie sogar Vorlesungen darüber beigewohnt habe, die ein sachkundiger Anhänger der neuen Lehre für Damen hielt, daß sie aber auch praktisch auftreten werde, daran kam mir nie ein Gedanke, bis sie sich neulich an den Pfarrer wandte, ihm auf Spaziergängen einen Abriß von der neuen Methode machte und verlangte, daß er diese auch in der hiesigen Schule einführen solle, wobei sie ihm ihren Beistand versprach. Sie gewann ihn leicht durch ihren Hochsinn, ihre fließende Sprache und ihr schönes Deutsch, Vorzüge, die in der Schweiz wegen ihrer Seltenheit etwas gelten; überdies glaubte der gute Hirt mit Recht hoffen zu dürfen, daß seine Schafe dadurch etwas williger werden sollten. Die Sache selbst zu begreifen, war ihm weniger schwer, als sich mit den neuen Redensarten zu verständigen und ihrem hohen Fluge nachzuflattern, zu diesem Behuf erhielt er von ihr einige Lehrbücher und derselben Erklärung, die er mit heißem Eifer und sichtbaren Fortschritten studierte. – Um aber, sagte sie, die Erziehung auf ein naturgemäßes Fundament zurückzuführen und die Entwicklung der Menschennatur nach den organischen Gesetzen dieser Natur selbst im ganzen Umfang ihres Seins, ihrer Verhältnisse und Tätigkeit zu bezwecken, müsse notwendig die Masse der schon angestellen Schulmeister noch einmal in die Schule genommen und ihnen Kenntnis und Lust zum großen Werke beigebracht werden. Zu diesem Endzwecke müsse er mehrere Schulmeister benachbarter Gemeinden wöchentlich ein paarmal nach Gais kommen lassen, wo sie selbst in Verbindung mit ihm und dem deutschen Arzt ihnen die Lehrmethode bekanntmachen und auf dieselben einwirken wolle, um in Kurzem die Grundlage einer besseren Zukunft zu legen und ein organisches, in sich gegründetes Gebäude zu beschaffen für das eine, das Not ist: Volkserziehung und Menschenbildung; mit einer Besoldungszulage für die Schulmeister werde das schon gehen.

Der Pfarrer, zwar ganz entzückt über die Aussicht, erschrak jetzt über diese Zulage und fand sie, wie auch den Schulmeisterkongreß, unausführbar. Die hochbegeisterte Chanoinesse hingegen meinte, man dürfe ja nur mit dem Landammann reden, daß er es anordne. Als aber der gute Mann, schüchtern, wie wenn er die Blöße seines Landes aufdeckte, versicherte, weder die Macht des Landammanns noch der Zustand des Landessäckels reiche so weit, um auf die Schulmeister einzuwirken, so konnte sie das nicht begreifen und äußerte ihren beredten Unwillen über eine politische Einrichtung, wo die Oberen nichts zu befehlen hätten. Sie ließ sich dessen ungeachtet ihren Gesichtspunkt nicht verrücken; sie hatte nun einmal ihre Hand an den Pflug gelegt und wollte sie nicht sinken lassen, wenn schon die Ochsen noch nicht zogen. Sie verlangte den Schulmeister des Ortes sogleich zu sprechen, obwohl der Pfarrer glaubte, es wäre besser, wenn er ihn ein wenig vorbereitete.

Jener, ein selbständiger, ungezwungener Appenzeller, saß gerade müßig auf dem großen Dorfplatz; er kam herbei und steckte auf einen Wink vom Pfarrer seine brennende Pfeife in die Tasche. Wir waren eben gegenwärtig.

Wieviel Kinder hat er, mein Freund?

Keine.

Ist er denn nicht der Schulmeister?

Ja, Schulkinder hab' ich siebzig bis achtzig, manchmal auch mehr.

Das ist zuviel. Er muß einen Gehülfen haben!

Brauche keinen.

Hat er die Kinder lieb?

Wenn sie recht tun.

Bedient er sich künstlicher Reizmittel?

Wie?

Lohn und Strafe?

Die Knaben kriegen Prügel und den Mädchen gibt man die Rute.

Gott bewahre! Ist das Menschenbildung?

Ja.

Sucht er nicht zuweilen durch Teilnahme an gemeinschaftlichen Kinderspielen den Kindersinn in sich selbst zu wecken?

Nein. – Ich glaube, die Frau will mich zum Besten haben, fügte er hinzu, nahm sein Pfeifchen wieder hervor, und setzte sich zu uns auf die Bank.

Ist es denn nicht die bessere Idee, Kinderfreund als Zuchtmeister zu sein?

Zucht ist besser als Spiel.

Er muß nicht ungeduldig werden, mein Freund! Der Kindersinn begründet das christlichreligiöse Band, das alle Stände umschlingen soll.

Das wäre gut, aber was gehen mich die Stände an?

Ich merkte, daß er die hohen Stände der Eidgenossenschaft meinte und mußte lachen. Das deutete er zu seinem Vorteil und da ihn der herrische Ton der Chanoinesse gleich anfangs verdroß, wurde er jetzt noch einsilbiger.

Was lehrt er die Kinder? fuhr sie fort.

Was sie noch nicht wissen. (Der Pfarrer mußte noch einmal winken.) Lesen, schreiben, beten, singen und rechnen.

Das ist gut. Aber, das oberste Erziehungsgesetz ist: Bewußtsein, du sollst wissen, was du tust, wenn du schreibst, liesest, rechnest.

Weiß denn das nicht jeder?

Keineswegs. Dazu gehört das Selbstauffinden der Formen nach erschöpfender Ansicht, in Anschauung der Zahlenverhältnisse, in Entwicklung des Sprachunterrichts durch Organübungen und Auflösen der Wörter in ihre Laute und Zusammensetzen der Wörter aus Lauten.

Der Mann wird Sie schwerlich verstehen, unterbrach ich sie.

Das tut nichts, es gehört zur Methode, daß der Lehrer, sobald er auftritt, im Geiste der Schule spreche, unbekümmert ob er sogleich verstanden werde oder nicht; das flößt Achtung ein, und es wird dadurch immer etwas angeregt.

Soviel verstehe ich wohl, sagte der Schulmeister, daß man glauben sollte, es wäre um etwas weit Schwierigeres zu tun, als nur Lesen und Schreiben zu lernen.

Zum Rechtlesen und Rechtschreiben gehört die Zeichen- und Buchstabenlehre, die Erforschung der Elemente, der Form und Größe, so daß die Kinder kein Ce sollten schreiben lernen ohne zu wissen, wieviel und was für Linien? wieviel und was für Winkel, wie hoch und wie breit jede Linie und das ganze Schriftzeichen?

Das muß langsame Ce geben! Und am Ende schreiben dann wohl die Gelehrten noch unleserlicher als wir.

Ein kindlicher Sinn, verbunden mit männlicher Beharrlichkeit, gehört und hilft zu allem.

Jawohl. Wer gibt aber dem leichten Zweige diese Wurzeln?

Das Beispiel des Lehrers.

Und wer dem Lehrer?

Die Methode.

So?

Was als Naturanlage in allen Menschen vorhanden ist, muß in allen auch entfaltet werden, das ist das Fundamentalgesetz der Erziehung. – Überleg er für heute nur dies! Von den Zahlenverhältnissen und der Gesangslehre wollen wir ein andermal sprechen, wir sehen uns ja wieder. Auch das Beten mit den Kindern gehört zur Bildung des Herzens, das darf er fortsetzen, doch muß er sich vor Einseitigkeit verwahren. Der Lehrer lehre den Schüler seine religiösen Gefühle als Denker ordnen, religiös reflektieren und reflektierend religiös sein! Bis aber eine Religionslehre im Geiste der Methode zustande gekommen, bleibt die biblische Religionsgeschichte das einzige Surrogat.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

Hätte er, mein Freund, soviel Lust als ich Geduld habe, wir wollten uns über die Sache bald verstehen. Er würde in eine neue Welt der Erkenntnis eingeführt und aus seiner kümmerlichen Schule sollte eine Pflanzstätte jugendlicher Denkkraft, Gesundheit, Einfalt und Unschuld, ja ein Tempel des Heiligen Geistes werden.

Hier stand der alte Schulmeister mit Würde auf, nahm sein Käppchen ab, und (o könnte ich es mit der kräftigen Einfalt des Schweizermannes ausdrücken!) sprach dem Sinn nach folgendes: Die neue Welt der Erkenntnis werde ich nicht mehr da finden, wohin Ihr mich weisen wollt; sie liegt etwas höher. Ihr mögt es gut meinen, junge Frau, aber ich glaube, Ihr habt Euch von der Eitelkeit betören lassen, denn Ihr sprecht viel zu neu über eine alte Sache. Laßt mich in Gottes Namen mit meinen Kindern walten, ich will Euch bei den Eurigen auch nicht dreinreden! – Die gnädige Frau hat keine Kinder, fiel vergeblich hustend der Pfarrer ein.

Und will doch über Erziehung sprechen, fuhr der Alte fort, der nichts vor sich sah, als sich und sein Amt und ein junges Weib, das ihn zurechtweisen wollte. – Bald werden uns die Jungfrauen vom Ehestand erzählen! Die Erfahrung ist etwas ganz anderes als die Einbildung. Ich bin fünfunddreißig Jahre bei meiner Schule; versucht es einmal nur für zehn Jahre, Ihr und die, welche durch Euch sprechen, die Leitung einer Schule zu übernehmen, wo durch Aufsehenmachen nichts zu gewinnen ist, so werdet Ihr vielleicht manches von dem Alten, das wenigstens die Länge der Zeit erprobt hat, nicht mehr so verächtlich behandeln! Voriges Jahr war einer hier, der glaubte, es würde weniger kalt in der Schweiz sein, wenn man den Schnee aus den Bergen fortschaffe, man dürfte zu dem Endzwecke nur die unbrauchbaren Waldungen in den Bergklüften anzünden. Ihr macht es noch ärger, Ihr schafft das Brauchbare auf die Seite und werdet ebensowenig den Schnee zum Schmelzen bringen. – So ganz fremd, wie Ihr meinen mögt, bin ich denn doch über die Sache nicht, ich habe mir anfänglich auch mancherlei angeben lassen, endlich mich aber überzeugt, daß man die Erziehung dem guten Beispiele überlassen und aus einer so einfachen Sache wie der erste Unterricht ist, keine vornehme Kunst machen müsse. Meine Kinder lernen, was ich sie lehren soll, so, daß ihre Eltern und sie selbst im Alter noch zufrieden sind; was wollt Ihr einen alten ehrlichen Mann aufstören, dem Treu im Beruf sein tägliches Wohlleben ist!

Er verließ uns. Ich wollte den Eindruck seines Benehmens auf die arme Chanoinesse nicht sehen und schlich ihm nach. Bald darauf kam auch der Professor und sagte, sie gebe die Hoffnung, den Mann zu gewinnen, noch nicht auf, denn es seien schon größere Wunder geschehen, jedoch habe sie klüglich den Pfarrer angestellt, ihn zu bearbeiten; das wird aber dieser wohl bleiben lassen, da der Schulmeister großes Gewicht in der Gemeinde hat, von welcher auch der Pfarrer abhängig ist.

Auch der Chanoinesse verging die Lust Wunder zu tun, doch nicht der Eifer für den Unterricht. Denn da sie sah, daß sie hier noch keinen tätigen Glauben fände, ergriff sie (aus weiblichem Trotz, meint der Professor) eine andere Maßregel. Eine Viertelstunde von hier, auf der Straße nach Appenzell, liegen ein paar katholische Häuser, wo mehrere Bettelkinder sich aufhalten, welche die Vorübergehenden beständig verfolgen. Diese ließ nun die Unermüdliche täglich zu sich kommen und gab ihnen selbst Unterricht; die Kinder kamen gern, weil sie Kleidungsstücke und Nahrung erhielten und brachten bald mehrere mit. Die hiesigen Dorfbewohner, sonst sehr eifersüchtig auf alles, was ihre Konfession zu berühren scheint, schwiegen still dazu, weil sie gewohnt sind, den Schottentrinkern manches hingehen zu lassen, das sie unter sich selbst nicht dulden würden. Aber in Appenzell selbst fing es an Aufsehen zu machen, daß ihre Kinder an einem reformierten Orte zur Schule gehen sollten. Gestern nachmittags, während der Lehrstunde, erzählte uns der Wirt: Es besuchen nun auch Kapuziner den Unterricht der gnädigen Frau, soeben sitzen zwei auf ihrem Zimmer. Etwa eine halbe Stunde nach den Kindern sahen wir sie wirklich wieder abziehen, mit vergnügtem Mute, sofern man aus der öffentlichen Miene eines Ordensmannes auf sein Inneres schließen kann.

Allein die Chanoinesse ließ sich den ganzen Tag nicht mehr sehen, und heute früh reiste sie mit dem deutschen Arzt ab, ohne von jemand als von Clotilde Abschied zu nehmen. Sie geht nach dem Weißbade, das zwei Stunden von hier in dem katholischen Teile des Landes Appenzell liegt, wo wir sie bald zu sehen hoffen, denn ungeachtet ihres exzentrischen Treibens muß man doch Achtung für sie haben. Wahrscheinlich schämte sie sich dieser Kapuzinerprüfung, mochte daher auch nicht länger hier weilen und dennoch nicht auf der Stelle so unverrichteter Sache von dem ihrer Wirksamkeit geheiligten Boden abtreten. Der Hauptmann von Appenzell soll uns darüber Aufschluß geben, wenn er nur bald käme!

In kurzem wirst Du von dieser neuen Lehrart mehr hören; sie zieht sich jetzt auch nach Norden hin, um dort ebenfalls die Grundlage einer besseren Zukunft abzugeben. – Es ist »eine das Heiligtum des innern Lebens aufregende Anstalt« sagen sie. Das ist nicht wahr, fing jetzt der Professor an, denn das Heilige im Menschen ist über alle Schulweisheit hinaus, es wird nur vom Finger des Genius aufgeschlossen und schafft sich seine Methode selbst. Dergleichen hochtönende Lobpreisungen betäuben das Ohr des Verständigen auch für das Gute, das sich unstreitig bei der neuen Methode findet und erscheinen wie der Jubel eines Kindes über seine selbsttanzende Puppe, oder wie der angehende Ehemann, der die Leute bereden will, seine Frau sei ein Engel. Lange schon, fuhr er fort, sei es der Fehler der Deutschen, daß sie entweder bei dem Gemeinen stille stehen, oder das Schöne und Gute noch immer besser haben wollen; es werde daher diesem sogenannten Begründer der echten Volkserziehung, diesem Lichte der Welt, gehen wie unserm wohl noch größeren Weisen von Königsberg, der vor etlichen Jahren noch als ein neuer Heiland gepriesen worden, der uns den Himmel des Verstandes aufgetan und die Grenzen des menschlichen Geistes unwiderruflich bestimmt habe, jetzt aber, wenn er noch lebte, hören müßte, er sei von falschen Grundsätzen ausgegangen, und auf halbem Wege stehen geblieben. Denn jetzt schon erklären einige Schüler der Methode, daß sie ihnen durchaus nicht mehr genüge, und so werde man auch an dieser allem Volke Heil bringenden Weisheit raffinieren, bis man sich in Subtilitäten des ersten Elementarunterrichtes verlieren und darüber den Unterricht, der einst dem Manne frommt, vergessen werde.

Eine neue Manier die Farben zu reiben, das Tuch zu gründen, und sich an die Staffelei zu setzen, sprach er weiter, macht noch keinen Maler. Wenn dem Lehrling auch die Kenntnis aller Muskeln die dabei in Bewegung gesetzt werden, beigebracht wird. Die Art und Weise, wie Klopstock, Leibnitz, Dürer und Händel lesen, rechnen, zeichnen und singen lernten, ist freilich nicht mehr neu, aber jene und die großen Männer anderer Nationen, die sich ihrer jetzt noch bedienen, haben ihr doch das Siegel des Verdienstes aufgedrückt. So wie Handwerker ein Meisterstück machen müssen, ehe sie was gelten, so sollte man auch mit dem Enthusiasmus für diese pädagogischen Adepten noch innehalten, bis man die Wirkung ihrer Universaltinktur nicht an unmündigen Knaben, sondern an Männern, oder, welches der beste Beweis ihrer Probehältigkeit und wohl das Kürzeste wäre, an ihrem eigenen Ich erfahren. Sie müssen das schon sein, was sie aus andern machen wollen, sonst haben sie das Licht nicht in sich, dessen sie sich rühmen.

So sprach der Professor, der die neue Verfahrungsart so ziemlich, den Reformator aber aus der Nähe kennt. Ob er ganz unparteiisch sei, wage ich nicht zu entscheiden; ein Prophet, heißt es, gilt nirgends weniger als in seinem Vaterlande und in seinem Hause.

An allem dem hat die jungfräuliche Clotilde, zu meiner großen Freude und gewiß auch zu Deiner, keinen Anteil genommen. Ein ehrliches Mädchen, das dereinst heiraten will, soll nicht über die Erziehung seiner Kinder vorgreiflich vernünfteln; ein anderes ist es mit einer geistlichen Dame, die sich ewiger Keuschheit geweiht hat.

Den 15. Juli

Wie es meiner Gesundheit gehe, fragst Du. Besser als lange, besser als ich anfänglich erwartete, ob ich gleich schon geraume Zeit keine Molken mehr trinke. Siehst Du mir es nicht aus meinen Briefen an, daß ich mich so ziemlich in das Leben zu schicken weiß? Unser Doktor schreibt, ich solle das Reisen fortsetzen und er mag recht haben, denn ob es gleich der widrigen Gesichter und unangenehmen Störungen unterwegs viele gibt und ich herzlich gern zu Hause wäre, so empfinde ich doch von der Bewegung und dem Wechsel der Gegenstände ein physisches Wohlbehagen, das ich lange nicht mehr kannte. Dessen ungeachtet (Ihr werdet es zwar Grillen nennen), will es mir oft scheinen, als wenn in den schwülen Bangigkeiten und Plagen, die ich zu Hause in meiner Einsamkeit empfand, im Grunde noch ein geheimes Lustgefühl des Geistes gelegen habe, das diese körperliche Beweglichkeit überwog; hab' ich doch auch Personen gekannt, die nach vieljähriger Gefangenschaft sich aus der Freiheit der Welt zuweilen wieder in die Abgeschiedenheit ihres Kerkers zurücksehnten.

Ich hatte die Schwachheit, den jungen deutschen Arzt, weil er mir jüngst von einem besonderen Fall recht gut zu sprechen schien, über meinen Zustand zu befragen. Meine Schmerzen nannte er ein rein gastrisches Leiden, fand meine inflammatorische Disposition bedenklich und meinen Mißmut, den ich so ungern mit dem verhaßten Namen Hypochondrie belegen höre, bezeichnete er als Abnormität des hepatischen Systems. Gott bewahre! rief ich und kehrte ihm den Rücken. Gleichwohl hat mir das Wort viel Nachsinnen verursacht und mich ein paar Tage elend gemacht. Daß ich fragen mußte, so einen jungen Zieraffen, der sich mit neuen Wörtern brüstet! – Und das Nachsinnen, betreffe es Besserung oder Schlimmerung, ist vollends mein Verderben. Wie den Furchtsamen das Horchen noch ängstlicher macht, so ist die grübelnde Aufmerksamkeit auf seinen Zustand dem Kranken ein Labyrinth des Grams, worin er bei jedem Schritt ermatteter sich verwickelt. Kalt und kühn, ohne einen klagenden Laut, lagen die nordamerikanischen Wilden mit gräßlichen Wunden und heilten unglaublich schnell; und wir hörten so oft gefangene und verwundete Franzosen einander lachend zurufen: II ne faut pas prendre du chagrin! daß es endlich bei uns zum Sprichworte ward, denn wir fanden, das sei die wahre Arznei des Leibes und der Seele. – Das weiß ich alles wohl und führe es mir öfters zu Gemüte, aber diese Arznei findet vom Munde nicht immer den Weg zum Herzen, und Beispiele helfen mehr in der Gegenwart als durch die Erinnerung.

Woher mein nächster Brief sein wird, weiß ich nicht, sobald der Mann der Schweizerin kommt, reisen wir ab.

 
An die Baronesse von ...

Gais, 15. Juli

Diesen Brief fange ich an, womit andere endigen, mit Grüßen an die Freunde, den Major und den Pastor. Beiden wollte ich noch einmal bei meinem Hiersein schreiben, allein die Zeit ließ es nicht zu, so sehr bin ich in Bekanntschaften und durch diese in mancherlei Zerstreuung, die ich wie Geschäfte behandle, hineingekommen. Was ich indessen einem aus unserem vertraulichen Kreise schreibe, das gilt auch dem andern, insofern es ihn interessiert, wie Ihr das ohne mein Erinnern schon werdet bemerkt und angenommen haben. Also auch mit diesem.

Noch sind wir hier, und der Himmel weiß wie lange, die Leute machen mit mir, was sie wollen! Zwar ist der Mann der Schweizerin angekommen, aber anstatt nun sogleich abzureisen, verschworen sich alle Befreundeten, mich noch zu einem Besuche in den Bergen zu bereden. Ich lärmte und folgte. Der Professor versprach mitzukommen, und der Hauptmann von Appenzell verschaffte mir ein Saumtier, mit der Versicherung, daß ich damit bequem nach Seealp, ein mitten im Gebirge liegendes und bei dieser Jahreszeit sehr bevölkertes Tal hineinkommen könne. So ritt ich neben den andern her, die zu Fuß gingen. Es war Sonntagnachmittag, als der Zug begann; wir wollten im Weißbade, am Fuße der Alpen, übernachten um den folgenden Tag richtig wieder nach Gais zu kommen, allein der Himmel verhängte es anders.

In Appenzell ging ich zu dem Hauptmann, der unser Führer zu sein versprochen hatte; die andern blieben im Wirtshause, um den Tanz zu sehen, denn hier tanzt am Sonntag alles. Es herrscht eine große Tanzlust unter dem Appenzellervolke insgesamt; die Innerrhödler (so heißen die katholischen Appenzeller) überlassen sich dieser Freude ohne Bedenken; die von den äußeren Rhoden hingegen haben noch von der Reformation her strengere Sittengesetze, worin auch der Tanz verboten ist. Dafür sitzen sie dann Sonntags mit ihren Mädchen in einem Wirtshause hinter dem Tische zusammen, lassen einen Spielmann kommen und stampfen samt und sonders mit den Füßen den Takt oder vielmehr jede Viertelsnote, ohne den übrigen Leib zu bewegen; sie tanzen so in der Imagination, welches possierlich aussieht, aber weniger Sünde ist.

Da mir der Lärm in Appenzell zu groß war, ritt ich mit dem Hauptmann voraus, kam aber vom Regen in die Traufe, denn im Weißbade wurde auch getanzt, es war ein noch viel ärgeres Toben, das ganze Gebäude erbebte von dem Getrampel.

Die Chanoinesse war so hoch erfreut über unsere Ankunft, daß ich daraus den Schluß zog, sie müsse hier Langeweile haben, weil ich weiß, daß diese Personen, die an Umgang und Mitteilung gewöhnt sind auf dem Lande häufig widerfährt, wenn sie auch noch so reizende Ideen von der Lieblichkeit des Landlebens mitgebracht haben; daher denn allemal die auffallend lebhafte Freude bei einem Besuche von ihresgleichen. Wiewohl sie uns den Aufenthalt sehr angenehm beschrieb, so hat doch das Ganze etwas bäurisches, wobei feinerzogenen Leuten nie lange wohl sein kann. Von der Schulmeisterei war nicht mehr die Rede; ich glaube, sie hat ihr Vorhaben unter diesen Unbeschnittenen Wunder zu tun, fahren lassen. – Sie rühmte mir jetzt das Mineralwasser, das sie braucht, ich mag aber nichts mehr von Bädern hören; wenn diese das erste Mal nicht helfen, so tun sie es nimmermehr.

In unserer Gesellschaft befand sich auch ein junger Prediger aus dem benachbarten Rheintal, der sich schon eine geraume Zeit hier aufhält und uns bald näher angehen wird. Er hat sich nämlich in Suschen verliebt und zwar so sehr, daß er mir vorige Woche eröffnete, wie er ernsthafte Absichten auf ihre Person habe, wozu ihn, wie er sagt, nicht sosehr ihr »Äußerliches, das freilich nicht übel ist, als ihre übrigen guten Eigenschaften«, deren er eine Menge an ihr entdeckt haben will, bewogen. Er ist sonst ein verständiger, wohlgebildeter Mann, der Professor kennt ihn und rühmt seine Rechtschaffenheit. Jetzt hielt er sehr an, die Reise mitmachen zu dürfen, und da er nichts Böses im Sinne hat, konnten wir es nicht abschlagen. Suschen selbst schien es nicht ungern zu sehen.

Was sagst Du hierzu, liebe Schwester? Siehe, es ist Zeit, daß wir gehen, sonst könnte die Reihe auch noch an Deine Tochter kommen; denn wer das Land liebt, der liebt auch die Leute. Suschen benimmt sich dabei auf eine Weise, die mit kluger Ehrbarkeit übereinstimmt; sie will nichts ohne den Willen der Baronesse tun, sie weint bei Clotilde, bei mir dringt sie auf die Abreise und bei dem Freier ist sie die Bescheidenheit selbst und entlehnt Bücher von ihm. Neulich zog sie das Gewand von des hiesigen Pfarrers Frau an, aus bloßem Scherze, wie sie vorgab; allein es mochte wohl etwas von jener Neugier darunter sein, die gerne wissen will, ob etwas lieblich anzuschauen und ob es klug mache. Und als im Weißbade alles tanzte, schützte sie, die sonst des Tanzens nie satt wird, Kopfschmerzen vor, um ihrem ernsthaften Freunde sich von einer würdigen Seite zu zeigen. Der deutsche Arzt, der nichts vom Geheimnis wußte, war damit nicht zufrieden, er hätte gerne mit ihr getanzt und pries ihr daher das Walzen als ein Spezifikum gegen das Kopfweh an und uns, die ihm widersprachen, beschrieb er den Tanz als die expressivste Existenz, den höchsten Ausdruck des räumlichen Daseins, denn durch die Musik, als das universelle Triebwerk und Uhrwerk der höheren Gymnastik werde dem Tänzer sein Dasein in der Zeit zugemessen. Er brachte uns damit zum Schweigen, aber nicht zum Tanzen.

Nachdem wir die Nacht hindurch in dem engen Hause zusammengepfercht waren wie die Schafe, versahen wir uns mit Lebensmitteln und zogen von dannen; der Hauptmann und ich zu Pferde, der Professor mit den andern zu Fuß, auch die Chanoinesse ging mit. Es war ein bedenklicher Ritt über die schmalen Steige und glatten Felsen hinweg, doch da wo es am gefährlichsten war, führte ein Mann meinen Gaul. Unterdessen machte das schöne Wetter und die muntere Gesellschaft die Reise kurzweilig, und so gelangten wir nach und nach, immer hinansteigend, in das hohe Tal, das Ziel meiner Wanderung. Es ist ein flacher Boden voll grüner Matten, in dessen Mitte ein stundenlanger spiegelheller See liegt, rings ist das Ländchen von himmelhohen Bergen eingeschlossen, allenthalben liegen Häuser zerstreut und Viehhüttchen, die sich in die höchste Höhe hinaufziehen, daß sie kaum mehr das Auge sieht. Eine neue Welt, eine Insel mitten auf dem festen Lande, deren Beschreibung ich Clotildes Feder überlasse, damit ich selbst nicht in den Fehler verfalle, den ich an andern tadle: dem Ohre zu schildern, was nur das Auge begreift.

Nachdem wir ein wenig ausgeruht hatten, lagerten wir uns ins Grüne und packten unseren Mundvorrat aus; wir hatten aber große Mühe, einen Tisch zu finden und unsere Sitze waren Steine und einbeinige Melkerstühle, denn die Lebensart dieser Sennleute ist so einfach, daß sie weder Tisch noch Stühle, noch Betten brauchen; sie essen auf dem Herde und schlafen auf dem Heu, ob es gleich wohlhabende Leute unter ihnen gibt. Mir hatte man einen Thron bereitet, das heißt, weil ich das kühle Gras scheute, auf Pfählen meinen Sattel befestigt und den andern zum Fußschemel hingesetzt. So hielten wir ein fröhliches Mahl, der Himmel war heiter über uns und von allen Höhen herab ertönte das Locken der Hirten und das ferne Geklingel der Kühe. Der Hauptmann hatte eine Pistole mitgenommen, die wir von Zeit zu Zeit abbrannten, das widerhallte an den hohen Felsenwänden wie ferner Donner, und jedes Mal antwortete uns die fröhliche Jugend der Berge, soweit das Ohr reichen mochte, mit großen Passagen aus dem Kuhreihen. Ein Geist der sorgenlosen Zufriedenheit und gleichgestimmter Freude kam nun über uns, den die Chanoinesse den Alpengeist nannte; wir waren wie von der niederen Welt abgeschnitten, ihr vergessen und vergessend.

Solange wir bei Tische saßen, wußte der Hauptmann auf eine geschickte Weise die Zuschauer von uns abzuhalten, welches keine geringe Arbeit war, denn die Appenzeller sind, wie die Wilden, außerordentlich neugierig und wir standen auf ihrem Grund und Boden; jedoch der Hauptmann ist bei ihnen in großer Achtung und darum folgten sie ihm. Als aber die Frauenzimmer den Kaffee kochten und den Zucker auskramten, da drängten sich Große und Kleine hinzu wie die Kinder, denn Zucker geht ihnen über Geld und Gut, und es war lustig anzuhören, wie diese stämmigen Burschen mit ihren Milchzähnen große Schollen zermalmten. Manches versetzte mich beim Anblicke dieser Menschen in die Zeit meiner Jünglingsjahre nach Kanada zurück; ihre äußerliche Unbefangenheit, ihre Sicherheit des Daseins, ihr Gleichheitsgefühl, ihr Egoismus und ihr Scharfblick fürs Lächerliche; wieviel Ähnlichkeiten mit jenen Kindern der rohen Natur fielen mir auf, und wie sehr wünschte ich, meinen treuen alten Achates, den Major bei mir zu haben, um mich mit ihm der Erinnerung zu freuen!

Es muß ein uralter Volksstamm sein, der seine Eigentümlichkeit wohl nicht anders als durch die Abgeschiedenheit von der übrigen Welt und seine freie einfache Regierungsart hat bewahren können. Die Viehzucht hat sie freilich gesellschaftlicher gemacht als es jene wilden Jäger sind; und dann, sage man, was man wolle, sind die Grundsätze des christlichen Glaubens, wenn sie auch noch so ungeläutert unter diese isolierten Bergleute kommen, doch ein Zügel der Wildheit und ein guter Same der Humanität. Von ihren reformierten Landsleuten sind sie bei dem gleichen angestammten Volkscharakter doch etwas verschieden, sie sind der Natur näher, wenn man den ungebildeten Zustand der Menschen Natur nennen darf; sie sind offener, kecker, sorgenloser, gesunder, haben schönere Weiber. Sie säen nicht und ernten nicht, sammeln nicht in die Scheunen und doch finden sie Nahrung, treiben Spaß und leben wie die Vögel unter dem Himmel. Jene hingegen leben weniger in der freien Natur und sind durch den Handelsfleiß der sich von St. Gallen aus auch unter ihnen verbreitet, weichlicher geworden; das Weben in Räumen unter dem Boden macht die Männer kränklich und das Sticken in engen niedrigen Stuben die Mädchen blaß; dafür haben sie freilich mehr Geld, aber weniger Lebensfreudigkeit. Im Gebirge wohnt das Urvolk, zeigt sich noch der Nationalcharakter gesondert von allem Fremden. Unsere deutschen Bauern sind wahre Klötze gegen diese geistvollen Leute.

Ich merkte dem Hauptmann bald an, wie man sie behandeln muß; sie kennen einzig den Ton angeborener Gleichheit, wenn man den trifft, so sind sie honett und vertraulich, aber wehe dem, der sich mit wegwerfendem Spaß an sie waget! Sie stellen sich einfältig, um die treffenden Pfeile ihres Hohnes sicherer auf ihn abzuschießen. Der deutsche Arzt erfuhr das: Er hatte schon eine Zeitlang sie aufgezogen und ihnen Märchen vom Auslande aufgebunden, und jetzt, um sie zu beschämen und zugleich den Damen seine Kraft zu zeigen, sprang er mehrmals über unseren Tisch weg, und da ihm das kein Appenzeller nachtun wollte, lachte er sie alle aus. Sie schienen sehr verlegen; endlich sagte einer, wenn der Tisch vielleicht dort stände, wo jenes Heu liege, so wollte er den Sprung wagen, damit er sich im Fallen nicht weh tue. Sogleich wurde der Tisch hingestellt.

«Macht es uns bitte noch einmal vor, Herr!»

Er tats und stak bis an den Bauch in einer Grube voll Kuhmist, die der Appenzeller unbemerkterweise mit Heu zugedeckt hatte.

Er fluchte wie ein Heide und begehrte von dem Hauptmann Genugtuung, der ihn hätte warnen sollen. Da er aber ganz abscheulich aussah und kein Mensch mehr um ihn bleiben wollte, mußte er zuletzt froh sein, als ihm der Hauptmann das Sonntagswams eines Sennen verschaffte, das ihn auch zu seiner und unserer Beruhigung nicht übel kleidete. Nachdem der Tisch wieder an seinem vorigen Platze stand, sprangen sie alle darüber.

So dachten wir im fröhlichen Genusse der Gegenwart noch nicht ans Aufbrechen, denn auch der Zorn des Arztes, der im Grund nicht böse ist und sich jetzt selbst in dem Sennenkleide gefiel, hatte sich wieder gelegt – als wir mit einmal wahrnahmen, daß sich ein Gewitter über uns zusammenziehe; denn in diesen engen und tiefen Gründen erscheinen die Gewitter plötzlich, weil man sie nicht kommen sieht. Das war ein Jammern! Wir hatten kaum noch Zeit uns nach Anleitung der Gelehrten unter uns in verschiedene Hütten zu verteilen, damit wir nicht, zu sehr zusammengedrängt, die Gefahr des Einschlagens vergrößerten, da fing es schon an zu schütten und zu krachen, als wenn die Felsen herabrollten. Suschen hatte früher schon mit dem Prediger sich entfernt, um längs dem See in lieblichen Betrachtungen lustzuwandeln und machte uns jetzt erst recht besorgt, in welche Spelunke sie sich wohl mit ihrem frommen Äneas gerettet hätte.

Das Donnerwetter ging vorüber, aber der Regen dauerte fort und die Bäche schwollen an, so daß an keine Heimkehr zu denken war. – Aber wo sollen wir um Himmels willen die Nacht zubringen? fragten wir alle. Auf dem Bergheu, antwortete der Hauptmann. Dagegen widersetzte sich der deutsche Arzt ernstlich: Der Dunst des Heues sei betäubend, man könnte sich Schlagflüsse zuziehen, besonders wo »gesteigerte Nervosität« vorherrsche, womit er mir Angst machen wollte, wie ich wohl merkte.

Es wurde in der größten Sennhütte Feuer gemacht, um welches wir uns alle setzten. Suschen und ihr Prediger waren indessen auch wieder zum Vorschein gekommen; sie hatten ihre Zuflucht in einem Stadel, wie sie hier die unbewohnten Schuppen nennen, genommen, wo sie über eine Stunde, so wollte es die pronuba Juno, allein verweilen mußten, bis der Regen etwas nachließ. Er sah sehr vergnügt, sie hingegen etwas betreten aus. Wie wir nachher vernahmen, hatte sie ihm in dieser feierlichen Stunde ihr Jawort gegeben, jedoch mit Vorbehalt unserer Einwilligung.

Die Bergleute bereiteten uns mancherlei Milchgerichte, und wir dachten nichts anderes, als so die Nacht hindurch beisammen zu sitzen, welcher Gedanke mir schrecklich war; denn wie hätte ich das ausgehalten! Überdies waren auch noch andere Schottentrinker im Hintergrunde des Raumes, die alle Sinne beleidigten. – Andere Schottentrinker? – Ja, sie nennen in diesen Bergen, zum Spotte derer, die um der Molken willen aus der Ferne kommen, ihre Schweine so, die auch damit genährt werden. Auch war es bald zu warm, bald zu kalt in der Hütte, und die meisten von uns verspürten eine große Müdigkeit. Da war nichts anderes zu machen, als dem Vorschlage des Hauptmanns zu folgen und uns Schlafstellen oben auf dem Heu anweisen zu lassen, es ist noch niemand daran gestorben, sagte er. Warum hätte ich dem treuratenden Freunde und den übrigen Schweizern, welche die Erfahrung für sich hatten, nicht glauben sollen? Anbei trieb mich noch die Natur mächtig zum Schlafe.

Wir verteilten uns also; die Frauenzimmer bestiegen unter Anführung von des Hauptmanns Töchterchen den Heuboden unserer Hütte, der Arzt und der Prediger blieben unten beim Feuer, jener um seinen Grundsätzen treu bleiben zu können und dieser, um in der Nähe von seinem süßen Suschen seufzen zu können. Uns Männern wies man ein anderes Heulager in einem unbewohnten Gebäude an. Mit großer Mühseligkeit mußte ich eine Leiter hinaufsteigen und dann beim Giebel unters Dach hineinkriechen, aber wie erschrak ich, als ich das Heu ganz warm und dampfend fand! Der deutsche Arzt hat recht, rief ich und wollte wieder hinunter, aber die Leiter war schon weg, und die Schweizer redeten mir zu.

Nun so mögt ihr meinen Tod verantworten! sagte ich, zog mit großer Mühe meinen Rock aus, denn man konnte kaum aufrecht sitzen ohne an dem Dach anzustoßen und verkroch mich wie die andern ins Heu.

Ich schlief so gut, daß ich kaum erwachte, als es mitten in der Nacht auf unserem Schindeldache heftig zu poltern anfing, und schlummerte sogleich wieder ein, als der Hauptmann versicherte, es sei weiter nichts als junge Ziegen, die da herumspazieren. Des Morgens fühlte ich mich ganz erfrischt und wie verjüngt, das warme Heu hatte gerade das Gegenteil dessen bewirkt, was ich befürchtete und die Flüsse mehr aus den Gliedern gezogen als hineingebracht, so daß ich überzeugt bin, es würde hier mancher, der mit ähnlichem Übel behaftet ist, die beste Kur machen, sofern er sich mit der übrigen Lebensart vertragen könnte.

Die Frauen fanden wir schon am Putztische als wir kamen, das heißt, sie lasen sich das Heu vom Gewande. Sie wußten mancherlei zu klagen: Es seien neben ihrer Hütte Steine vom Berg herabgerollt, daß sie verschüttet zu werden befürchteten und die Chanoinesse sich kaum wollte beruhigen lassen. Dann haben die Schweine sie mit ihrem Grunzen am Schlafe gehindert; die Schweizerin habe zwar dem deutschen Arzt zugerufen, er sollte diesen ungezogenen Schottentrinkern zureden, der sich aber entschuldigt, sie verstehen seine Sprache nicht; da sei der zärtlich besorgte Prediger mit einem Stock auf die Tiere losgegangen, je mehr er aber auf sie eingehauen, desto gräßlicher haben sie getobt und geschrien, als wenn alle bösen Geister in sie gefahren wären, so daß die mitleidigen Damen um aller Liebe willen wieder um Frieden gebeten. Als endlich den wachehaltenden Männern die Zeit am Feuer auch lange geworden, haben sie sich zu dem Senne auf die Pritsche hingelegt; aber da seien noch andere Haustiere über sie hergefallen und das Ächzen ihrer Unruhe sei auch wieder zu den Göttinnen auf dem Heuboden emporgestiegen und habe dieselben in ihrem seligen Leben gestört.

Das Wetter war wieder heiter, die Bäche hatten sich verlaufen, und wir eilten nun nach Hause. In Appenzell, wo wir bei dem Hauptmann zu Mittag aßen, überzeugte ich mich von neuem von der innigen Anzüglichkeit der angebornen Heimat auf ein Gemüt, das nicht durch Überbildung und Schöngeister verwöhnt ist. Mein Freund, der Hauptmann, verlebte seine Kinderjahre unter der wilden Jugend dieser Söhne der Berge, kam dann durch Veranstaltung eines geistlichen Oheims in eine Erziehungsanstalt in Frankreich und von da unter ein Schweizerregiment, wo er in wenigen Jahren eine Kompanie erhielt. Er hatte das Glück, in einer der Hauptstädte des Königreichs einer jungen Witwe zu gefallen, die sich mit ihm verband, aber nicht lange lebte und ihn zum Erben eines beträchtlichen Vermögens einsetzte. Wer hätte nun nicht denken sollen, daß er, der reiche Mann, den Aufenthalt in einer großen Stadt, unter dem schönen Himmel, in guter Gesellschaft und im Überflusse, seinen schneeigen Bergen und halbwilden Landsleuten vorzöge? Nicht so der Hauptmann.

Ich hatte mich schon, erzählte er, bei Lebzeiten meiner Frau aus dem Dienste zurückgezogen und versuchte nun nach ihrem Tode allerlei, mir ein angenehmes Leben zu verschaffen; aber es ist mit den selbstgewählten Beschäftigungen wie mit selbstgemachten Göttern: Wo wir uns ohne sie helfen können, da sind sie zum Scheine bei der Hand und lassen uns im Stiche, wo wir ihrer am meisten bedürften. Wo uns nicht ein höherer Geist treibt oder eine bestimmte Notwendigkeit uns zu handeln gebietet, bleibt bei aller Geschäftigkeit doch eine gewisse Leere in der Seele, die oft der eingeschränkteste wirkliche Beruf besser ausfüllt. Dies sah ich immer klarer ein und empfand es auch beim Zeitvertreibe. Wenn ich des abends aus der großen Gesellschaft oder vom Schauspiele zurückkehrte, da hatte ich zwar recht feine Dinge gesehen und gehört, aber der Mensch lebt nicht allein von feinen Dingen, mir mangelte das stille Leben der Alpen, der Aufenthalt in den Wolken, die naive Schalkheit meiner Landesgeborenen, ihr in Freiheit festgewurzeltes Bestehen ...

Der Professor unterbrach ihn:

»Hier wohnt ein Volk verstreut an rinnenden Brunnen,
Das in den Stand des untertänigen Lebens
Nur einen Schritt getan mit furchtsamen Füßen,
Und den schon bereuet.«Bodmers Ode an Philokles

Je mehr ich an Jahren zunahm, fuhr der Hauptmann fort, und das künstliche Leben der großen Welt kennen lernte, desto mehr wurden jene Eindrücke in mir wach, welche die offene Seele des Knaben erfüllt hatten und mir erst nur wie liebliche Träume vorschwebten, bald aber zu bleibender Erinnerung und zuletzt zu mächtiger Sehnsucht wurden, so daß ich, wiewohl als ein Schwärmer verlacht von meinen Bekannten und nicht ohne widersprechende Empfindungen mein Vermögen mit Verlust einzog, von jener Welt für immer Abschied nahm und in das Land meiner Väter zurückkehrte, wo ich mir an dem schönsten Orte eine Alp kaufte, auf und von welcher ich jetzt glücklich lebe. Daneben versehe ich mein Ämtchen (er hat eine der oberen Stellen) so gut ich kann, genieße das Zutrauen meiner Landsleute und lebe nun so als Bürger und Eingeborener in dem natürlichsten und menschlichsten Berufe.

Das ist, sagte die Chanoinesse, eine zwar löbliche, aber auch individuelle Empfindungsart, die nichts für das Allgemeine beweist.

Ich begehre auch nichts zu beweisen, erwiderte der Hauptmann, ich erzähle nur, warum mir dieser Winkel der Welt vor anderen lacht und wie ich, ohne damals daran zu denken, mich und mein Vermögen gerettet habe.

Es beweist doch soviel, sagte ich, daß eine Hütte, wo man jugendliche Erinnerungen um sich sammeln kann besser ist, als ein goldenes Haus ohne Liebe.

Und, setzte der Professor hinzu, daß man im Nachen des Berufes glücklicher fährt, als im Weltumsegler des Müßiggangs.

Sentenzen schneiden der Unterhaltung das Leben ab, meine gelehrten Herren, sagte die Chanoinesse; man hat entweder zuviel oder gar nichts dagegen zu sagen, in beiden Fällen aber schweigt man. – Sie hatte sehr recht; zwar war dies Gespräch abgebrochen, aber deswegen nicht unsere freundliche Stimmung.

Wir ließen die Gläser klingen, nahmen dann von ihr und dem deutschen Arzt Abschied; die Frauen versprachen sich zu schreiben. Der Hauptmann will uns noch vor der Abreise in Gais besuchen; der Professor begleitet uns vielleicht bis in die Heimat der Schweizerin; und auf Suschens Hochzeit kommen wir alle wieder zusammen.


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