Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Phänomenologie des Geistes
Georg Wilhelm Friedrich Hegel

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Es kann sein, daß das Recht, welches sich im Hinterhalte hielt, nicht in seiner eigentümlichen Gestalt für das handelnde Bewußtsein, sondern nur an sich, in der innern Schuld des Entschlusses und des Handelns vorhanden ist. Aber das sittliche Bewußtsein ist vollständiger, seine Schuld reiner, wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der es gegenübertritt, sie für Gewalt und Unrecht, für eine sittliche Zufälligkeit nimmt, und wissentlich, wie Antigone, das Verbrechen begeht. Die vollbrachte Tat verkehrt seine Ansicht; die Vollbringung spricht es selbst aus, daß was sittlich ist, wirklich sein müsse; denn die Wirklichkeit des Zwecks ist der Zweck des Handelns. Das Handeln spricht gerade die Einheit der Wirklichkeit und der Substanz aus, es spricht aus, daß die Wirklichkeit dem Wesen nicht zufällig ist, sondern mit ihm im Bunde keinem gegeben wird, das nicht wahres Recht ist. Das sittliche Bewußtsein muß sein Entgegengesetztes um dieser Wirklichkeit willen, und um seines Tuns willen, als die seinige, es muß seine Schuld anerkennen;

weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt.

Dies Anerkennen drückt den aufgehobenen Zwiespalt des sittlichen Zweckes und der Wirklichkeit, es drückt die Rückkehr zur sittlichen Gesinnung aus, die weiß, daß nichts gilt als das Rechte. Damit aber gibt das Handelnde seinen Charakter und die Wirklichkeit seines Selbsts auf, und ist zugrunde gegangen. Sein Sein ist dieses, seinem sittlichen Gesetze als seiner Substanz anzugehören; in dem Anerkennen des Entgegengesetzten hat dies aber aufgehört, ihm Substanz zu sein; und statt seiner Wirklichkeit hat es die Unwirklichkeit, die Gesinnung, erreicht. – Die Substanz erscheint zwar an der Individualität als das Pathos derselben, und die Individualität als das, was sie belebt, und daher über ihr steht; aber sie ist ein Pathos, das zugleich sein Charakter ist; die sittliche Individualität ist unmittelbar und an sich eins mit diesem seinem Allgemeinen, sie hat ihre Existenz nur in ihm, und vermag den Untergang, den diese sittliche Macht durch die entgegengesetzte leidet, nicht zu überleben.

Sie hat aber dabei die Gewißheit, daß diejenige Individualität, deren Pathos diese entgegengesetzte Macht ist, nicht mehr Übel erleidet, als sie zugefügt. Die Bewegung der sittlichen Mächte gegeneinander und der sie in Leben und Handlung setzenden Individualitäten hat nur darin ihr wahres Ende erreicht, daß beide Seiten denselben Untergang erfahren. Denn keine der Mächte hat etwas vor der andern voraus, um wesentlicheres Moment der Substanz zu sein. Die gleiche Wesentlichkeit und das gleichgültige Bestehen beider nebeneinander ist ihr selbstloses Sein; in der Tat sind sie als Selbstwesen, aber ein verschiedenes, was der Einheit des Selbsts widerspricht, und ihre Rechtlosigkeit und notwendigen Untergang ausmacht. Der Charakter gehört ebenso teils nach seinem Pathos oder Substanz nur der einen an, teils ist nach der Seite des Wissens der eine wie der andere in ein Bewußtes und Unbewußtes entzweit; und indem jeder selbst diesen Gegensatz hervorruft, und durch die Tat auch das Nichtwissen sein Werk ist, setzt er sich in die Schuld, die ihn verzehrt. Der Sieg der einen Macht und ihres Charakters und das Unterliegen der andern Seite wäre also nur der Teil und das unvollendete Werk, das unaufhaltsam zum Gleichgewichte beider fortschreitet. Erst in der gleichen Unterwerfung beider Seiten ist das absolute Recht vollbracht, und die sittliche Substanz als die negative Macht, welche beide Seiten verschlingt, oder das allmächtige und gerechte Schicksal aufgetreten.

Werden beide Mächte nach ihrem bestimmten Inhalte und dessen Individualisation genommen, so bietet sich das Bild ihres gestalteten Widerstreits, nach seiner formellen Seite, als der Widerstreit der Sittlichkeit und des Selbstbewußtseins mit der bewußtlosen Natur und einer durch sie vorhandenen Zufälligkeit – diese hat ein Recht gegen jenes, weil es nur der wahre Geist, nur in unmittelbarer Einheit mit seiner Substanz ist – und seinem Inhalte nach als der Zwiespalt des göttlichen und menschlichen Gesetzes dar. – Der Jüngling tritt aus dem bewußtlosen Wesen, aus dem Familiengeiste, und wird die Individualität des Gemeinwesens; daß er aber der Natur, der er sich entriß, noch angehöre, erweist sich so, daß er in der Zufälligkeit zweier Brüder heraustritt, welche mit gleichem Rechte sich desselben bemächtigen; die Ungleichheit der frühern und spätern Geburt hat für sie, die in das sittliche Wesen eintreten, als Unterschied der Natur, keine Bedeutung. Aber die Regierung, als die einfache Seele oder das Selbst des Volksgeistes, verträgt nicht eine Zweiheit der Individualität; und der sittlichen Notwendigkeit dieser Einheit tritt die Natur als der Zufall der Mehrheit gegenüber auf. Diese beiden werden darum uneins, und ihr gleiches Recht an die Staatsgewalt zertrümmert beide, die gleiches Unrecht haben. Menschlicherweise angesehen, hat derjenige das Verbrechen begangen, welcher, nicht im Besitze, das Gemeinwesen, an dessen Spitze der andere stand, angreift; derjenige dagegen hat das Recht auf seiner Seite, welcher den andern nur als Einzelnen, abgelöst von dem Gemeinwesen, zu fassen wußte und in dieser Machtlosigkeit vertrieb; er hat nur das Individuum als solches, nicht jenes, nicht das Wesen des menschlichen Rechts, angetastet. Das von der leeren Einzelnheit angegriffene und verteidigte Gemeinwesen erhält sich, und die Brüder finden beide ihren wechselseitigen Untergang durcheinander; denn die Individualität, welche an ihr Für-sich-sein die Gefahr des Ganzen knüpft, hat sich selbst vom Gemeinwesen ausgestoßen, und löst sich in sich auf. Den einen aber, der auf seiner Seite sich fand, wird es ehren; den andern hingegen, der schon auf den Mauern seine Verwüstung aussprach, wird die Regierung, die wiederhergestellte Einfachheit des Selbsts des Gemeinwesens, um die letzte Ehre bestrafen; wer an dem höchsten Geiste des Bewußtseins, der Gemeine, sich zu vergreifen kam, muß der Ehre seines ganzen vollendeten Wesens, der Ehre des abgeschiedenen Geistes, beraubt werden.

Aber wenn so das Allgemeine die reine Spitze seiner Pyramide leicht abstößt, und über das sich empörende Prinzip der Einzelnheit, die Familie, zwar den Sieg davonträgt, so hat es sich dadurch mit dem göttlichen Gesetze, der seiner selbstbewußte Geist sich mit dem Bewußtlosen nur in Kampf eingelassen; denn dieser ist die andre wesentliche und darum von jener unzerstörte und nur beleidigte Macht. Er hat aber gegen das gewalthabende, am Tage liegende Gesetz seine Hülfe zur wirklichen Ausführung nur an dem blutlosen Schatten. Als das Gesetz der Schwäche und der Dunkelheit unterliegt er daher zunächst dem Gesetze des Tages und der Kraft, denn jene Gewalt gilt unten, nicht auf Erden. Allein das Wirkliche, das dem Innerlichen seine Ehre und Macht genommen, hat damit sein Wesen aufgezehrt. Der offenbare Geist hat die Wurzel seiner Kraft in der Unterwelt; die ihrer selbst sichere und sich versichernde Gewißheit des Volkes hat die Wahrheit ihres Alle in Eins bindenden Eides nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wässern der Vergessenheit. Hiedurch verwandelt sich die Vollbringung des offenbaren Geistes in das Gegenteil, und er erfährt, daß sein höchstes Recht das höchste Unrecht, sein Sieg vielmehr sein eigener Untergang ist. Der Tote, dessen Recht gekränkt ist, weiß darum für seine Rache Werkzeuge zu finden, welche von gleicher Wirklichkeit und Gewalt sind mit der Macht, die ihn verletzt. Diese Mächte sind andere Gemeinwesen, deren Altäre die Hunde oder Vögel mit der Leiche besudelten, welche nicht durch die ihr gebührende Zurückgabe an das elementarische Individuum in die bewußtlose Allgemeinheit erhoben, sondern über der Erde im Reiche der Wirklichkeit geblieben, und als die Kraft des göttlichen Gesetzes, nun eine selbstbewußte wirkliche Allgemeinheit erhält. Sie machen sich feindlich auf, und zerstören das Gemeinwesen, das seine Kraft, die Pietät der Familie, entehrt und zerbrochen hat.

In dieser Vorstellung hat die Bewegung des menschlichen und göttlichen Gesetzes den Ausdruck ihrer Notwendigkeit an Individuen, an denen das Allgemeine als ein Pathos und die Tätigkeit der Bewegung als individuelles Tun erscheint, welches der Notwendigkeit derselben den Schein der Zufälligkeit gibt. Aber die Individualität und das Tun macht das Prinzip der Einzelnheit überhaupt aus, das in seiner reinen Allgemeinheit das innere göttliche Gesetz genannt wurde. Als Moment des offenbaren Gemeinwesens hat es nicht nur jene unterirdische oder in seinem Dasein äußerliche Wirksamkeit, sondern ein ebenso offenbares an dem wirklichen Volke wirkliches Dasein und Bewegung. In dieser Form genommen, erhält das, was als einfache Bewegung des individualisierten Pathos vorgestellt wurde, ein anderes Aussehen, und das Verbrechen und die dadurch begründete Zerstörung des Gemeinwesens die eigentliche Form ihres Daseins. – Das menschliche Gesetz also in seinem allgemeinen Dasein, das Gemeinwesen, in seiner Betätigung überhaupt die Männlichkeit, in seiner wirklichen Betätigung die Regierung, ist, bewegt und erhält sich dadurch, daß es die Absonderung der Penaten oder die selbstständige Vereinzelung in Familien, welchen die Weiblichkeit vorsteht, in sich aufzehrt, und sie in der Kontinuität seiner Flüssigkeit aufgelöst erhält. Die Familie ist aber zugleich überhaupt sein Element, das einzelne Bewußtsein allgemeiner betätigender Grund. Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewußtseins in das allgemeine sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen innern Feind. Diese – die ewige Ironie des Gemeinwesens – verändert durch die Intrige den allgemeinen Zweck der Regierung in einen Privatzweck, verwandelt ihre allgemeine Tätigkeit in ein Werk dieses bestimmten Individuums, und verkehrt das allgemeine Eigentum des Staats zu einem Besitz und Putz der Familie. Sie macht hiedurch die ernsthafte Weisheit des reifen Alters, das, der Einzelnheit – der Lust und dem Genusse, sowie der wirklichen Tätigkeit – abgestorben, nur das Allgemeine denkt und besorgt, zum Spotte für den Mutwillen der unreifen Jugend, und zur Verachtung für ihren Enthusiasmus; erhebt überhaupt die Kraft der Jugend zum Geltenden – des Sohnes, an dem die Mutter ihren Herrn geboren, des Bruders, an dem die Schwester den Mann als ihresgleichen hat, des Jünglings, durch den die Tochter ihrer Unselbstständigkeit entnommen, den Genuß und die Würde der Frauenschaft erlangt. – Das Gemeinwesen kann sich aber nur durch Unterdrückung dieses Geistes der Einzelnheit erhalten, und, weil er wesentliches Moment ist, erzeugt es ihn zwar ebenso, und zwar durch die unterdrückende Haltung gegen denselben als ein feindseliges Prinzip. Dieses würde jedoch, da es vom allgemeinen Zwecke sich trennend, nur böse und in sich nichtig ist, nichts vermögen, wenn nicht das Gemeinwesen selbst die Kraft der Jugend, die Männlichkeit, welche nicht reif noch innerhalb der Einzelnheit steht, als die Kraft des Ganzen anerkannte. Denn es ist ein Volk, es ist selbst Individualität und wesentlich nur so für sich, daß andere Individualitäten für es sind, daß es sie von sich ausschließt und sich unabhängig von ihnen weiß. Die negative Seite des Gemeinwesens, nach innen die Vereinzelung der Individuen unterdrückend, nach außen aber selbsttätig, hat an der Individualität seine Waffen. Der Krieg ist der Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Substanz, die absolute Freiheit des sittlichen Selbstwesens von allem Dasein, in ihrer Wirklichkeit und Bewährung vorhanden ist. Indem er einerseits den einzelnen Systemen des Eigentums und der persönlichen Selbstständigkeit wie auch der einzelnen Persönlichkeit selbst die Kraft des Negativen zu fühlen gibt, erhebt andererseits in ihm eben dies negative Wesen sich als das Erhaltende des Ganzen; der tapfre Jüngling, an welchem die Weiblichkeit ihre Lust hat, das unterdrückte Prinzip des Verderbens tritt an den Tag und ist das Geltende. Nun ist es die natürliche Kraft und das, was als Zufall des Glücks erscheint, welche über das Dasein des sittlichen Wesens und die geistige Notwendigkeit entscheiden; weil auf Stärke und Glück das Dasein des sittlichen Wesens beruht, so ist schon entschieden, daß es zugrunde gegangen. – Wie vorhin nur Penaten im Volksgeiste, so gehen die lebendigen Volksgeister durch ihre Individualität itzt in einem allgemeinen Gemeinwesen zugrunde, dessen einfache Allgemeinheit geistlos und tot, und dessen Lebendigkeit das einzelne Individuum, als einzelnes ist. Die sittliche Gestalt des Geistes ist verschwunden, und es tritt eine andere an ihre Stelle.

Dieser Untergang der sittlichen Substanz und ihr Übergang in eine andere Gestalt ist also dadurch bestimmt, daß das sittliche Bewußtsein auf das Gesetz wesentlich unmittelbar gerichtet ist; in dieser Bestimmung der Unmittelbarkeit liegt, daß in die Handlung der Sittlichkeit die Natur überhaupt hereinkommt. Ihre Wirklichkeit offenbart nur den Widerspruch und den Keim des Verderbens, den die schöne Einmütigkeit und das ruhige Gleichgewicht des sittlichen Geistes eben an dieser Ruhe und Schönheit selbst hat; denn die Unmittelbarkeit hat die widersprechende Bedeutung, die bewußtlose Ruhe der Natur, und die selbstbewußte unruhige Ruhe des Geistes zu sein. – Um dieser Natürlichkeit willen ist überhaupt dieses sittliche Volk eine durch die Natur bestimmte und daher beschränkte Individualität, und findet also ihre Aufhebung an einer andern. Indem aber diese Bestimmtheit, die im Dasein gesetzt, Beschränkung, aber ebenso das Negative überhaupt und das Selbst der Individualität ist, verschwindet, ist das Leben des Geistes und diese in Allen ihrer selbstbewußte Substanz verloren. Sie tritt als eine formelle Allgemeinheit an ihnen heraus, ist ihnen nicht mehr als lebendiger Geist inwohnend, sondern die einfache Gediegenheit ihrer Individualität ist in viele Punkte zersprungen.


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