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Drittes Buch

Der Lehrer von Lenz

Da bin ich also in dem Dörfchen auf grüner Bergterrasse. Wie herrlich leuchtet die Landschaft! Fast alles Menschliche aber, das mir bis jetzt begegnet ist, bereitet mir ein schweres Herz.

Beim Eintritt in das Ortschäftchen, das den Kern der weitläufigen Gemeinde bildet, entdeckte ich ein fast kokett sauberes Wirtshaus. Da trat ich ein und fragte, aller Dinge in meinem neuen Wirkungskreis noch unkundig, nach dem Schulhaus. Der Wirt, ein älterer, hochgebauter Mann, gab mir fast verächtlich Bescheid. »So, Ihr seid der neue Lehrer? Was soll man aber von Euch denken, daß Ihr es erst heute, am Tag vor Eurem Amtsantritt, der Mühe wert erachtet, Euch in unserer Gemeinde umzusehen? Habt Ihr eigentlich schon unseren Schulpräsidenten begrüßt, Herrn Dekan Sprenger in Niederlenz? – Noch nicht! Das wäre doch Eure erste Pflicht.« Der Wirt behandelte mich wie einen Jungen, der nichts von Anstand gelernt hat.

Nach dem unfreundlichen ersten Empfang fand ich das ziemlich vom Dörfchen abseits und fast einsam gelegene Schulhaus, das nur ein Viehhändlergehöfte zur Nachbarschaft besitzt. Im Vorgarten erging sich mein künftiger Kollege, Christian Taler, und wir machten uns bekannt. Er ist ein schmächtiges Männlein, noch schmäler als Boll in Aagrüt, auch älter, mit dunklem, dünnem Vollbart und schwarzen, scheuen Augen, nach meinem ersten Eindruck ein Mann, der im Leben nicht viel Gutes erfahren haben mag. Ich bat ihn um Rat, wo ich ein Quartier finden könnte. »O je!« seufzte er. »Niemand hier will sich eines ledigen Lehrers annehmen. Ein oder zwei Nächte magst du bei uns bleiben, obwohl meine Frau und ich nicht für Gäste eingerichtet sind und auf die Dauer niemand beherbergen können. Ich will dir aber gerne helfen, eine Unterkunft aufzutreiben.«

Er begleitete mich nun zu Dekan Sprenger in Niederlenz und erzählte mir unterwegs von dem hochmütigen Wirt und Friedensrichter Hack, der nur einen so schlechten Empfang bereitet hatte. »In jüngeren Jahren war er Schuhmacher, eröffnete dann eine Wirtschaft, hielt es mit den großen Herren des Oberlandes und wußte sein Haus derart zu führen, daß es für ihn eine kleine Goldgrube geworden ist. Damit kam der Stolz über ihn. Grob gegen das Volk, unterwürfig gegen die Herren, ist er der Wettermacher des Dorfes und der Gegend, und auch wir Lehrer müssen mit ihm artig sein, sonst haben wir keine Ruhe in der Gemeinde. Dein Vorgänger, Julius Weber, hat es erfahren. Er überwarf sich mit dem Friedensrichter, da kam seine Wegwahl!«

Unter diesem Gespräch erreichten wir das schöne alte Pfarrhaus bei der Kirche von Niederlenz. Ich machte nun meine Vorstellung bei dem Pfarrherrn. Es war schon Besuch bei ihm, und so dauerte der meine nicht lange, doch empfing ich von dem würdigen Dekan den Eindruck aristokratischer Milde und Güte, die mich sonnig berührten. Er sagte mir, er habe sich bei den Erziehungsbehörden nach mir erkundigt und dabei erfahren, daß ich wegen meiner dichterischen Anlagen im Seminar einen etwas schweren Stand gehabt hätte. In seinen Augen bedeuten sie aber keinen Fehler, im Gegenteil, er seinerseits begrüße es lebhaft, wenn zwischen die vielen Lehrer, die unter dem Einfluß des Seminardirektors Wetzer zu naturwissenschaftlichen Studien neigten, einer trete, der das Humanistische bevorzuge. In den verworrenen Verhältnissen von Lenz dürfe ich mich seines Wohlwollens und seiner Freundschaft versichert halten! So fiel doch ein Lichtstrahl in meinen etwas seltsamen Amtsantritt im Oberland.

Lehrer Taler führte mich in verschiedene Häuser und beriet sich etwas schüchtern mit den Leuten, wo wohl ein Quartier für mich zu finden wäre. »So, der neue Lehrer!« versetzten sie mit kühler Neugier, »etwas zu jung für uns,« und irgend ein behäbiger Viehhändler scherzte mir zu: »Ihr werdet in Lenz auch nicht alt. Das sehe ich Euch jetzt schon an!« In Sachen der Unterkunft überall Abweisung: »Nein, wir nehmen doch nicht die Mühe eines Kostgängers auf uns. Ist es nicht das einfachste, Taler, wenn der Verweser bei Euch lebt?«

Mit stummem Seufzer öffnete er mir seine Schulhauswohnung, und nachher war das heimliche Seufzen an mir. Selten habe ich bei Lehrersleuten ein Bild so nackter Armseligkeit getroffen wie in Lenz. Die Frau im besonderen mißfällt mir; sie hinkt, die Augen sind klein und schlau, der Mund hart und verbissen.

Wie die Leute, so die Wohnung! Muffige Luft, und in der Stube steht ein so mächtiger Seidenwebstuhl, daß er sie halb ausfüllt. Die Geräte sind spärlich. Ein einziges Bild schmückt die Wände: Taler und Frau als Brautpaar. Was hat er für einen schlechten Geschmack gehabt! Auch mein Schlafzimmer enttäuscht mich. Außer einem Bett, das viel zu wünschen übrig läßt, steht darin nur ein wackliger Stuhl und darauf eine Kerze, sonst nicht das Notwendigste!

Der Abend stimmte mich tieftraurig, und die erste Nacht im Schulhaus wird mir, solange ich lebe, schrecklich in Erinnerung bleiben. Wegen der vielen Mäuse! Bald nachdem ich eingeschlafen war, weckte mich ihr Lärm hinter dem Getäfel. Das rauschte, als hielten ihrer hundert fröhliche Jagd unter sich ab, dann huschelten sie ins Zimmer herein, über mein Bett, über mein Gesicht. O diese Mäusefüße! O diese Mäuseschwänze! Ich schlug Licht – und verschwunden war der Spuk. Bald schauten aber seine Köpfchen und Äuglein schon wieder neugierig aus den Löchern der Wand- und Fußleisten hervor, und ein kleines dummes Tier hielt es überhaupt nicht der Mühe wert, vor mir zu fliehen. Auf der Decke spielte es mir ein hübsches Stück vor und wollte untersuchen, ob mein Mund und meine Augen auch Schlupflöcher seien. Ich setzte das Mäuschen ein paarmal zu Boden. Immer kam es wieder auf mein Bett und ließ sich wie zum Scherz von nur fangen. Da wollte ich es durch das Fenster in den Garten hinauswerfen. Seine zutraulichen Augen aber rührten mich, und ich trug es hinaus in den Flur. Was halfs? Wie ich das Licht löschte, setzte der Spektakel wieder ein; ich verbrachte eine sehr schlechte Nacht, und obgleich ich sonst gewiß nicht abergläubisch bin, erfaßte mich ein Grauen: Mäuse bedeuten Armut! Wohin, Tobias, bist du geraten? Das ist ja das Haus der Not!

In der jungen Morgensonne schlug ich die Fensterläden auf, und vor mir lag die unsägliche Pracht der Landschaft. Ich atmete lange und tief, wusch mich am Schulbrunnen, und als ich beim Frühstück Taler von den Mäusen erzählte, glitt ein gottergebenes Lächeln über sein Gesicht: »Wir sind des Lärms so gewohnt, daß wir ihn gar nicht mehr merken!«

Allmählich kamen die Schüler, die einen vom Berg herunter, die anderen herauf, noch andere von den Flanken der Terrasse, und sammelten sich in den Unterrichtsstuben. Die meinen begrüßten mich als neues Gesicht, manche freundlich und gut gewillt, andere mißtrauisch und ablehnend. Etliche Knaben und Mädchen versagten mir während der Stunden Antwort und Gehorsam. Ich nahm einen der Jungen, der mir durch sein sonst artiges Wesen gefiel, ins Gebet, und weinend gestand er mir: »Unsere Eltern haben gesagt, unser lieber alter Lehrer sei schlechterweise hinweggesprengt worden, da seien wir dem neuen auch keine Achtung schuldig!« Parteileidenschaft! Ich nehme den Widerspruch der Jugend nicht hoch und werde mir die Widerspenstigen zu gewinnen wissen.

Die Schülerschaft von Lenz bietet übrigens ein erfreuliches Bild, ein besseres als die von Aagrüt. Bis auf einen kleinen Rest habe ich außerordentlich helle Kinder vor mir, frische, blühende Gesichter, strahlende Augen, die meisten leiblich wohlgepflegt und bei aller Einfachheit sehr sauber. Die junge Gesellschaft ist mir wahrhaft ein Trost gegen die nicht leichten Ersteindrücke meiner neuen Stelle; die Schüler entsprechen dem allgemeinen Volksurteil über die Oberländer, daß sie ein außerordentlich aufgeweckter Schlag seien.

Das muß ich auch sagen: Wunderbar schön liegt Lenz und insbesondere unser Schulhaus auf der freien Altane an der Hochwacht, eine halbe Stunde über breitem Tal. Das Dörfchen selber ist eine Gruppe von etwa zwei Dutzend Häusern mit weißen Mauern und sonnverbranntem Holzwerk, jedes hat seinen Vorgarten und trägt den Ausdruck der Gepflegtheit und des Wohlstandes. So klein nun das Dorf an sich selber ist, so stattlich die Schulgemeinde überhaupt; zu ihr gehören berghinab und berghinauf so viele Weiler und Gehöfte, daß es schon zweier Lehrer für die Jugend bedarf. In malerischer Zerstreuung schauen die außerhalb des Dörfchens gelegenen Häuser aus einem Wald von Obstbäumen hervor, der eben jetzt in einem wogenden Traum weißer Birn- und roter Apfelblüte steht.

Und das weitere Bild? Ich kann mich nicht genug unter die Fenster stellen und die überwältigend schöne Aussicht genießen. In der Nähe und Ferne wallendes Grün, anmutige Talfalten und reizend geschwungene Hügel. In diese bewegte Landschaft hineingesprenkelt liegen Dörfer, Kirchen, Weiler, Gehöfte. Ein Ritterhaus mit Treppengiebel trägt den geschichtlichen Zug in das Bild, mit ihm das altersgraue Städtchen am See, seine tausendjährige doppelgetürmte Kirche und der perlmutterfarbene, von vielen Dichtern besungene See selber mit den Inseln. Die Felsenkeile des Vorgebirges blicken, am Abend scheinbar zum Erlangen nah, in meine Klause, und mir ist, die reinen Berge am blauen Himmel erfüllen die Landschaft, die mir nun Heimat sein soll, mit einem feierlichen Ewigkeitsgedanken.

In einer so schönen Landschaft steht unser Schulhaus. Es ist an sich ein nüchterner Bau, doch mit zwei artigen Vorgärten gegen das Tal. Zwischen den beiden führt der Weg ins Gebäude. Über eine Steintreppe betritt man den Flur, zu dessen Seiten die hellen, geräumigen Schulzimmer liegen, darüber die Lehrerwohnungen, ebenfalls recht hübsch, und auf dem Spielplatz hinter dem Haus plaudert unter einer Linde ein Brunnen. Ich habe also auch eine Wohnung im Schulhaus. Selbstverständlich steht sie leer, und ich besitze keinen Hausrat, um sie einzurichten. Wer wird sie je bevölkern? Wohl nur meine Gedanken!

Die erste Post, die ich hier erhielt, war ein Brief von Hans Boll, mit der beigelegten Verlobungskarte von Berta Zink, die mich noch in Aagrüt wähnte. Er schreibt:

»Das Berteli hat also überm Meer sein Glück gefunden. Wie aus der Mühle am Rhein erzählt wird, ist ihr Bräutigam, Adam Stüßi, einer der reichsten Farmer in der großen Schweizer Ansiedlung Neuglarus; sein Besitztum liege eine halbe Tagereise von der Stadt. Das Zinklein bekomme es sehr gut: Diener, Wagen und Pferde. Ich habe es bei einer Glückwunschkarte bewenden lassen. Du wirst ihr bei Deiner Schreiblust wohl einen Brief senden. Melde ihr, daß mein Fridolin herrlich gedeiht!« Mein Brief an das Zinklein fiel aber kurz aus und, ich fürchte, etwas unherzlich. Wie hat mein harmloser Nachtbesuch bei ihr mir eine Wunde ins Leben geschlagen. Marie!

»Du liebes Aug', du schöner Stern,
Du bist mir nah und doch so fern!«

Umsonst hat sich Taler bemüht, für mich ein Quartier zu finden, – überall Ablehnung. Unsere Wanderungen hatten aber doch den Vorteil, daß ich die Landschaft von Lenz kennenlernte, deren altalemannische Hof- und Flurnamen ein stattliches Wörterbuch füllen würden.

Es ist nun sicher, daß ich in der Familie meines Kollegen bleiben muß. Mein unfreiwilliger Kostgeber, das bescheidene Männchen, gefällt mir immer besser. Er erkennt die Mängel seines Haushaltes, und offenbar habe ich sein Vertrauen gewonnen. Sonst hätte er mich nicht so tief in seine bedauernswerte Lage blicken lassen. »Wie ich, hat sich wohl noch nie ein Lehrer hereingeritten,« klagte er. »In meinen jüngsten Berufsjahren, die ich hinten in den Bergen verlebte, ging ich für einen Bruder, der ein kleines Heimwesen kaufte, eine beträchtliche Bürgschaft ein. Er konnte sich auf dem verschuldeten Gütchen nicht halten, die Bürgschaft wurde fällig. Um den drängenden Gläubiger etwas zufriedenzustellen, heiratete ich. Ich wußte von meiner Frau, daß sie tausend Franken in bar besaß. Dann beging ich noch eine Torheit. Durch einen Agenten verlockt, ließ ich mich für eine allzu hohe Summe auf Todesfall in eine Lebensversicherung aufnehmen. Versicherung in Ehren! Keiner aber sollte eine Faust machen wollen, wenn er nicht die Finger dazu hat. Die Sorge um die noch immer nicht abbezahlte Bürgschaft und die Jahresbeiträge an die Lebensversicherung bringen mich vorzeitig ins Grab. Und meine Frau muß Seidenes weben! Nun wirst du manches verstehen, was dir in unserem Haushalt mißfällt.«

Ja, ich verstehe auch, warum Taler außerhalb der Schulstunden so viel Most trinkt, den er sich im Keller des Nachbars holen läßt, für seinen schwachen und unterernährten Leib sicher keine Zuträglichkeit. Im übrigen ist er geistig lebhaft, in seinen Klassen ein ordentlicher Lehrer und in der Gemeinde gelitten.

Seine Frau gefällt mir weniger. Ich erschöpfe ihr Lob darin, daß sie eine fleißige Weberin ist. Sie schlägt ihr Schiffchen, ein paar Pausen für das Hauswesen abgerechnet, von morgens sechs bis abends neun Uhr, oft noch länger. Der Stuhl ist eine »Ratière«, eine sehr große und schwere Maschine. Über dem breiten Holzgestell befindet sich eine kastenförmige Einrichtung aus Eisen mit einer Menge starker Spiralfedern, die an Schnüren ein Dutzend Holzplatten über das schimmernde Gewebe tanzen lassen und die Fäden des Einschlags und des Kettels so ordnen, daß das vorgeschriebene Muster entsteht. Die Weberin, die hinkende Frau Taler, bewegt das Spiel der Stäbe auf einer Fußbank wie etwa der Orgelspieler sein Pedal, zugleich aber werden die Hände der Vornübergebeugten das fischförmige Weberschifflein durch den Zettel, die Längsfäden des Gewebes, hin und her. Aus einer kleinen Spule im Schiffchen wickeln sich die Querfäden des Einschlages ab und werden durch einen breiten Kamm so aneinandergedrängt, daß sich Zettel und Einschlag zu dem dichten Gewebe verbinden, das wir von seidenen Kleidern her kennen.

Ein Wunder, wie eine Frau diese Arbeit in einem so langen und sich immer wiederholenden Tagewerk, das alle Sinne zur Anspannung zwingt, zu bewältigen vermag. In den Häusern des Oberlandes und in seiner Umgebung bis hinein in die Täler der Alpen stehen viele Tausend solcher Stühle, und man erzählt wohl mit Recht, daß das Seidengewerbe viel zu dem unverkennbaren Wohlstand der Bevölkerung beigetragen habe. Jetzt ist es im Niedergang. Die mechanische Herstellung der Stoffe erdrückt allmählich den Hausfleiß. Die Weberinnen beklagen sich, daß sie bei aller treuen Hingabe an ihre Arbeit nicht mehr als achtzig Franken im Monat verdienen können, wirklich ein Blutgeld!

Gewiß hat die Hausindustrie der Weberei ihre Vorzüge. Man sagt, sie habe das Volk zu jener unendlichen Sauberkeit erzogen, die tatsächlich ein Wesenszug des Oberlandes ist. Nur nicht der Frau Lehrer Taler! In ihrer Wohnung glänzt bloß das Wupp, alles andere vernachlässigt sie über ihrem Beruf: Mann, Kinder, Hausführung und im besonderen unsere Kost. Wirkte die Weberei überall so nachteilig wie in dieser Familie, so wäre ihr Untergang wahrhaftig zu wünschen.

Der arme Taler und ich! Immer das gleiche Mittagsbrot: kalte Wurst und kalter Most! Wie oft überfällt mich dabei die Sehnsucht nach den kräftigen Suppen meiner Mutter oder nach den zarten Gemüsen der Frau Boll. In meinen jüngeren Jahren nahm ich als selbstverständlich an, daß alle Frauen so tüchtig, so treu und warmherzig zu den Ihrigen sähen wie meine Mutter, die immer ihr Dutzend eigener und fremder Kinder erzieht, ihnen jeden Morgen die Gewändchen hinlegt, keinen Riß in den Hosen der wilden Buben duldet und sie noch einmal prüfenden Auges auf ihre Ansehnlichkeit mustert, ehe sie in die Schule gehen. Erst jetzt merke ich, wie ich im Elternhaus die Jugend dahin Mutterjunge gewesen bin. Ich spüre es, wenn ich selbständig Kleider und Wäsche ordnen soll; überhaupt – mein Herz schreit jeden Tag nach weiblicher Zusorge.

Ich habe nun in einem Brief meine Mutter gebeten, sie möge mir aus der Menge elterlichen Hausrates einige entbehrliche Stücke schicken, aus denen ich mir in meiner leeren Wohnung ein Stübchen für meine Abendstudien zusammenstellen kann; insbesondere bat ich sie um ein gutes Bett.

 

Seltsame Leute, die von Lenz! Ich bekam heute den Schulbesuch eines Pflegers, der sich offenbar überzeugen wollte, wie der junge Lehrer seine Pflicht ergreife. Ich nehme an, daß er einen guten Eindruck erhalten hat. Wenigstens lud mich der Bauer, einer der angesehensten im Dorf, nach dem Unterricht zu einem gemeinsamen Abendbrot in der Wirtschaft des Friedensrichters ein. Als die anderen Gäste gegangen waren, begann er mit einem überlegenen Lächeln im sehr klugen Gesicht aus dem Dorfleben zu erzählen und wurde dabei selber über die Gemeinde etwas spöttisch.

»Ja, hübsch ließe es sich bei uns als Lehrer leben,« sagte er, »wenn wir nur nicht so unruhige Köpfe wären. Vor zwanzig Jahren aber, als das Schulhaus gebaut wurde, kamen Streit und Zerwürfnis in das Dorf. Niemand stand das Haus an seiner prächtigen Stelle recht, die einen hätten es lieber etwas höher, die anderen etwas tiefer, die einen etwas mehr links, die anderen etwas mehr rechts in der Landschaft gesehen. Als wir nun allmählich den Zwist um den Platz des Schulhauses vergaßen, war uns die Lust am Kerbeln doch geblieben, und sie wandte sich nun den Lehrern zu, die gerade in jener Zeit amteten. Das mißfiel aber nun diesen. Jeder, den das Schicksal auf unsere kleine Bergebene geführt hatte, schüttelte sobald wie möglich den Staub wieder von den Schuhen, und in unserer kleinen Gemeinde, die sonst nicht viel erlebt, gehörte es zur Kurzweil, daß ein- oder zweimal im Jahr ein neuer Lehrer auf den Plan trat, oft zwei neue auf einmal, und ihre Erscheinung, ihr Gehaben und Wesen den Stoff für die Abendunterhaltungen der Unseren bot.

»Nun aber begab sich die Merkwürdigkeit,« fuhr der Pfleger scherzend fort, »daß zwei Lehrer etliche Jahre bei uns blieben: Ihr Kollege Taler und Ihr Vorgänger Julius Weber. ›Wir wollen doch wieder einmal ein neues Gesicht sehen,‹ sagte man sich, ›einen der beiden Lehrer müssen wir sprengen.‹ Taler fand Gnade. Wir sagten uns, er sei gestraft genug mit seinem Weibe. Also mußte Julius fallen, und unvorsichtig bot er dazu selber die Gelegenheit. Er hatte sich einen weißen Pudel angeschafft, und nun entstand unter den Bürgern die Frage: ›Darf ein Lehrer einen weißen Pudelhund halten oder nicht?‹ Darüber versammelte sich die Gemeinde im Schulhaus, beriet und erkannte mit großer Stimmenmehrheit, die Väter hätten das Haus gebaut, damit darin wohl Lehrer und Schüler ein Heim fänden, nicht aber ein Pudelhund. Von dieser Ansicht machte sie Mitteilung an Julius und forderte ihn auf, den Hund abzuschaffen. Der Widerspenstige aber erklärte, wie wir gehofft hatten: ›Meinen Pudel lasse ich nicht für die gesamte Gemeinde Lenz. Ihr seid ja im Land sonst nicht berühmt wegen Wohlwollens gegen eure Lehrer!‹ Die hochmütige Antwort gab den Anlaß, daß er wirklich hinweggewählt wurde, und Pudel wie Julius verließen unser Dörfchen.« So in Fröhlichkeit und etwas Übermut mein Schulpfleger.

War mein Gesicht so ernst? Er fragte mich, was ich vor mich hin studiere. »Wie ich wohl selber als Lehrer hier zu stehen komme,« erwiderte ich. Da rief der Schalk die Wirtstochter, bezahlte und sagte zu mir: »Es ist sechs Uhr! Ich muß beim Eid heim und dem Knecht die Kühe melken helfen!«

Über die Wegwahl meines Vorgängers gibt es aber auch andere Darstellungen: Streit mit Wirt und Friedensrichter Hack. Wie dem sei, die Erziehungsbehörde hielt die Abberufung des Lehrers durch die Gemeinde für leichtfertig und versetzte ihn, wie zum Hohn derer von Lenz, in ein schönes Dorf bei St. Jakob, wo er in besserer Stellung über sie lachen kann. Nun aber bin ich der ihrige. Was dachte wohl die Erziehungsbehörde bei meiner Versetzung auf die Bergaltane? Gewiß verband sie damit einen Doppelzweck: Mich, den unnützen Dichter des Seminars, wollte sie strafen durch die übermütigen Bauern von Lenz, und ihre unruhigen Köpfe damit, daß sie mich, angeblich einen Querkopf unter den jungen Lehrern, an die Stelle des »Julius« abordnete.

Die Mutter hat mir die erbetenen Möbelstücke geschickt, in meiner eigenen Wohnung besitze ich eine freundliche Ecke, in der ich, von niemand gestört, Schriftlichem obliegen kann. Noch mehr! Der Vater gab dem Hausgerät ein Fäßchen Rotwein, Eigengewächs, mit und zwar aus eigenem Antrieb. Immer schimpft er auf die elende Schulmeisterei, aber im Stiche lassen kann er mich nicht. Als ich das Fäßchen in den großen Schulhauskeller gerollt und den Wein angestochen hatte, lud ich Taler zur Probe ein. Mit verzückten Augen sagte er: »So gut wie dir ist es mir in meinem Leben nie gegangen; über verwässerten Most bin ich nie hinausgekommen!«

Ich habe auch andere Gäste bei mir: ein allerliebstes Schwalbenpaar, das durch die immer offenen Läden und Fenster den Weg in meine Nebenstube gefunden hat und nun eifrig dabei ist, an ihrer Decke ein Nest zu bauen. Bewundernswert, mit was für einem Fleiß es vom Morgen zum Abend Halme aus dem Felde und Mörtel von der Straße herbeiträgt und damit das Nest zimmert und mauert! Bei seiner Arbeit wirft es freilich manches zu Boden, und um diesen vor dem Unrat zu schützen, habe ich an die Stelle unter dem Nest ein paar alte, vergilbte Singtabellen hingelegt, die ich auf dem Dachraum fand. Jedenfalls ist meine Freude an den niedlichen und lebhaften Hausgenossen viel größer als die Belästigung durch sie. Stundenlang kann ich ihr Treiben mit dem Gedanken belauschen: »Schwalben bringen den Frieden«, oder lasse mir Bérangers herrliches Gedicht von dem Gefangenen in Marokko durch die Sinne gehen:

Un guerrier, courbé sous ses fers,
Disait: ›Je vous revois encore,
Oiseaux ennemis des hivers ...
Hirondelles de ma patrie.‹

Wie notwendig hätte ich den Frieden, am tiefsten, wenn ich an den stillen Abenden Marie nicht aus dem Gedächtnis vertreiben kann. Oft denke ich an das Wort ihrer Mutter: »In meinem Leben habe ich keine törichteren Kinder gesehen als euch; wie werdet ihr euch einmal suchen in den Träumen der Nacht und eines verzweifelt die Hände nach denen des andern strecken!« Bei mir Wahrheit, bei Marie nicht. Was denkt sie wohl darüber, daß ich Lehrer in Lenz geworden bin?

An Marie

Duftschwül ist die Maiennacht,
Goldne Sterne wallen.
Meine Seele hat mit Macht
Heimweh überfallen.

O Geliebte, kämest du
In dem Blütenregen,
Mir dein Haupt in süßer Ruh
An die Brust zu legen!

Einmal deiner Augen Schein
Möchte ich noch trinken,
Eh' mir Nebel leis und fein
Vor die Seele sinken.

Einmal nur! Dann mag der Tod
Still mich überschatten,
Vor dem Blick die Welt so rot
In die Nacht ermatten!

Doch du wirst herzinniglich
Nie zu mir dich neigen,
Meiner Liebe Stern verblich
In ein Meer von Schweigen.

Niemals! Ewig abgetrennt
Muß ich einsam wallen.
Heimweh, das wie Feuer brennt,
hat mich überfallen!

Verse und Strophen entstehen nun oft in meiner Klause, und der Gedanke ist mir schon gekommen, ob ich diejenigen, die mir am besten gefallen, nicht an Marie senden solle, vielleicht würden sie ihr das Herz erweichen. Nein, nein, ich sende sie nicht. Das feine Mädchen hat viel zu hohe Maßstäbe für Poesie, als daß meine bescheidene Lyrik auf sie wirkte. Ich selber aber finde in den Strophen Stunden des Vergessens über manches, was um mich armselig ist.

 

Unvermutet bin ich auch zu einer Art Pflegerin für mich gekommen. Es ist die Arbeitslehrerin, welche die Schulmädchen im Stricken und Nähen unterrichtet. Fräulein Luise Schuhmacher ist ein nettes, gebildetes Mädchen aus einer einfachen und rechtschaffenen Bauernfamilie und allgemein geachtet im Dorf. Wir begegneten uns auf der Treppe, und mit einem Fingerdeut gegen die Wohnung Talers sagte sie: »Wie wenig besorgt müssen Sie, Herr Heider, leben! Legen Sie mir den Schlüssel zu Ihrer Wohnung in ein Versteck, und ich will, wenn Sie in der Schulstube sind, zum Rechten sehen. Sie dürfen doch nicht selber Ihr Bett ordnen, die Stube wischen, Flasche und Glas spülen, das ist Frauenarbeit!« Nun hat sie diese still und unauffällig übernommen.

Bereits aber ist ein Tropfen Gift auf diese für mich bewunderungswürdige Nächstenliebe gefallen. Frau Taler sagte beim Mittagstisch mit Augen wie die einer Schlange: »Nun weiß man doch, wer in Ihrer Wohnung Lehrersgattin werden will!«

Nein, ich hoffe, was das Fräulein für mich tut, komme nur aus innigster weiblicher Herzensgüte. Daß eine Liebe zwischen uns entstehen könnte, daran ist nicht zu denken! Sie ist ein paar Jahre älter als ich, und wenn sie auch einige hübsche Züge hat, warmherzige Augen vor allem, gehört sie doch zu jenen Mädchen, die ihre Kraft zu früh im Dienst des Lebens und angestrengter Arbeit ausgegeben haben, als daß sie sich je zur Blüte hätte entfalten können! Meine Hochachtung der schmalbrüstigen Lehrerin, ihrer Güte – doch von Liebe keine Spur! – Marie Kern!

 

Wäre ich nicht ein Mann, so möchte ich weinen!

Diesen Vormittag pochte ein alter Bauer an meine Schultüre und brummte mundfaul: »Ich bin der Schulverwalter und will sehen, wie die Unterrichtszimmer, Wohn- und andere Räume im Stand gehalten sind.« Der protzige Kahlkopf gefiel mir gleich nicht gut, am wenigsten sein häßlicher zahnloser Mund. Nachdem er im Schulzimmer bei seiner Nachschau nichts zu tadeln gefunden hatte, forderte er mich auf, ihm meine Wohnung zu öffnen, ging schweigend und schweren Schrittes durch ihre Gemächer und entdeckte in der Nebenstube das Schwalbennest. Da brach er los: »Himmel, Herrgott, Sakrament! Eine solche Sauordnung duldet Ihr?«

»Herr Verwalter,« erwiderte ich, »Sie sehen, ich habe den Boden geschützt!«

In Wut lief er ohne Antwort davon; ich dachte, er werde das Haus verlassen; er trat aber polternd im nächsten Augenblick wieder in die Wohnung, einen Wischer mit langem Stiel in der Hand. »Das Nest muß herunter!« schrie er.

»Bitte,« sagte ich, »es sind darin Junge!«

»Junge oder nicht Junge!« schnaubte er, und auf einen Stoß mit dem Wischerstiel löste sich das Nest und fiel mit den noch nackten kleinen Vögeln zu Boden. »Und die verschweinigelten Tafeln müssen Sie vergüten!« knirschte der Bauer.

»Die Noten darauf sind ja blind und unleserlich!« widerstand ich.

Irgend noch ein Fluch, und er ging mit schweren Schritten, die etwa sagen wollten: »Ich bin hier der Herr!«

Wie furchtbar der Jammer der elterlichen Schwalben, ihre verzweifelten Flüge um das gestürzte Nest! Mir schnitt es ins Herz, und als der Dekan mir zufällig einen Schulbesuch machte, schaute er mir forschend in die Augen und sagte teilnahmsvoll: »Ihnen fehlt etwas!« Da erzählte ich ihm mein trauriges Morgenerlebnis. Der geistig hochstehende Mann war mit mir bestürzt über die Ruchlosigkeit des Verwalters. »Entsetzlich! Und dennoch müssen Sie den Schmerz um die Schwalben in sich selber überwinden. Sie würden wohl weder vor der Schulbehörde noch vor der Gemeinde Recht finden, wenn Sie sich über den groben Eingriff in Ihre Wohnverhältnisse beklagen wollten. Tierschutz? Ja, aber bloß, wenn es sich um das eigene Nutzvieh handelt!«

Ich verstehe, wie ein Junge gegen Tiere grausam sein kann, ich war es in meinen Knabenjahren auch, doch aus Unverstand. Mit wehem Gewissen denke ich daran zurück, wie wir Knaben in Schlägen die Futter suchenden Vögelchen gefangen haben und sie dann in der Frühlingssonne zwischen den Winterfenstern sterben ließen, oder wie manche Katze wir grausam totgeschlagen haben, die unserem Taubenflug nachstellte. Bubenstreiche!

Wie aber ein alter Mann zwecklos einen Tiermord begeht, gehört mit zu den Unbegreiflichkeiten der Welt! Wie kann das ein Lebenserfahrener je vor seinem Gott, wenn er an einen glaubt, verantworten? Es erscheint als ein Mangel unserer Religion, daß ihr Stifter, Jesus Christ, wenigstens nach den Überlieferungen des Neuen Testamentes, nie ein bittendes und ermahnendes Wort der Barmherzigkeit für die Tierwelt eingelegt hat. Wieviel Sünden an ihr, die zum Himmel schreien, wären weniger auf Erden! In Ägypten soll freilich ein apokryphes Evangelium gefunden worden sein, in dem der Herr sich drohend gegen einen Eseltreiber richtet: »Mann, schlage dein Tier nicht, denn bald wirst du selber ein Esel sein!« O, wenn das Wort nur im Neuen Testament stände!

Mir ist über der Zerstörung der Schwalbennester so weh zu Mut, als richte sich eine unsichtbare Mauer zwischen denen von Lenz und mir empor. Doch will ich nicht ungerecht sein. Der Schulverwalter ist nur einer von ihnen, und wie überall in der Welt gibt es auch auf unserer Bergterrasse neben ein paar Bösen viele stille gute Menschen.

 

Vierzehn Tage später, und noch einmal der Schulverwalter!

Unsere Besoldung wird zur Hälfte vom Staat, zur Hälfte von der Gemeinde bestritten. Der Staat bezahlt uns immer auf die Mitte des Vierteljahres. Mit der Genauigkeit einer Uhr laufen seine Anweisungen ein. So war es in Aagrüt unter einem freundlichen Schulverwalter auch mit unseren auf Ende des Vierteljahres fälligen Gemeindebesoldungen. Auf den Tag brachte er uns das Betreffnis ins Schulhaus. Hier aber müssen wir Lehrer die Besoldung selber beim Verwalter abholen. Das wollten Taler und ich gestern besorgen und trafen den mir von der Schwalbengeschichte her verhaßten Bauern im Unterdorf, wie er auf einer frischgemähten Wiese mit einer Gabel Mist ausbreitete. »Zuerst will ich mit dieser Arbeit fertig werden,« empfing er uns unfreundlich. »So arg wird euer Anliegen nicht drängen. Setzt euch unterdessen auf die Bank neben der Haustür.« Seelenruhig setzte er seine Arbeit fort, ja mir schien, er verlangsame sie sogar, damit wir recht lange warten müßten. Seine Tochter Babettli, ein schon älteres Mädchen, begrüßte und bewirtete uns mit einer Flasche Most. Mit uns empfand sie das Unwürdige im Benehmen ihres Vaters. »Nehmt's ihm nicht übel,« bat sie, »die Mutter und ich wissen es selber am besten, daß er hin und wieder ein Leider ist.«

Nach einer Stunde kam er saumselig daher. »In der Kasse ist aber kein Geld. Man kann mir nicht zumuten, daß ich wegen eurer paar hundert Fränklein auf die Bank laufe. Indessen will ich euch, ihr Hungerleider, eine Anzahlung aus Eigenem machen. Da hat jeder zwanzig Franken.« Verächtlich überreichte er uns den Betrag. »Kommt gelegentlich wieder her und seht nach dem Rest.« Damit entließ er uns.

Wie geschlagene Hunde gingen Taler und ich ins Schulhaus zurück. Zornig rief ich: »So tief erniedrigt man uns und unsere Arbeit! Ich schüttle den Staub von Lenz von meinen Schuhen!« – Warum wage ich das Abenteuer nicht?

Die Ferien stehen vor der Tür, drei Wochen. Wie traurig! Nirgendshin kann ich mich mit meiner jungen Wanderlust wenden! Was fange ich mit meiner Freiheit an?

 

Die Frage hat sich gelöst. In meinen drei Schulklassen habe ich drei Kinder einer Familie Albert Bär, die in den »Schlehen«, ein halb Stündchen oberhalb des Schulhauses, daheim ist. Ida, Frida und Ulrich sind meine begabtesten Schüler, jedenfalls die dienstfertigsten. Sie begegneten mir von Anfang an mit unendlichem Zutrauen und ließen mit Bitten nicht nach, ich möchte einmal ihre Eltern besuchen.

In den »Schlehen« lernte ich nun sehr liebe, wackere Menschen kennen, Vater, Mutter und insgesamt sechs Kinder. Die zierliche, tapfere Frau Bär, die mich an meine eigene Mutter erinnert, leitet den Haushalt mit einer Liebe und Verständigkeit, daß man seiner Größe kaum inne wird. Der Mann ist gut gestellter Fabrikarbeiter, wandert jeden Morgen früh in das eine Stunde entfernte große Industriedorf Schließ hinunter und übt dort den Beruf eines »Schlichters« aus. Den gewobenen Seidenstücken gibt er durch kaum erkennbaren mechanischen Kleisterauftrag den erhöhten Glanz, mit dem sie in den Schaufenstern der großen Städte prangen. Das ist eine sehr heikle Arbeit in überhitztem Raum, und ein guter Schlichter hat in der oberländischen Seidenweberei fast das Ansehen eines Künstlers. So ist also Bär ein gedeihlicher Mann.

Unglaublich, was er und die Seinen für ein Tagewerk leisten! Ihr Hof bildet nämlich einen hübschen Bauernbetrieb mit Kühen, Rindern und Kälbern. Die Mutter und die Kinder schaffen erstaunlich viel, und wenn Bär aus der Fabrik kommt, mäht er oft noch im Mondschein das Gras für das Vieh. Dabei liegt ein wunderbarer Friede über dem Haushalt. Die Kinder singen bei den Besorgungen im Stall, und der Hausvater geht nie zur Ruhe, ohne ein Liedchen vor sich her zu pfeifen. Wenn er aber über ein Stück Vieh oder sonst einmal ärgerlich wird, so flucht er: »Das ist ja zum Sozialdemokratischwerden!«

Die Familie hat mich nun eingeladen, die Ferien bei ihr zu verbringen. Wenn es mir gefalle, möge ich ihr etwas bei ihrer Bergheuernte helfen. So tat ich und mähte sogar zu ihrer Befriedigung jeden Tag etwas Wiese, wenn auch nicht mit der Ausdauer eines Bauers. Damit ging die Hälfte der Ferien vorüber. Immerhin mit einem kleinen Abenteuer. Eine sonst sehr friedliche Kuh, die mich für einen Eindringling in den ihr bekannten Kreis von Menschen halten mochte, faßte mich unversehens mit den Hörnern von hinten und warf mich wuchtig in einen Apfelbaum. Da saß ich verwundert in den dichten Ästen und Zweigen, und wir, die Familie Bär und ich, kamen mit dem Schrecken davon und mit einem herzlichen Gelächter, als ich heil von dem Baum herniederstieg.

Bär erzählte ich von der verächtlichen Behandlung durch den Schulverwalter. Er sprach kein Wort, aber er erbleichte vor Zorn.

Am Sonntag ging er zur Kirche, auf dem Rückweg zum Verwalter und brachte mir den Besoldungsrest. »Was ich ihm als Familienvater und Bürger gesagt habe, daran wird er lebenslang denken!« versicherte mich der wackere Mann.

Als die Heuernte auf den nicht gar großen Bergwiesen zu Ende gekommen war, stellte ich meine Sache auf Reise und Fahrt. Über ein paar der aussichtsreichsten Gipfel des Oberlandes und durch seine vielen Talfalten, in denen große und kleine Dorfschaften liegen, wandte ich mich mit einer Fußwanderung hinaus in die Heimat. Von meinem Aufenthalt in Reifenwerd ist nicht viel zu erzählen. Den Eltern spürte ich eine stille Traurigkeit an, daß ich einen so aussichtslosen Weg gehe, eine Traurigkeit, die sich beim Vater in einem halben Zorn kundgab, bei der Mutter in schweigsamem Mitgefühl. Am Ende der Ferien wandte ich mich nach Aagrüt, sagte Boll, Frau und Söhnchen guten Tag, lief durch Hettenstein und stand einen Augenblick vor dem Haus des Ratsschreibers, wagte aber wegen der törichten Geschichte mit dem Zinklein nicht einzutreten. Ich traf keinen mir bekannten Menschen, nicht einmal Thellung Sohn, der sonst immer unterwegs ist, schritt an meinem Stock weiter, Stunden, Stunden, und war um Mitternacht wieder in Lenz.

Gestern hat die Schule neu begonnen!

 

Oft bin ich in Verlegenheit, was ich in mein Buch schreiben soll. Die Tage kommen, gehen und gleichen sich wie die bescheidenen Wurstmahlzeiten der Frau Taler. Schon sinkt der Sommer in den Herbst. Es widerstrebt mir, in die Blätter einzutragen: »Gestern hat es geregnet, heute ist es schönes Wetter,« oder »Den Schüler Heß habe ich wegen Unaufmerksamkeit eine Viertelstunde vor die Schultüre gestellt. Gretli Peyer, sonst eine der letzten in der Klasse, hat mich heute durch eine gute Antwort erfreut!« – Nur das eine kann ich sagen: ich befinde mich im vollen Einverständnis mit meinen Schülern. Ich erreiche mit ihnen das vom Lehrplan vorgesteckte Ziel leicht, vielleicht einiges darüber. Ihre Artigkeit ist mir ein großer Trost in meinen sonst unerfreulichen Verhältnissen. –

Heute habe ich aber etwas Besonderes erlebt. Die Hochwacht, die hinter dem Schulhaus in anmutig bewegten Staffeln zu ihrem freien, schönen Aussichtsgipfel heransteigt, wird von Ausflüglern, Gesellschaften, Schulen häufig besucht, und einer der belebtesten Wege hinan führt an unserem Schulhaus vorbei. Da beobachte ich manches Wanderbildchen. Diesen Vormittag nach dem Unterrichtsschluß erging ich mich in meinem Gärtchen. Da kam ein vornehmes Ehepaar mit drei Jungen berghinan, stand still, atmete sich aus und fragte mich nach dem weiteren Weg. Die Familie eines höheren reichsdeutschen Beamten mochte es sein. Die Frau dankte mir für meine Auskunft freundlich und fügte bei: »Hier, in diesem Idyll, in diesem süßen Frieden als Lehrer wirken zu dürfen, muß Sie doch mit einem tiefen Glück erfüllen.«

Wie irren sich manchmal Wandersleute über den Wert der Dinge, die sie am Wege sehen! Ich denke an Frau Taler, Wirt Hack, den Schulverwalter und meine geringe Besoldung, dann weiß ich um das Glück von Lenz!

Ich halte übrigens selber mit der Hochwacht gute Freundschaft. Seit ich ihr Anwohner bin, ist keine Woche vergangen, daß ich nicht ein- oder zweimal auf ihre Kuppe gestiegen wäre, auf der sich ein kleiner Gasthof und ein hoher hölzerner Aussichtsturm befindet. Der Berg ist in unserer Landschaft unbedingt das dankbarste Ausflugsziel. Mir ist, als ob auf seiner freien Höhe, an der die letzten sturmzerzausten Tannen stehen, die Seele den Staub aus den Schwingen schüttle und sie genese von jenem Heimweh nach der Welt, das mich im Schulhaus manchmal ergreift. Der Blick taumelt in fast endlose Weiten, umfaßt das grüne Vorland mit seinen Städten, Dörfern und Seen, die Hochalpen bis in das Berner Oberland, den Jura, den Schwarzwald und die Berghöhen des Hegaus. Im Sommer habe ich bei Gewitterstimmung, schwarzer Wolkenwand im Westen, zwischen Wetterwänden sprühender Sonne im Osten, ein Stück Bodensee gesehen, eine Möglichkeit, die Kenner des Berges bestreiten. Ich bin aber sicher, daß ich das Städtchen Überlingen erkannte. Vielleicht war eine Strahlenbrechung im Spiel.

Wie sind die Stimmungen des Berges immer anders! Immer schön, sogar wenn die Aussicht versagt! Ruhsam träumt das Herz ins Graue, Blaue. Letzthin war ich in brausendem Sturm auf der Kuppe. Die Wälder unter mir fluteten mit den Wipfeln her und hin und stöhnten, die aufgeschreckten Raben flatterten wie heimatlos in der Luft und krächzten. Da fielen mir die Verse ein:

Life is a sea, where storms must rise,
'Tis folly talks of cloudless skies!

Wenigstens ein Stürmchen habe ich wieder erlebt, einen Ärger! Die Arbeitslehrerin, Fräulein Luise Schuhmacher, kam aufgeregt zu mir in die Wohnung, mit geröteten Wangen, wie ich sie noch kaum an ihr gesehen habe, und stotterte unter Schluchzen: »Herr Heider, ich kann die kleinen Dienste, die ich Ihnen erwiesen habe, nicht mehr leisten. Wir sind in der Gemeinde verleumdet worden, man schwatzt, wir pflegten unerlaubte Beziehungen zueinander.« Das Mädchen brach in Tränen aus. Ich suchte sie umsonst zu trösten: »Lassen wir die paar bösen Zungen reden! Das wesentliche ist, daß wir selber ein gutes Gewissen haben.« Sie ließ sich aber nicht beruhigen und lief jammernd mit dem Schrei von mir fort: »O, diese schlechte Welt!«

Ich kann die Sache unmöglich so ernst nehmen wie das Fräulein und bin überzeugt, daß das ungemein rechtschaffene Mädchen in der Öffentlichkeit durch alle Vernünftigen geschützt ist. Der Abbruch ihrer freiwilligen Dienste für mich mißfällt mir aber nicht einmal völlig. Ich fürchte, Frau Taler habe recht gesehen, als sie sagte, man wisse nun, wer die andere Lehrersfrau im Hause werden wolle. In Gottes Namen aber, zwischen dem schon halbverblühten Mädchen und mir gibt es kein Zusammenkommen. Ihren Namen kann ich mit so viel schmückenden Beiwörtern umgeben, wie ich will: »gütig, brav, klug, geschickt, fleißig,« – alle lassen mir das Herz nicht einen Augenblick höher schlagen.

Sollte ich mich wieder ganz in die Abhängigkeit der Frau Taler begeben, deren kalte Mittagessen mir längst verleidet sind? Ich sprach mit Mann und Frau Albert Bär in den »Schlehen« über diese Dinge, und sie luden mich ein, wenn mir der Bergweg nicht zu mühsam sei, bei ihnen Unterkunft zu nehmen. Das habe ich getan und genieße eine einfache, gute Kost, wie sie der streng arbeitende Mann selber bedarf. Die nimmermüde Frau Bär ist mir wahrhaft eine Mutter. Sie sieht zu allen Kleinigkeiten, die mein Behagen erheischt. Ich muß die Knöpfe nicht mehr selber annähen. Alle paar Tage liegt frische Wäsche auf meinem Bett. Kurz, ich fühle mich so treu von weiblichen Händen besorgt wie einst im Elternhaus, das mich zu keinen Junggesellentugenden erzogen hat.

Zweimal im Tag den Berg hinunter, zweimal empor, zusammen ein zweistündiger Gang auf ziemlich steilem und rauhem Weg! Da wird mir niemand vorwerfen, ich vernachlässige die Leibesbewegungen. Doch fehlt es mir auch nicht an guter Gesellschaft. Auf meinen Läufen bin ich von einem Rudel Schulkinder aus den am Abhang zerstreuten Gehöften umspielt. Nur mein Abendheimweg ist gewöhnlich einsam. Ich habe in den »Schlehen« kein Studierzimmer, bleibe nach dem Unterricht auf meiner Stube im Schulhaus, lebe meinen schriftlichen Liebhabereien und lasse es dabei oft etwas spät werden. Wenn ich nach Hause komme, pflegt die Familie Bär schon der Ruhe. Immer aber winkt mir das Licht einer Lampe traulich entgegen, steht wohlgeschützt etwas Warmes auf dem Tische, und mit dem Eifer eines hungrigen Jungen lasse ich mir das Abendbrot schmecken.

Winterahnungen! Heute wurden vor das Schulhaus ein paar Wagen Steinkohlen geführt und von Männern hinab in ein dafür bestimmtes Kellergelaß getragen. Bei dieser Gelegenheit teilte mir Taler mit, daß es zu den Pflichten des Lehrers von Lenz auch gehöre, den Schulofen für die beiden Unterrichtsstuben zu besorgen, und führte mich in den unterirdischen Raum, in den die Heizungsanlage eingebaut ist. Was für ein dunkles, rußiges Loch! Der Gedanke an den Ofen fällt mir schwer, und wie soll ich von den »Schlehen« herunter seiner hüten? War meine drangvolle Jugend dazu gut, daß ich Heizer werde? Wie das Leben demütigt!

Tag um Tag erfahre ich es. Ich war letzthin bei Wirt Hack. Da sagte er: »Sie rauchen gelegentlich. Da darf ich Sie wohl darauf aufmerksam machen, daß auch ich Zigarren verschiedener Art führe, und lade Sie ein, künftig Ihren Bedarf bei mir zu decken. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß das Geld, das in der Gemeinde verdient wird, in der Gemeinde bleiben soll.« »Jetzt weißt du,« lachte Taler, der Nichtraucher, »was du zu tun hast!« Über mein neues Quartier ist er nicht minder glücklich als ich selbst.

Auf einem meiner Wege traf ich den reichsten Bauern unseres Ortes, allgemein unter dem Namen »Notari« bekannt. Ich habe ihm meinen Acker beim Schulhaus für zwanzig Franken im Jahr verpachtet. Schöneren Weizen, als auf diesem Felde wuchs, habe ich in meinem Leben nicht gesehen, mannshoch standen die Halme und Ähren. Nun wandte er sich wegen des Pachtzinses an mich: »Hier der Betrag, obgleich er viel zu hoch ist. Der Acker ist schlecht. Ohne den vielen Dünger, den ich hingeworfen habe, wäre überhaupt nichts darauf gediehen. Des Dunges wegen aber wünsche ich das Feld auch nächstes Jahr zu bestellen, doch sage ich Ihnen, Lehrer, mehr als zehn Franken Zins richte ich Ihnen künftig nicht aus. Es ist noch zu viel!«

Ich sprach nun mit Fräulein Schuhmacher über die Angelegenheit: »Gewiß gäbe es Bauern, die mir gern fünfzig Franken für den Acker böten!« Da trat sie mir entgegen: »Um Gottes willen, verärgern Sie aber den Notari nicht, sonst sind Sie in der Gemeinde bald verloren. Sie kennen seine Macht über die andern noch nicht.« Doch, ich kenne sie: der Mann, der mich an die Patriarchen der Bibel erinnert, ist schon äußerlich eine Gestalt, der man sich fast freiwillig unterwirft. Sein glattrasiertes, mit Zügen wie aus Erz scharf geschnittenes Gesicht hat Gewalt, und sein berechnetes Wesen verbirgt sich unter einem biedermännischen Ton der Freundschaft, dem gerade die Kleinen im Volke nicht widerstehen können. Dazu ist er Bezirksrichter, selbst in der Stadt bekannter Politiker, etwas wie der Bauernführer des Oberlandes, und sein Ansehen umso größer, je weiter weg von Lenz die Leute wohnen. –

Wenn meine Stelle sonst keinen Vorzug hätte, so doch den, daß ich das Volksleben kennenlerne, leider mehr von seinen Schatten- als von seinen Lichtseiten!

Winter! Und lange habe ich mein Tagebuch nicht berührt. Was hätte ich dareintragen sollen? Ich weiß nichts von Marie, nichts von Heinrich Moos und erlebe in meiner Abgeschiedenheit nur weniges.

Wir hatten einen langen, wundervollen Herbst bis gegen Weihnacht, die gesamte weite Landschaft, die das Auge vom Schulhaus oder gar von den »Schlehen« aus umfaßt, eingetaucht in Sonne, Frieden, Seligkeit, und der Altweibersommer ließ seine Spinnwebfäden durch die Luft fliegen. Ich habe noch kein verklärteres Naturbild gesehen als die Hochwacht in diesen stillen, lichtberaubten Tagen und ihre Staffelwälder. Zerstreut ragen die Laubbäume aus dem ernstdunkeln Grün der Tannen, die absterbenden Buchen und die Birken mit ihren silberweißen Stämmen und hellfarbenen Blättern wie Flammen. An den sonnigen Borden meines Weges sah ich im Christmonat noch blühende Blumen, namentlich die kurzstieligen, tiefblauen Enzianen, darüber flatterten Schmetterlinge, und die Schüler, die mich begleiteten, überreichten mir Sträuße prächtig ausgereifter Erdbeeren.

Kurz vor Weihnacht fiel der erste Schnee, Tag und Nacht dicht und schwer, so fast acht Tage lang. Es war für mich keine Kleinigkeit, in stockdunkler Morgenfrühe auf verschneitem, kaum zu erkennendem Weg von den »Schlehen« in das Schulhaus hinunterzukommen, um dort mit Taler abwechselnd meine Pflicht als Heizer zu erfüllen. Für die rußige Arbeit des Kohlenschaufelns und Ofenfüllens hat mir Albert Bär eines seiner leichten und gutschließenden Überkleider geborgt, so daß ich doch reinlich unter die Schüler treten kann. Ich gestehe aber, daß mir die Arbeit schrecklich ist, daß ich dabei oft in ohnmächtigem Zorn knirsche: »Tobias Heider! Hättest du dich nicht überhaupt gescheiter als Heizer auf einen Ozeandampfer gemeldet?« Oder mir fällt Mörikes Gedicht vom verlassenen Mädchen ein:

»Früh, wenn die Hähne krähn,
Eh' die Sternlein schwinden,
Muß ich am Herde stehn,
Muß Feuer zünden.

Plötzlich, da kommt es mir,
Treuloser Knabe,
Daß ich die Nacht von dir
Geträumet habe.

Träne auf Träne dann
Stürzet hernieder.
So kommt der Tag heran, –
O ging' er wieder!«

Und mein Herz dichtet die Strophen nach seinem eigenen Erlebnis um.

Im übrigen sah ich gerade in diesen Tagen ein erfreuliches Bild. Zwei Männer vom Berg wateten im wuchtigen Stampfschritt der Jugend voran durch den hohen Schnee, damit auch die Kleinsten zur Schule kämen. Sie achten also, wenn nicht uns Lehrer, so doch den Unterricht, wie die Bevölkerung überhaupt der Schule freundlich gesinnt ist und nur aus alten Verhetzungen heraus die »Schulmeister« nicht mag. –

Die Weihnacht verbrachte ich im Elternhaus in Reifenwerd. Dabei begab sich nichts, was aufzeichnungswert wäre, als daß ich den zweiten Tag stillwehmütig für mich verbrachte, eingedenk der letztjährigen Schlittenfahrt an der Hettensteiner Steige mit Marie. Wie traurig, daß wir so tief auseinandergekommen sind! Meine Zeile zu Neujahr beantwortete sie mit einer gedruckten Glückwunschkarte und ihrer Unterschrift.

Dafür erlebte ich eine andere Überraschung. Meine Schüler und Schülerinnen überreichten mir mit freundlichen Grüßen der Eltern so viel Kuchen und Gebäck, daß ich daran hätte einen Monat zehren können. Ich glaube, daß die Abneigung, die durch meine Nachfolgerschaft auf einen weggesprengten Lehrer in der Gemeinde umherzuckte, doch im Schwinden begriffen ist und daß ich da und dort in der Einwohnerschaft einige Anerkennung genieße. Nur einen unverzeihlichen Fehler habe ich in den Augen derer von Lenz: meinen Mangel an jeder musikalischen Begabung. Diese Lücke in meinen Anlagen tritt hier viel schärfer hervor als in Aagrüt, obgleich Taler für mich den Schulgesang geradeso freundlich übernommen hat wie einst Voll in Aagrüt. Das Lied spielt aber im Oberland eine größere Rolle als im Unterland. Selten gibt es ein Haus, in dem man abends nicht singt. Der Gesangvereine sind Hunderte, und wer unter den Lehrern ein guter Sänger ist, der besitzt das Herz des Volkes. Wie armselig erscheine ich ihm in meiner Talentlosigkeit! Man warf es mir schon ins Gesicht: »Wie kann einer, der nicht singt, Lehrer werden?«

Bin ich aber wirklich das musikalische Rhinozeros, wie mich unser Gesanglehrer im Seminar genannt hat? Nicht ganz. Allerdings bringe ich kaum einen Ton von Lied hervor, rasche Musik ist für mich nichts weiter als sinnloser Lärm; aber ein tiefempfundenes Lied oder die getragenen Klänge einer Orgel führen mich in alle Schönheitsgeheimnisse und Weihen der Tonkunst hinein.

Um vor den anderen Lehrern etwas die Scharte des Unmusikalischen auszuwetzen, übernahm ich für das Winterschulkapitel im Schulhaus des großen Dorfes Forst einen Vortrag über Jeremias Gotthelf. Er fand reichlichen Beifall, sogar die drei kleinen Zeitungen des Oberlandes erwähnten der Abhandlung als einer sehr schönen Arbeit. Für mich war sie der Höhepunkt des Winterlebens.

Das vierteljährlich stattfindende Schulkapitel besuche ich immer gern. In der Lehrerschaft, die es versammelt, etwa siebzig Mann, gibt es eine Menge eigengeprägte, in sich geschlossene Charakterköpfe, namentlich unter den älteren Mitgliedern. Jeder besitzt neben seinem Beruf eine kleine eigene Welt, in der er sich wohl fühlt: der eine als besonderer Kenner der Heimat, der andere als Forscher in irgend einem naturwissenschaftlichen Gebiet; wieder einer ist Philosoph oder Mathematiker aus eigenem Trieb, ein paar zeichnen und malen mit einigem Erfolg, ein anderer ist Wanderlehrer für Bienenzucht, viele wirken als Meister des Volksgesanges oder eines musikalischen Instrumentes, und alle zusammen bieten das Bild einer geistig sehr regsamen Gesellschaft, in der ein Junger lernen könnte, wie man sich auch in engen Verhältnissen eine kleine innere Sonderwelt gestaltet und darin den Frieden des Herzens findet.

Ich erringe ihn mir nur in schier betäubender Arbeit. Jede Woche zweimal am Abend laufe ich eine Stunde weit, um bei einem Sekundarlehrer in Schließ, der einige Jahre als Privatsekretär in London gelebt hat, meine früheren Studien im Englischen weiter zu betreiben. Wozu? Ich gehe doch wohl nie nach Großbritannien oder Amerika. Es ist mir nur daran gelegen, die englischen Schriftsteller lesen zu können. Die Stunden bereiten mir aber auch Sorgen: Wie bezahle ich sie aus meinem geringen Gehalt? Doch sind Sprachen für mich, trotz ein paar Enttäuschungen im Französischen, was für andere die Musik.

Unserem verehrten Pfarrer Dekan Sprenger bin ich herzlich dankbar, daß er mich eingeladen hat, mit ihm jede Woche einen Abend lateinische Autoren zu lesen. Der Verkehr mit dem hochgebildeten Mann ist mir immer ein feiner Genuß, und seine mild überlegene Art tut mir wohl. Im besonderen gefüllt mir seine liebreiche Stellung zur Tierwelt. Wenn die winterliche Abendsonne im Versinken ist, kommen die Vögel von den Dächern oder den Bäumen und pochen ans Fenster. Er öffnet einen kleinen Flügel. Herein in die Studierstube flattern sie, hüpfen vor ihm und bitten mit wippenden Flügeln: »Eine Krume auf die Nacht!« Finken, Meisen, Rotkehlchen, der freche Spatz und die scheue Ammer. Jeder hat im Munde des Pfarrherrn seinen Rufnamen, jedes der Tierchen kennt für sich die besondere Lockung, setzt sich mit zarten Krallen auf den Finger des Schützers, nimmt das dargebotene Stück Nuß, fliegt damit ins Freie oder setzt sich nur auf den nächsten Buchrand und hackt die Beute mit scharfem Schnabel entzwei. »Hänsli, nun ist's aber genug – gute Nacht!« Und Hänsli versteht den Wink, fort! Bei diesen Bildern ist es leicht, sich Klassikern hinzugeben, und sie werden kein Schrecken, wie in manchen Gymnasien.

Ich kann mir kein gemütlicheres Studierzimmer denken als die schlichte Studierstube meines Pfarrherrn, die so herrlich in die Sonne und in die Natur blickt. Da wäre zu dichten! Das gesamte altertümliche Pfarrhaus ist eine große Bücherei, wie ich sie noch nie im Besitz eines Einzelnen gesehen habe, dazu eine Sammlung lebensgroß gehaltener Stahlstiche nach den Bildern der religiösen Meister aller Zeiten. Ich muß dem Dekan, der sich auch das laufende Schrifttum angelegen sein läßt, dafür dankbar sein, daß er mir immer die Neuerscheinungen der Literatur in die Hand gibt, und ich bewundere die Feinfühligkeit und Freimütigkeit seiner Bücherwahl. Mit jedem Werk jedoch, das mir gefällt, verbindet sich mir der Wunsch, es als Eigentum zu erwerben, und ich stehe so bei meinem Buchhändler in St. Jakob ziemlich in Schulden.

Aus Verehrung für Dekan Sprenger gehe ich in Lenz auch häufiger als früher zur Kirche. Ich bin in diesen Dingen etwas wankelmütig. Ein Pfarrer wie der in Aagrüt, der sich auf die Augsburger Konfession versteift und mit einer Stimme predigt, als schüttle er einen Sack voll Glas, ist mir gleichgültig. In die Gottesdienste des Dekans aber trete ich mit inniger Andacht und beuge mich seinen von hohen philosophischen Gedanken durchwehten, von dichterischen Empfindungen beflügelten Vorträgen willig und tief.

Meine Winterbeichte wäre nicht vollständig, fügte ich nicht bei, daß ich an den langen Abenden in meiner Wohnung mich in mancherlei Literarischem versuchte, vor allem in erzählenden Skizzen und Novellen. Ich sehe selber ein, daß der Weg in eine auch nur bescheidene Schriftstellern nicht über lyrische Gedichte, sondern über die Prosa geht. Wieviel schwieriger gerät ein guter Prosasatz als ein vom Reim getragenes Gedicht! Mit dem Ergebnis meiner Arbeiten bin ich aber nicht zufrieden. Über schöne Anfänge kam ich nicht hinaus, suchte, wog jedes Wort und drehte und wendete die Sätze wie der Goldschmied das Ringlein, an dem er schmiedet. Darüber aber ermüdete ich, es verflog die Stimmung, ehe ein kleines Ganzes beisammen war, und etwas bedrückt über meine Mißerfolge stieg ich zur Nachtruhe in die »Schlehen« hinauf. Offenbar ist meine Art der Technik falsch, ich muß es halten wie mit diesem Tagebuch: darauflos schreiben, falle nun die Darstellung ein wenig besser oder schlechter aus, und später, was ich freilich bei diesen Blättern nicht kann, die erste Fassung überarbeiten, wieder, wieder, bis das Manuskript nach meinem Können und Gefühl rund ist.

Ehe ich mir aber über die Fragen der schriftstellerischen Arbeit den Kopf zerbreche, will ich den lieben Frühling grüßen!

 

Ja, er ist da, wenigstens der Vorfrühling. Nur in einigen Schattenlöchern der Wälder liegt noch Schnee, dicht daneben steht der Seidelbast, hier »Zylander« genannt, in prangend roter Blüte, die sonnigen Halden die »Schlehen« empor schimmern weiß von Anemonen, und am Morgen, wenn ich zur Schule gehe, herrscht um mich fast berauschender Finkenschlag und Amselruf.

Schon ein paar Tage brachten mir die Schüler und Schülerinnen Sträuße zartduftiger Schneeglöckchen. Was für ein feines Blumenwunder! Ich ließ mir von den Kindern zeigen, wo sie wachsen. Auf ein paar quellenfeuchten Wiesen gegen das Tal, da aber so dicht, daß man sie mit der Sichel oder Sense mähen könnte, für die Bauern sogar ein Unkraut, weil die Blumen die Vorübergehenden immer wieder verlocken, in das sprießende Gras hineinzuwaten.

Vor der stillen Pracht überfiel mich eine tiefe Sehnsucht: irgend einem jungen Menschenkind hätte ich die Blumen in den Schoß legen mögen. Marie! In irgend einer Familie erbettelte ich mir einen Schindelkorb, füllte ihn mit frischgepflückten Glöckchen und sandte ihn mit der unterschriftslosen Zeile an Marie: »Ein Frühlingsgruß von einem, der Ihrer in Treue und Verehrung gedenkt!« Als ich den Korb zur Post gegeben hatte, wunderte ich mich selber, woher ich den Mut dafür genommen hatte, und quälte mich in der Furcht, sie würde die Blumen zurückweisen. Doch nein! Umgehend erhielt ich ein Briefchen mit ihrer künstlerisch gestochenen Schrift: »Innigen Dank!«

Nur zwei Worte, aber ich drückte sie an die Brust; mir ist, sie müsse sich mit mir versöhnen, tief und völlig versöhnen. Wie leicht hofft und glaubt im Frühling das Herz!

 

Schulexamen! Viel Besuch von Behörden, Vätern, Müttern. Die Schüler schlagfertig, obgleich das nicht mein Unterrichtsziel ist, sondern die Fähigkeit, aus ihnen heraus Gedanken und Anschauungsbilder zu entwickeln. Befriedigte Gesichter, ein gutes Essen bei Wirt Hack und Ferien!

Ich fuhr am Frühmorgen nach St. Jakob, von dort am Abend nach Reifenwerd, um die vierzehn Tage bis zur Schuleröffnung im Elternhaus zu verbringen. Doch erlebte ich nichts von Belang.

Nun erfuhr ich einen Schmerz, den ich mir mit etwas Vorbedacht hätte ersparen können. Am letzten Tag der Ferien bat ich meinen Vater, mir von seinem Flug weißer Tauben ein Pärchen zu schenken. Statt einem gab er mir zwei Paar junger, doch ausgewachsener Vögel. Ich nahm sie mit nach Lenz, kaufte mir bei einem Schreiner Holz, richtete ihnen mit eigener Hand einen Schlag unter dem Dachgiebel ein, hielt die Tiere darin einige Zeit gefangen, damit sie die alte Heimat vergäßen, und ließ sie endlich ins Freie fliegen. Innig freute ich mich an den Vögeln, die wie leuchtende Ampeln den Sonnenfrieden der Landschaft durchschwebten, wenn ich ihnen pfiff, traulich heranflogen, mir um den Kopf kreisten und die dargereichten Körner aus der Hand pickten. Die Freude an den anmutigen Hausgenossen war aber kurz. Schon nach ein paar Tagen ihres Freifluges kam etwas aufgeregt der Notari zu mir: »Wozu die verfluchten Tauben? Sie sollen mir wohl den Weizen auf dem Schulacker, wenn er reif ist, fressen? Nein!« lachte er bös, »die Tiere werden wohl nicht so alt, daß sie der Ernte schaden können!«

Richtig, am anderen Tag, als ich sie auf dem Vorplatz des Schulhauses gefüttert hatte und sie sich eben wieder in die Lüfte erhoben, kam es hinter benachbarten Bäumen hervor: piff, paff, piff, paff! So viermal. Im Nu fielen die Vögel vor meinen Augen aus der Sonne zu Boden. Die bisher versteckten Schützen, zwei junge Burschen, traten hinter den Baumstämmen hervor, freuten sich lachend ihrer Treffsicherheit, lasen die blutenden, noch zuckenden Tiere zusammen und legten sie mir mit den Worten: »Da habt Ihr einen Mittagsbraten, Lehrer!« auf der Freitreppe des Schulhauses vor die Füße. »Wie dürfen Sie die Tauben niederknallen!« schrie ich in Bestürzung und wehem Zorn. »Haben sie irgend jemand den kleinsten Schaden getan?« Die Burschen zuckten die Schultern: »Wir haben sie aus amtlichem Auftrag getötet, und die ganze Gemeinde ist wohl darüber einig, daß Ihr so wenig Tauben halten dürft wie Euer Vorgänger einen Hund.« Damit trollten sie sich.

Von der Straße hatte ein Zimmermann mit abgestellten Werkzeugen dem Schauspiel zugesehen, kam und sagte: »Ich gebe Euch für die vier Täubchen fünfzig Rappen.« Da schenkte ich sie ihm. Der Schmerz über die Missetat erschütterte mich so tief, daß ich nur des einen Gedankens fähig war: »Du mußt aus der Stelle laufen!«

Im übrigen erfahre ich: »Wer den Schaden hat, braucht um den Spott nicht zu sorgen.« Mein Nachbar, der Viehhändler, sagte: »Nehmt den Spaß nicht übel, Schullehrer; kommt lieber ins Wirtshaus, legt mit uns die Karten um, besonders, wenn Ihr darauf rechnet, auch künftig mit uns das Salz und Brot zu essen!«

Ich bin nämlich jetzt als Lehrer wählbar, und die Frage meiner Berufung zum fest angestellten Lehrer wird von den Lenzern ziemlich lebhaft besprochen. Gerade die Stilleren und Friedlicheren wünschten der Gemeinde wieder gute Schulverhältnisse. Nach der rohen Taubenschießerei ziehe ich mich aber noch mehr als bisher aus dem Dorfleben auf meine Schule zurück, kümmere mich blutwenig, ob ich als Lehrer in Lenz gewählt werde oder nicht, und lerne nicht einmal das Kartenspiel, um die Gunst der Viehhändler zu gewinnen, die mich in ihrer Schlauheit doch übers Ohr hauen würden.

 

Schon wieder ein Tierkapitel, das ich vor ein paar Tagen mit meinen Schülern und Schülerinnen erlebte. Die Überschrift lautet:

Der Tanzbär

Auf unsrer Straße weißem Band,
In bunten Lumpen statt der Schuhe,
Zieht fremdes Volk herein ins Land
Und weckt das Dorf aus seiner Ruhe.
Aus Ostland ist's der Bärentreiber,
Den Tanzstab in der rohen Faust,
Ihm folgen Kinder, strupp'ge Weiber
Und hinter ihnen, derb zerzaust,
Auf breiten Pranken, plump und schwer
Am Eisenring ein alter Bär.
Da halt! Beim Schulhaus spielt das Pack
Die Zimbeln und den Dudelsack.
Juhe, juhei! Aus Tür und Tor,
Aus stillen Schulhausstuben
Lärmt gierig junges Volk hervor,
Ein Hauf und Lauf von Buben.
»Der Bär!« – Die alten Sagen blühen,
Den Kindern ist's ein großer Tag.
Ein Jung' nur, dem die Wangen glühen.
Lehnt stillbeklommen an den Hag.
Ihm pocht das Herz: »Ein Nasenring? –
Was soll dem Tier das böse Ding?
Des Waldes König war der Bär!
Wie kommt er jetzt als Bettler her?« –
Die Weiber stehn, die Zimbeln schüttelnd,
Dumpf richtet sich der Petz empor.
»Nun grüße schön!« Die Kette rüttelnd,
Langt er gehorsam an das Ohr,
Er wirft mit derben braunen Pratzen
Kußhände in die Kinderschar.
Er hebt sich brummend auf den Tatzen,
Er dreht im Tanz sich wunderbar.
Er kauert sich, er knurrt im Hock,
Der Führer stampft: »Da nimm den Stock!«
Juhe, juhei! Die Jugend lacht:
»Was doch ein Bär für Späße macht!«
Er schlägt vor ihr den Purzelbaum.
Ein Hieb! Er wirbelt um die Stütze,
Aus seiner Schnauze trieft der Schaum.
Aufgrinsend streckt sein Herr die Mütze:
»Für meinen Petz!« – Mit blödem Nicken
Für jede Gabe dankt der Bär
Und wirft der Schar mit leeren Blicken
Die letzte müde Kußhand her. –
Juhe, juhei! Das Spiel ist aus,
Das Fremdvolk zieht den Weg hinaus,
Die Zimbel schweigt, der Dudelsack,
Stumm mit dem Bären geht das Pack.
Der Jugend war's ein großer Tag.
»Der Bär!« Noch glühen ihr die Wangen.
Nur einer sucht den Heimweg zag,
Im Herzen bebt sein dunkles Bangen.
Noch in der Nacht glühn ihm die Wangen,
In seinen fieberwirren Träumen
Hört er noch schrill die Zimbeln gehn
Und sieht den Petz sich brummend bäumen
Und um den rohen Führer drehn!
Der Junge stöhnt: »Waldkönig Bär!
Wie kommst du denn als Bettler her?« –
Und um ihn schwebt im Mondenglanz
Gespensterhaft der Bärentanz.

Das Gedicht schien mir nicht außer dem Bereich der jugendlichen Fassungskraft zu liegen, und ich las es am Morgen den Schülern vor. Unter dem Eindruck ihres Miterlebens riefen sie: »Ja, gerade so war's!« Eine Schülerin aber fragte neugierig: »Wer aber ist denn der Junge, dem es noch in der Nacht vom Bären geträumt hat?« Ein wenig unbesonnen, erwiderte ich ihr: »Ich dachte mir, das sei ich selber.« Nun war es den Schülern klar, daß ich das Gedicht verfaßt hatte, namentlich die Mädchen verlangten es zur Abschrift und ließen sich die Mühe nicht verdrießen, die etwas lang geratene Schilderung in ihre Hefte einzutragen. Damit kam sie ins Dorf, und ich weiß, was man dort spricht: »Dichten kann Heider; gescheiter wäre es, er könnte singen.«

Der »Tanzbär« hatte aber ein rasches Nachspiel. Bei mir erschien Fritz Hartmann, Redakteur eines der drei Blättchen, die die Volksaufklärung im Oberland besorgen, und erzählte: »Ich saß bei Friedensrichter Hack, da ließ er aus einem Nachbarhaus Ihr Gedicht kommen und fragte mich, was ich davon halte. Nun gefällt es mir so gut, daß ich es gern in meiner Zeitung veröffentlichen möchte, umso eher, als man die sonst in unserer Gegend selten gewordene Bärentreiberei nun wieder einmal in allen Dörfern gesehen hat.« Ich gab ihm die Erlaubnis. Weiteres besprachen wir nicht, und er brachte das Gedicht am folgenden Abend unter meinem vollen Namen. Natürlich liegt auf meinen Strophen der Spott, dem kein junger Dichter entgeht. Jovial lachte mein Nachbar Viehhändler: »Den langen Winter haben wir beim Friedensrichter immer geraten, was Ihr wohl bis gegen Mitternacht im Schulhaus treibt und studiert, und haben dabei angenommen, Ihr rechnet heimlich aus, wieviel Erdäpfel es brauche, um damit einen Kranz von Lenz um die Welt bis wieder nach Lenz zu legen. Nun wissen wir es besser: Ihr dichtet! Sagt einmal: Ist das ein vorteilhafteres Geschäft als Erdäpfel zählen?« –

Es ist ein Wunder geschehen: Seit Sonntag bin ich gewählter Lehrer in Lenz! Weder die Einwohner noch ich können uns aus unserer Überraschung erholen, namentlich das Mehr der Stimmen gibt zu sprechen. Von hundertachtundzwanzig Bürgern stimmten hundertsiebzehn für mich, elf gegen mich. Die Versammlung war also sehr groß. Aus der Gemeinde fehlten nur zwei Mann, der eine, weil seine Kuh am Kalbwerfen war, der andere wegen der Teilnahme an einer auswärtigen Beerdigung. Selbstverständlich wohnte ich der Versammlung, die in meiner Schulstube stattfand, nicht bei. Der Friedensrichter brachte mir den Bericht etwas hochmütig, wie es seine Art ist, in meine Wohnung. »Unerhört!« sagte er. »Hütet Euch aber vor Einbildungen!« Einbildungen! Nein, ich bin nur verwundert, daß die Wahl zustande gekommen ist, obgleich ich nicht singen kann und keine Karten spiele. Hat dazu wohl das Gedicht vom Tanzbär geholfen? Das glaube ich nicht, eher die wüste Taubenmetzelei. Mein sonst so ruhiger Kostgeber Bär sagte es der Versammlung ins Gesicht, diese häßliche Schießerei sei eine Schande für die ganze Gemeinde und geeignet, sie in allen Nachbardörfern lächerlich und boshaft erscheinen zu lassen. Die Bürgerschaft hat auch den bisherigen Schulverwalter abgesetzt und einen neuen gewählt, den ehrsamen Schuhmachermeister des Dörfchens. Ich denke, daß für uns Lehrer leichter mit ihm auszukommen ist als mit dem alten, sofern wir nur unser Schuhwerk von ihm beziehen.

Am Tag nach der Wahl erhielt ich von der Vorsteherschaft die schriftliche Bestätigung und die Mitteilung, daß ich damit in den Genuß der üblichen Gemeindezulage von zweihundert Franken trete, was mir an der ganzen Angelegenheit das Wichtigste ist. Ich beziehe nun ein Jahresgehalt von vierzehnhundert Franken. Kein Mensch wird behaupten, daß die Mühen meines Lehramtes überzahlt sind!

Den Wahlakten hat die Vorsteherschaft eine Zuschrift »Desiderien und Postulate der Gemeinde« beigefügt.

»Erstes Desiderium: Lehrer Heider möge im Winter früher aufstehen, damit er die Zentralheizung richtig besorgen kann; bei seiner Schnellfeuerung besteht die Gefahr, daß der Rost der Anlage vorzeitig zugrunde geht.

Zweites Desiderium: Wenn der Lehrer Haustiere zu halten wünscht, Hund, Katze, Hühner, Tauben oder anderes Vieh, möge er zunächst die Vorsteherschaft begrüßen. Diese wird nach Gutfinden entscheiden.

Drittes (und belangreichstes) Desiderium: Herr Heider möge heiraten! Für die Wohnung wäre eine Frau bekömmlicher als das Alleinwirtschaften; es ist aber auf eine zu sehen, die dem Schulhaus wohl ansteht, eine andere könnte nicht auf Beifall rechnen.«

Das sind die »Desiderien und Postulate«, und ich weiß jetzt, was ich zu tun habe!

 

Unvermutet hat mir Marie Kern ein Gedicht geschickt, zu dem sie bemerkt, es sei die Übertragung eines schwedischen Volksliedes, und sie habe dabei unwillkürlich an mich denken müssen. Das Lied lautet:

»Es haben zwei Blumen geblühet
In fernem, tiefem Tal,
Sie sind über Nacht verwelket,
Kein Auge sah sie einmal.

Es kamen zwei Sterne gezogen
Am Himmel und leuchteten licht,
Es hat sie nirgends gegrüßet
Ein betend Angesicht.

Es haben sich zweie geliebet,
Verschwiegen, verhalten und stumm,
Sie sind über Nacht gestorben,
Und niemand fragte: Warum?«

Aus was für einem tieferen Grunde hat mir Marie wohl das Gedicht übersandt? Darüber zerquälte ich mir den Kopf, wandte meine Gedanken zum Guten und dachte: Sie will einfach wieder anknüpfen mit mir! In einer mir selber unbegreiflichen Überhöhung der Sinne schrieb ich ihr am Abend während eines furchtbaren Gewitters einen großen Brief. Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag, überall am nachtdunklen Himmel zuckende Feuerschlangen, die die Landschaft gespenstisch hell ins Licht setzten. Ähnlich mag es in meiner Seele ausgesehen haben, wenigstens könnte ich heute nicht mehr sagen, was ich ihr in dem Brief niederlegte. Noch in der Nacht trug ich ihn zur Post, und Blitz und Donner und Regen waren mir eben recht – eine Wasserflut, als müßten die Berge anfangen zu wandern! Als ich auf den »Schlehen« in mein Nachtquartier kam, lief mir das Wasser aus Schuhen und Kleid, und das Hemd klebte mir am Leib.

Heute morgen erhielt ich die Antwort Maries, merkwürdige Zeilen:

»Mein verehrter und lieber Herr Heider! Leider haben Sie den Sinn, aus dem ich Ihnen das schwedische Lied schickte, völlig mißverstanden. Ich dachte es mir als ein leises Abschiednehmen für immer, und meine Pflicht wäre es, Ihnen Ihren Brief von gestern zurückzuschicken, wie wenn ich ihn nicht gesehen hätte. Ich habe ihn aber gelesen, soweit es mir die strömenden Tränen erlaubten, und bitte Sie inniglich, die Blätter als ein Andenken an Sie und an meine Mädchenjahre behalten zu dürfen. Seien Sie versichert, daß es nie andere Augen erblicken werden als die meinen und mir das erneute Liebesbekenntnis darin lebenslang heilig bleiben wird. Einmal hab' ich wegen einer Kleinigkeit töricht mit Ihnen gestritten und es dann bitter bereut. In diesem Augenblick kann ich Ihnen nur sagen: mein Herz ist voll inniger Wünsche für Sie und wird immer einen Ton höher schlagen, wenn der Name Tobias Heider in meine künftigen Tage dringt.

Mein Lebewohl!

Ihre ergebene

Marie Kern.«

Um Gottes willen! Was für ein Rätsel steht zwischen diesen Zeilen? Mir ist, die Unruhe müsse mich töten!

 

Das Rätsel ist gelöst: Diesen Morgen lag vor mir eine schön gedruckte Karte: »Marie Kern – Doktor Hermann Thellung, Hettenstein, Verlobte.«

Da begann ich doch zu zittern, und ein Donnerwetter ging durch meine Seele. Thellung der Auserwählte der Marie! Unfaßlich! Ich glaube ja, daß er sie im stillen schon seit Jahren umworben hat, aber noch höre ich aus meiner Erinnerung heraus, wie sie in Mitleid und bebender Entrüstung von ihm gesprochen hat: »Nein, diesem Religionsverächter kann es nie gut gehen in der Welt!« Nun aber geht es ihm so gut, daß er ihre Hand besitzt. Was ist denn geschehen? Wie hat er sie erreicht?

Freilich, Doktor Thellung ist ein bildschöner Mann, begabt mit herrlicher Singstimme, dazu hat er den Vorzug der reifen Männlichkeit, was in den Augen eines Mädchens auch zählen mag. Und von der Unberechenbarkeit der Frauenseele habe ich schon genug gehört. Sie liebt heute, was sie gestern verworfen hat. Geistig hochstehende Frauen haben die Männer geliebt, von denen sie wußten, daß sie mit ihnen ins Verderben geraten und Märtyrerinnen ihrer Peiniger werden. Nein, da gibt es kein Klugwerden! Was wohl die Frau Ratsschreiber zu der Verlobung ihres Kindes spricht?

Mich beherrscht nicht nur ein Gefühl bitterer Enttäuschung, unendlicher Leere im Innern, sondern namentlich auch das einer Entehrung meiner selbst. Sie quält mich wie ein stechender Schmerz. Ja, wenn die viel umworbene Marie ihre Heimat bei einem Manne gesucht hätte, den ich unbedingt als mir überlegen anerkennen müßte, der Verzicht fiele mir leichter. Nun aber ist sie die Braut des »Landstörzers«! Das brennt, das brennt! – Nein, über ihn meinerseits kein böses Wort. Mir ist er immer gut begegnet, und in seiner Verlobung hat er ja auch nur das Recht des Stärkeren zur Geltung gebracht, das wir alle für uns in Anspruch nehmen. Eher grolle ich Marie. Doch nein, mich erfüllt nur eine furchtbare Traurigkeit!

Den üblichen Glückwunsch habe ich ohne ein eigenes Wort, nur mit meinem Namen unter einem Kartenvordruck erledigt. Dann betrachtete ich noch einmal lange und tief das Jugendbildnis Maries und las die paar Briefchen durch, die ich von ihr besaß. Fiel eine Träne auf ihr Andenken? Jedenfalls war es eine trostlose Stunde, schwarz wie eine Beerdigung, als ich sie vernichtete. Ich weiß, was ich an Marie verloren habe!

Und nun helfe mir Gott, ihr von meinem süßesten Jugendempfinden umschwebtes Bild aus meiner Seele zu reißen, und ihren Namen will ich nie mehr in dieses Buch tragen!

Tobias Heider, ich fürchte, du schreibst Unsinn. Hinaus in die Wälder!

 

In den ersten Sommerferien erhielt ich den Besuch von Heinrich Moos, der jetzt Lehrer in der Stadt ist. Sprühend in Jugendmut riß er mich aus meinem Brüten empor und brachte mich so weit, daß wir für ein paar Tage in die schönen Berge des Oberlandes wanderten. Der Ausflug endete bei meinen Eltern in Reifenwerd. Er verabschiedete sich. Ich blieb und verlebte die Zeit, als wäre mir ein Schleier über die Seele gezogen. Nur litt ich immer unter dem dumpfen Trieb, nach Hettenstein zu gehen, um mich dort selber von meiner Niederlage zu überzeugen. Gottlob beging ich die Torheit nicht und bin nun wieder in Lenz, froh, wenigstens in den Schulstunden Vergessen aus meinem Leid zu finden.

Es gibt doch manchmal Lebenslagen, die dem Faustschlag ins Auge gleichen!

Umsonst bemühe ich mich, meine unglückliche Liebe aus dem Herzen zu rotten. Ich merke, das ist ein schwereres Stück, als den Wurzelstock einer Eiche aus den Gründen der Erde zu graben: Unterdessen kommt, seit ich gewählter Lehrer bin, die Frage meiner Verheiratung nicht zur Ruhe. Der Gedankengang, der die Gemeinde dabei leitet, ist einfach: Eine Wohnung von Amts wegen hat er, deswegen ist er uns schuldig, daß er sich eine Frau sucht. Ich brauche sie nicht einmal zu suchen: im Dorfe gibt es genug Weiber, die es für mich unentgeltlich besorgen und berghinauf, berghinab die Wahl unter den Töchtern für mich treffen.

Eine der Frauen, sogar die angesehenste der Gemeinde, besuchte mich in dieser Angelegenheit in meiner Wohnung. Die Viehhändlersgattin in rauschendem Seidenkleid, im übrigen eine ziemlich gebildete und angenehme Frau, fiel zwar nicht mit der Türe ins Haus, sondern sagte, sie müsse mir doch einmal dafür den mütterlichen Dank abstatten, wie gern ihr jüngster Sohn Jakob bei mir lerne, und kam erst nachher, wie durch Zufall, darauf zu sprechen, wie hübsch sich meine Wohnung einrichten ließe, wenn jetzt die richtige Frau bei der Hand wäre; das sei aber die schwere Frage, obgleich sie nicht zweifle, daß mir genug Töchter zur Auswahl ständen. Wenn sie sich nun die Freiheit herausnehme, mich da ein wenig zu beraten, so sei es deswegen, weil es auch den Frauen der Gemeinde nicht gleichgültig sein könne, was für ein Geist mit einer neuen Lehrersfrau in das Schulhaus einziehe, ein besserer hoffentlich als drüben. Und sie deutete auf die Wohnung Talers.

»Verehrte Frau,« unterbrach ich sie, »ich bitte um ein wenig Zutrauen zu meinem eigenen Geschmack!«

Das brachte sie zum Lächeln. »Trauen Sie dem meinen auch!« erwiderte sie. »In meiner Verwandtschaft, nicht weit von hier, lebt ein Mädchen, dessen Namen ich Ihnen nicht nennen will, die Tochter einer sehr geachteten und wohlhabenden Viehhändlersfamilie, die aber still wie das Veilchen im Verborgenen blüht und in ihrer Zurückgezogenheit noch keinen jungen Mann kennengelernt hat. An die denke ich, wenn ich unser Schulhaus sehe.«

Da wurde mir schwül. Ich log der Frau aus grimmiger Verlegenheit vor: »Verehrte, Sie kommen leider mit ihrer großen Güte zu spät. Ich habe in meiner Heimat bereits das Mädchen gefunden, das ich als meine Frau heimzuführen gedenke. Sie ist nur noch etwas jung, und ihr Vater wünscht, daß wir noch ein Jahr warten, bis wir den eigenen Hausstand gründen.«

»Dann Verzeihung,« sagte meine Besucherin enttäuscht, »ich hätte mich bloß so innig gefreut, wenn Sie für die von mir gemeinte Tochter hätten Anteil fassen können. Keine wäre freundlicher im Dorf aufgenommen worden. Sie zählt unter die Honetten!« Damit ging die Frau.

O die verfluchten Viehhändler von Lenz und anderswoher! Mögen sie ihr Vieh verschachern, aber keine Herzen, wenigstens das meine nicht! Gewiß, ich hätte durch einen solchen Handel meine Vorteile: um mein Futter müßte ich keinen Tag bangen, und im Schutze einer der mächtigen Sippen könnte ich unangefochten in Lenz Lehrer bleiben bis an mein seliges Ende. Mir ist aber doch, es gäbe für einen Mann keine größere Schmach als eine künstlich zusammengeführte Ehe, bei der nicht wie durch ein Wunder der Natur ein elektrischer Funke von Herzen zu Herzen, von Seele zu Seele springt.

Oft spazieren nun Töchter am Schulhaus vorbei, die einen mit blauen, die andern mit braunen Augen, die einen schlank, die andern stattlich, und fangen, wenn ich zufällig im Freien bin, ein freundliches Geplauder mit mir an; sehen sie mich aber nicht, so betrachten sie doch die Glockenblumen, die Levkojen, den Goldlack im Garten und schielen mit einem Blick hinauf nach den grünen Fensterläden meiner Wohnung. Dabei habe ich aber immer das bestimmte Gefühl, ihre Aufmerksamkeiten gelten nicht mir, sondern der Wohnung und dem Amt. Seit meine Stellung gesichert ist, bin ich der von der jungen Weiblichkeit Stillumworbene, obgleich ja jedermann weiß, wie schmal es um meine Besoldung steht. Für die Mädchen muß einfach ein Zauber darin liegen, Lehrersfrau zu werden. Ich aber erweise keiner den Gefallen einer Annäherung und bin für eine Liebschaft so gar nicht aufgelegt wie einige meiner ehemaligen Klassengenossen aus dem Seminar, die bereits ihren Hausstand gegründet haben.

Unter den Mädchen tut mir nur eines leid: Fräulein Luise Schuhmacher, die eine Weile so mütterlich zu mir und meiner Klause gesorgt hatte. Nie, wenn wir uns sehen, sprechen wir ein vertrauliches Wort zusammen, aber sie zittert vor brennender Liebe zu mir, und in ihren dunklen Augen steht das Weh, daß sich meine Unterhaltung mit ihr auf Alltägliches beschränkt. Tat ich recht? Aus lauter innerer Verlegenheit erzählte ich auch ihr scherzend das Märchen, ich werde ungefähr in einem Jahr eine Braut aus Reifenwerd bringen. Eine Stunde später berichteten mir die ahnungslosen Schülerinnen, das Fräulein sei in seinem Lehrzimmer ohnmächtig geworden.

Was ist schmerzlicher: sich selber in einer jugendgewaltigen Liebe verworfen zu wissen oder selber eine tiefe Liebe verwerfen zu müssen? Ich denke milder über Marie Kern. Nie aber wird der elektrische Funke von mir auf Luise Schuhmacher überspringen. Wird er überhaupt noch je aufleuchten, oder bleibe ich ein einsamer Junggeselle?

 

Jener Redakteur Fritz Hartmann, der das Gedicht vom Tanzbären bei mir auftrieb und es veröffentlichte, ist mir ein lieber Freund geworden. Wir sehen uns nun dann und wann und unternehmen miteinander gern irgend einen schnellen und weiten Lauf. Ja, schnell! Ich habe noch keinen Menschen gekannt, der so geschwind gehen kann wie er, zugleich so ausdauernd, Stunden, Tage. Er ist der bekannteste Bergsteiger weit und breit und Kenner des Hochgebirges, daher Präsident der Sektion Hochwacht des Schweizerischen Alpenklubs. Ebenso genießt er den Ruf eines vorzüglichen Sängers, Gesangsleiters und Musikverständigen, der zur Beurteilung von Proben selbst in die Stadt beigezogen wird, und in allem, geistig wie leiblich, ist er eine ungemein bewegliche Natur, ja, ein Feuerkopf.

Ein Feuerkopf mit blitzenden Augen und kraftvollen Brauen, federnden Zügen, blondem Schnurrbart, und stark und stählern von Wesen! Auch sein Schicksal ist kein gewöhnliches. Er begann seine Laufbahn als Lehrer, setzte sie als Hotelbesitzer irgendwo in den Alpen fort, gedieh dabei nicht, wurde Bergführer und Begleiter eines jungen amerikanischen Milliardärs auf einer Reise um die Welt, kehrte heim, wandte sich als Musikleiter dem Vereinswesen zu und fand endlich den Hafen des Lebens als Leiter des »Oberländer Volksfreundes«. Seine Familie bietet ein eigenartiges Bild. Von der ersten Frau, die er frühzeitig verlor, hat er vier Kinder, begabt für alles, was geschickte Hände erfordert, schon tüchtige Hilfsarbeiter in seiner Druckerei, von der zweiten Frau auch ein paar Kinder, ein Künstler- und Träumervölklein, Jugend also von entgegengesetzten Spielarten, wie sie in seinem eigenen Wesen liegen mögen.

Wenn ich nun mit Fritz Hartmann durch die Täler und über die Berge des Oberlandes wandere, erfahre ich etwas sehr Sonderbares: Mir ist, der Alltag gleite von mir. Wovon plaudern wir denn? Von Leben und Welt, doch Hartmann mit der geklärten Kraft seiner vierzig Jahre und seiner Schicksale. Immer spüre ich den Überlegenen in ihm, jedes philosophische Wort weiß er mit Beispielen aus seinen Erfahrungen zu belegen, und wunderbar versteht er es, mir, dem Jungen und oft an sich selber Zweifelnden, Lichter des Lebens und der Zukunft aufzustecken: »Glauben sollst du, zunächst an deinen Gott, der es gut mit dir meint, dann an dich selbst, und etwas an deine Mitmenschen! Keiner bringt es vorwärts, der von den anderen Schlechtes denkt.«

Was für eine Schwungkraft des Herzens steckt doch in ihm! Oft vergessen wir in unseren Gesprächen über die letzten und höchsten Dinge, die die Menschenseele bewegen können, Stunde und Zeit und trennen uns erst auf unseren Gängen durch Feld und Wald, wenn uns aus den stillen Dörfern her die Mitternachtsschläge überraschen.

Für mich ist es inmitten meiner Liebesschmerzen eine wahre Wohltat, einen so ungemein anregenden Freund wie Hartmann zu besitzen. Seine Gesellschaft hilft mir über viele schwere Tage hinweg.

Er ist also der Präsident der Sektion Hochwacht des Schweizerischen Alpenklubs, und auf seine herzliche Einladung bin ich dieser stattlichen und angesehenen Gesellschaft beigetreten, obgleich es mir schwer fallen wird, aus meinem Lehrergehalt an den kleineren und größeren Bergwanderungen teilzunehmen, die sie ein paarmal im Jahre ausführt.

 

Ein Herbst ohne Geschehen, und nun ist es schon wieder Winter. Schöner aber, als er in Lenz eingezogen ist, kann man ihn sich nicht denken. Auf unserer Altane lacht die Sonne, unter uns liegt, vom Hochgebirge bis in den fernen Norden, der Nebel wie eine silberne Platte über Seen, Tälern und Ortschaften ausgebreitet, ein weißer Ozean, dem nur die Schiffe fehlen. Wie sonderbar, wenn aus seinen unsichtbaren Tiefen der Pfiff einer Lokomotive gellt oder die Glocken der Dörfer heraufklingen! Da erinnert man sich an die dunkeln Sagen der nordischen See, an versunkene Ortschaften und Klöster, an »Vineta, die heilige Stadt«, und faßt es nicht, daß unter der metallenen Decke Menschen atmen und sich freuen können. Zuweilen zerreißen Sonne und Wind die Nebel, dann schimmern die Dörfer wie ehedem.

An meinem Berg aber lächelt fast immer blauer Frühlingshimmel vom Aufgang zum Untergang des Tages; nur die Nächte mit ihren Sternen sind bitter kalt. Hie und da überwallt am Abend das graue Chaos der Tiefe auch unser Schulhaus. Sicher aber sind dann noch die »Schlehen« hell, und müssen auch sie einmal in die Nebel versinken, so bleibt doch die Kuppe der Hochwacht im Licht, das die Sinne wie mit elektrischen Schlägen erregt. Ist der Nebel über Nacht bis hinauf in die Wälder gestiegen und am Morgen wieder in die Täler gesunken, entfaltet sich in der jungen Sonne die Pracht des kristallenen Rauhreifes. Das ist ein märchenhaftes Schauspiel, dauert aber nur eine Stunde oder zwei; dann fallen die Millionen Eisnadeln, in denen die Farben des Regenbogens spielen, mit silberhellem Rauschen von den Bäumen auf den Schnee der Erde.

Gottlob ist der Silvester schon vorbei, der letzte Schultag des Jahres, der mit seinen Überlieferungen wilden Lärmens in Lenz besonders stark begangen wird. Schon morgens um zwei Uhr beginnen das Zusammenschlagen von Pfannendeckeln, die Stöße aus Hörnern und Pfeifen und der endlose Ruf: »Silvester, Silvester!« aus Höhen und Tiefen. Daran beteiligten sich Mädchen wie Buben, und um drei Uhr standen sie schon auf den »Schlehen« und schrien wie toll: »Lehrer, Silvester, auf die Beine! Wir wünschen die Schulhausschlüssel!« Abzug! Um fünf Uhr trat auch ich unter sie. Die Bänke waren in der Ecke aufeinandergehäuft, die Stube ein Tummelplatz für diejenigen, die tanzen konnten, und andere, die es wenigstens wollten. Jubelschall: »Lehrer, Ihr seid abgesetzt; wir sind die Herren!«, und selbst die artigsten Mädchen blieben nicht in Rand und Band. Um Tagesanbruch ermattete aber doch die Lust. Die Jugend zog ihre reichen Geschenke an Backwerk aus allerlei Verstecken hervor: Dirggel mit gepreßten Bildern, Elggermänner mit Augen aus Wacholderbeeren, Birnwecken, gebackene Zöpfe und Eierringe, Bärentatzen und Öhrli. Weiß Gott, wie sie alle heißen, die Leckerbissen des ländlichen Neujahrs!

Und ich erwidere die Gaben jedem Kind mit dem Geschenk eines Silvesterbüchleins, einer alljährlich wiederkehrenden illustrierten Jugendschrift. Das größte Mädchen kletterte auf die gestapelten Schulbänke. »Seid still! Ich lese euch ein Gedicht vor: ,Der Bildhauer und sein Kind', das von unserem Lehrer in das Heft gesetzt ist!«

Plötzliche Ruhe! Verwunderung! Das Mädchen las gut:

»Die Abendglocken gehn im Grund,
Die Hände mußt du falten,
Mein Büblein, daß uns Gott gesund
Den Vater mög' erhalten.

Als uns der Lenz die Veilchen bot
Und goldne Himmelsterne,
Da zog im harten Kampf ums Brot
Der Vater in die Ferne.

Er weilt in fremder, schöner Stadt,
An weiter Meeresküste,
Und meißelt Fruchtgewind' und Blatt
Ums Haupt der Marmorbüste.

Doch faltet er beim Glockenlaut
Gewiß auch seine Hände,
Daß Mütterchen und Büblein traut
Gesund er wiederfände.

Und wenn drei Herzen inniglich
Vor Gott zusammenstehen,
So freut der selbst im Himmel sich
Und schenkt ein Wiedersehen!«

Der verständnisvolle Vortrag des Mädchens gab dem wilden Silvestermorgen einen fast feierlichen Ausklang, und alle Schüler entboten mir mit einem herzlichen Händedruck ein gutes neues Jahr.

 

Am ersten Sonntag im neuen Jahr hielt ich auf Anregung meines Freundes Fritz Hartmann in unserem Alpenverein, der sich im »Bären« zu Forst versammelte, einen Vortrag: »Alles fließt!« Ich ging von der Tatsache aus, daß sich in unserer Gegend ein Schieferkohlenbergwerk befindet und, wie Fundstücke daraus beweisen, sich Palmwälder sonnten, wo jetzt nur noch die Tannen rauschen, wie es aber nach den Gletscherzeugen an unseren Hügeln und Bergen auch eine Zeit gab, in der unsere Gegend einer Polarlandschaft glich, und wie sich unter den äußeren Umständen die Tierwelt immer wieder umgestaltet hat, von fliegenden Eidechsen zum Mammut und dem Wisent der ersten Menschen. Hinüber von der engeren Heimat trug ich den Gedanken der Wandelbarkeit aller Dinge auf Alpen und Meer, versteinerte Muscheln auf hohen Spitzen, in Sturmflut versunkene Landstriche, und schloß meinen halb wissenschaftlichen, halb dichterischen Vortrag mit dem Psalmwort: »Herr, vor dir sind ja tausend Jahre nur ein Tag!«

Ein von mir selber nicht geahnter Erfolg begleitete die Rede, vielleicht gerade, weil sie von der Poesie der Ewigkeit durchzittert war. Dank, Händeschütteln. »Gottlob einmal ein neuer Ton in unserer Vereinigung! Sie geben doch den Vortrag in den Druck? Vor allem kommen Sie bald wieder mit einem!«

Und nun erleben die von Lenz mit mir Sonderbares. Dann und wann halten Pferdeschlitten vor dem Schulhaus, mitten im Unterricht gibt es Besuch, und ich muß gestehen, daß sich die Klubgenossen, mehr oder weniger der Geschäftsadel des Oberlandes, in der Klasse sehr frei benehmen. »Kinder, geht heim und erzählt den Eltern, der Lehrer habe sich zu einer Schlittenfahrt einladen lassen!« Mit schlechtem Gewissen habe ich so bei ein paar Winterausflügen rund um die Hochwacht mitgetan. Die Herren aber lachten: »Nur keine Bange! Wir führen Sie wieder nach Lenz. Den Abschiedstrunk nehmen wir bei Wirt Hack, Euerm Jehu, und der muß in der Gemeinde gutes Wetter über unsere Schulstörung bereiten!«

Die Herrenfreundschaften haben für mich ihre Vorteile und ihre Nachteile. Einer der Klubgenossen hat mir einen herrlichen Eispickel geschenkt, in den das Datum meines Vortrages eingestanzt ist, und ein anderer, weiß Gott aus welchem Einfall, für mich die »Frankfurter Zeitung« abonniert. Manchmal aber weiß ich bei unseren Ausfahrten kaum, woher den Franken nehmen, das Trinkgeld, das ich dem Schlittenführer schicklicherweise geben sollte. Wirt Hack und die Viehhändler raten, was wohl die Herren an dem jungen Schullehrer finden, und die Dörfler schütteln ihre Köpfe: »Was, der hält die teure ›Frankfurter Zeitung‹? Haben wir ihm die Besoldung nicht zu hoch gestellt?«

Jedenfalls aber stehe ich nicht mehr so einsam und gottverlassen auf meinem Posten wie in den Anfängen von Lenz! –

Weniger gut als mit den Vorträgen geht es mir mit dem Journalismus. Fritz Hartmann hat zwar die Arbeit »Alles fließt« in seinem »Volksfreund« zum Abdruck gebracht und mir dafür etwas Honorar ausgesetzt. Neben anderen kleinen Anerkennungen, die mir die Feuilletons eintrugen, erhielt ich eine Zuschrift des »Volksboten«, ich möge mich gelegentlich auch in seinen Spalten als Mitarbeiter betätigen. Richtig, ich sandte der Redaktion eine Novelle ein, die ich über Winter geschrieben hatte, und erbat mir dafür ein bescheidenes Honorar. Ungnädig ließ mir aber der Redakteur die Erzählung wieder zugehen: »Was, Honorar verlangen Sie und schätzen die Ehre nicht, sich im ›Boten‹ abgedruckt zu sehen? Da wenden Sie sich an die ›Freie Stimme‹. Kennen Sie die Vorzüge dieser Redaktion? Sie besitzt keinen Papierkorb und kann also keine Manuskripte darin begraben, dazu hat sie ihre abgenützte Schere fast immer beim Schleifer und muß dann über jeden Kohl froh sein, der ihr von einer anderen Hand zugesteckt wird. Freilich, ob die ›Stimme‹ Honorar bezahlt, darüber hegen wir berechtigte Zweifel.«

Ich ließ die beiden Blätter, die wie Hund und Katze zusammen leben, und gab die Geschichte meinem treuen Fritz. Zuweilen beschäftigt er mich auch als Berichterstatter über kleine Anlässe im Oberland, für die er selber keine Zeit findet, und letzthin bat er mich um einige Zeilen über eine Theateraufführung in Lenz. -

Nun hatte ich das Unglück, zu schreiben: »Ihr Korrespondent beschränkt sich auf die Bemerkung, daß die Wahl des Stückes ein völliger Mißgriff war. Unsere ländlichen Vereine können nun einmal Kotzebuesche Salonstücke und Lustspiele nicht gewandt genug wiedergeben, das bleibt die Angelegenheit von Berufsschauspielern. Mögen sich unsere Liebhaberbühnen auf das einzige Gebiet sammeln, das ihnen liegt: Stücke aus dem Volksleben!«

Die von Lenz errieten den Verfasser der ketzerischen Zeilen, und das Feuer stieg in ihre Dächer. »Was, unsere Söhne und Töchter sollen kein Salonstück und Lustspiel aufführen können? Oh, der verschrobene Schullehrer!« Freunde warnten mich vor der Fastnacht, Beleidigte würden maskiert ins Schulhaus dringen und mich mißhandeln. Es blieb bei der Drohung; doch so manche feine Fäden des Verständnisses, die sich allmählich zwischen der Gemeinde und mir gebildet haben, sind durch meine unvorsichtige Kritik brüchig geworden.

Eine andere journalistische Begebenheit! Sie könnte den Titel führen: »Sonderbare Sitten« oder »Der hinausgeworfene Reporter«. Fritz hatte mich für eine Berichterstattung auf den Angestelltenball der großen Industriefirma Egger & Ruegg in Schließ gesandt. Dem Tanz ging ein Nachtessen voraus. Die Gäste, Männer, Frauen, Töchter, waren eben bis zum Soßenfleisch gekommen, da trat ein Herr in der Reife der Jahre, doch mit knolligem, gedunsenem Gesicht an unseren Tisch, ergriff unversehens seine Kante, hob sie, und was auf der Tafel stand: Schüsseln, Teller, Flaschen, Gläser, Gabeln, Messer stürzten prasselnd nach der Seite, an der ich saß. Klirrend zerbrachen die Geschirre am Boden, wir Männer hatten die Brühe auf den Knien und die Damen auf den Schößen ihrer Ballröcke. In den nächsten Augenblicken wiederholte sich das grobe Schauspiel an den andern Tischen der weit mehr als hundert Köpfe zählenden Gesellschaft. Teils verlegenes, teils wieherndes Lachen erhob sich im Saal, ja stürmischer Beifall. Nur ich verstand den Scherz nicht. Sei es, weil mir die nagelneue Hose verdorben war oder weil mich die verschüttete Soße an die Knie brannte, ich stand auf und rief unbesonnen in den Saal: »Was ist das für ein Mordskalb?«

Meine Nachbarschaft erblaßte. »Was reden Sie? Das geht Sie doch nichts an, was unser Geschäftsherr tut! Herr Egger bezahlt ja alle für die Schäden seiner Scherze!« Zugleich brüllte mich ein stämmiger Werkführer an: »Sie haben ›Mordskalb‹ gerufen. Hinaus mit Ihnen!« Ehe ich wußte, wie mir geschah, hatten mich vier Männer an Armen und Beinen gefaßt, trugen mich unter dem Gelächter der anderen aus dem Saal, die Treppe hinunter, vor die Haustüre und warfen mich in den hohen, weichen Schnee. »Da liegst auch du, du Mordskalb!« Doch geschah der Hinauswurf, der erste im Leben, und hoffentlich auch der letzte, mit Sanftmut und Schonung, als gäben mir die Täter im stillen Recht.

Als ich aus meiner unbeschreiblichen Überraschung wieder zur Besinnung kam, stand neben mir das Wirtstöchterlein, lachte aus vollem Halse, reichte mir beide Hände, damit ich mich aufrichte, führte mich in ein kleines Zimmer und reinigte mich, so gut es ging, von Schnee und Brühe. »Ich hätte Sie eigentlich vorbereiten sollen,« sagte sie, »daß sich bei den Bällen, die Herr Egger gibt, jedesmal eine Unfläterei ereignet. Die anderen Gäste, Herren und Damen, halten sich daraufhin ein zweites Kleid bereit.« Und wieder lachte das Mädchen hell: »Nun wissen Sie doch einmal, wie sich bei unserem Herrn die Vergnügungen gestalten!« Über dem tollen Erlebnis kamen wir beide in ein Lachen hinein, für das wir fast kein Ende fanden; als ich aber den Heimweg einschlug, fiel mir der Fluch meines Kostgebers ein, wenn ihn ein Vieh erzürnte: »Das ist ja zum Sozialdemokratischwerden!«

Fritz Hartmann verstand es, daß ich keinen schriftlichen Bericht über das Festchen abgab. Auch ohne diesen ist mein Abenteuer im Oberland ruchbar geworden. Ich gelte unter allerlei humoristischen Ranken als der mutige Junge, der es gewagt hat, dem Großfabrikanten die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Doch bedaure ich diesen Ruhm, er trägt nur dazu bei, daß ich meiner Umgebung völlig als der Vetter Seltsam erscheine.

 

Nun aber ein artiges Geschichtchen ohne Journalismus! Obgleich ich als unmusikalisch gelte, habe ich auf die Anregung meines liederfreudigen Fritz Hartmann diesen Winter etliche Konzerte besucht. Immer mit innigem Genuß! Nur gibt er sich mir anders als den meisten Menschen. Wie ich Melodien höre, namentlich sanfte, ernste, getragene, wandeln sich mir die Töne in eine unendliche Kette von Bildern um, tief in mir beginne ich zu dichten. Wie Vogelflug gleiten mir die Strophen bei der Musik heran!

Nun war unter der Leitung meines Freundes eine große Gesangsaufführung in der schönen alten Kirche zu Forst, gemischter Chor, eine Auslese besonders guter Sänger und Sängerinnen des Oberlandes. Dabei sollte auch eine vorteilhaft bekannte Berufssängerin aus St. Jakob mitwirken, sagte sich aber in letzter Stunde wegen Unwohlsein ab.

Was nun? Der nie verlegene, immer elastische Direktor Hartmann führte ritterlich eine junge Dame die paar Stufen zum Taufstein empor. Es war Fräulein Emma Heß von Forst, die auf kurzem Heimatbesuch aus Frankreich sich bewegen ließ, für die erkrankte Künstlerin einzuspringen. Aufmunternder Beifall begrüßte die blutjunge Sängerin.

In ihren Händen zitterte das Blatt. Die ersten Takte verrieten die Befangenheit der des öffentlichen Auftretens nicht gewohnten Künstlerin. Rasch aber faßte sie sich, und ihre silberhelle, süße Sopranstimme erfüllte die Zuhörer mit einer Andacht, als ginge der Odem Gottes durch den alten Bau.

Als sie ihre zwei Lieder beendet hatte, stieg nach ein paar Augenblicken aus der lauschenden Hingabe der Konzertteilnehmer herzlicher, wachsender Beifall, und in reizender Verwirrung über ihren Erfolg ließ sich das Fräulein die Stufen in das Schiff der Kirche von Hartmann hinunterführen.

Nach dem Konzert fand im Saal des »Bären«, aus dem man mich vor vierzehn Tagen hatte hinausfliegen lassen, noch eine Abendunterhaltung statt, und überraschenderweise gab mir Hartmann den Platz zur Linken der Sängerin. »Du,« flüsterte er mir ins Ohr, »gewiß ist es der Mühe weit, daß du deine reizende Nachbarin kennenlernst.«

Ich unterhielt mich nun mit Fräulein Heß vortrefflich. Einfach, frisch, lebendig erzählte sie mir aus ihrem zweijährigen Aufenthalt an der Loire. Dann und wann warf Fritz Hartmann, der ihr zur Rechten saß, ein Wort ins Gespräch, und die Stunden liefen. Was mir selten vorkommt: ich habe sogar getanzt, natürlich mit Fräulein Heß.

Als ich sie das letztemal wieder an ihren Platz geleitete, sagte sie: »Ein sehr guter Tänzer sind Sie zwar nicht, aber Direktor Hartmann hat mir so viel Liebes von Ihnen erzählt, daß ich mich Ihrer Gesellschaft immer freundlich erinnern werde.« Dabei flog ihr ein feiner Schalk über das junge Gesicht.

Die Sängerin hat auf mich einen tieferen Eindruck gemacht als irgend eines der Mädchen von Lenz. Woran mag es liegen? Ich denke, es ist namentlich der Hauch einer freieren Welt als die meine, der aus ihrem Wesen strömt. Dazu die schlank und elegant gebaute Gestalt, die Jugendblüte, der Ausdruck feiner Güte in ihrem Gesicht, der Wohlklang der Stimme. Als eine Schönheit im höheren Sinn des Wortes kann sie wohl nicht gelten, aber als Sinnbild von Anmut und Mädchenlieblichkeit. Für mich liegt der besondere Zauber ihres Wesens darin, daß sie geschmeidig und schön wie eine Nachtigall singt. Was wir selber nicht können, schätzen wir an anderen doch am höchsten. Eine junge Dame, die, wie ich, mittelmäßige Gedichte zu schreiben verstände, bewegte mich nicht. Mich rührt das Wunder, wie das gesungene Lied aus einer Menschenbrust steigen kann!

Wenn ich an Fräulein Heß denke, ergreift mich das merkwürdige Gefühl, der Funke, der zu keiner Tochter meines Ortes hinüberschlagen wollte, könnte doch noch springen! Zugleich das andere: Was nützt ein Absenden elektrischer Kraft, wenn kein Empfang dafür da ist? Seit meinem Erleben mit Marie Kern bin ich im Verkehr mit Damen immer schüchtern.

 

Neuigkeiten aus Aagrüt und Hettenstein! Hans Boll schreibt mir: »Ich greife wieder einmal zur halbverrosteten Feder, wenn es auch nur wegen der freudigen Mitteilung ist, daß ich als Lehrer nach St. Jakob berufen bin. Denke Dir, ich, den Du zumeist als Hocker und Kartenspieler kennengelernt hast! Nie hätte ich mir dieses Vorwärtskommen träumen lassen, am wenigsten in jener bösen Zeit, als mein Fridolin noch hinter Gotterbarm geschlafen hat. Mit dem Jungen, der nun zweijährig ist und prächtig gedeiht, und mit seinem Schwesterchen Alwine, die jetzt gehen lernt, kam mir aber das Glück zur Welt, nämlich Sinn und Verstand für Frau und Kind, und damit wurde auch das andere gut. Und das ist nun der Hauptzweck meiner Epistel, Dir den Rat zu geben: Heirate auch Du! Es gibt entschieden klarere Augen dafür, wie man sich einen geeigneten Posten verschafft, als das einschichtige Dahintrollen.«

Der Brief fuhr dann fort: »Kürzlich fragte jemand nach Dir, die junge Frau Doktor Thellung, geborene Kern, in Hettenstein. Dem Wunsch des Nationalrates folgend, der, wie Du wohl in den Zeitungen gelesen hast, ums Neujahr gestorben ist, verehelichte sich das Paar gleich nach seinem Hinschied. Er hat nun das Rechtsbüro übernommen, ebenso die Wohnung. Ich wollte mich mit Thellung in einer Vormundschaftssache beraten, fand aber die Frau allein daheim. Sie erzählte, der Mann verteidige vor dem Schwurgericht einen Knecht aus unserer Gegend, der einer nächtlichen Schlägerei mit tödlichem Ausgang angeklagt ist. Fast ihr erstes Wort aber war dann: ›Was wissen Sie von unserem lieben Heider? Es tut mir so furchtbar leid, daß er mit seinem schönen Talent den Weg in so gezwängten Verhältnissen suchen muß,‹ und eine Weile plauderten wir von Dir. Im übrigen hat sie selber Sorgen. Ihr Vater geht so zerfallen durch das Städtchen, daß man annehmen muß, er werde auf dem Kirchhof bald wieder der Nachbar des Nationalrates, wie er es im Leben gewesen ist. Die junge Frau genießt aber in der Bevölkerung viel Ansehen; unter ihrem Einfluß hat Doktor Thellung das Fischen und die Landstörzerei aufgegeben und gilt als tüchtiger Rechtsanwalt, der dem Verstorbenen die Stange hält. Es sei der letzte Geniestreich des Alten gewesen, sagte man im Volk, die Ehe zwischen seinem Sohn und Marie Kern gestiftet zu haben.«

So, mein Hans Boll! Er Lehrer in der Stadt! Das Leben hat doch wunderbare Möglichkeiten, an die niemand denkt! Und der drollige Rat, ich möchte seinem Beispiel folgen und heiraten! Nun ja, ich kann Marie nicht immer nachtrauern. Ob sie nach mir frage oder nicht, für mich ist sie tot – tot – tot. Wenn ich aber heiraten soll, wie alle Welt um mich will, dann habe ich meine Wahl bald getroffen: Emma Heß, die liebliche Sängerin. –

Ich weiß nun mehr von ihr und ihrem harten Jugendkampf!

In den Etablissements Egger & Ruegg war ihr Vater erster Zeichner, Konstrukteur, und als Erfinder neuer Typen von Maschinen, namentlich mechanischer Seidenwebstühle, in weiten Industriekreisen bekannt und hochgeschätzt, darüber hinaus als liebenswürdiger Gesellschafter, Naturwanderer, Segler auf dem See und als Landschaftsmaler wie Baumzeichner. Angesehen lebte die Familie in glücklichen Umständen. Das tägliche Hingebeugtsein über das Zeichenbrett und der ruhelose Erfindergeist rissen aber den Ingenieur nieder. Als seine Älteste, Emma, sechzehnjährig geworden war, starb er, und an seiner Bahre weinten die Witwe und ein paar Kinder.

Die häufigen Erholungskuren, deren der Vater bedürftig gewesen war, hatten das bescheidene Vermögen der Familie aufgezehrt, die Not war da! Jäh trat die Tochter aus den kaum begonnenen Studien, in denen sie stets den Mitschülern vorangeflogen war, und fand als jugendliche Erzieherin Aufnahme in einer Industriefamilie an der Loire, die mit Forst geschäftliche Beziehungen unterhält und Vater Heß wahrhaft verehrt hatte. Emma wurde Pflegemütterchen zweier Knaben. Dann kam die Wendung, daß Herr Desvoyes von der Leitung der Fabrik zurücktrat und die Familie sich auf Reisen begab, nach Algier, Italien und der Schweiz. Emma ist Feriengast der Heimat, während die französische Familie mit einer anderen Erzieherin als zeitweiligem Ersatz auf den Borromeischen Inseln weilt, sich aber vorbehalten hat, das Schweizer Fräulein jeden Tag wieder zu sich rufen zu dürfen. Das ist die Geschichte der jungen Sängerin!

Ich habe sie wieder gesehen und gesprochen. Ein paar Abende sind Emma Heß und ich durch das erste Grün der Felder und Wälder gewandelt, und unsere Gedankengänge begegneten sich. Was soll ich von ihr sagen? Ihr Wesen ist eine Blitzsauberkeit aus- und inwendig, in der Bewegung, im Kleid, in Wort und Gebärde; es ist eine klare, frische Quelle, die sich ruhig auf den Grund blicken läßt. Sie gehört zu jenen Naturen, die wohl um die Schwere des Lebens wissen, aber nie enttäuscht worden sind, die in seelischer Einfachheit glauben, hoffen, vertrauen. Sie hat für alles am Weg eine jugendlich frohsinnige Betrachtung mit einer leisen Neigung zu Scherz und Schelmerei, die sie wie ein Sonnenstrahl verklärt.

Mir erscheint gerade die Sonnigkeit ihres Wesens als etwas unendlich Reizvolles, deswegen, weil ich selber ziemlich schwerblütig bin. Ich fühle: ihre leichtere, frohere Art als die meine wäre mir seelische Entlastung; ja, darin entdeckte ich einen Gedanken, der mir wie ein Trost dafür erscheint, daß mir Marie verloren ging. In ihr und mir wären einander wohl zwei zu schwer gestimmte Wesen begegnet. Ich vermute, wir hätten uns gegenseitig dunkle Stunden bereiten müssen. Emma hat den helleren Glockenschlag als Marie. Im übrigen keine Vergleiche! Sie führten zu Ungerechtigkeiten so oder so, und jedes Menschenkind will für sich als Gottesgebilde genommen sein!

Bei unserem letzten Spaziergang lud mich Emma ein, ihrer Mutter und ihren Geschwistern Guten Abend zu sagen. Die Mutter trat mir etwas kühl und mißtrauisch entgegen wie einem unerwünschten Gast. Angenehm aber fiel mir auf, was sie mit ihren bald Fünfzigen noch für eine hübsche, frische und stattliche Frau ist, gewiß eine Empfehlung für die Tochter. Überhaupt hat mir bei dem Besuch manches gefallen, insbesondere das lebensgroße Brustbild des früh verstorbenen Vaters mit dem geistig durchgearbeiteten und gütigen Gesicht. Die von ihm hinterlassenen Bilder, die warmempfundenen See- und Berglandschaften und die mit wunderbarer Sorgfalt in Bleistift gearbeiteten Baumschläge sprechen für seine Künstlerschaft. Wies im Haus zeugt für die Familie, ihren Geschmack, ihre Tüchtigkeit, am meisten Emma für sich selber mit ihrem munteren Zugreifen allenthalben und ihren geschickten Händen, die zu betrachten mir einen feinen Genuß bereitet.

Und wie stehen wir zusammen? Ich denke, daß ich ihr Herz besitze, wenn mir auch die Mutter etwas über den Einbruch in die Familie grollt: »Was sind Sie? Doch nur der junge Lehrer von Lenz!«

 

Es ist nun bestimmt, daß Emma Heß auf den ersten Mai wieder in die französische Familie zurücktreten wird, in der sie bereits zwei Jahre als Erzieherin gewirkt hat. Madame Desvoyes wird sie am Vierwaldstätter See erwarten.

Und ich habe Frühlingsferien. Es gibt gemeinsame Spaziergänge bald da-, bald dorthin. Insbesondere zeigte ich Emma unser Schulhaus und meine leere Wohnung. Ich sagte ihr, ich gedächte freilich nicht, mein ganzes Leben darin zu verbringen. Meine Pläne gingen doch höher, als immer Lehrer am Berg zu bleiben. Verständnisvoll und freudestrahlend antwortete sie: »Gewiß, jedermann spricht davon, daß Sie ein Kommender sind; am meisten unser beider Freund Fritz Hartmann!«

Nachher nahmen wir das Abendbrot bei Wirt Hack. Er erkannte Emma Heß sofort. »Sie waren vor Jahren etwa mit Ihrem Vater bei uns. Ein ausgezeichneter Mann! Ja, das ist ein Unglück für die weite Gegend, wenn ein Begabter wie er so früh hinweggehen muß.« Daß der sonst hochmütige Wirt bei seinen Worten nicht noch ein paar Krokodilstränen vergoß, verwunderte mich. Seine Frau ging mit meiner Begleiterin ins Gärtchen, pflückte ihr einen Levkojenstrauß, und unterdessen wandte sich der Friedensrichter an mich: »Wird etwa Fräulein Heß die künftige Lehrersfrau von Lenz sein?« Etwas verlegen erwiderte ich: »So weit sind wir doch noch nicht.« Da sagte er enttäuscht: »Ich habe es schon gehofft; sie wäre eine Zierde für das Dorf.« Als ob ich Hack auch noch fragen müsse, wen ich zur Frau nehmen solle!

Hübscheres haben Emma und ich auf einem Ausflug nach dem malerischen Städtchen Imgrün erlebt, unserem letzten vor ihrer Abreise in die Erzieherinnenstelle. Schon der Gang durch die anmutige Bauerngegend und die Obstblüte war entzückend, und in Imgrün ließen wir uns in der Gartenlaube eines altbekannten Gasthofes nieder. Ich bestellte ein einfaches Mittagessen. Da sagte die Wirtin: »Ein paar frische Forellen sollten aber doch dabei sein; die Rechnung wird sich finden.« »Gut,« erwiderte ich. Immer kam die schöne Frau in der Reife der Jahre zu uns, setzte sich in unsere Nähe und erfreute sich offenbar an unserem von dem beträchtlichen Lauf geschärften Appetit.

Dazwischen fragte sie mancherlei über das Woher und Wohin unserer Wanderschaft und sagte: »Verzeiht, daß ich so bei Euch weile! Gewiß hätte ich in Haus und Garten mancherlei zu tun; aber es ist meine Herzfreude, ein so junges, frisches Paar zu betrachten. Vor nun bald dreißig Jahren war auch ich jung und verlobt. Oh, die schöne Zeit! Nie kommt sie wieder!«

Emma Heß errötete über dieses Geplauder und wußte nicht, wohin blicken; die Wirtin aber lächelte: »Fräulein, nicht verlegen sein! Ich sehe ja schon, daß Sie noch keinen Ring tragen. Was aber nicht ist, kann werden, namentlich in dieser herrlichen Frühlingszeit! Schade, wenn's nicht würde, und mir sendet Ihr hoffentlich auch eine Verlobungskarte. Daraufhin lasse ich dem Kalbsbraten frischgekochten Schinken folgen. Bleibt da bis um drei Uhr, und ich trinke mit Euch den Kaffee. Dazu gibt es Kuchen aus Mehl, Butter und Eiern!«

»Um Gottes willen! Diese Frau mit ihrer Freundlichkeit macht mir ja angst und bang!« seufzte meine Begleiterin. Und ich selber dachte: »Oh, diese verfluchte Ehestifterei! Wer hätte geglaubt, daß sie so verbreitet wäre in der Welt!« Der frohgemuten Wirtin konnte ich aber doch nicht gram sein, besonders nicht, als wir aufbrachen und ich für die vielen Leckerbissen, die uns ohne Begehr zugefallen waren, eine lächerlich kleine Zeche zu bezahlen hatte.

So war die Stimmung für eine endgültige Aussprache zwischen Emma und mir gegeben, und als mein Singvogel ein Lied um das andere in die Abenddämmerung warf, kam es zwischen uns zum ersten Kuß, zu dem Versprechen, daß wir künftig Freude und Leid des Lebens teilen wollen. Und meine Braut sang das Bibelwort in die Frühlingsnacht: »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, und wo du weilest, da weile auch ich!«

Als wir in das Haus ihrer Mutter traten, war diese mit unserer Verlobung nicht recht einverstanden. »Kind, was sind das für Streiche?« schmälte sie. »Ich habe mir gedacht, du würdest mir mindestens einen Ingenieur bringen, wie dein Vater einer gewesen ist.«

Überglücklich jubelte meine Braut: »Sei sicher Mutter, mein Verlobter und ich kommen vorwärts!«

 

Nun ist Emma zu der französischen Familie am Vierwaldstätter See gefahren. Erst wenn sie sich mit ihrer Dame ausgesprochen und mich selber den Herrschaften vorgestellt hat, soll die öffentliche Verlobung erfolgen. Wir denken, wir treffen uns in diesem Sinn am ersten Tag meiner Sommerferien an irgend einem Kurort. Inzwischen wechseln wir fleißig Briefe, und ich freue mich aufrichtig an den ihren. Sie sind einfach, lieb und natürlich, und darauf, wie jemand schreibt, gebe ich so viel! Gestern meldete sie mir, daß sie mit der Familie nach Rigi-Kaltbad übersiedle. Möge es ihr gut gehen in der frischen Luft der Berge!

Im übrigen wandern meine Tage fast still. Nur ein Ereignis fiel darein: Bezirksratsschreiber Kern in Hettenstein ist, wie es schon der Brief von Boll erwarten ließ, gestorben. Ich habe der Witwe, meiner früheren mütterlichen Freundin, mein Beileid ausgesprochen und ihr einen von meinen älteren Schülerinnen gewundenen schlichten Totenkranz überschickt. Was hat wohl den Ratsschreiber so früh gebrochen? In seiner ruhigen Kraft und bei seiner stillen Lebensweise dachte ich, er würde sicherlich einmal siebzig oder darüber. Nun hat er nicht einmal die Mitte der Fünfzig erreicht. Immer noch gibt mir Hettenstein Rätsel auf.

Indessen sagt mir, dem Verlobten, das Gewissen mit aller Schärfe, daß meine Gedanken dort nichts mehr zu suchen haben.

 

Nun war ich auf dem Rigi – zu Fuß, wie es sich einem bescheidenen Lehrer geziemt – und brachte, dem Wunsch meiner Braut entsprechend, unsere Verlobungsringe und -karten mit zu unserem Wiedersehen!

Die drei Tage verliefen schön. Der Berg war zwar von dem merkwürdigen Sommertreiben Einheimischer und Fremder wie von einem Jahrmarkt belebt. Ich hatte Mühe, in einem kleinen Gasthaus Unterkunft zu finden. Dann strich ich ums Kaltbad, das ich mir aus guten Gründen nicht zum Quartier auserlesen hatte, und fand meine Emma, die mich erst auf den folgenden Tag erwartete, in den friedlichen Tannengruppen zwischen Kurhaus und Känzeli. Dort spielte sie ahnungslos mit ihren Zöglingen, die sich eine Rutschbahn eingerichtet hatten, und eine Weile genoß ich, von dem Dreiblatt unbemerkt, das Bild. Nie gefiel mir meine Braut besser als jetzt in ihrem leichten, losen Sommerkleid und im geschmeidigen Spiel mit den schönen, dunkeln Jungen. Das Haar war ihr im Bergwind etwas verflattert, ihre Erscheinung blumenhaft.

Ich trat nun hervor – ein Freudenschrei! Wir küßten uns. Die Knaben sollten mich nun auch grüßen; sie standen aber vor dem Schauspiel unserer Begegnung wie erstarrt. Dann brach ihre Wildheit wieder hervor. Charles, der neunjährige, rief: »Es ist ein Herr bei Emma! Das müssen wir der Mutter melden!«, und der sechsjährige Alphonse setzte hinzu: »Sie haben sich geküßt; wahrhaftig haben sie sich geküßt! Was für eine Schande für das Fräulein! Freilich, das müssen wir melden!« Die Rangen stoben davon. Hinter ihnen lachte meine Braut aus voller Brust: »Sie werden Frau Desvoyes nicht unvorbereitet finden!«

Nach einer Weile kam die Mutter selber mit den Knaben, eine sehr gewählte Erscheinung, Südfranzösin mit dunkeln Glutaugen und schwarzkrausem Haar, in das sich ein paar Silberfäden mischen. Meine französische Begrüßung erwiderte sie in deutscher Sprache, die sie, wenn auch in fremdartiger Betonung, so gut beherrscht, wie ich es nie von einer Französin gehört habe. Sie lud mich nun ein, mich mit ihr auf eine Bank zu setzen, von der aus wir die Spielgruppe im Auge halten konnten, und plauderte mancherlei: »Schade, daß Sie schon Quartier genommen haben. Gerne hätte ich Sie als unseren Gast für ein paar Tage ins Kaltbad eingeladen. Nun geben Sie uns wenigstens die Ehre für das Mittags- und Abendbrot, en petit comité. Wie übersetzt man das ins Deutsche? An unserem Familientisch! Ich bedaure, daß Sie meinen Gatten, Herrn Desvoyes, kaum sehen werden. Er sitzt unten in Weggis und lebt seiner Leidenschaft, Segeln und Angelsport. Obgleich ich Arlesianerin bin, muß ich die Höhe suchen, wenigstens seit ein paar Jahren. Nervensache! Nun aber vor allem meine Anerkennung für den guten Geschmack, mit dem Sie den Wert meiner Emma entdeckt haben. Ich habe sie sehr lieb, und ihr künftiges Schicksal liegt mir innig am Herzen. Gerade deswegen habe ich den Wunsch, daß Sie auch mir etwa ein Stündchen Ihrer Gesellschaft schenken und ich selber daraus ein Bild des Mannes gewinne, der ihr Gatte sein wird. Im übrigen verstehe ich, daß Sie gern mit Ihrer Braut allein sein werden. Ich komme Ihnen entgegen; sie soll während Ihres Aufenthaltes immer den Nachmittag und den Abend frei haben!«

So verlebten Emma und ich auf dem Rigi, der mir Neuland war, wunderschöne Stunden.

Den ersten Abend gingen wir nach der Mahlzeit noch ins Freie und setzten uns auf die schroffe Felskante beim Känzeli. Über uns die Mondsichel und die Sterne, unter uns in traumhafter Tiefe der See, in dem sich die Gestirne spiegelten und die Lichterkränze von Luzern. Nah und fern etwa ein nächtlicher Herdenglockenschlag. Ich zog die Ringe hervor, und der ihrige paßte so gut wie der meine, obwohl ich kein Maß dazu genommen hatte. Darauf sang meine Braut ein silberhelles Lied in die Nacht, und wir sprachen über die Hoffnungen unserer Zukunft.

Am anderen Morgen setzte ich die Aufschriften auf die Karten, auch die der Frau Marie Thellung in Hettenstein, gab sie auf die Post und ließ sie wandern. Was bedeutet die Verlobung eines Lehrers und einer Erzieherin vor der Welt? In Lenz wird aber über die unsere viel gesprochen werden. Wirt Hack hat sie kommen sehen, und ein paar Mädchenherzen werden enttäuscht sein.

Am Abend veranstaltete Frau Desvoyes für uns ein kleines Festessen. Sie erschien mir in den paar Tagen als eine sehr liebenswürdige, sehr geistvolle, aber auch sehr neugierige Dame. Als mütterliche Schützerin meiner Braut sprach sie sich das Recht zu, mich über alles auszuforschen, was mein Leben betrifft, sogar über die Höhe meiner Besoldung und meine kleinen literarischen Arbeiten, namentlich auch über meine Zukunftspläne. Ich mußte ihr aber zugestehen, daß ihre Neugier in eine große Anmut und Bildung eingekleidet war.

Sie sagte: »Ich könnte Ihnen zürnen, daß Emma mir Ihretwegen die eigenen Gedanken und Pläne durchkreuzt, um die sie freilich nicht hat wissen können. Meine Absicht war nämlich, sie dauernd an die Loire zu fesseln, zunächst noch für meine Jungen, denen ich keine verständigere Besorgerin weiß, und später, wenn sie zu den höheren Schulen abgehen, als Gesellschafterin für mich. Deswegen wollte ich sie mit einem jungen hoffnungsvollen Zeichner unseres Geschäftes bekannt werden lassen in der Hoffnung, daß daraus eine Liebe und Ehe entstehe, und sie so an mich selber fesseln. Warum ich Ihnen das beichte? Sie mögen daraus meine Wertschätzung für Emma erkennen. Ich begleite aber Ihre Verlobung mit den herzlichsten Segenswünschen und ergebe mich in den Spruch: Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden! Nur eine dringliche Bitte: Bis im Herbst lassen Sie mir Ihre Braut. So lange bleiben wir in der Schweiz, und der Abschied soll am Genfer See stattfinden. Längere Verlobungszeiten als bei uns sind ja in Ihrem Land üblich, und ich werde Ihr freundliches Entgegenkommen weder Ihnen noch Ihrer Verlobten vergessen!«

Ich dachte an mein einschichtiges Leben in Lenz, meine Braut stellte sich aber auf die Seite ihrer Dame, und ich biß in den sauren Apfel. Emma war glücklich, konnte das Singen kaum verhalten, und die gütige Frau Desvoyes, aus vielen Erfahrungen heraus eine Lebens- und Männerkennerin wie selten eine Frau, begegnete mir nun erst recht zuvorkommend.

Überhaupt, wie reizvoll verlief mein Aufenthalt! Die Jungen wurden zutraulich zu mir, die Begebenheit einer Verlobung war für sie etwas so Neues und Rätselhaftes, daß sie uns immer zu belauschen suchten. »Nicht einmal eine Kanone gibt es auf dem Rigi,« zürnte Charles, »damit man ein paar Schüsse abgeben könnte. Wie wissen jetzt die Leute, daß unser Fräulein Braut geworden ist?« Und als ich den Berg hinabstieg, ließen es sich die Knaben nicht nehmen, mich mit meiner Geliebten ein Stück zu begleiten.

Nein, eine Verlobung ist in der Welt keine große Begebenheit. Bei meiner Rückkehr fand ich in Lenz ein paar Dutzend Glückwunschkarten, darunter eine auffallend ärmliche der ehemaligen Marie Kern. Die Eltern schrieben mir, ich möge sie besuchen, damit sie wenigstens einmal ein Bild meiner Braut vor die Augen bekämen. Das besitze ich, und zwar ein sehr gutes!

 

Ich habe etwas sehr Sonderbares erlebt, was auf meine Verlobung wie ein Schlag wirkt: einen Brief der Frau Ratsschreiber in Hettenstein, die vor ein paar Wochen ihren Mann verloren hat. In zerknitterter, unregelmäßiger Schrift schrieb sie mir:

»Wie einst, nenne ich Dich meinen lieben Tobias und hoffe, Du erhörst mein gequältes Mutterherz. Ich möchte Dir Auge in Auge noch etwas sagen, bevor auch mich der Herrgott abruft und es zu spät ist. Nun Du verlobt bist, heischt es mein Gewissen. Sonst kämen vielleicht zwei Familien in ein großes Unglück hinein. Darf ich Dich einladen, mir am Donnerstag auf der Station Walberg Zusammenkunft zu geben? Mein und Dein Zug kommen etwa um zwölf Uhr dort an. Auf ein kurzes, letztes Wiedersehen! In alter Wohlmeinenheit

Witwe Margarethe Kern.«

Mir war, ein Blitz aus blauem Himmel sei auf mich niedergefahren. Ein kurzes, reines Glück im Gedanken an meine Verlobte – und nun war das furchtbare Ewig-Gestrige, das ich überwunden glaubte: meine unerwiderte Liebe zu Marie, schon wieder da! Schicksalsgespenstig stand die Bitte der Mutter vor mir. Wozu jetzt eine Unterredung, die so manches aus dem Grab der Jahre wühlen mußte? Ich bin es meiner Braut schuldig, Frau Kern die Begegnung zu verweigern, – das war mein erster Gedanke über der Einladung. Er hielt aber nicht stand. Immer deutlicher sah ich das treue, mütterliche Gesicht der Ratsschreiberin vor mir und fühlte, es müsse einen triftigen, tiefen Lebensgrund haben, daß die ernste, fast schwermütige Frau sich entschlossen hatte, ihre Witwenklause zu verlassen und mich nach Walberg zu rufen. Ich war es ihr schuldig, daß ich ihren Wunsch erfüllte!

Zwei Tage und zwei Nächte verbrachte ich im Halbfieber und voll unruhiger Vermutungen, wozu Frau Kern mich sehen wolle.

Dann fuhr ich nach Walberg. Als mein Zug dort hielt, stand sie bereits an der Bahn. Ihre Erscheinung war die einer vornehmen Bäuerin in Trauer. Ich fand sie sehr gealtert. Mir war, etwas Gebrochenes und Zerrüttetes liege in ihren Augen und Zügen. Die wenigen mit mir Ausgestiegenen verliefen sich gegen das abseits gelegene Dorf. Frau Kern sagte: »Wir setzen uns dort in den schattigen Garten der ›Linde‹. Es ist zwar noch ein Arbeiter darin, der sein Bier trinkt, aber er geht bald, und die Wirtin bemerkte, nachher komme wohl lange kein Gast mehr. Ich habe für uns ein kleines Mittagessen bestellt. Weder du noch ich können vor zwei Uhr wieder fortfahren, wenn auch das, was ich mit dir zu sprechen habe, sich in ein paar Augenblicken erledigen ließe.«

In der Frau spürte ich wieder das Mütterliche, das mir in ihrem Wesen so wohl getan hatte. »Von Marie kann ich dir keinen Gruß ausrichten,« sagte sie, »ich habe ihr von der Fahrt zu dir nichts verraten. Sie weiß wohl nicht einmal um die Befürchtungen meines Herzens und bedarf jetzt, da sie mit einem Kinde geht, der Schonung. Auch deine Verlobung hat sie angegriffen. Das ist gerade die Ursache, aus der ich dich um dieses Zusammentreffen gebeten habe. Aus den Tiefen meiner wunden Seele bitte ich dich: vermeide, solange du lebst, ein Wiedersehen mit meiner Marie. Es wäre ihr Unglück und ein großmächtiges Unglück auch für dich! Ihr könntet, Familie hin, Familie her, nicht mehr ohne einander sein!« Die Stimme der Ratsschreiberin zitterte, ihr Atem ging keuchend.

Da brachte das Wirtsmädchen die Suppe. Frau Kern kostete davon kaum einen Löffel und stieß jeden Bissen des Mahles von sich. Mir ging es ähnlich. Was ich eben gehört hatte, würgte mich im Hals und im Herzen. Wie merkwürdig, daß sich Marie Thellung von meiner Verlobung konnte angreifen lassen, sie, die mich deutlich und klar verworfen hatte, sie, die mit dem Kinde ihres Mannes ging!

Die Ratsschreiberin gab unser Essen fast unangetastet zurück, und dann nahm sie den Faden des Gespräches wieder auf. »Wenn ich dir alle Erlebnisse Maries aus dem letzten Jahr erzählen wollte, würde mein Bericht ebenso lang wie traurig. Nur so viel: Sie war auf ihrem Berufsposten in St. Jakob glücklich und, wie ich dir früher erzählte, wegen der mancherlei Bewerbungen, die über sie gegangen waren, fast männerscheu. Da erkrankte Nationalrat Thellung, spürte, daß es mit ihm zum letzten ging, und begann das Haus zu bestellen. Dabei wurde er auch gegen seinen Sohn Hermann, mit dem er immer im Streit gelebt hatte, milder gestimmt und versprach ihm das Rechtsbüro und das Haus als Erbe, wenn er ihm die richtige Frau an das Sterbebett bringe, die das Gedeihen des Geschäftes verbürge. Die richtige Frau? Das war nun in den Augen des Alten wie des Jungen unsere Marie. Machte sie nun an ihren freien Tagen bei uns Besuch, sicher stak Hermann da, warb, zürnte über ihre Ablehnung, drohte mit Auswanderung und weinte vor ihr wie ein Kind. Wir Eltern zitterten in den Aufregungen mit Marie, mein seliger Mann als Freund des Nationalrates ohne den wünschbaren väterlichen Widerstand. ›Wenn Hermann einmal sein eigener Herr ist,‹ sagte er, ›stellt er sich gewiß vorteilhafter in die Welt als jetzt; es kommt alles gut, und wir haben unser Kind in der Nähe.‹«

Die Ratsschreiberin stöhnte tief auf. »Ich war die einzige, die gegen die Verlobung stritt wie ein Tier, das sein Junges verteidigt. ›Wer, wie Hermann, keine Kinderstube hat, wird kein guter Mann‹ war meine Rede. ›Um Gottes willen, Marie, warum so blind in dein Verderben laufen?‹ Was half's? Sie ließ sich von ihm bewegen, bei seinem bettlägerigen Vater Besuch zu machen, und der Alte besorgte mit den hohen Redensarten von Vater- und Gottessegen das übrige. Meine gescheite Marie wurde in ihrer Gläubigkeit betört. Für ein Linsengericht schmeichelnder Worte gab sie das Köstlichste im Leben hin: das Ja einer starken Liebe! Nach der Verlobung sagte sie in unheimlicher Ruhe zu mir: ›Ich habe mich Hermanns aus Mitleid erbarmt. Nun will ich mir die Liebe für ihn im Herzen erkämpfen! ‹ »Wie verlief nun dieser Kampf?« fuhr Frau Kern in schluchzender Bewegung fort. »Anfangs zu meiner Verwunderung gut. Heiter trat Marie von ihrer Berufsstellung zurück, und das Paar schien glücklich. Der Nationalrat hatte sich auch wieder ein wenig von seiner Krankheit erholt und schleppte sich hin und wieder zu uns herüber. Da sagte er einmal bedenklich: ›Unser Kind ist ja krank. Die Augen gefallen mir nicht in ihrem seltsamen Wechsel von Überglanz und Mattigkeit!‹ In der Tat wurde Marie schwer krank, kam ins Spital von St. Jakob, sechs Wochen, ohne daß die Ärzte ihr Leiden zu deuten wußten, sie sprachen von Neurose. Nach einem Besuche am Krankenlager sagte mein Mann erschüttert zu mir: ›Die Verlobung ist ein Unglück!‹«

Frau Kern stöhnte: »Nun kommt das Schwerste, was ich dir gestehen muß! Überraschenderweise verloren sich die Schmerzen Maries doch, und eine Genesende saß sie daheim. Schonungsvoll forschten wir, wie es denn in ihrer Seele aussehen möchte. Lange umsonst! Eines Abends aber sagte sie: ›Liebe Eltern! Mit Gottes Hilfe habe ich es überwunden, daß meine Liebe zu Hermann eine Selbsttäuschung war. Keinen hätte ich lieben können als Tobias Heider; weiß Gott, was mir die Zunge verschlagen hat, es ihm zu gestehen. Törichter Mädchenhochmut, aber nicht der Mangel an Mut, mit ihm sein bescheidenes Leben zu teilen. Nun muß ich dafür büßen mein Leben lang.‹«

Aufschreien hätte ich mögen vor der Ratsschreiberin: »So traurig gingen Marie und ich am höchsten Glück vorbei!« Als erriete sie meine Gedanken, sagte sie: »Du zitterst unter diesem Bekenntnis; auch mein Mann und ich litten furchtbar darunter. Wir sprachen von Verlobungsauflösung, und ich war schon daran, dir einen freimütigen Brief über unser inneres Hauselend zu schreiben. Weiß Gott, was geschehen wäre, wenn du in jenen Tagen plötzlich zu uns gekommen wärst. Marie selber aber wehrte dem Brief: ›Mutter, treu sein ist jetzt alles. Mein Ja hat Hermann, und ich stehe zu ihm. Nein, untreu gehe ich nicht durch die Welt; lieber sterben!‹ Ich bewunderte mein Kind: Woher die Kraft? Aus Maries unerschütterlichem Gottesglauben! Wir Alten aber schwankten wie die Rohre im Wind. Der Nationalrat, der genug um den Stand der Dinge wußte, erwähnte deiner etwas spöttisch: ›Von dem jungen Schullehrer, der früher in Aagrüt war, hört man nichts mehr; es steht wohl schlecht um seine Schriftstellern!‹ Da stürzten Marie die Tränen hervor. Der alte Thellung ging verstimmt, kam nicht wieder und starb vierzehn Tage darauf. Und mein Mann? über der Geschichte ratlos, fiel er schweigend, doch ohne eigentliche Krankheit, in sich zusammen und ist also auch schon dort, wo er noch nicht sein sollte. Und ich bin wohl die nächste an der Reihe!

»Hier, Tobias,« schluchzte sie, »stehe ich eigentlich wieder im Anfang meiner Aussprache. Auch bei dir lagen Fehler: der einfältige Nachtbesuch bei dem Töchterlein von Aagrüt! Mir aber verzeihe! Das Gefühl des nahen Endes hat mich zu dir getrieben. Ich muß ein beruhigendes Wort von dir mit ins Grab nehmen. Die Ehe Maries ist gewiß so glücklich wie manche andere, und die Landstörzerei hat der Mann ihr zuliebe fast aufgegeben. Aber das Deingedenken Maries darf nicht zwischen die Gatten treten. Wie weinte sie über den einfachen Kranz, den du uns lieb zum Hinschied des Vaters geschickt hast, wie über deine Verlobungskarte! Furchtbar war dieses Miterleben für mich alte Mutter!«

Wie eine zerrissene Glocke tönte ihre Stimme: »Mein lieber Tobias. Gib mir das heilige Versprechen in die Hand, den Eid, daß du Hettenstein nie mehr betrittst, nie irgend ein Wiedersehen mit Marie herbeiführst. Wie hoch ich den Charakter euer beider einstelle – ich weiß, ihr hieltet einander nicht stand. Da stiege aus der Erde eine Macht, stärker als alle Menschen und Gebote! Du willst jetzt also deine Familie gründen, und sei sicher, auch sie käme ins Unglück – und Marie in den Tod! Hier meine Hand, gib mir die deine, damit ich ruhig in die Grube fahren kann – und nun Auge in Auge!«

Die Ratsschreiberin gewann vor mir die Kraft einer biblischen Gestalt; in ihren sonst matten, müden Augen stand fordernde Glut. Ich besann mich einen Augenblick; es fiel mir schwer, mir irgend einen Ort der Welt verbieten zu lassen. Dann gab ich ihr doch, erschüttert von den merkwürdigen Schicksalen, in die ich mich verflochten fühlte, die Hand. »Mein Versprechen, mein Gelübde, Frau Ratsschreiber! Ich will Ihrer Marie nie wieder begegnen!«

Der alte Mund bog sich auf meine Hand. »Ich danke dir! Du bist ein Mann von Treue, um eine nagende Sorge ärmer kann ich dahinfahren.«

Nachher gingen wir eine Viertelstunde unter schattigen Obstbäumen. Fast ruhig jagte sie zu mir: »Und nun das Glück Gottes auf dich und diejenige, die an der Stelle stehen wird, die nach menschlichem Ermessen meiner Marie gehört hätte. Ihr werde ich kein Wort von unserer Zusammenkunft verraten. Sprich deiner Braut auch nichts davon. Es sind Geschichten, die wir Frauen nicht verzeihen. Und entschuldige, daß ich nach deiner künftigen Lebensgefährtin nicht frage. Das gehört zu den Unmöglichkeiten meines Mutterherzens!«

So kam zwischen der Ratsschreiberin und mir der Abschied auf Nimmerwiedersehen. Im Zug nach Reifenwerd konnte ich nichts denken als: Wie ist das Leben verrückt! Wie nah führte es mich ohne mein Vorwissen an Marie hinan, und nun sind wir uns doch beide ewig verloren. Furchtbar empfinde ich die Grausamkeit des Schicksals, das in meine Verlobung hinein wieder den Herzenskampf stärkerer Liebe geworfen hat!

 

Als ich nach Reifenwerd kam, traf ich die Mutter allein daheim. »Der Vater hat sich im Geschäft Ferien genommen,« erzählte sie, »er ist nach Thun gefahren, wo dein Bruder Emil in der Artillerierekrutenschule steht, und die beiden werden die Tage des großen Urlaubes miteinander verwandern. Nachher fährt der Vater wohl auf den Rigi. Er ist sehr neugierig, was für eine Braut du dir erwählt hast, ich übrigens auch!« Ich reichte der Mutter das Bild Emmas, und wohlgefällig sagte sie: »Das Mädchen gefällt mir.« Doch mit einem Seufzer setzte sie hinzu: »Sonderbar aber, dein Gesicht schaut wie Regenwetter drein. Ein glücklicher Bräutigam blickt anders in die Welt.« Ich beichtete ihr nun mein Erlebnis mit der Ratsschreiberin. Sie erschrak darüber: »Mein Gott! mein Gott!« stieß sie hervor. »Du armer Junge! Das ist ja so recht eine Geschichte, an der ein paar Herzen zerbrechen können! Tobias, sei stark!«

Die ruhigen Ferientage taten mir wohl. Nachdem ich geglaubt hatte, ich müsse wegen Marie sterben, kam ich doch wieder ziemlich ins seelische Gleichgewicht, und dazu trugen glückliche Briefe meines Vaters und meiner Braut das Beste bei. Eine Wonne spiegelte sich darin, als wären sie beide die Verlobten. Wie konnte die Mutter innig über den Vater lachen!

Er schrieb ihr:

»Unser Tobias hat endlich einen gescheiten Streich gemacht, wohl den ersten in seinem Leben! Wenn ich ihm selber eine Braut hätte suchen müssen, ich hätte keine gefunden, die mir besser gefiele als Emma. Sie ist so frisch, so sauber, so lieb, und wenn wir Arm in Arm miteinander gehen, erlebe ich wieder die Jugendtage mit Dir, liebes Bethli. Freue Dich mit mir über unser Herzenskind, das ich Dir ein paar Tage auf Besuch bringen werde. Schicke mir gleich die Tanzschuhe; hier im Kaltbad ist jeden Abend Ball; da will ich es unserer Tochter beweisen, daß ich in den jungen Jahren auch etwas gelernt habe.«

»Oh, der unverwüstliche Alte!« scherzte die Mutter beim Einpacken der Schuhe. Mich aber berührte sein guter Brief, wie wenn ein linder, erlösender Regen auf ein verhageltes Feld niedergegangen wäre. Auch der meiner Braut:

»Das war eine selige Überraschung, als Dein Vater erschien! Ich kam mit den Jungen von einem Spaziergang. Da stand am Eingang des Hotels unter den fremden Gästen ein Herr, von dem ich dachte: Wenn das nicht ein Schweizermann ist! Ich spürte, wie seine blauen Augen leise forschend auf mir ruhten. Mir stieg das Blut ins Gesicht, und er zerdrückte ein Lächeln im Bart. Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Das ist der Vater meines Tobias! Ich eile auf das Empfangsbüro: ›Hat sich der Herr eingeschrieben?‹ ›Nein, er ist erst vor einer Stunde angekommen.‹ ›Dann, bitte, unterbreiten Sie ihm den Anmeldeschein. Ich vergehe vor Neugier, wer er sein könnte!‹ Zwei Frackschöße und eine Schreibmappe flogen hinaus; ich folgte, ohne daß mich der Herr sehen konnte, und stellte mich ihm in den Rücken. Verwundert fragte er den Direktor: ›Drängt's denn so?‹ Aber er schrieb: ›Christoph Heider. Werkstättenchef aus Reifenwerd.‹ Ich trat vor, umarmte ihn und rief: ›Vater, du bist's!‹ ›Wer sagt dir, daß ich dein Vater bin?‹ lachte er inniglich. ›Das eigene Herz!‹ Die Antwort entzückte ihn, er gab mir einen saftigen Kuß und sagte: ›Gottlob, auf den Kopf gefallen bist du nicht.‹ Das war unser Sichfinden, und zum Abendbrot saß er mit Frau Desvoyes und mir am gleichen Tisch.

»Was ist Dein, nein, unser Vater für ein herrlicher Mann!« fuhr der Brief fort. »Ich denke es auf unseren täglichen Spaziergängen, und ich fühle neben ihm so tief, wie viel ich verloren habe, daß der meine gestorben ist. Gewiß wären sie Freunde geworden. Ein besonderer Stolz ergreift mich, wenn ich den Vater unter den Fremden unseres Kurhauses sehe! Wie wenig kümmern sich sonst die Gäste aus den vielerlei Ländern um einander. Der Vater aber wird in seiner freien und natürlichen Würde von jedermann beobachtet, Köpfe recken sich zusammen, das Geflüster geht: »Das ist sicherlich ein Schweizer Landammann!« Und nun denke Dir, ich an seinem Arm, und wie er mich in freier Unbekümmertheit zur Tafel führt. Gestern war ich die kaum beachtete Erzieherin, heute richten sich hundert Blicke auf mich, und mir völlig Unbekannte nicken mir zu. Die erste Bewundrerin des Vaters ist Frau Desvoyes.« – – –

Der folgende Brief Emmas lautete:

»Was bin ich für eine unendlich glückliche Braut! Ich singe wie der Vogel, stille Sorgen sind von mir genommen. Frau Desvoyes sagte zu mir: ›Die Gründung einer Ehe hat vor allem auch eine ökonomische Seite. Wenn Sie, Emma, einverstanden sind, übernehme ich es, die Angelegenheit mit Ihrem künftigen Schwiegervater zu ordnen.‹ Unter Herzklopfen erwartete ich das Ergebnis der Besprechung. Endlich rief mich die gütige Frau: ›Kommen Sie! Vater Heider und ich haben uns geeinigt. Ich habe es übernommen, Ihnen für die Aussteuer die gesamte Wäsche zu schenken. Und Sie, Herr Heider?‹ Da faßte er mich mit der Linken um den Hals. ›Wenigstens etwas zum Anfangen für dich und Tobias; später kommt noch einiges dazu.‹ Mit seiner Rechten steckte er mir lachend etwas in mein halsfreies Sommerkleid hinab. Ich nestelte. Da war es ein Tausendfrankenschein. Darüber wird sich namentlich auch meine Mutter freuen. Wir hätten sonst das letzte Sparheft an meine Aussteuer opfern müssen, und gewiß war das der einzige Grund ihrer Unliebenswürdigkeit Dir gegenüber.« Und weiter ging der Brief:

»Ich habe Dir schon erzählt, wie Frau Desvoyes den Vater bewundert. Sie kann über niemand so herzlich lachen wie über ihn. Aber in ihrem Lachen verbirgt sich Hochachtung und Verehrung, und manche seiner Aussprüche schreibt sie in ein Buch. Sie las mir folgendes vor: ›Wer das Geld nicht zu schätzen weiß, ist ein Lump! Wer aber beim Heiraten aufs Geld sieht, ist ein dummer Hund. Wenn ein Paar die silberne Hochzeit feiert, ist es fast gleichgültig, wie es zusammengekommen ist, ob reich, ob arm. Der Reichtum kann dann vertan sein, oder die Armut hat sich etwas erworben. Und wenn wir sterben müssen und alles Irdische von uns abfällt, ist die letzte Dankbarkeit gegen das Leben: Ich habe doch das Weib meiner Liebe in den Armen gehabt!‹

»Nun stelle Dir, mein Tobias, den Gegensatz vor: die feingebildete Französin, die jedes Wort auf die Goldwage legt, und den Vater mit der derben Ausdruckskraft! Sie verstehen sich aber wunderbar, und mit mir läßt sie sich von ihm nach dem Nachtessen noch zum Tanz führen, morgen aber zum letztenmal, denn übermorgen komme ich mit ihm nach Reifenwerd. Er selber hat mir diese Ferien ausgewirkt, und Frau Desvoyes hat sie liebenswürdig gewährt. Und nun auf frohes Wiedersehen, Du Lieber!«

Die Briefe Emmas haben mir das Bild des Vaters, der mir oft hart begegnet ist, sehr erhellt, namentlich das Geschichtchen von dem Tausendfrankenschein. Hätte ich ihn um einen Beitrag zur Aussteuer meiner Verlobten gebeten, gewiß hätte er mir keinen Hunderter geschenkt. Nun aber erfreue ich mich mit meiner Braut seiner Großmut.

Als er mit ihr heimkam, war das erste, daß er ihr eine Laute kaufte. Dazu sangen sie miteinander bei jeder Gelegenheit. Überhaupt glich der Besuch meiner Braut, deren Art und Wesen auch meiner Mutter gefällt, einem Fest. Stolz spazierte der Vater mit Emma Arm in Arm durch das Dorf, stellte sie Verwandten und Freunden vor, und jedermann lachte wohl ein wenig auf den Stockzähnen über den so ritterlich in seine Schwiegertochter verliebten Fünfziger. Am letzten Tag der Ferien Emmas veranstaltete er mit uns eine schöne Ausfahrt in die Nachbardörfer. Dann fuhr sie wieder hinauf auf den Rigi. Beim Abschied lag ein Sonnenschein auf ihrem Gesicht, daß ich denken mußte: Es gibt doch ein Glück!

Nicht das kleinste für mich ist es, daß ich durch sie in einen guten Frieden mit dem Vater gekommen bin. Meine Ferien verliefen noch sehr hübsch, und auf gemeinsamen Wegen tauschten wir in einem Vertrauen, das früher unmöglich gewesen wäre, mancherlei Lebensgedanken. Dabei kam er einmal auf Marie Kern zurück, ohne daß er ahnte, wie tief ihr Name durch die Ratsschreiberin wieder in meine Seele gefallen war.

»Gewiß hätte ich auch sie mit offenen Armen aufgenommen,« plauderte er. »Das Fräulein hat auf seinem Posten eine wundervolle Achtung um sich zu verbreiten gewußt. In gewissem Sinn aber gefällt mir deine Emma fast besser als die Vielverehrte. Es ist mir nicht leicht, zu sagen, wie ich das meine. Etwa so: Marie Kern Sonntagsgast mit den Höhen und Tiefen des Denkens, immer etwas Geheimnisvolles um sich; Emma Heß einfach das treue, einsichtige Weib, das in sonnigem Wesen, ohne Hintergründe, ohne Geheimnisse, vor allem auch den Werktag mit dem Manne teilt. Gerade auf die Werktage aber kommt es an, weil es ihrer im Jahr mehr gibt als Sonntage. Nun werde ihr der verständige Mann, der auch die Vorzüge des Alltags zu schätzen weiß. Sie verdient es.«

An dieses Vaterwort will ich mich halten!

 

In Lenz führe ich wieder ein Stilleben wie früher; immerhin unterbrochen von kommenden und gehenden Liebesbriefen.

Meine Verlobung mit Emma Heß hat auch hier ungeteilten Beifall gefunden. Niemand erhebt die Frage, ob nicht eine Einheimische als künftige Lehrersfrau meine Hand eher verdient hätte. Im Gegenteil, die von Lenz empfinden es fast als eine Wohltat, daß nun ein Wettbewerb ihrer Töchter um mich ausgeschaltet ist, der neuen Verdruß in die Gemeinde hätte bringen können. Es wandeln jetzt etwas weniger Mädchen am Schulhaus vorbei. Mein Mitleid gilt nur einer, Luise Schuhmacher, der Arbeitslehrerin. Sie trägt ihre Enttäuschung stumm und ergebungsvoll, ich aber weiß um die wehen Gefühle, in der Liebe abgeschlagen zu sein.

Daß meine Wahl der Lebensgefährtin in der Gemeinde freudig gebilligt wird, verdanke ich den Nachbarn von Forst. Als unsere Karten erschienen, tauchten die Erinnerungen an den vortrefflichen Vater meiner Braut wieder auf, den Zeichner und Erfinder. Eine wahre Legende bildete sich um den jugendlichen tapferen Lebenskampf der Tochter, und die Leute ihres Dorfes trugen sie zu denen von Lenz: »Was bekommt ihr für eine vortreffliche Lehrersfrau!« Nun Erwartung, Spannung auf ihr Erscheinen und das Bedauern, daß ich sie in der Gemeinde noch nicht vorstellen kann. Der Friedensrichter hat natürlich die Begebenheit kommen sehen und spricht davon mit Andeutungen, als sei er in der Wahl der Ehegefährtin mein Berater gewesen.

Im übrigen bleiben die von Lenz sich immer gleich. Unter den sieben Mitgliedern der Schulpflege sind nur zwei, der Pfarrer und der Posthalter, die, wenn es einen Unterrichtsbesuch gilt, auf freiem und geradem Weg ins Schulhaus treten. Die anderen, selbst wenn sie mich ihrer Freundschaft längst versichert haben, kommen immer, wie wenn es gälte, ein Wild zu beschleichen. Sie gehen die Marken der Äcker und Wiesen entlang, als handle es sich um eine Überprüfung der landwirtschaftlichen Dinge, verstecken sich hinter einem Baum, gehen zum nächsten und spähen, ob nicht etwas Ungehöriges um das Schulhaus auszukundschaften sei. Endlich treten sie durch die Hintertür herein, halten Nachschau vom Keller zum Estrich und kommen darauf erst mit der Frage: »Darf ich Ihnen einen Schulbesuch abstatten?«

Und was verstehen sie vom Unterricht, nicht nur unsere landläufigen Schulpfleger, sondern selbst die Visitatoren? Längst habe ich es aufgegeben, vor den Gästen in irgend einem Fach mit meinen Schülern etwas Neues zu entwickeln. Da gibt es in den Antworten selbstverständlich Fehlschläge. Der Schulpfleger spricht: »Unglaublich, wie Ihre Klassen zurück sind!« Nun ein bißchen Taschenspielerkunststück, wie sie jedem Lehrer zu Gebote stehen. Die Entwicklung schlägt in eine Wiederholung um, die Schüler sind schlagfertig, und der Schulpfleger sagt: »Vorzüglich, was Sie leisten!«

An einer Versammlung der Bürger stellten einige mir Wohlgesinnte den Antrag, meine Besoldung auf die Zeit, in der ich selber einen Hausstand gründe, um zweihundert Franken zu erhöhen, so daß ich so viel wie mein um zehn Jahre älterer Kollege verdiente. Da erhob sich aber ein Viehhändler: »Ich stimme dagegen. Wozu unsere Lehrer verwöhnen? Wenn einer die ›Frankfurter Zeitung‹ hält, ist das doch Wohlleben! Die Gemeinde soll sich nicht in unnötige Kosten stürzen! Dagegen beantrage ich, auf den Frühling das Schulhaus neu verputzen zu lassen. Das wird jedermann gefallen und die künftige Frau Lehrer Heider daraus merken, daß sie uns willkommen ist!«

Die Erhöhung meiner Besoldung wurde von den Bürgern verworfen und der Neuverputz des Schulhauses gutgeheißen. Dorfgeschichten!

 

Im Herbst kam meine Braut endgültig aus den Diensten der Frau Desvoyes zurück und trug von ihr als Andenken einen Ring mit herrlicher Perle. Frisch, anmutig, fröhlich trat sie wieder in die Heimat, und die von Lenz sahen endlich die künftige Lehrersfrau. Jedermann erwartete, daß wir unseren Hausstand rasch aufnehmen würden, aber die Aussteuer ist noch nicht bereit. Was davon in den weiblichen Bereich fällt, will meine Verlobte selber herstellen, hält sich dazu bald in Forst, bald in Reifenwerd auf, und über meinen Besuchen hier und dort vergeht mein letzter Winter bei der freundlichen Familie Bär auf den »Schlehen«.

In den ersten Tagen der Frühlingsferien schwankte ein artiges Brautfuder vom Dorf Emmas nach Lenz empor, dem Herkommen entsprechend Fuhrmann und Pferde mit Blumen geschmückt, und wir, das junge Paar, saßen hinter ihnen. Aus den Häusern hervor kam die grüßende Jugend, traten aber namentlich die Mädchen und Frauen, um nachher unter sich das Urteil abzugeben, ob die Aussteuer arm oder reich sei. Die unsere war wohl keines von beiden, wir aber bauten unter den Liedern Emmas glückselig das Nest, und hinter dem Haus lag hochgehäuft ein Stoß Scheiter an der Sonne, die ich selber für unseren Herd gespalten hatte.

Die Hochzeit fiel auf den schönsten Maientag, den ich je erlebt habe. Noch in der Nacht war rauschender Regen niedergegangen, nun spannte sich der Himmel umso blauer über die wogende weiße und rote Obstblüte in den Tälern und an den Höhen. Wie es in unseren Verhältnissen geboten lag, bewegte sich der Hochzeitszug zu Fuß nach der Kirche von Niederlenz. Ihm voran schritt blumenstreuend die festliche Schuljugend. Brautführer war mein lieber Freund Heinrich Moos, und an die zwanzig Paare aus einer weiten Verwandtschaft und dem Dorf, jung und alt, gaben uns das Geleite. Herzergreifend war die Ansprache des Pfarrers des Dekans Sprenger, der uns als das junge Paar feierte, das sich selbstlos in reiner erster Liebe gesunden habe. »Erste?« durchzuckte es mich dabei. In Forst, dem Heimatort meiner Emma, war eine reizende Tafel gerichtet, bei der uns der jungen Frau zu Ehren Burschen und Mädchen in Älplertracht mit einem übermütigen Sennenliebeslied begrüßten. Das Abendfestchen aber fand bei Hack in Lenz statt. Draußen in der Maiennacht war das gesamte Dörfchen in Bewegung, die Vereine sangen, Pistolen knallten, Leuchtkugeln stiegen in die Luft, Jauchzer überall.

Der Vater war sprühend guter Laune; er ließ eine Tanse Wein oder zwei hinaus an die Straße stellen, und wer nun trinken mochte, trank. Sah er mir an, was ich dachte? Er wandte sich zu mir: »Nur keine Bange! Den heutigen Tag nehme ich dir und Emma zu Ehren auf mich. Nachher müßt ihr allerdings selber sehen, wie ihr euch bei der Schulmeisterei durchkrottet!« Mir fiel ein Stein vom Herzen.

An diesem Abend bewiesen auch die von Lenz, daß sie großzügig sein können. Was sie uns an Gaben überreichten, erregte unsere freudige Verwunderung und die unserer Gäste: einen stattlichen Butterstock, mächtige Bissen Käse, Töpfe voll Honig, Spezereien, einen alten schönen Schiefertisch mit geschweiften Füßen, ein dazu passendes Büchergestell, Kupfergeschirr und unendlich viele Gebrauchsgegenstände für Wohnung, Keller, Wäsche, Garten: Dinge, aus denen ich merken konnte, daß die Dörfler von, den Bedürfnissen eines Haushaltes mehr verstehen als ich. Am anderen Tag holte ich mit zwei Jungen die Geschenke bei Friedensrichter Hack ab, ein paar Handwagen voll, und im stillen tat ich etwas wie Abbitte vor den Lenzern, daß ich doch manchmal recht Böses über sie gedacht und in dieses Tagebuch geschrieben habe.

Meine Hochzeit war in der Tat das erste große Glück, das mir nach den drei Jahren, in denen ich mit der Gemeinde das Brot teilte, beschieden war.

 

Der erste Tag in unserer Ehe blieb aber auch der einzige sorgenlose. Das Drum und Dran der Hausgründung hatte unser bares Geld aufgezehrt, und wäre mein Vater nicht für die Kosten der Hochzeit aufgekommen, die einen fast erdrückenden Umfang angenommen hatten, hätte ich das Geld dafür Jahr und Tag schuldig bleiben müssen, wie es bei andern Leuten schon vorgekommen ist. Auch so stand es um uns schlimm genug. Der Bäcker gab uns ohne Barzahlung kein Brot, der Senne keine Milch, unsere Flitterwochen gingen bei Erdäpfeln und Salz vorbei. Überraschenderweise trug meine junge Frau die Entbehrungen leichter als ich. Ihr heller Sopran klang wie Freudengeläute durchs Haus. Ich aber empfand es tief, was für arme Schulmäuse wir waren.

Dazu kam noch eine Bergbesteigung, bei der ich fast unfreiwillig mittun mußte. Ich habe schon erzählt, wie mir Herren aus der Sektion Hochwacht nach meinem ersten Vortrag einen schönen Bergpickel schenkten, noch nicht aber, daß nach meinem Vortrag im letzten Winter der Klubschuster kam und mir ein Paar Bergschuhe anmaß, die mir dankbare Hörer zugedacht hatten.

Zu Anfang der Sommerferien luden mich nun fast die gleichen Männer ein, bei einer Besteigung des Tödi mitzutun, damit Pickel und Schuhe einmal zu Ehren kämen. Unmöglich, mich mit Geldverlegenheit zu entschuldigen! Auf der ebenso prächtigen wie harten Tour über Eis und Firn wanderte ich mit, und vom höchsten, freiesten Gipfel der östlichen Schweizeralpen jauchzte meine Seele in die Weiten und trank aus Gottes Bechern die Schönheit der Welt.

Umso bitterer wurden für mich die anderen Wochen der Sommerferien. Wunderweiche, blaue Tage spannen sich über See und Gebirge. Ich aber mußte meine Wanderlust besiegen und durfte es nicht einmal wagen, die große Landesausstellung in St. Jakob zu besuchen, die gegenwärtig unser Volk von einer Grenze zur andern festlich bewegt. Wir jungen Eheleute besaßen keinen Rappen Geld mehr. Wie aber zu einem Franken kommen? Meine junge Frau stieg hinab nach Forst und übernahm Arbeiten für einen Kaufmann. Emsig stichelten ihre Finger. Mit einem halben Jauchzer sagte sie zu Ende der Woche: »Diesen Abend gibt es für dich, armer Mann, etwas Wurst und ein Glas Bier!« In freudigem Lauf trug sie ihre Arbeit ins Tal und stieg müd und traurig wieder zu Berg. Der Kaufmann war zur Ausstellung in die Stadt gefahren, und wir blieben ohne Abendbrot.

Am Sonntag wandte ich mich an den Schulverwalter – schon den dritten, seit ich in Lenz bin – und bat um etwas Geld. Da lachte er spöttisch und bös: »Was, Vorschuß? Schullehrer, wie man sich bettet, so liegt man. Wie seid Ihr hochmütig an unseren Bauerntöchtern vorübergegangen!« Beschämt zog ich ab.

Endlich ein bißchen Einnahme vom Kaufmann und ein wunderschöner Auftrag für Frau Emma! Für einen Turnverein sollte sie aus farbiger Seide und Glasperlen das neue Fahnenbandelier sticken, und die künstlerische Arbeit reizte sie umso mehr, als ihr in der Wahl der Ornamente freie Hand gelassen war. Sie stickte nun auf das Bandelier Tag und Nacht Alpenblumen, für die sie die Naturvorlagen bei meinen Freunden vom Klub auftrieb, Alpenrosen und Edelweiß, Aurikeln und Veilchen, Anemonen und Soldanellen.

Ich aber verbrachte meine Ferien in ohnmächtiger Wut auf die Menschen, die strahlende Sonne, den lachenden Himmel, auf die Eisenbahnen im Tal und die Dampfboote auf dem herüberglänzenden See. Da fuhren tausend Glückliche, für mich aber war keine Lokomotive und kein Schaufelrad gebaut. Die Schmach unserer Armut wühlte so tief in mir, daß ich aus geistiger Lähmung nicht fähig war, die Schilderung unserer herrlichen Töditour niederzuschreiben. Das erstemal im Leben versagte mir die Feder, und der Kreislauf meiner Gedanken bewegte sich bloß in dem Stoßseufzer: »Du warst doch einmal in Paris, Tobias Heider! Wie hast du dich begraben!« Ein Gutes geschah mir aber doch. Während ich in Verzweiflung da und dort herumlag, bald in der Wohnung, bald im Freien, spielte mir Gott durch Dekan Sprenger ein meiner Seele wohltätiges Buch in die Hände, eine Lebensbeschreibung Michelangelos. Darin las ich mit Ergriffenheit, wie dieser Schöpfer ewiger Werte und der höchsten Schönheitsgedanken der Menschheit wegen seiner Häßlichkeit nie Frauenliebe fand, bis sich seiner im Alter ein Mädchen in platonischer Liebe erbarmte; wie er die Decke der Sixtinischen Kapelle Jahre dahin, den Kopf und Nacken schmerzhaft zurückgebogen, mit den Werken unvergänglichen Genies schmückte und dabei von Vater und Bruder in seinem Verdienst fortwährend ausgesogen wurde. Geschieht das den überwältigend Großen, was dürfen wir Kleinen uns beklagen, wenn das Leid über unsere Tage geht?

Unterdessen war das Bandelier unter den kunstgewandten Fingern Emmas fertig geworden und ich selber überrascht von der Schönheit der Arbeit. Nun Ablieferung an den Kaufmann in Forst! Wie ein Reh kam sie wieder vom Tal heraufgehüpft. Meine Erwartung aber auf den Ertrag der Arbeit dämpfte sich rasch. Sie erzählte: »Der Kaufmann fand das Band nur zu vornehm. Nach Abzug der Seide und Perlen, die ich von ihm bezogen habe, bleibt mir kaum ein Stickerlohn von fünfundzwanzig Franken. Mehr könne er dafür nicht aufwenden. Ich freue mich aber doch. Da nimm sie, lieber Mann, fahre zur Ausstellung in die Stadt und bereite dir zu Ende der Ferien doch noch eine kleine Freude!« Ihre Augen lachten mich glückselig an.

Und ich sah die große Landesausstellung. Mir überwallte das Herz vor den weit und glänzend ausgelegten Bildern der vaterländischen Arbeitskraft und vor dem festlichen Volk, das mit gehobener Seele, mit Sang und Klang und entfalteten Bannern durch die Gärten und Räume pilgerte. Ich geriet selber in eine festliche Stimmung. Ich fühlte mich als Glied meines Volkes, das seine Sorge und seinen Stolz mit so sonnigen Schaustücken darlegt, eine warme Zuversicht kam über mich, daß ich den Bann des kleinen Lehrerlebens in Lenz doch noch sprengen und die heiße, weltgierige Seele aus den Ketten der Not befreien werde.

Freilich, schon im Zug, mit dem ich heimkehrte, kränkte ich mich wieder. Es saßen darin Leute aus dem Landstädtchen Berg und erzählten sich, die Töchter hätten dem Turnverein soeben ein wunderschönes Bandelier geschenkt: Alpenrosen, Männertreu und andere Blumen. Kosten: vierhundert Franken; es sei durch einen Kaufmann in Forst von einer berühmten Appenzeller Stickerin besorgt worden. Fast hätte ich geschrien: »Lüge! Das Band ist unter den Händen meiner Frau entstanden!« Nur mein Ingrimm über das Gespräch und den Kaufmann ließ mich schweigen, und ich dachte an Albert Bär und seinen Fluch: »Ist das nicht zum Sozialdemokratischwerden?«

Im übrigen ist es meine heilige Pflicht, tapfer ins Leben zu blicken und mit dem Glauben an eine ewige Güte, die über uns allen schwebt. In seliger Verklärung besorgt Frau Emma ihre mannigfaltigen Arbeiten. Sie fühlt sich Mutter!

 

Noch ein Erlebnis fast vom letzten Tag der Ferien: Kaum hatte ich gehört, mein Onkel Johannes Heider, der mir in meinen Knabenjahren ein freundlicher Führer gewesen war, weile mit seiner jungen Frau bei den Eltern zu Besuch, da erschien das strahlende Paar bei uns. Johannes mag nun dreißig sein, eine hochgewachsene, breitbrüstige Gestalt, das Haupt in seiner männlichen Kraft wie von einem Bildhauer geformt, unter den wuchtigen dunkeln Brauen schöne, lachende Kinderaugen, um Mund und Kinn glänzend schwarzen Vollbart. Und die feinblühende Frau ist Wienerin mit allen Vorzügen, die man der Weiblichkeit dieser Stadt nachrühmt. Ihr Sprechen und Lachen, ihre Bewegungen sind von entzückender Anmut. Sie ist übrigens keine Österreicherin von Geblüt, sie stammt aus dem vornehmen urschweizerischen Geschlecht der Aufdermauer. Ihr Vater war, den Überlieferungen der Familie entsprechend, Söldner und Offizier in kaiserlichen Diensten geworden und gründete später im Wiener Wald eine blühende Waffenfabrik. Die Tante fühlte sich völlig als Wienerin, zum erstenmal betrat sie den Boden ihrer Vorfahren. Das war der Zweck des Besuches der beiden. Sie reisten von uns an den Vierwaldstätter See.

Der Onkel schenkte uns in die junge Ehe zweihundert Franken. Ahnte er, wie sehr wir des Geldes bedurften? Jedenfalls verlebten Emma und ich mit dem Paar bei einem Ausflug auf die Hochwacht einen wunderschönen Tag. Johannes erzählte manches aus seinen Monteurjahren: Dresden, Neapel, Paris, England, Griechenland; wie er dann auf dem Wiener Boden als Direktor festen Fuß gefaßt habe, nun aber im Begriffe stehe, auch diese ihm liebe Stelle mit einer anderen zu vertauschen und Direktor einer neugegründeten Fabrik in Monfalcone am Golf von Triest zu werden. »Ja, lieber Tobias,« sagte er wie zufällig, »einem Mann wie mir kann es doch nicht gleichgültig sein, ob er nur seine zehntausend Gulden im Jahre verdient oder in der neuen Stellung zwanzigtausend!« Im heimlichen rechnete ich aus, daß ich für zwanzigtausend Gulden über ein Vierteljahrhundert Schule halten müsse. Freundlich lobte das Paar die einfachen, doch reizenden Verhältnisse, in denen es uns getroffen habe, aber dann und wann gab mir Johannes, der Weltmann, doch einen fragenden Blick der starken Augen: »Bist du in deiner bescheidenen Stellung wirklich zufrieden, Tobias?«

Ich begleitete die frohen Reisenden an die Bahn, stieg wieder nach Lenz hinauf, setzte mich in die Stube, faltete die Hände und überlegte: Vierzehnhundert Franken – zwanzigtausend Gulden!

 

Wie nahe sind Leben und Tod! Im Leib meines Weibes regt sich das Kind, ein wunderbares Geheimnis, das alle Rätsel der Welt aufwirft: Woher kam die erste Zelle? Drüben aber in der anderen Lehrerwohnung ist der Tod eingekehrt. Schon lange war Christian Taler im Zerfall, wohl verständlich bei seiner Not und Lebensführung. Dann legte er sich hin, und nie habe ich einen Menschen so leicht sterben sehen wie ihn. Er bat mich, ihm sein Leibblatt, den »Landboten«, vorzulesen. Plötzlich unterbrach er mich: »Ich danke dir; ich weiß jetzt genug von der Welt,« drehte sich von mir ab, zitterte, röchelte – und war tot. Für Frau und Kinder ein furchtbarer Schlag! Die Beiträge an die hohe Lebensversicherung, die ihm so viel zu schaffen gegeben, hat er in den letzten Jahren nicht mehr aufgebracht. Die Versicherung ist also verloren, und den Seinen bleibt nur der kleine Witwen- und Waisengehalt des Staates.

Unwillkürlich regte sich in mir beim Absterben Talers das Vatergewissen mit der Frage: War es von mir nicht ein Leichtsinn, eine eigene Familie zu gründen? Meine Stellung ist ja nicht besser als die des Verstorbenen. Und ich spüre die Verantwortung für das werdende Kind. Wie sonderbar! Ohne unseren eigenen Willen kommen wir zur Welt und müssen doch alle ihre Lasten tragen. Wenn ich sie meinem Kind nur so lange abnehmen kann, als es meiner bedürftig ist!

Talers Frau und Kinder sind bereits fortgezogen, wohin weiß ich nicht. In ihrer Wohnung schaltet jetzt ein junger, lediger Lehrer namens Karl Stähli. Er teilt mit uns den Tisch und ist ein hübscher Junge mit noch fast knabenhaftem Gesicht. Seine geistige Schwungkraft reicht nicht sehr weit, aber, ein durchtriebener Kopf, hat er den scharfen Blick für alle Dinge des Alltags. Gelegentlich spielt er mit den Viehhändlern Karten, ohne daß sie ihn zu überlisten vermöchten, plaudert mit den Leuten am Weg über ihre Hantierungen und findet für sie stets das geeignete Wort. Auch ist er ein sehr guter Musiker und ausgezeichneter Schütze, an dem sich die Jungmannschaft von Lenz begeistert. Und die Mädchen? Auch er wird enttäuschen! Immer forscht er zuerst: Was versteuert denn der Vater der Rosa, der Karoline oder der Kleopha? Doch die Gemeinde hat über Nacht den Lehrer erhalten, der ihrem Herzen entspricht. Der arme Taler in seinem frischen Grab ist bereits vergessen, und ich bin durch den Jungen in der volkstümlichen Zuneigung ausgestochen. Was tut's?

Dann und wann blickt auch Luise Schuhmacher, die Arbeitslehrerin, die gern meine Frau geworden wäre, in unseren jungen Haushalt. Emma und sie vertragen sich in herzlicher Freundschaft, und jene dient meiner Frau in manchem zu. Ich aber bin glücklich über die artige Auslösung, die das Schicksal in diesem Fall für eine unerwiderte Liebe gefunden hat.

 

Tagebücher sind die Zuflucht der Einsamen. Seit ich das nicht mehr bin, habe ich nur selten noch das Bedürfnis, auf diesen Blättern zu verzeichnen, was ich erlebt oder gedacht habe, und dann werden Rückblicke daraus über längere Strecken meines Wegs. Aber auch dazu muß immer erst irgend ein Besonderes den Anlaß geben.

Den Winter hindurch beschäftigten mich, vielleicht zu stark, schriftstellerische Pläne.

Der erste galt einem Roman aus dem alten Bergland des Wallis, das wir Zöglinge des Seminars im Sommer vor unserer Lehrerprüfung durchwandert haben. Dort lernte ich im Tale der Morge uralte Wasserleitungen kennen.

Aus den letzten Hintergründen der Täler führen sie die trüben Schmelzwasser der Gletscher in Holzkänneln, ausgehöhlten Baumstämmen, an schrecklichen Felsen vorbei, hoch über unwegsamen Schluchten, hinaus ins Rhonetal, und in hundert kleinen Kanälen leiten sie den Segen des Wassers zu jeder Rebe und verwandeln dadurch die Landschaft, die sonst verdorren müßte, in einen Garten der Üppigkeit.

Am Pont-neuf, einem verwitterten Brücklein, trafen wir ein junges Mädchen und einen alten Priester, die vom Markte in Sitten kamen, und die erzählten uns nun von den Wasserfuhren und was für gefährliche Arbeiten mit ihrem Unterhalt und ihrer Ausbesserung verbunden sind.

»Wenn die Männer hoch oben in den Felsen neue Kännel einlegen, knien auf den Matten des Tales die Mädchen und Frauen. Sie beten für die vom Tode Bedrohten, und der Priester ist mit dem Allerheiligsten zur Stelle, damit er einem Stürzenden noch die Sakramente reichen kann,« erzählte das Mädchen.

»Waren Ihre Dienste je so plötzlich nötig?« fragte ich den Geistlichen.

»Ja, vor Jahren einmal,« erwiderte er nachdenklich. »Da stieg ein junger Knecht für seine Liebe in die Felsen empor.«

»Für seine Liebe?« forschte ich.

»So ist es,« sagte das Mädchen. »Wenn ein junger Mann die Liebste seines Herzens nicht erreichen kann, übernimmt er an den Wassern ein mutiges Gemeindewerk auf Leben und Sterben, und kommt er davon heil zurück, so ist es dem Volk, Gott habe gesprochen, und niemand darf mehr seiner Liebe wehren.«

Das war ein eindrucksvolles Erlebnis unserer Seminarreise, das sich mir in der Seele frisch erhielt, und darauf versuchte ich nun einen Roman zu bauen, der um die Wasserfuhren spielt, um die Sitten und Gebräuche des Volkes, die damit verbunden sind, und stellte in den Mittelpunkt der Handlung den Knecht, der für seine Liebe das Werk auf Erlösung oder Tod übernimmt. Ich kam aber mit dem Manuskript nicht über ein paar Dutzend Blätter hinaus und erkannte mit beängstigender Deutlichkeit, daß ich die Erzählung nicht gestalten könne. Die paar Wandertage der blutjungen Seminaristen hatten mir doch weniger Anschauungsbilder gegeben, als sie für mein Werk notwendig waren. Ich geriet bei seiner Gestaltung in Unsicherheiten hinein, meine Seele schrie nach neuen und vertieften Wanderstudien im Wallis. Aber woher sollte ein Lehrer von Lenz die Mittel für ein paar Wochen Aufenthalt im Hochgebirge nehmen?

Mit wehem Herzen ließ ich nun diesen Roman fahren und wandte mich einem anderen zu: »Die Bauern von Sättlikon«. Im Grunde waren es die meiner Heimat Reifenwerd, der tragische Untergang einer blühenden Landwirtschaft und ihrer stolzen, selbstbewußten Geschlechter unter dem Emporkommen einer Industrie, die sich aus bescheidenen Anfängen entfaltete und wie ein Moloch das alte Leben auffraß. Dieses Werk fiel mir ziemlich leicht. Ich konnte dabei lauter Bilder aus meiner Jugend niederschreiben, in der ich so manche kraftvolle Bauerngestalt neben den Fabriken zusammenbrechen sah. Jedenfalls hatte der Roman den Vorzug: er wurde fertig, gegen den Frühling hin lag er da!

Diese emsige Schriftstellerei warf aber schwere Schatten in unsere junge Ehe. Die Tage, die Wochen, den Winter hindurch blickte Frau Emma überrascht und sorgenvoll auf mein wunderliches Schreiben und Treiben. Eine gebildete und verständnisreiche Frau, begriff sie die Heimlichkeiten der literarischen Werkstatt doch nicht. Warum schrieb ich so viele Blätter an und zerriß sie gleich drauf? Warum, was ich schon zwei- oder dreimal geschrieben hatte, zum vierten- und fünftenmal? Doch Kränkenderes noch! Ich saß manchmal so verträumt am Tisch, daß ich es gar nicht spürte, mit was für einer hausfraulichen Liebe sie das kleine Mahl gerichtet hatte, oder ich ließ sie mit einem zerstreuten Kuß zur Ruhe gehen und wachte bis in den Morgen über den Blättern oder bis sie schluchzend vor die Türe kam: »Mann, ich vertrage das halblaute Summen nicht, mit dem du deine Sätze in der Nacht vor dich hin sprichst. Das ist ja Grabgesang!« So standen der Liebenden oft Tränen in den Augen, und sie trug die Absonderlichkeiten des Gatten schwerer als die äußeren Sorgen des Lehrerlebens.

»Ich habe früher geglaubt, das schönste Los einer Frau sei, an der Seite eines Schriftstellers zu leben,« schmollte sie. »In der Tat aber ist es das schmerzlichste. Seine Seele gehört ja nicht mehr dem Weib, sondern der Erzählung, die ihn bewegt.« »Ich muß, ich muß,« erwiderte ich, »ich darf doch nicht in dem unfruchtbaren Kampf, der mich in dieser Einsamkeit bewegt, das Leben hindurch bleiben.« Meine Selbstrechtfertigung fand ich in der Erkenntnis, daß keiner ein Buch schreibt ohne etwas Gewaltsamkeit gegen sich selbst und einige Vernachlässigung der Nächsten. Und wie schrecklich! Tief unter dem hellen Sopran Emmas hörte ich wie das Geläute versunkener Glocken eine geheimnisvolle Stimme: »Tobias, ich verstände dich!«

 

Und der Kampf ist doch unfruchtbar geblieben. Als ich meine »Bauern von Sättlikon« vollendet hatte, griff ich zu etlichen Heften der »Deutschen Rundschau«, die mir der gütige Dekan geliehen hatte, und las darin die Novelle »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm. Die Geschichte des gespenstigen Deichgrafen berührte sich mit der meinen in keinem Punkt, aber der Sprachglanz des norddeutschen Erzählers fiel mir wie ein Blendlicht in die Seele und mit ihm die stechende Erkenntnis: »Du kannst ja nichts!« Nach einer furchtbaren Nacht der Aufregung und Zerknirschung ging ich am Morgen den Schulofen heizen, warf das Manuskript in die Flammen und keuchte noch einmal: »Du kannst ja nichts!« War die Vernichtung des Werkes ein Glück oder ein Unglück, ein Recht oder ein Unrecht? Ich bereute sie hinterher; ich hätte es wenigstens Fritz Hartmann zeigen sollen. Das Sichmessenwollen an Theodor Storm empfand ich als Wahnsinn! Gewiß fliegen Weihe und Adler in der Höhe, aber haben deswegen unsere bescheidenen Vögel aus Gärten, Feld und Wald weniger das Recht, sich auch ihres Lebens zu freuen?

Meiner Frau wagte ich es gar nicht zu gestehen, was für ein trauriges Ende ich der Arbeit eines langen Winters bereitet hatte; sie hätte meine Art erst recht widersinnig empfunden, und ich wollte ihr strömendes Mutterglück an der Wiege unseres Kindes nicht stören.

Wiege? Dieser Ausdruck lief mir nur aus Herkommen in die Feder. Unsere Mittel reichten nicht aus, uns eine zu beschaffen; wir betteten die Kleine einfach in den Waschkorb. Darüber kann ich mich trösten. Als die Pharaonentochter den Mosesknaben fand, lag er auch nur in einem Korb und ist doch der große Führer geworden, der seinem Volke die Heimat zurückschenkte. Nein, gottlob, die Königinnen des Glücks, ebenso die Männer, die sich durch ihre Kraft in den Tempeln der Geschichte ihr Denkmal gegründet haben, sind meistens dem Leben nicht in silber- oder perlmuttereingelegten Wiegen erwacht, und im Lande ist keine Hütte so klein und niedrig, daß wir davor schwören dürften: Aus dieser Kammer wird nie ein Prophet hervorgehen, nie ein Staatsmann, Dichter oder Denker, der die Sache seines Volkes und der Menschheit um die Spur seines Lebens vorwärts bringt. Bei dieser Betrachtung denke ich nicht an mein Kind und nicht an mich selber. Meine Mutter hat mich in einer trüben Kammer geboren, in die weder Sonne, Mond noch Sterne schienen. Es war aber in der Sonntagfrühe, und glückselig schrieb sie dem Vater, der in Augsburg auf Montage weilte: »Er ist ein Sonntagskind, die sehen mehr als andere!« Wie bitter habe ich für den frommen Mutterglauben büßen müssen! Der Vater kam nachher bei den vielen Fehlschlägen meiner Jugend oft auf das Wort zurück: »Ja, ein Sonntagskind ist Tobias; im Mondschein findet er die Pfütze, von der er glaubt, sie sei aus Gold!« Ich hoffe aber, für mein Kind sei es kein Nachteil, daß wir ihm nur einen Korb als erstes Lager auf Erden haben geben müssen.

Bei seiner Geburt benahm ich mich nicht so verrückt wie Hans Boll bei der seines Jungen. Aber es bleibt mir doch ein Wunder, wie sich ein brauner Molch aus dem Mutterleibe windet und schon nach ein paar Stunden ein ansehnliches Menschlein mit rosigen Fingern und Zehchen wird und mit einem Schopf, der schon ein leuchtendes Blondhaar verspricht. Dazu das Bild der selig säugenden Mutter! In jeder Schulpause drängt es mich hinauf, die beiden zu sehen, und einem Taschenbuch vertraue ich die Fortschritte unserer Kleinen an: das erste Lächeln, das erste Sehen von Dingen, das erste Horchen auf einen Ton, das Spiel mit Händchen und Füßchen, und oft schreibe ich zu meinen Notizen ein kleines Gedicht.

An der Taufe nahmen auch meine Eltern teil und begrüßten ihr erstes Enkelkind. Da traf mich aber eine Bemerkung des Vaters hart: »Was, du gehst an diesem Festtag in halbzertretenen Schuhen? Das täte einer unserer Schlosser gewiß nicht!« Tief schmerzte mich das Wort. Aber die halbzertretenen Schuhe haben ihre Ursache. Ich bin dem Schuster die alte Rechnung noch schuldig!

 

Und doch, die schweren Wolken über meinem Leben wollen sich lichten, dafür habe ich ein sicheres Gefühl. Zur Welt kann ich nicht gehen, barmherzig aber kommt sie zu mir!

Im ersten Frühling erschienen ein paar Herren aus der Stadt in Lenz und baten mich, meinem Unterricht beiwohnen zu dürfen. Ich begrüßte die Abordnung einer Schulpflege von St. Jakob, die bestellt war, einen Lehrer zu berufen, und glückselige Hoffnung durchströmte mich. Bis zum Abend folgten die Gäste meinen Lehrstunden aufmerksam. Nachher luden sie mich zu einem Imbiß beim Friedensrichter ein und eröffneten mir, daß sie mich als Lehrer in die Stadt zu ziehen gedächten. Vor Freude zersprang mir fast das Herz. Wie viel herrliche Lebensmöglichkeiten umschließt dieses Wort für die dürstende Seele. Das war winkende Erlösung, ein Traum wie Sonne, und ich herzte Weib und Kind.

Nun vergingen Tage. Kein Bericht folgte, und noch jetzt stehe ich wie vor einem Rätsel, in tiefer Niederschmetterung. Haben die Herren, die mir meine Berufung ziemlich sicher in Aussicht stellten, nachträglich einen vorzüglicheren Kandidaten gefunden? Fiel bei den endgültigen Beratungen meine Talentlosigkeit im Gesang so schwer in Betracht? In der Stadt, in der es unter der Lehrerschaft einen Überfluß an musikalisch gebildeten Lehrern gibt? Ich weiß es nicht, nur daß man mich hat fallen lassen.

Trotzdem spüre ich es immer wieder: es geht die Sage durchs Land, in Lenz sitze ein Lehrer, der es durch seine geistige Regsamkeit verdiente, in eine seinen Anlagen entsprechende Umgebung zu kommen, und er nähme dort wohl eine erfreuliche Entwicklung. Ich denke, diese Aufmerksamkeiten für mich stammen aus unserem Klub und seinen Freunden in der Stadt, dazu von meinen getreuen Hans Boll und Heinrich Moos.

 

Eine Weile vor den Sommerferien kam ein Großfabrikant bei mir vorgefahren. Er erzählte mir, sein ältester Sohn und ein anderer Jüngling aus der Verwandtschaft hätten vor ein paar Wochen ihr Abiturium glänzend abgelegt und besuchten jetzt miteinander die Universität. Nun habe er in Vater- und Onkelfreuden den beiden Studenten eine vierzehntägige Sommerreise ins Hochgebirge versprochen, gelange aber aus geschäftlichen Gründen wohl nicht dazu, die Wanderung selber zu leiten, und auf der Suche nach einem geeigneten Mentor für die beiden sei er auf mich gekommen. Ob ich das Amt für die Sommerferien übernähme?

Mit einem heimlichen Jauchzer ging ich auf den Vorschlag ein, und mein erster Gedanke schweifte dabei ins Wallis: Studien der Wasserfuhren! Der Fabrikant sprach mir aber den Wunsch aus, daß ich meine Pläne für die Jungen auf das Engadin richte; durch verwandtschaftliches Blut seien sie halbwegs Bündner, und so sei dieses Bergland das gegebene Gebiet für ihre erste größere Wanderung; dazu kämen vielleicht ein paar Tage an den italienischen Seen. Die Ausgestaltung der Pläne aber überlasse er mir, doch mit dem Wunsche, daß ich mit den mir anvertrauten Burschen Gletschertouren ersten Ranges, wie etwa die Besteigung des Piz Bernina, unterlasse; diese und ähnliche Leistungen seien für die noch wenig Geübten zu schwer.

Schon die Vorbereitungen für die Wandertage waren mir eine angenehme Unterhaltung; ich studierte wochenlang alle Sonderkarten und Bücher über das Bündnerland, die ich in der Klubbibliothek und in anderen aufzutreiben vermochte, und schrieb mir Auszüge daraus mit dem Erfolg, daß ich auf der Wanderung keines Reisehandbuches bedurfte und die Jünglinge überrascht zu mir sagten: »Sie kennen ja alles so gut, als wären Sie geborener Bündner!«

Auf der Reise mit ihren Paßübergängen und Besteigungen nicht zu schwieriger Aussichtsgipfel lag bei den tausend Franken, die mir der Fabrikant zum freien Verbrauch überreicht hatte, keine Spur von Sorge, der blaue Himmel lachte auf die Täler und Spitzen hernieder, und die wohlerzogenen Jungen erkannten mich willig als denjenigen an, der beschloß und leitete. Nur in Pontresina gab's ein zweitägiges Zerwürfnis zwischen uns. Bestochen von den vielen Karawanen, die auf die höchsten Schneegipfel des Berninagebirges auszogen oder davon herniedergestiegen kamen, forderten sie eine Tour auf den Piz und wollten keinen leichten Gipfel mehr mit mir besteigen. Sie erbaten daheim telegraphisch die Erlaubnis für den gefährlichen Weg; die Antwort ließ aber warten und lautete dann auf ein bestimmtes »Nein«. Und welch ein Glück, daß ich den Wünschen der Jungen widerstanden hatte! In der Nacht, bevor die Antwort der Eltern kam, hatte sich in den Bergen ein Wetterumschlag ereignet, mitten im Sommer lag schwerer Neuschnee bis in die Täler herunter, und wir sahen, wie die Rettungskolonnen ausrückten, um die gefährdeten Touristen von den hohen Spitzen zu holen, und wie die kühnen Steiger halb erfroren, halb gelähmt und todesmatt ins Dorf gebracht wurden.

Kleinlaut schlossen die Studenten mit mir Frieden, und wir wanderten an die italienischen Seen hinunter, entzückende Fahrten auf den drei Gewässern folgten, und die seit zwei Jahren eröffnete Gotthardbahn, deren kühnen Bau ich zum erstenmal sah, führte uns wieder in die deutsche Schweiz zurück. Auf Göschenenalp erwarteten uns die Eltern meiner jugendlichen Begleiter; ich rechnete dort mit dem Fabrikanten über unsere Reiseauslagen ab und gab ihm etliche Hundertfrankenscheine zurück. Da lachte er: »Wenn ich mit den Jünglingen gegangen wäre, so wäre die Wanderung sicher teurer geworden.« Damit schenkte er mir einen der Scheine und lud mich ein, als sein Gast noch ein paar Tage auf der Alp zu bleiben.

Endlich einmal waren mir die Ferien zu einem großen Atemholen in freier Gotteswelt geworden.

 

Und wieder Winter, mit Vorträgen da und dort über meine Sommerwanderung.

Die Einsicht, daß ich keinen Roman schreiben könne, führte mich auf ein anderes Feld schriftlicher Betätigung, zu einer Schilderung unseres Aussichtsberges, der Hochwacht, die ich nach Weg und Steg, Schönheit und Eigenart vorzüglich kenne. Ich zeigte sie etlichen Freunden; sie munterten mich auf, die Monographie drucken zu lassen, und im Frühling lag das Büchlein, von Fritz Hartmann besorgt und hübsch ausgestattet, in meinem Selbstverlage da. Es ging mir bei seinem Vertrieb nicht schlecht, begeisterte Klubisten besorgten ihn zumeist; rasch verkaufte sich das Heft in einigen hundert Exemplaren, aber als ich mir die Abrechnung darüber aufstellte, kam ich zu dem Ergebnis: Null von Null geht auf, und merkte, daß ich in der Ansetzung des Preises für die Schrift ein schlechter Kaufmann gewesen war. Nur ein Glück! Ein kleiner Verleger in Zürich, der von ihrer freundlichen Aufnahme gehört haben mochte, erschien bei mir und kaufte mir die Rechte für die weitere Drucklegung des Büchleins um zweihundert Franken ab. »Hier die Summe,« lachte er spöttisch. Aber ich war es zufrieden, und das Werklein erlebte gleich die zweite Auflage, was nicht jeder Schriftsteller von seinem bescheidenen Erstling behaupten kann.

 

Seither ist mein Leben wieder Idylle, oft denke ich: schreckliche Idylle! Ich belausche mein Kind, an einem wagrecht vorgehaltenen Stock lehre ich es gehen, reize es mit den eigenen zu den ersten Sprachlauten, bereite mir das Vergnügen, es in eine Frühlingswiese zu stellen, deren Gras ihm über das blonde Haar reicht, und warte, bis es lachend wieder zu mir hervorkriecht. Väterliche Spiele, aber kein Handeln nach Schillers Wort: »Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und streben!«

Die Sommerferien verliefen auch nicht so prächtig wie die letztjährigen. Wieder zwar kam ich in die Berge, diesmal mit meinem Freunde Fritz, und zu meiner Herzfreude nahmen wir das Wallis zum Ziel. Um uns gegenseitig zu beweisen, daß wir keine Weichlinge sind, verabredeten wir, jeden Tag wenigstens zwölf Stunden zu gehen und jeder für sich nicht mehr als fünf Franken im Tag auszugeben. Eine Weile hielten wir das Versprechen und hatten schon den Weg über den Urirotstock, Titlis, die Grimsel, das Nägelisgrätli und die Furka hinter uns. Da brach ich neben dem Schnellgänger Hartmann am Rhonegletscher, dem Eingang ins Wallis, zusammen. Im wirren Halbschlaf liefen mir Beine und Füße noch in der Nacht, und das Herz brannte mich wie ein Feuerklotz. Als mich nun der Gefährte am Morgen mit dem Ruf: »Eggishorn!« weckte, erwiderte ich ihm: »Zum Teufel das Eggishorn wie der Aletschgletscher! Ich bleibe hier einen Tag liegen, nachher geh' ich heim!« Er setzte nun den Weg auf eigene Faust fort, ich ruhte und bestieg dann die Post nach Göschenen. Daheim wurden mir die Glieder erst recht steif, und mir war, die Beine seien zugespitzte Hölzer. Ein paar Tage später schaute Fritz nach mir und lachte: »Etwas toll sind wir ja schon gelaufen, aber mein Heimweg führte mich doch noch über die Jungfrau!« Bis ich das ungehorsame Herz etwas zur Ruhe gezwungen hatte, war die Schule schon wieder in den Gang gekommen.

 

Wie wenig erlebe ich! Im Grunde nur den Wechsel der Jahreszeiten, treibe etwas Tagesschriftstellerei und bleibe dabei wohl der kleine Lehrer von Lenz, bis man mich in den Kirchhof im Tale führt. Doch vor ein paar Tagen ereignete sich eine kleine Abwechslung: der unerwartete Besuch meines Vaters, und der Name Marie Kern fiel wieder einmal in mein Leben!

Damit ich mir sein Erscheinen nicht zu sehr als Ehre einschätze, entschuldigte er sich damit, er habe in einer Fabrik der Nachbarschaft ein paar neue Maschinen zu überprüfen gehabt, dann aber gingen die Stunden reizend vorbei. Meiner Frau hat er seine Zuneigung vom Rigi bewahrt, und sein besonderes Ergötzen war das Goldlockenköpfchen der Enkelin. Am Abend gab ich ihm das Geleite nach Forst hinunter an die Bahn.

Auf dem Weg erzählte er: »In der Gegend von Hettenstein hatte ich einen ähnlichen Auftrag zu erfüllen wie jetzt im Oberland. Fast der erste Mensch, der mir im Städtchen begegnete, war die frühere Marie Kern. Sie führte ein kleines Mädchen an der Hand und begleitete mich bis an den Wald vor den Fabriken von Unteraa. Sie sah ernst und angegriffen aus und fragte lieb nach dir. ›Wie merkwürdig!‹ sagte sie, ›seit fünf Jahren habe ich Ihren Sohn nie mehr gesehen.‹ Mir erschien das freilich nicht so merkwürdig. Was kann ein Mann Törichteres tun, als einer Geliebten nachstreichen, die sich an einen anderen verheiratet hat! Besonders traurig an den Verhältnissen der früheren Fräulein Kern berührte mich, was mir der Direktor in Unteraa erzählte: Nach einem Jährchen tüchtiger Arbeit habe Thellung versucht, sich ein paar öffentliche Ämter zu gewinnen, wie es ja in der Stellung und dem Vorteil eines Rechtsanwaltes liege; das Vertrauen der Wähler aber habe sich ihm versagt. Aus Ärger darüber sei er wieder der Kalfakter von einst geworden, der sich als Fischer durchs Land treibe, und die junge Frau müsse zusehen, wie ein zweiter Fürsprecher in Hettenstein seine Rechtsstube aufgetan habe und das Vertrauen der Bauern an sich reiße.

»Böse Geschichten!« schloß der Vater. »So gut wie bei Thellung hätte es Marie Kern auch bei dir, Tobias, gehabt, wenn ich schon immer der Meinung bin, ein junger Mann, der sich dem Lehrerberuf zuwendet, müsse Bretter vor den Augen haben.«

Nie vergißt er bei seinen Besuchen einen Zwick auf meinen ihm anstößigen Beruf. Auch wäre mir lieber, er hätte mir von Marie nicht gesprochen. Es ist wohl, wie mir ihre Mutter in Walberg ans Herz legte, gut, wenn Marie und ich uns nie wieder unter die Augen treten. Immer wieder kommen etwa Schulbesuche in der wohlwollenden Absicht nach Lenz, mich in größere Verhältnisse zu ziehen, namentlich aus der Stadt St. Jakob und den ihr benachbarten Dörfern. Hoffnungen, aus den Ärmlichkeiten meines Dorflebens herauszukommen, flackern immer wieder in mir auf, verstärkt durch die Erkenntnis, daß ein im übrigen tüchtiger Lehrer, dem aber die Gabe des Gesanges fehlt, in einer Landgemeinde doch nur halbwertig auf seinem Posten steht und sich von jedem Kleinen überflügeln lassen muß, der eine Stimme beherrscht.

Stets aber auch das gleiche grausame Spiel: nirgends ein Ankommen, und Lenz ist über die Abordnungen von auswärts verärgert; ich spüre, wieviel Wohlwollen mir darüber verloren geht. Die Viehhändler sagen es mir frei ins Gesicht: »Fort von uns trachtet Ihr, aber keiner der Orte, von denen Ihr Euch besuchen laßt, kann Euch brauchen. Wir müssen Euch behalten, bis Ihr sterbt!« So sind die Schulbesuche die richtige Gelegenheit, daß ich in meiner Gemeinde völlig zwischen Stühle und Bänke hinunterfalle.

In dieser Angelegenheit schrieb mir nun mein getreuer Hans Boll:

»Ich habe gestern der Sitzung unserer Schulpflege beigewohnt, in der Deine Berufung an die Stelle des zurückgetretenen Lehrers Meier zur Sprache kam. Alle Mitglieder, die Deinem Unterricht beigewohnt haben, anerkennen die Vortrefflichkeit Deiner Schulführung, aber eine andere Abordnung, die beauftragt war, Nachforschungen über Dich bei den Erziehungsbehörden einzuziehen, lehnte Dich ab. Nach den Auskünften dieser muß es in Deiner Seminarvergangenheit irgend dunkle Punkte geben. Mir tat es sehr leid, daß Dich nun die Pflege fallen ließ, und ich schreibe Dir darüber mit dem Rat, daß Du selber einmal bei den Behörden vorsprechen und Mißverständnisse, die über Dich bestehen, zur Aufklärung bringen mögest.«

Da lag also der Haken: dunkle Punkte in der Seminarvergangenheit! Was habe ich denn im Seminar Übles getan? Ja, leider etwas gedichtet und gelegentlich die Gedanken in anderen Gebieten spazieren lassen, als es gerade die Unterrichtsstunde gebot. Kurz, ich habe die Lehrer hin und wieder durch Zerstreutheit verärgert. Ist nun das aber ein genügender Grund, mir die Jahre dahin oder für immer das Vorwärtskommen abzuschneiden?

Ein paar Tage lief ich grübelnd hin und her. Dann folgte ich dem Rate Bolls, fuhr nach St. Jakob, traf den Erziehungsdirektor nicht, doch den Sekretär und erhob bei diesem meine Beschwerde. Der »kleine Grob« mit den bebrillten, durchdringend klugen Augen hörte mich ruhig und mit einigem Wohlwollen an, was ich unter den unklaren, aber umso verdächtigeren Auskünften der Erziehungsbehörden an Enttäuschung und Hintansetzung gelitten habe. Ausweichend erwiderte er: »Ich bin in diesen Angelegenheiten auch nur das Sprachrohr der mir gewordenen Aufträge,« und dann mit einem ermunternden, guten Lächeln: »Reden Sie doch einmal mit Seminardirektor Doktor Wetzer; ich glaube, da kommen Sie an die Quelle Ihres Übels!«

Die kleine Unverschwiegenheit des Sekretärs bestätigte in mir eine langgehegte Vermutung. Am anderen Morgen, kurz nach sechs Uhr, stand ich vor dem Seminar, dem alten Stift, das ich etliche Jahre nicht mehr gesehen hatte, und bemerkte, daß der Direktor im Garten spazierte. Klopfenden Herzens schritt ich zu ihm hin, und als wir uns begrüßten, erkannte ich gleich, an der halben Hand, die er mir reichte, und an dem Zug des Mißvergnügens, der ihm über das breite Gesicht lief, daß er mein bitterer, unversöhnlicher Gegner war. »Was wollen Sie von mir?« fragte er verdrießlich, und kaum hatte ich mit meiner Darlegung begonnen, schnitt er mir das Wort ab: »Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig über die Auskünfte, die ich in Ihrer Sache erteile; was ich aber spreche, steht im Einklang mit meinem Gewissen. Nie wird mir dieses gestatten, daß ich für Sie eine Empfehlung einlege.« Unterdessen hatte er unsere Schritte hinaus auf den alten Stiftshof gelenkt. Ich empfand den Weg wie eine Fortweisung. »Ihr letztes Wort, Herr Direktor?« »Mein letztes!« erwiderte er hart.

Wie auf den Kopf geschlagen und gedemütigt kam ich zurück in mein Bergnest, fragte mich immer wieder: Warum ist Doktor Wetzer dein Feind, er, der Mann, den Hunderte von Lehrern fast abgöttisch lieben und verehren? An meinen paar unbedeutenden Seminarnachlässigkeiten kann es nicht liegen. Unsere Gegensätze liegen tiefer. Als Naturwissenschaftler weiß der Direktor nur das zu schätzen, was sich in klare physikalische Formeln bringen läßt; wägen, messen, das ist sein Tag. Für mich aber gibt es in der Welt auch unmeßbare Dinge, Imponderabilien, Ahnungen und Träume. Es ist bei uns Blutanlage, daß wir uns mißverstehen müssen, die Abneigung von Natur zu Natur!

Was aber sollen mir diese Erwägungen? Er ist der Starke, ich der Schwache! Doch empört sich in mir eine Stimme. Wo in der Welt hat ein Land schönere Gesetze als unsere Demokratie? Trotzdem ist es Tatsache, daß ein geheimnisvoll Mächtiger dem Kleinen den Lebensfaden unterbinden kann und wir noch viele Geßlerhüte im Lande haben. Ich bin in Lenz festgenagelt; wozu der weitere hoffnungslose Kampf, auch um die Schriftstellerei? Damit blende ich nur mich selbst!

Künftigen Abordnungen von Pflegen werde ich schon auf der Treppe entgegentreten: »Es ist mir lieber, meine Herren, wenn Sie meine Schule nicht besuchen; Ihre Gegenwart bringt mich nur in ein falsches Licht bei den Dorfbewohnern und in eine unhaltbare Stellung.«

 

Doch wie wunderbar spielt das Leben! Unerwartet erschien mir vor nun vierzehn Tagen das »größere Licht«. Ich griff nicht danach und bereue nicht, daß ich es vorübergehen ließ!

Der Fall ist folgender. Der alte Besitzer und Redakteur des »Volksboten« ist gestorben, und in den Kreisen der Alpenfreunde hat sich die Ansicht verbreitet, ich wäre sein gegebener Nachfolger. Etliche kapitalkräftige Herren traten in dieser Angelegenheit an mich heran und erboten sich unter billigen Bedingungen, Druckhaus und Zeitung, die siebzigtausend Franken kosten sollen, für mich zu kaufen und unter meine Verwaltung zu stellen. Zuerst ließ ich mich von dem freundschaftlichen Antrag bestechen. Mir, dem mittellosen Lehrer, anvertraut man siebzigtausend Franken! »Selbstverständlich, Tobias Heider, du greifst zu. Schreiben und Gestalten, das ist ja deine Welt!« Bald aber meldeten sich in mir die Gegenstimmen zum Wort. Zu einem Zeitungsbetrieb gehört vor allem eine sorgfältige Buchführung, du aber hast kein kaufmännisches Talent. Und ein Zeitungsschreiber soll Politiker sein! Die Partei, der das Blatt bisher gedient hat, der Leserkreis und gewiß auch die Herren, die es für dich kaufen wollen, fordern es.

Warum sollte ich nicht in welt- und vaterländischen Fragen fröhlich mittun wie jeder aufrechte Mann? Gewiß! Ich empfinde aber ein Grauen vor jenem Teil politischer Betätigung, den man von einem örtlichen Blatt verlangt, vor der Dorf- und Kleinpolitik, die bei den gegenwärtigen Zeitläufen nicht zu umgehen sind. Aus unverwischbaren Jugendeindrücken sitzt mir der Abscheu vor diesen Kleinkämpfen und vor der damit verbundenen Leidenschaftlichkeit im Blut.

Mein Vater war zwar nie Zeitungsschreiber, aber sonst Kampfhahn in der Heimat. Er stand in der Mitte zwischen einer untergehenden hochmütigen Bauernschaft und einer jungen aufstrebenden Arbeiterpartei, und seine Hiebe flogen nach links und nach rechts. Sie kamen auch zurück, aber nicht auf ihn, den starken Mann, sondern die Schläge, die ihm galten, erhielten heimlich wir Jungen, und sie haben uns die Knabentage reichlich vergällt. Wie oft weinte ich um meinen Pfarrer Felix Meier, der mir ein unvergeßlich gütiger Lehrer war, aber als geistiger Führer der Arbeiter immer im Streit mit dem Vater lag! Was Wunder, daß ich die Politik nicht mag!

Gewiß liegt in dem vornehmen Angebot der mir befreundeten Herren ein großes Wohlwollen für mich. Sind sie aber einmal meine Gläubiger, was ist dann menschlicher, als daß sie es versuchen, mich in manchen Fragen in den Dienst ihrer eigenen Ansichten und Vorteile zu stellen, von Überzeugungen vielleicht, die den meinen widersprechen. Namentlich einem von ihnen mißtraue ich. Für sich selber ist er der größte Freigeist, den ich mir denken kann; für seine Arbeiter unterhält er pietistische Heime, damit sie demütig bleiben. Und ich soll in meinem Blatt dieser Religiosität aus Geschäft das ethische Mäntelchen umhängen! Nein, nein, nur kein Schreibknecht werden, lieber arm sein, doch frei!

So lehnte ich den ehrenvollen Antrag, Redakteur und Zeitungsbesitzer zu werden, ab.

 

Wieder Winter, wieder ein Mädchen im Korb, und nie fiel mir das Heizen des Schulofens schwerer. Gegen Frühling bemächtigte sich meiner eine Müdigkeit und Abgeschlagenheit, daß ich kaum mehr von der Schulstube in die Wohnung hinauf zu wanken vermochte. Kummervoll blickte mir meine junge Frau in die hohlen Augen und in das eingefallene Gesicht, und durch die Gehöfte von Lenz flüsterte sich das Wort »Lungenschwindsucht«. Jedermann glaubte, mir sei das gleiche Los beschieden wie früher meinem Kollegen Christian Taler, und ich selber fühlte mich bis ins Innerste zerrüttet. Da sich aber meine hohen Lebenshoffnungen nie recht erfüllt haben, insbesondere diejenigen auf mein poetisches Talent nicht, und ich mir auf meiner kleinen Schulstelle wie angenagelt erschien, ließ mich der Gedanke ans Sterben fast gleichgültig; nur um mein junges Weib und die beiden Kinder tat es mir furchtbar leid.

In dieser Not wußte die treue Mutter Rat. Sie wandte sich an meinen Onkel Johannes in Monfalcone und seine Frau mit der Bitte, mir einen Erholungsaufenthalt bei ihnen zu gewähren. Sie fand die herzlichste Erwiderung, und der Vater, der sonst seine Brieftasche nicht leicht öffnet, schenkte mir mit einem kräftigen Fluch auf meinen armseligen Beruf ein paar hundert Franken Reisegeld.

Im Frühling legte ich mit meinen Schülern noch die Jahresprüfung ab. »Euer Examen habt Ihr gut gemacht,« sagten mir die Dörfler ins Gesicht. Unter sich selber aber flüsterten sie: »Es wird schon das letzte gewesen sein,« und aus ihren ungewohnt lieben und gütigen Reden merkte ich, wie sehr sie mich als Todeskandidaten betrachteten.

Nun stehe ich, die Schulsorgen einer Vikarin überlassend, vor der Reise nach der Adria!

Monfalcone, April 1886.

Am Tage nach dem Schulexamen fuhr ich über den Gotthard und erlebte schon in Lugano mein Wunder. Wandern, wandern mußte auf einmal der müde Mann, der vor ein paar Treppentritten zurückgeschreckt war. Ich lief den Comer See entlang und durch die liebliche Hügellandschaft der Bianza, hinaus nach Bergamo, stieg in die vergoldete Kuppel seines Bergdomes empor, schritt um den Gardasee und stand bei herrlichem Sonnenuntergang, der den Blick bis in den Apennin hinein schweifen ließ, auf dem obersten Quadernkranz des altrömischen Amphitheaters von Verona. Auf dem weiten Platz unter mir spielte eine Bersaglierimusik und wogte das festtägliche Volk. Mir aber stürzten die Tränen der Freude hervor, den Kopf mit beiden Händen umfassend rief ich: »Welt, Welt, wie schön bist du!«

Auf dem Markusdom in Venedig war mir, ich müßte das seidenblaue Meer, das ich zum erstenmal sah, an die Brust reißen; in Wonnen spürte ich, daß mein Leiden gar nichts Körperliches gewesen war, sondern nur der unendliche seelische Druck, daß mich das Leben in so bescheidene Grenzen gewiesen hatte, der ungestillte Durst nach Welt! Nun erlebte ich selige Genesung aus toten Jahren.

Im lieblichen Städtchen Görz holte mich Onkel Johannes mit dem Wagen ab und lachte bei unserem Wiedersehen innigst: »Herrgott, ich erwartete einen schwer Kranken. Nun kommst du ja wie das blühende Leben zu mir!«

In seiner Familie verbrachte ich wundervolle Wochen. Er stellte mir seinen Kutscher und sein Paar Apfelschimmel zur Verfügung, und so oft es mir gefiel, fuhr ich durch die wogenden Kampagnen des Küstenlandes in die italienischen Dörfer und Städtchen, über den türkisblauen Isonzo nach dem altrömischen Trümmerhaufen von Aquileja, der einst herrlichen Stadt, die jetzt nur noch als kleines Nest besteht, oder in weitem Bogen um die innerste Felsenbucht des Meeres, am mittelalterlichen Schloßturm von Duino vorbei in das lebensvolle Triest und an seinen Hafen voll stolzer Schiffe, die von anderen Erdteilen kommen oder zur Abfahrt nach seinen Küsten rüsten. In der Nacht begleitete ich die Fischer von Monfalcone in ihren Segelbooten hinaus auf das geheimnisvoll leuchtende Meer, mit kleinen Dampfern besuchte ich die Laguneninseln der Adria, die malerischen Städtchen Istriens, das Palmengestade von Abbazia und wanderte manchmal hinein in das öde Karstgebirge und in die Märchen seiner Tropfsteingrotten.

Eine der Nächte auf dem Meer wird mir, solange ich lebe, unvergeßlich bleiben! Unser Küstendampferchen fuhr durch den Silberstreifen des Vollmondes, der wie eine feurige Kugel am blaudunkeln Himmel stand, und die Brionischen Inseln glitten schattenhaft an unserem Blick vorbei. Das Dutzend Fahrgäste auf dem mit Waren, namentlich Fässern und Körben, überstellten Schiff schlugen sich in ihre Mäntel, und jeder suchte sich auf dem Deck eine geschützte Ecke, um in die linde Nacht zu träumen und in die Spiele der Delphine zu schauen, die sich wie übermütige Kinder auf dem metallenen Spiegel des Meeres jagten und haschten.

Da geschah mir etwas sehr Geheimnisvolles! Vor meinen inneren Blicken erschien mir die Geliebte meiner ersten Lehrjahre, die unvergeßliche Marie Kern, in wunderbarer Klarheit, jung, schön, schmerzensreich. Wie in elektrischen Stößen spürte ich: In dieser Nacht denkt sie in brennender Sehnsucht, in zitterndem Weh an dich. In einer Gewißheit, die keine Täuschung zuließ, riß ich ein Blatt aus meinem Notizbuch und schrieb im Mondlicht darauf: »Ich habe auf dem Meer deine Grüße empfangen und dein Gedenken innigst erwidert!« Dieses Blatt steckte ich in einen Umschlag, setzte die Aufschrift hin und war bereit, es am Morgen in irgend einem Küstenstädtchen zur Post zu geben. Ich tat es dann doch nicht, eingedenk, daß ich der Mutter Maries versprochen hatte, solange ich lebe, die Kreise der mir ewig Verlorenen nie wieder zu stören.

Nun aber, wie merkwürdig! Ein paar Tage später erreichte mich in Monfalcone die Anzeige vom Hinschied der Frau Ratsschreiber in Hettenstein, die mich immer geliebt hatte, und von der Adria her rief ich ihr den Gruß ins Grab. Haben Mutter und Tochter sich in jener Nacht noch einmal über mich ausgesprochen und so herzeindringlich, daß ich es auf dem fernen Meere spüren mußte? Immer, wenn die Frage auftaucht, ob eine Zeichensprache der Seelen in die entlegenste Weite möglich sei, werde ich jenes Erlebnisses auf dem Dampfer gedenken.

In meinem Aufenthalt an den südlichen Gestaden aber lasse ich die Wandertage von stillen Ruhetagen unterbrechen, setze mich in einen lauschigen Lorbeergarten und schreibe die Eindrücke meiner Streifzüge nieder. Einige der Skizzen sandte ich bereits an die Blätter des heimatlichen Oberlandes; sie gelangten wirklich zum Abdruck. Alpenfreunde schrieben mir: »Mehr, mehr!«, und mein gütiger Dekan Sprenger: »Tatsache, Ihr eigentlicher Beruf ist doch die Feder!« Unter diesen Aufmunterungen entstand in mir der Plan zu einem Buch: »Ferien an der Adria.«

Niemand freut sich darüber so sehr wie mein Onkel Johannes, dessen Gastfreundschaft keine Grenzen kennt. Er hat es nun freilich weiter gebracht als ich, der Schullehrer; sein Name ist in den Industriekreisen Österreichs allgemein angesehen, und häufig wird er zu Beratungen nach Trieft, Wien und in andere Städte gerufen. Ich wollte aber doch nicht an seiner Stelle stehen. Im Gegenteil: der Aufenthalt in Monfalcone, dicht am Fabrikbetrieb, ist mir eine innere Rechtfertigung dafür geworden, daß ich einen anderen Weg als meine mit der Mechanik verwachsenen Verwandten gegangen bin, und ich sehe im Küstenland Bilder, die mich in der Abneigung gegen die Industrie bestärken, von der ich mich eigenartigerweise schon als Knabe ergreifen ließ.

Onkel Johannes hat in Monfalcone die Aufgabe übernommen, eine Bevölkerung, der das Industriewesen völlig neu ist, für die Betriebe heranzubilden, und etliche hundert Italienerjungen und
-mädchen ließen sich für den »Cotonificio« gewinnen, aber nur für die Tage, an denen es regnet. Scheint die Sonne, so kann seine Dampfpfeife schrillen, wie sie will, – das noch auf keine feste Arbeitsordnung eingelebte Völklein verweigert den Eintritt in die Fabrik, schäkert und lacht am Tor, schneidet lange Nasen gegen die Spinnerei, zieht singend und johlend durchs Städtchen, schlägt unter einer Platanenallee eine Bühne auf, Musik ist rasch zur Hand, und nun fliegen die glutäugigen dunkeln Pärchen im Tanz. Vergessen ist im übermütigen Spiel die Fabrik, bis die Jugend an einem der nächsten Tage, vielleicht vom Hunger getrieben, doch wieder kleinlaut zur Arbeit zurückkehrt. Der Onkel aber vermag gegen das ungeordnete Wesen nicht aufzukommen, er wäre sonst im Städtchen des Lebens kaum sicher, und oft seufzt er auf seinem Kontor: »Wie soll ich da eine erfreuliche Produktionsstatistik nach Wien senden können?«

Mich belustigt das Bild der ungehorsamen Spinnerschaft, desto schmerzlicher bewegt mich ein anderes. Für die Fabriken des Küstenlandes besteht nämlich das österreichische Sondergesetz, daß sie auch in der Nacht arbeiten dürfen, und so läuft der »Cotonificio« unaufhörlich mit Ausnahme einer Ruhestunde um Mitternacht. Da werfen sich die Leute, meist Jugendliche, auf die Baumwollsäcke, verzehren ihr Brot, Pärchen kosen sich, die meisten Spinner und Spinnerinnen aber schlafen ein Stück. Nun gellt wieder die Fabrikpfeife, die Maschinen laufen an, die Jungen und Mädchen schrecken empor, taumeln schlaftrunken an die Stühle zurück – Schreie – da oder dort hat einer oder eine die Hände ins Getriebe gesteckt und irrt nun halb wahnsinnig mit blutenden Stumpen durch die Säle.

Die Unglücksfälle sind so häufig, daß Onkel Johannes, der starke, gewaltige Mann, immer vor dem nächtlichen Wiederbeginn der Arbeit zittert, und vor ein paar Tagen kam er laut klagend an mein Bett: »Wieder zwei ausgerissene Mädchenhände! Nun bin ich der gleichen Meinung wie die Monfalconesen: man sollte den ›Cotonificio‹ verbrennen!«

Gewiß, wehe Bilder! Ich will lieber Schullehrer sein als Fabrikdirektor. So sehr ich aber an diesen unglücklichen Begebenheiten Herzensanteil nehme, bewegt mich mein Ausflug in die Welt mit einem mir selber bis dahin unbekannten Lebensdrang und Lebensfieber. Kein Beginnen erscheint mir zu kühn. Unter den Schweizern in Triest lernte ich Herrn Georg Kläusli aus Basel kennen, einen einst freundlichen und verständigen Mann, der eine große Farm in der brasilianischen Provinz Espiritu Santu besitzt und nun für seine aus Schweizern und Deutschen bestehende Kolonie mancherlei Geschäfte in Europa besorgt. Er will für diese eine Schule gründen und ließ sich mit mir in Verhandlungen darüber ein, ob nicht ich sie übernehmen wolle. Der Plan scheiterte vorläufig an der Tatsache, daß ich kein Sänger bin; aber nur vorläufig, er will später wieder mit mir in Verbindung treten. Ein seltsamer Gedanke: Soll ich wirklich mein Glück über dem Weltmeer suchen? Meiner Frau habe ich nicht darüber zu schreiben gewagt. Ich selber fürchte, wir beide würden jenseits des Ozeans vor Heimweh sterben.

Nun ist es Mitte Sommers geworden, auf dem Land und auf dem Meer ist es furchtbar heiß, und die Sehnsucht nach Frau und Kindern reißt mich wieder heimwärts!

 

Lenz, im Herbst.

Meine Rückkehr von der Adria benutzte ich zu allerlei Abstechern. Ich besah mir das grüne Bergland der Steiermark, wanderte an einem herrlichen Tag über den Semmering, erlebte Wien und den Wiener Wald und warf auf einer Donaufahrt, die mich bis an die Theiß führte, den Blick ins sommerschwüle Ungarland. Als kerngesunder Mann kehrte ich zu den Meinen im stillen Schulhaus zurück, nicht allein, sondern mit einem Kameraden. Auf einem der Fischerboote von Monfalcone habe ich mir billig einen der dort beliebten gelben Spitzerhunde erstanden, die mit klugem Blick, den langhaarigen Schweif mutig gestellt, von den Kielen Ausschau in die blaue See halten. Es ist ein sehr gescheites und aufmerksames Tier; rasch hat es gelernt, das Deutsche ebensogut zu verstehen wie das Italienische, und ist auf dem Land der gleich zutuliche Freund, wie er es auf dem Meere war. Und in Lenz gibt es einen Fortschritt. Vor etlichen Jahren noch hatte es zu Streit und Händeln geführt, daß ein Lehrer sich einen Hund hielt; nun aber ist mein »Caro« der Liebling von jung und alt.

Ich weiß nicht genau, was die Gemeinde über meine Heimkehr denkt. Vielleicht sind einige enttäuscht, die gehofft hatten, ein neues Gesicht bringe Abwechslung in das Gleichmaß des Dorflebens, doch fühle ich mich unter meinen freudigen Schülern wie einer, der aus frischen Quellen trinken durfte, und als ein innerlich frei gewordener Mann, der wieder hofft und glaubt!

 

»Die Geschichte eines kleinen Buches!« So könnte der Titel dieses Tagebuchabschnittes lauten.

Im Herbst und Vorwinter schrieb ich an langen Abenden meine »Ferien an der Adria« zu Ende, und etwas bedenklich schaute meine Frau dem geheimnisvollen Treiben zu, das so viele Bogen Papier kostete, weil ich jedes Kapitel zwei- oder dreimal durcharbeitete. Ich wollte nun die fertiggestellte Arbeit keinem unserer kleinen örtlichen Blätter geben, die so wenig Honorar bezahlen, und nahm sie um die Weihnachtszeit, als mich Geschäfte nach St. Jakob führten, mit in die Stadt. In kühnem Aufschwung und unter Herzklopfen stieg ich in einem alten Haus in die hochgelegene Redaktionsstube der »St. Jakober Zeitung« empor. Vier Redakteure waren an ihren Pulten tätig, und einer schnurrte: »Dort sitzt Albert Steiner, das Feuilleton!« Dieser Zeitungsmann, der nicht älter ist als ich, betrachtete mich mit unendlichem Hochmut vom Scheitel bis zur Sohle. »So, Sie sind Schullehrer,« lachte er mit hellem Spott, »dazu in einem Nest, von dem niemand weiß, wo es liegt. Und haben uns ein Manuskript anzubieten! Um Gottes willen, erlassen Sie uns die Durchsicht Ihrer Blätter! Sie, die verehrten Herren Lehrer haben eine so gottsträflich langweilige Art zu schreiben, daß man Ihre Arbeiten nur in einer Zeitung bringen kann, die Selbstmord begehen will. Also, wir bitten Sie dringend, nehmen Sie Ihr Manuskript ungelesen gleich wieder mit!« Ich riß mein Paket an mich, hörte nur noch, wie sich einer der Herren an Steiner wandte: »Albert, du bist doch ein Bösewicht!«, und rannte unter dem Gelächter der Redakteure fluchtartig die Stiegen hinunter, keines Gedankens fähig als: In eine so hochmütige Stube trittst du deiner Lebtage nie wieder!

Was nun anfangen mit den unwerten Blättern? – Durch die Post ließ ich sie nach und nach an fast alle Tageszeitungen der deutschen Schweiz und an einige süddeutsche gehen. Ihr Schicksal blieb immer das nämliche: zwölf oder zwanzigmal wurde das Manuskript abgelehnt, und die Briefbotin von Lenz spottete: »Wie oft muß ich mit diesem ewigen Juden noch den Berg hinunter und hinauf steigen?« In meiner Verlegenheit besaß ich nur den einen Trost: Keine Redaktion hatte die Arbeit wirklich gelesen. Beweis: Zwischen die einzelnen Blätter hatte ich ein feines, fast unmerkliches Tröpfchen Gummi gespritzt, das sie leise zusammenhielt, und nie waren sie voneinander gelöst worden. Wenn ich doch nur einmal eine Redaktion fände, die meine Bogen lesen wollte! Ich brauchte für sie ja mehr Postmarken, als ein Lehrer von Lenz aufzubringen vermag. –

Unerwartet erfüllte sich mein Wunsch. Doktor Jakob Weber in Klosterau, Herausgeber einer bekannten Zeitung und angesehener Schweizer Buchverleger, schrieb mir einen lieben Brief:

»Mir haben Ihre Skizzen von der Adria sehr gut gefallen; ich drucke nun gern einige in unserem Blatte ab, und wenn sie in dem Maß den Beifall unserer Leserschaft finden wie den meinen, bin ich bereit, das gesamte Manuskript zu übernehmen.«

So kam's. Die des Hin- und Hertragens überdrüssige Postfrau von Lenz war entlastet, und die Schilderungen gingen ihren Weg. Nach einer Weile schrieb mir Doktor Weber: »Ihre Artikel gefallen im Leserkreis unserer Zeitung so gut, daß ich sie völlig zur Veröffentlichung bringen werde; auch beabsichtige ich, Ihre Arbeit in meinem Verlag als Buch herauszugeben. Durch die Post lasse ich Ihnen für den Abdruck in der Zeitung und als kleine Abzahlung an das Buchhonorar fünfzehnhundert Franken zugehen.«

Wann hatte man im Schulhaus von Lenz so viel Geld beisammen gesehen, mehr als eine gesamte Jahresbesoldung! Meine Frau sang wie der Vogel im Hanfsamen, und bei meinen Nächsten, insbesondere bei meinem Vater, kam die Schriftstellerei, die er bis dahin als ein unnützes und durch seinen Papier- und Markenverbrauch ziemlich kostspieliges Steckenpferd betrachtet hatte, zu einigem Ansehen.

Am stärksten erfreute mich ein Brief des Redakteurs Emil Schmied der »St. Jakober Zeitung«:

»Zufällig sind mir Ihre ›Ferien an der Adria‹ in die Hände gefallen, und beim Lesen der schönen Skizzen erinnerte ich mich lebhaft und mit Bedauern an die schlechte Behandlung, die Ihnen durch meinen Freund Albert Steiner auf unserer Redaktion zuteil geworden ist. Besuchen Sie mich einmal bei mir daheim. Wir werden über vieles zu sprechen haben, was Ihr weiteres Fortkommen betrifft. Unbedingt gehören Sie in die Stadt! Wenn es meinerseits einer Empfehlung bedarf, so gestatte ich mir die Beifügung, daß ich ein Sohn des Schweizer Volksschriftstellers Jakob Schmied bin und von meinem Elternhaus her weiß, wie ein junges schriftstellerisches Talent zu kämpfen hat.«

Ich setze ein unendliches Vertrauen in diesen herzerhebenden Brief. –

Ein Telegramm von Georg Kläusli, Espiritu Santu, Brasilien:

»Wir wünschen Sie als Lehrer unter früher besprochenen Bedingungen. Gesang von tüchtigem Deutschen übernommen. Erwarten durch Kabel Ihr Ja.«

Was nun? Meine Frau weinte über meinen Bericht heftig: »Was sollen wir und unsere Kleinen über dem Meer?« Ich aber beschloß, Redakteur Emil Schmied in St. Jakob sofort einen Besuch abzustatten, damit ich klarer erkennen könne, was ich Kläusli nun antworten solle, und meldete mich bei meinem mir noch unbekannten Freunde und Schützer an.

Ich traf ihn nicht gleich daheim. Seine liebenswürdige Frau sagte mir, er sei unerwartet in einer Sitzung festgehalten, komme aber zum Nachtbrot auf acht Uhr zurück. Um ein Quartier solle ich mich nicht sorgen, das hätten sie für mich schon bereit. Es gab sich mir ein schöner Spaziergang durch den volksbelebten Frühlingsabend der Stadt. Da, welche Überraschung! In den Schaufenstern der Buchhandlungen standen bereits meine »Ferien«, ein schmuckes Bändchen in Meergrün, auf der Titelseite in Gold etwas Strand, etwas Schilf und eine Palme. Bei den Neugierigen vor den Auslagen fand das Buch nicht mehr Beachtung als ein anderes, aber nun kam ein deutsches Hochzeitspärchen, und die junge anmutige Frau las ihrem Gatten vor: »Ferien an der Adria, von Tobias Heider.« »Ein völlig neuer Name,« sagte sie, »aber ich entdecke so gern, Männchen. Darf ich mir das Buch kaufen?« Der Gatte nickte, die beiden traten in den Laden und nach etlichen Augenblicken wieder heraus mit einem Päckchen. Mein Buch hatte eine Käuferin gefunden, und daß ich ihr in meiner Freude nicht nachlief und ihr bekannte: »Verehrte Frau, ich bin der Verfasser!«, war alles. Zur rechten Zeit kam mir aber doch der Gedanke: Du weißt ja nicht einmal, ob ihr das Werkchen gefallen wird!

Angeregt durch die kleine Begebenheit, trat ich in das Haus Schmied zurück, traf den Redakteur wirklich, und in lachender Herzensgüte sagte er: »Auch wir, Steiner und ich, haben Ihnen eine Freude zugedacht. Ich teilte ihm mit, daß ich Sie heute abend erwarte, da schrieb er noch rasch die Besprechung Ihres Buches. Hier ist sie. Sie werden damit zufrieden sein.« Die Anzeige der »Ferien« war nur eine Feuilletonspalte groß, aber ihre ruhig lobende Wärme trieb mir das Blut ins Gesicht. »Heider, der junge Schweizer, führt eine geschmackvolle Feder! Wir hoffen ihr wieder zu begegnen, besonders wenn er sich einmal auf das Gebiet des rein Menschlichen wagt.« »Nun werden Sie Steiner den unfreundlichen Empfang verziehen haben!« scherzte Schmied. »Gewiß geht er manchmal in seinem Schalk und Übermut zu weit, ist aber auch wieder der Mann, der das Herz am rechten Fleck hat. Wir werden ihn diesen Abend noch treffen. Doch jetzt, bitte, zu Tisch!«

Bei der Mahlzeit im kleinen Familienkreis regte mich Emil Schmied immer wieder an, aus meinem Leben zu erzählen, und forschte nach meinen Plänen und Zielen. Mir war, niemals sei ich jemand so leicht nahegetreten wie jetzt meinem Gastgeber, der frohe Laune und tief teilnehmenden Ernst aus den Augen leuchten ließ und in einer merkwürdigen Verbindung von weltmännischer Gewandtheit und Schweizer Bodenständigkeit eine Luft wohltätigen Vertrauens um sich verbreitete.

Ich zeigte ihm auch die Depesche aus Brasilien. Da fuhr er mit hellem Lachen auf: »Zerreißen Sie die sofort! Welcher Blödsinn: Sie auswandern! Ein schaffender Schweizer kann doch gewiß im Vaterland sein auskömmliches Stück Brot verdienen. Hier meine Hand darauf: ich übernehme für Sie die Bürgschaft. Ich begleite Sie nun gleich aufs Telegraphenamt, und Sie kabeln an Herrn Kläusli: ›Zu spät!‹« In meiner frohen Stimmung fiel mir die Antwort leicht, das Fahrenlassen eines Planes, der ans Abenteuerliche streifte, und ich hoffte auf meinen Stern im Vaterland.

Von der Post hinweg führte mich Schmied in die Oberstube eines Zunfthauses, und dort traten wir in eine belebte Gesellschaft, darunter vier weitere Redakteure seines Blattes. Als er diesen von unserer Postbesorgung erzählte, wurden sie auf mich aufmerksam. Steiner schüttelte mir herzlich die Hand: »Sie gefallen mir! Einer, der sich mit Überseeplänen trägt, ist doch kein Lehrer aus gewöhnlichem Holz. Nun ja, bleiben Sie im Lande und werden Sie gelegentlich unser Mitarbeiter!« Auf unserem gemeinsamen Heimweg spann Schmied diesen Gedanken weiter: »Die ›St. Jakober Zeitung‹ ist in einer sehr erfreulichen Entfaltung begriffen, immer bedarf sie neuer Kräfte. Anwärter für die Stellen gibt es freilich genug, aber ich werde an Sie denken. Kann ich Sie nicht auf unserer Redaktion unterbringen, so doch wohl auf einer andern. Der Fisch muß ins Wasser, und Sie an ein Blatt! Im übrigen ein rascher Plan für Sie: Quittieren Sie auf den Frühling Ihre Lehrstelle im Oberland, lassen Sie sich bei uns als freier Journalist nieder, und ich stehe Ihnen so zur Seite, daß der Versuch gelingen wird. Wir haben gar keinen so großen Überfluß an gewandten Federn, wie man von einer Stadt mit einer Hochschule erwarten sollte!«

Emil Schmied wurde nicht müde, mir allerlei Lichter der Zukunft aufzustecken, und lud mich ein, ihn wieder zu besuchen. Ich schied von ihm mit der herzlichen Überzeugung, daß ich in ihm einen treuen und für mich werktätigen Freund gefunden habe. Ja, Stadt – Stadt!

Wie nahe aber liegt bei der Freude das Leid! Als ich daheim meiner Frau beweglich von den wunderschönen Stunden mit Schmied erzählen wollte und wie mein brasilianischer Plan endgültig begraben sei, bemerkte ich an ihr eine gewisse Unaufmerksamkeit, und plötzlich stürzten ihr die Tränen hervor: »Eine furchtbare Todesnachricht! Dein Onkel Johannes ist gestorben, der Vater ist schon zur Beerdigung nach Monfalcone abgereist.« Wie war es nur möglich: der gewaltige Mann, der Mitte Dreißiger stand, diese Eiche an Kraft und Gesundheit, tot? Ich dachte zuerst an einen Unglücksfall in der Fabrik, die Anzeige sagte aber deutlich: »erlegen der Malaria«. Sie ist im Küstenland immer das Gespenst, das aus den Ufersümpfen der Adria droht; es geht dort die Rede, der Fremde, den es erfaßt, müsse erbarmungslos sterben.

Mein lieber Onkel Johannes tot! Er hatte sich so unendlich auf meine »Ferien« gefreut. Nun aber war das Buch wohl nicht mehr vor seine Augen gekommen. Dankbar gedachte ich seiner Güte und Gastfreundschaft, die mir zu einer inneren Errettung aus den Drangsalen der Seele geworden sind. Etwas anderes noch bewegte mich. Wie froh bin ich, mich von Brasilien losgesagt zu haben. Es muß doch furchtbar sein, fern der Heimat auf fremder Erde zu sterben. Dir aber, mein getreuer Johannes, sei sie leicht!


 



Was für eine Stille umgab mich früher in Lenz! Oft wußte ich monatelang nichts hier einzutragen. Jetzt aber folgen sich die Ereignisse fast sinnverwirrend rasch!

Die lange Nacht dachte ich an den erschreckend jähen Hinschied unseres Johannes. Wie der felsenstarke Mann mit dem Tode gerungen haben muß! Erst gegen Morgen glitten meine Gedanken zu mir selbst herüber: Was ist das für ein gewagter Plan Emil Schmieds! Ich sollte mich in der Stadt einfach als Journalist niederlassen! Nein. Ich kenne die mir sonst aus Knabentagen vertraute Stadt nach den Gelegenheiten ihrer Tagesschriftstellerei zu wenig, um mir das Bild eines derartigen Broterwerbes gestalten zu können, und mein Gönner hat offenbar meine journalistische Gewandtheit überschätzt. Welcher Spießrutengang wäre es für mich, die Redaktionen mit der Bitte um einen Auftrag zu besuchen! Und wie scharf würden meine Eltern den unsicheren Verdienst für eine Familie mißbilligen. Der Beruf des Lehrers gilt im Volke doch noch immer für ehrenhafter als der eines freien Journalisten.

Erst im Tagesgrauen schlief ich ein, und in der Frühe, als ich noch eine Stunde ruhen wollte, trat meine Frau zu mir ans Lager: »Lieber Mann, steh auf, im Garten draußen spazieren vier Herren, die jedenfalls mit dem ersten Zug aus der Stadt hergekommen sind und dir Schulbesuch abstatten wollen.« Richtig! Aber durch die bisherigen Erfahrungen belehrt, wandte ich mich zu allererst mit der Frage an die frühen Gäste: »Sind Sie von den Erziehungsbehörden unterrichtet, daß es in meiner Seminarvergangenheit dunkle Punkte gibt?« Dazu lachten sie: »Freilich, aber das Eis ist jetzt gebrochen! Was fragen wir nach Doktor Wetzer? Wie manche Lehrer haben wir auf seine Empfehlung in die Stadt berufen, die wir gern wieder auf der Landschaft wüßten. Hier ist Ihr Anwalt!« Und einer zog meine »Ferien« hervor. »Wir denken, wer ein so frisches und anregendes Buch zu schreiben vermag, werde auch ein frischer, anregender Lehrer sein!«

Wem verdanke ich wohl den freundlichen Besuch? Wohl kaum Emil Schmied, eher Hans Boll oder Heinrich Moos? Ich weiß es nicht. Als mich aber die Pfleger zum Mittagessen bei Friedensrichter Hack einluden, ließen sie ihre Gläser an das meine klingen: »Willkommen als der Unsere!«

So gelange ich also doch in die Stadt, und auf einem mir zusagenderen Weg als dem des freien Journalismus. Mit mir freut sich meine Frau der unerwarteten Wendung.

Welche für den Verfasser bedeutende Schicksale können doch an einem kleinen Buche hängen!

Es gibt ein Wort, das sagt, der Mensch lerne allmählich sogar seine Leiden lieben. Etwas davon erfuhr ich bei meinem Abschied von Lenz, wo es mir kaum sonderlich gut ergangen ist. Mich von der herrlichen Landschaft zu trennen, in der ich sieben Jahre die Freuden und Leiden eines Dorfschullehrers getragen habe, fiel mit schwerer, als ich gedacht hatte. Kein Baum, kein Haus – ich mußte sie noch einmal mit liebevollem Blick umspannen, auch die Menschen, wie meine Familie Bär auf den »Schlehen« oder meinen Pfarrer und Dekan, der mir unter allen den ersten Glückwunsch zu meinem Büchlein ausgerichtet hatte.

Ein entzückender Frühlingstag auf der Altane von Lenz! Da schwankte der große Wagen, der unseren Hausrat enthielt, vom Schulhaus hinweg tal- und stadtwärts, und wir folgten, ich, Frau, Kinder und der Hund von der Adria. Am Weg standen stattliche Gruppen von Jung und Alt, die Zeugen unseres Auszuges sein wollten. Die Hände schüttelten sich, Tränen flossen, besonders die der Arbeitslehrerin, und gewiß war vieles Lebewohl aufrichtig und herzlich empfunden. Der letzte, der es uns entbot, war unser alter Nachbar, der Viehhändler, der gerade von einen: Geschäftsgang des Weges kam. Mit einem Gesicht, in dem Ernst und Schalk nicht zu unterscheiden waren, sagte er: »Der Teufel soll mir die Weste zerreißen, wir haben Euch immer gern gehabt!« Nun ist eine Weste kein Gegenstand, der sich nicht mit etwas Geld ersetzen läßt, und im Oberland hat niemand je stark auf Viehhändlerschwüre gebaut. Vielleicht gab es in Lenz doch ein paar Leute, die sich auf ein neues Gesicht im Schulhaus freuten, wie ich mich auf die Stadt!

Was werde ich aus meinen dortigen Schicksalen in dieses Buch eintragen können?


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