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Dr. Hummel und ich fuhren am Morgen des 21. Oktober 1933 nach dem Bahnhof Si-tschih-men. Dort hatten sich die Mitglieder der Autoexpedition mit ihren Freunden versammelt, die ihnen Lebewohl sagen wollten. Wir sahen die Professoren Liu Fu, Hsü-Ping-Ch'ang und Paul Stevenson, Boshard, den Times-Korrespondenten McDonald und viele andere. Als der Zug nach Nordwesten abfuhr, fürchteten die meisten der Zurückgebliebenen, uns nicht wiederzusehen.
Die Stadtmauern und stattlichen Türme Pekings verschwinden, um uns liegt graues, ödes, plattes Land. Binnen kurzem bringt uns der Zug durch den Nankoupaß und die mächtigen Feldsteinmassen der Großen Mauer. In der Abenddämmerung haben wir einen kurzen Aufenthalt in Kalgan. Ilm Mitternacht machen wir uns eine Lagerstatt aus Pelzen in dem ungeheizten Wagen, der uns zur Verfügung gestellt wurde.
Eckturm der Stadtmauer in Peking. Montell
Morgens um 6 Uhr weckten mich schwedische Laute. Die Tür wurde aufgeschoben, ein junger Mann trat ein und rief viermal Hurra. Eine ältere Dame reichte mir dabei eine Taste heißen Kaffee. Der Zug war in Föng-tschönn angekommen, wo die schwedische Mission eine ihrer Stationen hat. Der blonde und blauäugige Jüngling war der Missionarssohn Karl Efraim Hill, der als Automechaniker beste Zeugnisse amerikanischer Fachleute hatte. Anderer Verpflichtungen wegen konnte er leider nicht an unserer Fahrt teilnehmen. Die Dame mit der Kaffeetaste war Frau Nyström, die ich im Jahre 1897 in Ningscha getroffen hatte.
Der Zug fährt langsam an, die guten lieben Landsleute eilen hinaus und singen auf dem Bahnsteig, neben dem Zug herlaufend, unsere Nationalhymne: »Du alter, du freier, du felsiger Norden.«
Die Zeit vergeht, im Südwesten erheben sich Kwei-hwas Mauern und Türme. Der Zug hält und wird von einer wogenden bunten und lauten Menschenmasse empfangen. Vor dem Fenster unseres Abteils steht Georg Söderbom. Hummel geht hinaus; halb flüsternd erzählt ihm Georg etwas, was ihn bestürzt ausrufen läßt:
»Was, er ist tot?«
Ich bekam einen großen Schreck. Bexell und Bökenkamp waren noch unterwegs und hatten lange nichts von sich hören lassen. Georg mußte über ihr Schicksal Nachricht bekommen haben. War ihre Karawane überfallen worden, war der eine getötet, der andere von Räubern verschleppt? Hatte sich ein furchtbares Drama in der Wüste abgespielt und unsere große Expedition in letzter Stunde noch Blut gekostet?
Ich rief Georg an mein Fenster.
»Was ist geschehen?«
»Ich habe ein schreckliches Unglück zu berichten.«
Wieder dachte ich: Bexell! Aber nein, Gott sei Dank, die Todesbotschaft hatte nichts mit der wissenschaftlichen Expedition zu tun, sondern verdunkelte den ersten Tag der neuen, der Autoexpedition. Georg wußte, daß wir am Morgen ankommen würden, am Sonntag, dem 22. Oktober. Da die Züge aber oft Verspätung haben, wollte er sich am Bahnhof nach der genauen Ankunftszeit erkundigen. Der mongolische Fahrer Dongora und der Schäferhund Pao sollten ihn begleiten. Dongora war gedrückter Stimmung; er hatte nachts geträumt, daß er und Georg in voller Fahrt auf eine eingestürzte Brücke zugefahren seien, die über einen Abgrund führte. Nun hatte er das bedrückende Vorgefühl, daß ihm ein Unglück drohe.
Georg hatte am Lenkrad Platz genommen, Dongora links von ihm und der Hund Pao auf dem Rücksitz. Sie waren eine Straße gefahren, die nach Norden zum Bahnhof führte. Wo die Straße in offenes Gelände mündet, läuft senkrecht dazu und nur zwei Meter von den letzten Häusern entfernt ein selten benutztes Eisenbahngleis. Das letzte Haus zur Rechten versperrt die Aussicht nach dieser Seite hin. Georg bemerkt daher die Lokomotive nicht, die auf dem Gleis rückwärts fährt. Auto und Lokomotive können nicht mehr rechtzeitig bremsen. Es handelt sich um den Bruchteil einer Sekunde, und gerade in diesem Bruchteil kreuzen sich die Wege der beiden Maschinen. In seiner Verzweiflung ruft Dongora: »Burkhan mini!« (mein Gott!), reißt die linke Tür auf und springt, gefolgt von Pao, hinaus.
Ein fürchterlicher Krach, ein schrecklicher Zusammenstoß! Die Kupplung des Tenders dringt der Limousine in die Seite; die Lokomotive schiebt den zerschmetterten Wagen vor sich her. Das linke Rad wird quer über die Schwellen gedrückt, die Radachsen werden wie Draht gebogen. Die Kupplung hindert das Auto, sich zu überschlagen. In diesem Augenblick hätte Georg schon totgequetscht sein müssen – wenn ihn nicht freundliche Engel geschützt hätten. Er saß zwischen Sitz, Lenkstange, Hebeln wie in einem Schraubstock eingeklemmt und konnte sich nicht rühren. Unterdessen wurde der zertrümmerte Wagen fünfundzwanzig Meter über die Schwellen geschleift, ehe die Lokomotive stand. Unter großen Schmerzen glückte es Georg, sich aus dem Wrack herauszuarbeiten. Verwundert stellte er fest, daß er gehen und stehen konnte. Er rief Dongora, erhielt jedoch keine Antwort. Dreizehn Meter von der Stelle des Zusammenpralls fand er den Unglücklichen schrecklich verstümmelt und mit eingeschlagenen Schläfen. Offenbar war Dongora unter das Auto gekommen. Der Arzt der katholischen Mission wurde sofort herbeigerufen; er hatte nur den Tod feststellen können. Die Polizei wollte den Lokomotivführer verhaften, nachdem aber Georg sich selbst für schuldig erklärt hatte, unterließ man gerichtliche Schritte.
Wir besichtigten die Unglücksstelle, wo unser tüchtiger Fahrer unter einem Bastteppich in seinem Blut lag. Dann wurde der Tote in einen Sarg gelegt und in einem Tempel aufgebahrt. Seine Angehörigen forderten, von uns nachdrücklichst unterstützt, Schadenersatz. Das Eisenbahnministerium in Nanking bewilligte uns ein neues Personenauto, einen Tudor Sedan wie den zerstörten. Das Seltsamste von allem war, daß Georg lebte. Wäre Dongora ruhig sitzengeblieben, oder hätte er die Tür nicht aufbekommen, so wäre auch er unverletzt davongekommen.
An Dongoras Stelle brauchten wir einen neuen Fahrer. Wir telegraphierten an Hill, befreiten ihn von seinen Verpflichtungen und nahmen ihn in unsern Dienst. Schon vom ersten Tag an wurde er unser aller Liebling. Wir nannten ihn weder Karl noch Efraim, sondern ganz einfach Effe.
In Kwei-hwa richteten wir unser Hauptquartier in Georgs Haus ein. Der Hof wurde in Magazin und Werkstatt verwandelt, wo rastlos gearbeitet wurde. Fünf weiße Mongolenzelte wurden dort hergestellt und mit Filz ausgelegt, ferner nähten acht chinesische Schneider Schlafsäcke aus Schaffell und lange Pelze aus weißem Schafleder. Mit einem Wort, wir wappneten uns, einem innerasiatischen Winter mit Schneestürmen und schneidender Kälte zu begegnen.
Bettler in Kwei-hwa. Hummel
Eine Benzinkarawane mußte nach dem Edsin-gol vorausgeschickt werden, da wir den benötigten Kraftstoff nicht selbst mitnehmen konnten. Wir kauften etwa 4800 Liter in zweiundvierzig handfesten Trommeln aus Eisenblech. Vierzig Kamele, die wir von dem Kaufmann Nogon Deli mieteten, sollten diese Trommeln zu unserm ersten großen Standlager am Edsin-gol bringen. Auch die Gegenstände, die wir erst am Edsin-gol brauchten, wurden den Kamelen zugewiesen. Georg brachte diese Güter mit den Kraftwagen nach der Klosterstadt Beli-miao. Dort – 160 Kilometer nordwestlich von Kwei-Hwa – warteten Nogon Delis Kamele.
Wir machten Abschiedsbesuche bei dem wohlwollenden Generalgouverneur von Suiyuan, General Fu Tso-yi, den schwedischen Missionaren und der katholischen Mission. Auch den Innenminister Hwang Shao-hsiung trafen wir nochmals. Er wollte nach Belimiao zu einer Versammlung mongolischer Fürsten, die über die Autonomie der Inneren Mongolei berieten. Überall erschütterten politische Unruhen die Länder und Völker. In Paoto lag der Räubergeneral Sun Tien-ying, der 1928 die östlichen Kaisergräber ausgeplündert hatte. Nun wollte er mit seinen wilden Horden nach dem Kuku-nor ziehen und das Land dort »kolonisieren«. Der Gouverneur der Provinz Ningscha weigerte sich aber, Suns Truppen durchmarschieren zu lassen. So drohte ein kleiner Krieg. Man hörte Gerüchte, daß die Sun-Soldaten zeitweilig ihre Plünderungszüge nordwärts bis zu der Straße ausdehnten, auf der unsere Kolonne nach Westen vordringen wollte.
In Sinkiang sollte der junge General Ma Chung-yin, das »Große Pferd« genannt, Herr in Hami und Turfan sein. Dort war ein blutiger Krieg mit Urumtschi ausgebrochen. General Fu teilte Ma unsere Ankunft telegraphisch mit, und Ma hieß uns telegraphisch willkommen. Vielleicht rechnete er sich schon damals aus, daß ihm unsere Autos gut zustatten kommen könnten!
Krieg und Aufruhr überall, Räuber in allen Nestern, ein Unglück, ein Todesfall schon am ersten Tag! Diese Expedition begann unter keinem günstigen Stern. Georg sah schwarz in die Zukunft und glaubte, daß Dongoras Tod eine Katastrophe für uns alle ankündigte. Aber niemand schwankte, und auch unsere chinesischen Kameraden, Yew, Kung und Chen, zeigten, auch in gefährlichen Lagen, vom ersten bis zum letzten Tag einen Mut und eine Entschlossenheit, die unsere Bewunderung hervorriefen.
*
War der 22. Oktober für uns ein Tag der Trauer gewesen, so wurde der 31. ein Freudentag erster Ordnung. Bergman war am Morgen mit dem neuen Personenauto aus Peking gekommen. Wir saßen im Zwielicht im Arbeitszimmer, als Chen eintrat und uns mit seiner unerschütterlichen Ruhe die Ankunft Bexells und Bökenkamps mitteilte. Georg hatte auf unsern drei Lastautos Benzin und Gepäck nach Beli-miao gebracht. Auf dem Rückweg war er auf die Langvermißten und ihre Karawanen gestoßen. Das Gepäck wurde von den Kamelen auf die leeren Autos geladen, und er fuhr mit den wiedergefundenen Söhnen der Expedition von den Bergen hinunter nach Kwei-hwa.
Wir eilten hinaus vor das Hoftor. Dort standen zwei Lastautos mit Bexells Sammlungen, dem Ergebnis vierjähriger Arbeit in unsicheren Gegenden des dunkelsten Asiens. Das dritte Auto schwenkte gerade um die Ecke. Georg saß am Steuer. Die beiden andern sprangen heraus. Sie glichen Straßenräubern und waren bärtig, staubig und zerlumpt, aber frisch, wetterhart und von der Herbstsonne der Wüste Gobi braun gebrannt.
»Gott sei Dank, daß ihr wohlbehalten zurück seid!«
Wie in einem Triumphzug wurden sie über den Hof geführt und am Kaffeetisch einem Kreuzfeuer von Fragen ausgesetzt. Ein wunderbares Zusammentreffen! Unsere frühere Expedition, die sieben Jahre dauerte, endete genau in der gleichen Stunde und in der gleichen Stadt, wo wir zu einer neuen Reise aufbrachen. Wir brauchten wegen der letzten Arbeiter im Felde keine Unruhe mehr zu haben und nicht länger über Rettungsexpeditionen zu grübeln. Die Tore zum innersten Asien standen weit auf für uns, das Spiel konnte beginnen.
Am 1. November kam auch Norin zurück. Er hatte nach Ambolt geforscht und in Zaidam sein riesiges Kartenmaterial um mehrere schöne Blätter erweitert. Nun hatte ich die alte Garde vom Frühjahr 1927 und alle Mitglieder der neuen Expedition beisammen – noch einmal ein ganzes schwedisches Hauptquartier vor dem Aufbruch zu einer endlosen Fahrt.
Auch der Mongole Serat trat jetzt wieder in unsern Dienst. Er trägt seit mehreren Jahren für seine Treue und Tüchtigkeit die schwedische Goldmedaille. Auf dem Weg aus seiner Heimat in der Inneren Mongolei zu uns war er von Räubern überfallen worden. Er hatte sich halbnackt und ausgeraubt nach Kalgan retten können.
Aber die Zeit verging wie im Flug; der Knoten, der während einiger Tage die beiden Expeditionen verbunden hatte, wurde wieder gelöst. Beim Abschiedsessen wünschte ich ihnen allen Glück, sowohl denen, die sich nach Peking und Schweden begaben, wie auch denen, die mit mir in die große Wüste gingen.
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