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Zweites Kapitel.
Wie ich anfing mein Brod zu verdienen, meine Eltern verlor und verauktionirt wurde.

Meine frühsten Erinnerungen sind mit Arbeit verknüpft. Mein Sohn, der als Arzt beim Serafimerlazareth in Stockholm angestellt ist, war 32 Jahre alt, als er anfing sein Brod zu verdienen; sein Vater war eben 8 geworden. Ich glaube, daß das erstere vielleicht ein bischen zu spät und das zweite wohl reichlich früh ist.

Es fiel jedoch niemand ein, darüber zu sorgen, daß ich schon so früh verdienen mußte; die Freude war bei uns zu Hause im Hagen unbeschreiblich, als ich meinen ersten Platz bekam, größer als in einer Rittergutsbesitzer Familie, wenn die Nachricht einläuft, daß der Herr Sohn als Officiersaspirant bei einem Garderegimente aufgenommen worden ist. Doch nichts desto weniger war der Gedanke an diesen Platz in meinem Kinderherzen auch mit der größten Angst verbunden.

Unten im Dorfe herrschte, wie dazumal an vielen Stellen, keine genaue Hufentheilung. Seinen Acker hatte natürlich jeder von Alters her für sich, doch die Außenfelder waren Gemeindegut, die Wiesen wurden gemeinsam gemäht und das Heu im Herbst zwischen den Hofbauern getheilt, und zwischen den verschiedenen Feldern gab es weder ein Stacket noch einen Scheidegraben. Im Hochsommer weideten alle Dorfkühe in dem großen Gemeindewalde, aber zu Anfang September, wenn das meiste schon eingeerntet war, wurde das Vieh in das Gehege, das die Äcker rund herum einfaßte, gelassen, und mußte dort die Stoppeln und die zwischen den Feldern liegenden Grasstreifen abweiden. Dann wurde ein Hütejunge angestellt, der aufpassen mußte, daß die Kühe sich nicht an dem noch stehenden Korne gütlich thaten oder in die Kartoffeln liefen.

Wir waren fünf Aspiranten und der bedeutendste unter uns war der vorjährige Hütejunge, Nilssons Katharinas Johannes, ein elfjähriger Schlingel, der selbst eine Peitsche mit Roßhaarschnur besaß. Aber er wollte, außer Essen und freier Disposition über die alte Pferdedecke auf dem Heuschober, wo der Hütejunge schlafen mußte, auch noch seine Stiefeln besohlt und ein ganzes Pfund Wolle zu Strümpfen haben.

Es thut mir wohl, sagen zu können, daß die haarsträubenden Ansprüche des Jungen, oder richtiger seiner Mutter, im ganzen Dorfe, sogar in den Häusler- und Tagelöhnerkreisen allgemeinen Unwillen hervorriefen; es handelte sich ja nur um eine fünfwöchentliche Arbeit!

Der zweite Aspirant war ein junger Mann, mit Namen Gustav aus Follen, ein großer, starker Bube, zwischen neun und zehn Jahre alt. Er pflegte mich in der Schule bei jeder Gelegenheit durchzuprügeln. Aber seine Mutter stand in dem Rufe, einen pikanten Sport – Diebsmelken – zu betreiben, und so ward er zurückgewiesen.

Der Nächste wurde allgemein der Thierquälerei beschuldigt, und der vierte Aspirant war ebenso klein und mager wie ich, und die Wahl fiel auf mich Glückspilz.

Ich bin später sowohl zum Stadtrath wie zum Landtagsabgeordneten gewählt worden, war Mitglied einer Deputation an den König, habe unsern neuen Pastor eingeführt und zweimal mit dem Kronprinzen gesprochen; doch nie habe ich ein solches Herzklopfen gespürt wie damals, als mich der Schulze an der Schulter packte und sagte:

»Bist Du gut gegen das Vieh?«

»Ja.«

»Und gehst nicht auf die Aecker und stiehlst Erdäpfel.«

»Nee, Gott soll mich davor bewahren!«

»Und machst keine Pryttangssioner (Pretensionen) auf Wolle und Stiefelsohlen.«

»Nein, gewiß nicht!«

»Dann kannst Du Montag um sieben Uhr kommen.«

Gott sei Dank! So brauchte Mutter denn, fünf Wochen lang, das Brod und den Hering weniger knapp einzutheilen, und die kleinen Geschwister konnten Mittags vier Kartoffeln statt der gewöhnlichen drei bekommen! Ich hätte vor Glückseligkeit schreien mögen, wenn mir die gräßliche Angst nicht die Brust zusammengeschnürt hätte, die Angst vor – dem großen, bösen Dorfstier. Seine Augen funkelten, und er wühlte mit seinen Hörnern den Boden auf, sobald er nur einen Menschen von weitem erblickte, und dieses Unthier sollte ich kleiner Knirps aus dem Hafer und den Kartoffeln treiben!

Ich hatte ein Paar neue Holzschuhe bekommen, und als ich am Montag mein Amt antreten sollte, band Mutter ein Ende Segelgarn an eine Haselruthe, damit es mir nicht an einer Hirtenpeitsche fehle. Mit klopfendem Herzen ging ich die Dorfstraße entlang, lange vor der bestimmten Zeit natürlich, und klatschte mit meiner Peitsche, um mir Muth zu machen.

Und dann wurden alle Kühe herausgelassen, jede aus ihrer Stallthür, und aus Gustav Jonssons Stall, der in diesem Jahre den Dorfstier stellte, kam der Gefürchtete.

»Du fürchtest Dich doch nicht vor Olle, mein Junge?« fragte Gustav Jonsson.

»Nee ... nee ... garnicht,« stotterte ich und dabei klapperten mir vor Angst die Zähne.

Die ersten Stunden ging alles gut. Die Thiere hatten bisher im Walde geweidet, wo das Gras knapp war, und gaben sich nun, unter so wenig Umherstreifen wie möglich, den genußreichen Schwelgen auf den fetten Grasstreifen hin. Doch gegen Mittag, als sie anfingen satt zu werden und ihre Bäuche so rundlich waren, wie der eines Dragoners am Schlusse einer Bauernhochzeit, wollten sie natürlich auch ein bischen spazieren gehen, und bald stand Olle mitten in einem Haferfelde und beschnupperte die Ähren.

Was war zu thun? Jagte ich ihn aus dem Felde, so war mein Tod so gut wie gewiß, und jagte ich ihn nicht fort, so würde ich selbst natürlich aus Amt und Brod gejagt werden. Beim Hausverhör hatte ich den Pastor sagen hören, in der Stunde der Noth sollte man beten, zu Gott beten. Ja, das wollte ich thun, aber sowohl das Vaterunser wie der apostolische Segen, die mir beide für diese Gelegenheit am geeignetsten erschienen, verwirrten sich dermaßen in meinem Kopfe, daß ich mich nicht einmal auf die Anfangsworte besinnen konnte. Ich faltete die Hände und am ganzen Leibe zitternd näherte ich mich langsam Olle und begann:

»Gott, der Du die Kinder liebst ...

ja, dann wußte ich nicht weiter.

Jetzt riß der Entsetzliche eine ganze Hafergarbe aus und schleuderte sie hoch in die Luft, daß die Halme weit umher verstreut wurden. Mir wurde es schwarz vor Augen und laut weinend rief ich:

Gott, mit reichlich Trank und Speise
Stärkst Du uns hier im Erdenleben – –

– »Fort mit Dir, willst Du gehen, Du Scheusal!«

Laß uns stets zu Deines Namens Preise
Mit Maß genießen, was Du uns gegeben!«

– – »Hoj – – ja, ja. Du! Hinaus mit Dir!«

Olle hob verwundert den Kopf und betrachtete das kleine, weinende Menschenkind. Dann brummte er mitleidig: »Mu – u – u – uh!« und ging freiwillig aus dem Hafer.

Die fünf Großbauern sollten mich jeder eine Woche beherbergen und beköstigen. Wenn die Woche zu Ende war, mußte ich mit meiner alten Pferdedecke abziehen und mich auf einen anderen Heuboden einquartieren. Den Abend schlief ich stets hungrig ein. In dem Hause, das ich verlassen sollte, sagte die »Mutter« stets:

»Geh nun, Junge! Du wirst dort wohl Abendbrot bekommen«. Und wenn ich in dem andern Hause ankam, so hieß es ebenso gewiß:

»Geh nun und leg Dich, Bub'; Abendbrot hast Du gewiß schon gegessen«.

Und ich sagte beide Male ja, obwohl ich mir die Finger vor Hunger hätte abbeißen mögen.

Im folgenden Winter habe ich mir nur selten einen Mund voll Essen verdienen können, aber im Frühling konnte ich doch schon bei allerlei Arbeit zur Hand gehen. Einige Tage in der Woche mußte ich auch zur Schule – damals waren wir in der ersten Periode unseres jetzt so berühmten Volkschulwesens – und als der Saft in die Birken trat und die Rinde sich von den feinen Reisern loslöste, saß ich draußen am Abhange und band Schaumbesen, die ich dann in den Häusern zum Verkauf anbot.

»Gieb zwei oder drei Stück her! Deine Mutter soll dafür einen Teller Suppe haben, wenn sie hier vorbeikommt,« sagten die Bauernfrauen.

Auf dem Gutshofe aber gab man mir Butterbrot und soviel Milch, daß ich mich einmal richtig satt trinken konnte, auch ein Geldstück erhielt ich, und bisweilen stand die Thür des Eßzimmers auf, so daß ich die Erzieherin Klavierspielen hörte. Es war eine feine Mamsell, schön wie der Tag und jung und freundlich. Einmal kam sie in die Küche, redete mich freundlich an, strich mir über das Haar und gab mir ein Vierschillingsstück. Ich reichte ihr sogleich vier meiner besten Schaumbesen, doch sie schüttelte wehmütig den Kopf und sagte: Vielen Dank, mein kleiner Freund, es wird noch viele Jahre dauern, ehe ich Deiner Besen bedarf!« Ich wette, daß sie einen wußte, dem sie am liebsten gleich ein Gericht Essen gekocht hätte.

Im Sommer wurde ich bald hier, bald da beschäftigt, und im Herbste war ich wieder Hütejunge. Meistens diente ich nur für Beköstigung, doch, wenn es mir richtig glückte, erhielt ich wohl ein altes Kleidungsstück oder einige Schillinge für mehrwöchentliche Arbeit. War das Letztere der Fall, so gerieth ich vor Freude beinahe außer mir, ich sang und trillerte auf dem Heimwege so, daß die Meinigen mich schon aus weiter Entfernung kommen hörten. Einmal hatte mir ein Handelsreisender, dem ich drei Tage hintereinander das Pferd gehalten und das Thor geöffnet hatte, ein Zwölfschillingsstück geschenkt. Ich kaufte dafür eine Kruke Honig, die ich meiner Mutter für ihre kranke Brust geben wollte, ich selbst wollte nichts davon haben, Mutter sollte alles allein essen.

Mein Heimweg war wohl zehn Kilometer lang, doch nur ein einzig Mal konnte mein Kindergemüth der Versuchung nicht widerstehen; ich tauchte den Zeigefinger tief in die Kruke und leckte ihn dann so langsam ab, daß es wohl eine halbe Stunde in Anspruch nahm. An dem Abend hat meine Mutter mich zum ersten und einzigsten Male im Leben geküßt; dergleichen ist sonst bei armen Leuten nicht Brauch.

Doch ihr Husten nahm zu und die Noth im Hause auch, denn Mutter konnte bald nicht viel mehr ausrichten. Und als ich an einem Winterabende kurz vor Weihnachten vom Gutshofe, wo ich die Dreschmaschine gefahren hatte, nach Hause kam, war es so ungewöhnlich ruhig und still bei uns in der Stube. Die Geschwister schlichen auf den Zehenspitzen einher und Vater saß, das Gesicht in den Händen verbergend, auf der Kiste. Auf dem Bette lag ein reines, weißes Laken, auf dem sich einige scharfe, spitze Konturen abzeichneten. Mutter war nicht da. Ich fühlte, wie mein Herz sich krampfhaft zusammenzog, ich stürzte auf Vater zu und rief:

»Herr Jesus, wo ist Mutter?«

Da richtete Vater sich auf und sagte leise:

»Mutter ist todt.«

Der Preis eines einzigen der vielen Luxusgegenstände in meinem Hause, die ich hier von meinem Schreibtische aus sehe, hätte ihr Leben um viele Jahre verlängern können. Doch was hätte es genützt? Welche Freude hatte sie vom Leben?

Ich habe nie ein Zeichen von Liebe zwischen meinen Eltern austauschen sehen. Es vergingen oft Wochen, in denen sie kaum 50 Worte wechselten. Und am Beerdigungstage waren Vaters Augen trocken, selbst da, als er mit eigener Hand den Deckel auf dem Sarge festnagelte. Und als Gustav im Backen zu ihm sagte: »Armer Jöns, nun mußt Du Dich ohne Frau behelfen,« antwortete er nur: »Trinkt einen Schnaps, Freunde; Ihr müßt ja Martha den langen Weg schleppen.« Ja, in den Augen der Welt waren meine Eltern nichts weiter als zwei an eine Deichsel gespannte Arbeitsgäule!

Und doch ist es nur zu gewiß, daß Vater sich über Mutters Fortgang zu Tode grämte. Ich glaube jedoch, daß er es sich selbst nicht klar machte. Er wurde nur immer magerer, gebeugter und elender. Früher hatte er selten etwas gesagt, jetzt öffnete er beinahe niemehr den Mund, und drei Monate nach Mutters Tode war es mit ihm zu Ende.

Mia und Jakob waren schon vor den Eltern gestorben. Von uns Überlebenden war ich, der Älteste, eben elf Jahr alt geworden, Hanna war neun, Johannes sieben und Emma drei Jahre alt.

Eine Nachbarin kam, um uns und das Haus in Ordnung zu halten, und am nächsten Tage erschien der Vorsteher der Armenordnung. Er besah uns, die Töpfe auf dem Herde, Vater, der noch im Bette lag, kratzte sich den Kopf und sagte:

»Hier muß Auktion abgehalten werden!«

»Oh, diese Sachen werden wohl nicht viel einbringen,« warf die Nachbarin ein.

»Ich meinte, natürlich, über die Kinder auch!«

Die Worte stehen mit Flammenschrift in meiner Erinnerung eingegraben, obgleich ich ihre Bedeutung damals noch nicht verstand. Doch ich sollte sie verstehen lernen!

Ich kann mich kaum darauf besinnen, wann und wie Vater in die Erde kam, aber ich weiß, daß am selben Abende, einem regnigen, unfreundlichen Aprilabende, unsere ganze Stube voller Leute war. Sie sagten nicht guten Abend und sprachen kein Wort mit uns, sondern zischelten nur untereinander. Hanna und Emma krochen erschreckt ins Bett und fingen an zu weinen, während Johannes hinauslief. Ich wußte nicht, was uns bevorstand; ich hatte keinen klaren Begriff über unsere Lage; ich wußte nur, daß Vater und Mutter fort waren und ich der Älteste, ganze elf Jahre alt war. In meinem armen, beklemmten Kinderherzen erwachte auf einmal neben der verzehrenden Angst ein wunderliches Gefühl, das Bewußtsein der Verantwortlichkeit, der Pflicht, meine kleinen Geschwister zu schützen und selbst jeder uns drohenden Gefahr entgegen zu treten. Und dieses Gefühl trieb mich vorwärts, ich trat zu den Fremden und sagte demüthig und bebend:

»Was wollt Ihr hier, gute Leute?«

Der Armenordnungsvorsteher schlug sich auf's Knie und grinste:

»Hör' einer den Herrn! Er ist natürlich der Dragoner vom Freihofe hier in der Stube! Ja, ja, der Älteste muß natürlich alt sein, und alt macht weise!«

Die andern lachten. Mein Muth war zu Ende; ich kroch zu meinen Schwestern ins Bett und weinte.

»Nehmen wir zuerst die Sachen oder die Krabben, Vorsteher?« fragte Gustav Jonsson, der mir als Stierhalter von meiner ersten Hüteperiode her bekannt war.

Der Vorsteher hustete und setzte eine wichtige Miene auf.

»Ja seht, Freunde, ich habe diese Auktion nicht von der Kanzel verkündigen lassen, sondern nur einen Boten im Dorfe umhergeschickt, denn hier ist fast gar nichts. Bietet jeder von uns auf ein Stück und jeder fünfte auf eines der Gören, so haben wir im Handumdrehen reellen Ausverkauf, wie Högbacka-Masse sagte, als er auf dem Stolpepuermarkt verbotener Weise Branntwein zum Kaffee verkaufte. Und jetzt geht's los, sagte der Schulze und gab seiner Frau am Heiligabend eins an die Ohren. Um drei Monate müßt Ihr bezahlen; das Geld kommt in die Armenkasse. Aber das sage ich Euch, stüberweise wird hier nicht geboten, das kleinste Angebot ist ein Schilling. Wir fangen jetzt mit dem Dreifuße an, das soll Glück bringen.«

So wurden denn die alten Sachen, die zusammen unser Heim gebildet hatten, Stück für Stück verauktionirt. Die schlechten Stühle, die schwarze Bratpfanne, der wackelige Tisch; so schlecht sie auch aussahen, uns waren sie lieb und werth. Als Mutters Gesangbuch, in dem sie in ihrer letzten Leidenszeit so viel gelesen hatte, für sechs Schillinge fortging, schmiegte ich mich dichter an Hanna. Meine Thränen flossen, doch ich schwieg. Wie hätte ich es auch verhindern können. Gleich darauf trat die Käuferin, Märtha aus Kroken, eine alte Frau, die selbst zu den Ärmsten in der Gemeinde gehörte, zu uns, gab Hanna das Buch und flüsterte:

»Nimm es, Dirn'! Deine Mutter bekam es, als sie zum Pastor ging, und wir standen zusammen vor dem Altar.«

»Als alles verkauft war, richteten sich alle Blicke auf uns, die wir zusammengekauert im Bett saßen.

»Der Junge ist artig und gutwillig, hat auch schon ein wenig ›schaffen‹ gelernt. Man kann ihn für dreißig Thaler (ein schwedischer Thaler = 1 Mark 13 Pfennige) jährlich nehmen. Hopsa, Kerle, jetzt bekommt Ihr Geld und braucht nicht den Beutel zu öffnen. Dreißig Thaler für den Buben! Nun auktioniren wir auf andere Weise, sagte der Kirchenvorsteher in Brohult' als er betrunken war und seinen eigenen Reiserock auf den Auktionstisch legte.«

»Für vierzig will ich ihn nehmen«, sagte eine Stimme.

»Schäm Dich, Lasse Westregård! Du mißverstehst die Bedeutung einer Auktion, wie der Advokat zu Jon i Leaba sagte, als sie ihm sein Haus verkauft hatten und er das Geld dafür haben wollte. Der Bub' ist artig und nett, giebt einen guten Kleinknecht, lügt nicht und stiehlt nicht. Für dreißig nehm' ich ihn selbst.«

Da ich nun diese ersten Worte, die öffentlich zu meinem Lobe gesprochen wurden, niederschreibe, verjagt ein Lächeln den Thränenschleier, der jetzt noch, nach 49 Jahren meine Augen bei dem Gedanken an jenen Tag trüben will. Wißt ihr weshalb? Ja, ich vergleiche sie mit den öffentlichen Lobesaussprüchen, die ich das nächste Mal einheimste. Das war bei der Stadtverordnetenwahl vor zwanzig Jahren. »Der Mann der vielseitigen Kenntnisse, der tüchtigen Kraft, des lebendigen Interesses für das allgemeine Beste«, hieß es da. – Nun, beide Male blieb die Reklame nicht ohne Wirkung. Ich wurde vor zwanzig Jahren zum Stadtverordneten gewählt, und vor neunundvierzig Jahren erstand mich Jösse vom Nordhofe für 23 Thaler und 12 Schilling Reichsmünze auf der Auktion.

Dann kam Hanna an die Reihe. Auch ihr gab der Armenordnungsvorsteher das beste Zeugniß. Wolle karden und für den Webstuhl spulen konnte sie. Sie lernte außerordentlich leicht und würde daher bald mit der gemeinen Volksschule fertig sein, diesem neumodischen Einfall, dieser Dummheit, die man dem Landvolk als Strafe für seine Sünden aufgehalst hatte.

»Steh' auf, Dirn, damit jeder sehen kann, wie grobknochig Du bist. Das Federvieh besorgen und die Ferkel abends in den Stall bringen wird sie schon diesen Sommer können. Aber sie ist noch klein, und geht deshalb nicht so gut wie der Junge. Für sie kannst Du 40 bieten, Lasse Westregård.«

»Siebenundvierzig Thaler, 36 Schilling ist mein Angebot, ertönte eine Stimme von der Thür her.

»So theure Frauenzimmer giebt es auf dem Dorfe nicht, Lars Penan'! Das mag der Preis für Theaterdirnen und Tanzmamsells sein, die Dir in Stockholm, als Du noch Zimmermann warst, so gefallen haben. Eine Tagelöhnerdirn' muß billiger sein. – Sagst Du 42, Andreas? Hol mich der Teufel, wenn wir von Armenordnungswegen einen Pfennig über 40 geben; Der verfluchte Jösse im Hagen ruinirt uns ja mit seinen vielen Gören! Wollen wir es 40 sein lassen, Andreas?«

»Ja–a–aa! Schlag zu, wenn Du's wagst, sagte die Alte zur Ziege.«

»Glück zu, Andreas! Verbrauch' sie mit Gesundheit. Nun kannst Du sie zuerst sechs Jahre als Kleinmagd haben und gehörig an ihr verdienen, wenn sie konfirmirt ist, denn aus der Dirn' wird eine »proppere« Großmagd. Ja, ja, Du hast Dich immer auf Frauenzimmer verstanden.« –

Wer unsern Bauernstand kennt, der weiß, daß hinter diesen herzlosen, verletzenden Reden, diesem vollständig gleichgültigen Verauktioniren der hülflosen Waisen durchaus keine Herzlosigkeit und gemeine Denkweise lag, wie der Gebildete, der nicht mit dem Volkleben der damaligen Zeit vertraut ist, es gewöhnlich annimmt. Eines oder das andere der so verauktionirten Kinder wurde wohl schlecht behandelt, wäre es aber auch worden, wenn die Form des »In Pension geben« weniger abstoßend gewesen wäre. Ich will damit durchaus nicht entschuldigen was unverantwortlich ist und bleibt, ich will nur, daß man sich die Sache nicht schlimmer denken soll, als sie es wirklich war. Keiner von uns Geschwistern wurde absichtlich schlecht behandelt. Wir bekamen natürlich die schlechtesten Bissen aus der Schüssel, die vertragensten, zerlumptesten Kleider und mußten, trotz unserer schwachen Kräfte hart arbeiten, doch die eigenen Kinder der Bauern hatten es darin nicht besser. –

Hanna zog sich das Kopftuch tiefer ins Gesicht, warf noch einen Blick auf das Bett und setzte sich dann auf die Thürschwelle. Ein instinktartiges Gefühl schien ihr zu sagen, daß sie nicht länger hierher gehörte.

Ich bin überzeugt, daß bisher keiner der anwesenden Väter und Mütter – die alte Martha ausgenommen – die geringste Beklemmung bei dem traurigen Akte empfunden hatte. Doch als die Nachbarin ans Bett trat, Klein-Emma in ihre Arme nahm und sie mit den Worten »So, jetzt kommst Du!« mitten auf den Fußboden stellte, wurde es auf einmal mäuschenstill in der Stube.

Sie war kaum drei Jahre alt und ein wunderhübsches Kind. Reiche goldgelbe Locken umrahmten ein Gesicht, das trotz der schlechten Nahrung rund und rosig war, und die großen blauen, strahlenden Augen blickten so fragend, verwundert und überirdisch, daß man unwillkürlich an Gottes Engel denken mußte.

Gustav Jonssons räusperte sich, spuckte in die Herdecke und sagte leise:

»Die ist aber klein!«

Und der Vorsteher legte unwillkürlich den Hammer hin und sagte in gewöhnlichem Tone:

»Sie ist die Jüngste und macht am meisten Arbeit. Sechzig Thaler ist sie unter Brüdern werth, aber kein Mensch weiß, wie es seinen eigenen Kindern noch einmal gehen kann, und deshalb biete ich 50. Will jemand sie für noch weniger nehmen, so habe ich nichts dagegen.«

Niemand wollte es.

Klein-Emma! Wohl war das Brod trocken, das Kleid dünn und das Bett hart im Hause des Vorstehers, doch Du gediehest dabei, Du wuchsest auf wie die junge, schlanke, weiße Birke im Hagen, freutest Dich Deines Lebens wie eine Lerche und glichest einem sonnigen Maitage. Als Du zum zweitenmal »verkauft« wurdest, ging es Dir schlechter, denn unter dem feinen Tuchrocke des Käufers klopfte ein schlechteres Herz als unter der groben Jacke des Vorstehers. Und wenn ich nun an Dich denke, so will ich Dich weder in Deiner frischen Jugendschönheit, die Dein Verderben war, vor mir sehen, noch mich daran erinnern, wie Du, den Tod im Herzen, zu Bruder Nils kamst. Nein, ich will Deiner gedenken, wie Du als liebliches, kleines Kind mit einem Blicke harte Herzen erweichtest; ich will Dich vor mir sehen, wie Du warst, als Du für fünfzig Thaler verauktionirt wurdest ...

Es war, als athmeten die Versammelten erleichtert auf. Der Vorsteher wechselte den Ton und sagte:

»Ja nun, liebe Freunde, ist der Ball zu Ende, sagte Jödde Bäckhult und tanzte aus der Stallthür!«

»Bist Du verrückt, Vorsteher!« schrie Jösse vom Nordhofe. »Es ist ja noch ein Bub' da!«

»Kreuz noch einmal! Wo steckt er?«

Das war ein Suchen nach Johannes! Endlich wurde der heulende und sich heftig sträubende Junge aus dem Holzstalle gezogen. Er leistete den größten Widerstand und betrug sich bei näherer Besichtigung so wenig zu seinem Vortheile, daß er der Armenordnung dadurch kostspieliger wurde und sie ihn einige Thaler höher veranschlagen mußte, als nöthig gewesen wäre, wenn er sich ebenso ruhig wie wir andern verhalten hätte. Jetzt wurde er trotz seiner sieben Jahre ebenso theuer bezahlt wie Emma. Der Gemeindedragoner Tapper Nr. 81 erstand ihn für 50 Thaler. Jetzt war die graue Hütte richtig ausverkauft.

»Nun könnt Ihr einander adjös sagen!« ermahnte der Vorsteher.

Ich trat zu meinen Geschwistern und reichte erst Hanna und darauf Johannes die Hand. Doch als ich nun auch von Klein-Emma Abschied nehmen wollte, konnte ich mich nicht länger beherrschen und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

Die Männer wandten sich ab, und es wurde wieder so eigenthümlich still in der Stube. Jeder mochte wohl fühlen, daß ein »erlösendes Wort« nöthig sei. Schließlich sagte Lars Westergård:

»Häusler dürften eigentlich nie das Recht haben, einen so verwünscht großen Haufen Gören zu hinterlassen!«

Doch diese gesunde, vom Standpunkt der Nationalökonomie aus durchaus richtige Ansicht fand vor Kroken-Märthas Augen keine Gnade. Die Alte – sie war es, die Hanna Mutters Gesangbuch geschenkt hatte – war schon im Begriffe nach Hause zu gehen, wandte sich aber in der Thür noch einmal um und sagte:

»Du solltest Dich schämen, Lars Westergård. Das weiß unser Herrgott besser.« –

Jösse vom Nordhofe hatte, außer mir, auch noch unsern Topfhaken, unsern Hammer und unsern Wassereimer gekauft. Den Hammer steckte er in die Rocktasche, und den Topfhaken legte er in den Wassereimer. Den letzteren gab er mir zu tragen.

»Komm nun, Junge!«

Als wir den Hügel hinuntergegangen waren, wandte ich mich noch einmal um. Der Platz vor der Hütte war beinahe leer, die meisten waren schon gegangen, und der Vorsteher war gerade beschäftigt, ein Hängeschloß an der Thür anzubringen.

Wie alt und grau, wie niedrig und klein, wie häßlich und verfallen die Hütte aussah!

Doch sie hatte, so klein sie auch war, einst sechs Herzen beherbergt, die einander liebten, wenn auch nie ein Wort davon über ihre Lippen kam, sie hatte viel Leiden und Sorge umschlossen, und eine kleine Welt enthalten, die trotz aller Armuth und Geringheit doch ihren charakteristischen Stempel trug.

Hatten ihre vier Wände wohl auch einmal Freude und Hoffnung gesehen?

Vielleicht. Sogar der Tagelöhner denkt sich, wenn er mit seiner jungen Frau unter das niedrige Dach des eigenen Heims tritt, wohl kaum, daß er und seine Frau sich zu Tode arbeiten werden, und die Armenordnung seine Kinder öffentlich versteigern wird.

Als Jösse vom Nordhofe nach Hause kam, hielt er folgende Rede:

»Hier ist ein Hammer für den, welchen die Dirn' auf dem Kartoffelacker weggebracht hat, und ein Topfhaken, der noch ganz gut zu gebrauchen ist. Hier ist auch ein Eimer, der zum Schweineeimer paßt. Und dann habe ich noch diesen Jungen gekauft. Ihr könnt ihn in der Küche hinter der Abfalltonne schlafen lassen.« –

Meine Genossen im Hygieneverein, dessen Vice-Präsident ich bin, werden sich nun wohl erklären können, weshalb ich stets in der Sommerzeit so auf das Reinigen und Desinficiren der Abfalltonnen dringe.


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