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Fünfter Akt

Das Zimmer wie im ersten Akt. Zeit: gegen zwei Uhr nachts. Im Zimmer herrscht Dunkelheit. Durch die offene Mitteltür dringt Licht aus dem erleuchteten Hausflur. Deutlich beleuchtet ist auch noch die Holztreppe in dem ersten Stock. Alles in diesem Akt – bis auf wenige Ausnahmen – wird in einem gedämpften Tone gesprochen.

Eduard, mit Licht, tritt durch die Mitteltür ein. Er entzündet die Hängelampe über dem Eßtisch (Gasbeleuchtung). Als er damit beschäftigt ist, kommt Loth ebenfalls durch die Mitteltür.

Eduard. Ja ja! – bei die Zucht ... 't muß reen unmenschenmeeglich sint, een Ooge zuzutun.

Loth. Ich wollte nicht mal schlafen. Ich habe geschrieben.

Eduard. Ach wat! Er steckt an. So! – na jewiß! – et mag ja woll schwer jenug sin ... Wünschen der Herr Doktor vielleicht Dinte und Feder?

Loth. Am Ende ... wenn Sie so freundlich sein wollen, Herr Eduard.

Eduard, indem er Tinte und Feder auf den Tisch setzt. Ick meen' all immer: was 'n ehrlicher Mann is, der muß Haut und Knochen dransetzen um jeden lumpichten Jroschen. Nich mal det bißken Nachtruhe hat man. – Immer vertraulicher. Aber die Nation hier, die duht reen jar nischt! so'n faules, nichtsnutziges Pack, so'n ... Der Herr Doktor müssen jewiß ooch all dichtig int Zeuch jehn um det bißken Lebens unterhalt wie alle ehrlichen Leute.

Loth. Wünschte, ich brauchte es nicht!

Eduard. Na, wat meen Se woll! ick ooch!

Loth. Fräulein Helene ist wohl bei ihrer Schwester?

Eduard. Allet wat wahr is: d' is'n jutes Mächen! jeht ihr nich von der Seite.

Loth sieht auf die Uhr. Um elf Uhr früh begannen die Wehen. Sie dauern also ... fünfzehn Stunden dauern sie jetzt bereits. – Fünfzehn lange Stunden –!

Eduard. Weeß Jott! – und det beniemen se nu't schwache Jeschlecht – sie jappt aber ooch man nur noch so.

Loth. Herr Hoffmann ist auch oben!?

Eduard. Und ick sag' Ihnen, 't reene Weib.

Loth. Das mit anzusehen ist wohl auch keine Kleinigkeit.

Eduard. I! nu! det will ick meenen! Na! eben is Dr. Schimmelpfennig zujekommen. Det is'n Mann, sag' ick Ihnen: jrob wie 'ne Sackstrippe, aber – Zucker is'n dummer Junge dajejen. Sagen Sie man bloß, wat is aus det olle Berlin ... Er unterbricht sich mit einem Jott Strambach!, da Hoffmann und der Doktor die Treppe herunterkommen. Hoffmann und Dr. Schimmelpfennig treten ein.

Hoffmann. Jetzt – bleiben Sie doch wohl bei uns.

Dr. Schimmelpfennig Ja! jetzt werde ich hierbleiben.

Hoffmann. Das ist mir eine große, große Beruhigung. – Ein Glas Wein ...? Sie trinken doch ein Glas Wein, Herr Doktor!?

Dr. Schimmelpfennig Wenn Sie etwas tun wollen, dann lassen Sie mir schon lieber eine Tasse Kaffee brauen.

Hoffmann. Mit Vergnügen. – Eduard! Kaffee für Herrn Doktor! Eduard ab. Sie sind ...? Sind Sie zufrieden mit dem Verlauf?

Dr. Schimmelpfennig Solange Ihre Frau Kraft behält, ist jedenfalls direkte Gefahr nicht vorhanden. Warum haben Sie übrigens die junge Hebamme nicht zugezogen? Ich hatte Ihnen doch eine empfohlen, soviel ich weiß.

Hoffmann. Meine Schwiegermama ... was soll man machen? Wenn ich ehrlich sein soll: auch meine Frau hatte kein Vertrauen zu der jungen Person.

Dr. Schimmelpfennig Und zu diesem fossilen Gespenst haben Ihre Damen Vertrauen!? Wohl bekomm's! – Sie möchten gern wieder hinauf?

Hoffmann. Ehrlich gesagt: ich habe nicht viel Ruhe hier unten.

Dr. Schimmelpfennig Besser wär's freilich, Sie gingen irgendwohin, aus dem Hause.

Hoffmann. Beim besten Willen, das ... ach, Loth! da bist du ja auch noch. Loth erhebt sich von dem Sofa im dunklen Vordergrunde und geht auf die beiden zu.

Dr. Schimmelpfennig, aufs äußerste überrascht. Donnerwetter!

Loth. Ich hörte schon, daß du hier seist. Morgen hätte ich dich unbedingt aufgesucht. Beide schütteln sich tüchtig die Hände. Hoffmann benutzt den Augenblick, am Büfett schnell ein Glas Kognak hinunterzuspülen, darauf dann sich auf den Zehen hinaus - und die Holztreppe hinaufzuschleichen.

Das Gespräch der beiden Freunde steht am Anfang unverkennbar unter dem Einfluß einer gewissen leisen Zurückhaltung.

Dr. Schimmelpfennig Du hast also wohl ... hahaha ... die alte dumme Geschichte vergessen? Er legt Hut und Stock beiseite.

Loth. Längst vergessen, Schimmel!

Dr. Schimmelpfennig Na, ich auch! das kannst du dir denken. – Sie schütteln sich nochmals die Hände. Ich habe in dem Nest hier so wenig freudige Überraschungen gehabt, daß mir die Sache ganz kurios vorkommt. Merkwürdig! Gerade hier treffen wir uns. – Merkwürdig!

Loth. Rein verschollen bist du ja, Schimmel! Hätte dich sonst längst mal umgestoßen.

Dr. Schimmelpfennig. Unter Wasser gegangen wie ein Seehund. Tiefseeforschungen gemacht. In anderthalb Jahren etwa hoffe ich wieder aufzutauchen. Man muß materiell unabhängig sein, wissen Sie ... weißt du, wenn man etwas Brauchbares leisten will.

Loth. Also du machst auch Geld hier?

Dr. Schimmelpfennig. Natürlicherweise, und zwar so viel als möglich. Was sollte man hier auch anderes tun?

Loth. Du hätt'st doch mal was von dir hören lassen sollen.

Dr. Schimmelpfennig. Erlauben Sie ... erlaube, hätte ich von mir was hören lassen, dann hätte ich von euch was wieder gehört, und ich wollte durchaus nichts hören. Nichts – gar nichts, das hätte mich höchstens von meiner Goldwäscherei abhalten können.

Beide gehen langsamen Schritts auf und ab im Zimmer.

Loth. Na ja – du kannst dich dann aber auch nicht wundern, daß sie ... nämlich ich muß dir sagen, sie haben dich eigentlich alle durch die Bank aufgegeben.

Dr. Schimmelpfennig. Sieht ihnen ähnlich. – Bande! – sollen schon was merken.

Loth. Schimmel, genannt: das Rauhbein!

Dr. Schimmelpfennig. Du solltest nur sechs Jahre unter diesen Bauern gelebt haben. Himmelhunde alle miteinander.

Loth. Das kann ich mir denken. – Wie bist du denn gerade nach Witzdorf gekommen?

Dr. Schimmelpfennig. Wie's so geht. Damals mußte ich doch auskneifen, von Jena weg.

Loth. War das vor meinem Reinfall?

Dr. Schimmelpfennig. Jawohl. Kurze Zeit, nachdem wir unser Zusammenleben aufgesteckt hatten. In Zürich legte ich mich dann auf die Medizinerei, zunächst, um etwas für den Notfall zu haben; dann fing aber die Sache an, mich zu interessieren, und jetzt bin ich mit Leib und Seele Medikus.

Loth. Und hierher ...? Wie kamst du hierher?

Dr. Schimmelpfennig. Ach so! – einfach! Als ich fertig war, da sagte ich mir: nun vor allen Dingen einen hinreichenden Haufen Kies. Ich dachte an Amerika, Süd- und Nord-Amerika, an Afrika, Australien, die Sundainseln ... am Ende fiel mir ein, daß mein Knabenstreich ja mittlerweile verjährt war; da habe ich mich denn entschlossen, in die Mausefalle zurückzukriechen.

Loth. Und dein Schweizer Examen?

Dr. Schimmelpfennig. Ich mußte eben die Geschichte hier noch mal über mich ergehen lassen.

Loth. Du hast also das Staatsexamen zweimal gemacht, Kerl!?

Dr. Schimmelpfennig. Ja! – Schließlich habe ich dann glücklicherweise diese fette Weide hier ausfindig gemacht.

Loth. Du bist zähe, zum Beneiden.

Dr. Schimmelpfennig. Wenn man nur nicht plötzlich mal zusammenklappt. – Na! schließlich ist's auch kein Unglück.

Loth. Hast du denn 'ne große Praxis?

Dr. Schimmelpfennig. Ja! Mitunter komme ich erst um fünf Uhr früh zu Bett, um sieben Uhr fängt dann bereits wieder meine Sprechstunde an.

Eduard kommt und bringt Kaffee.

Dr. Schimmelpfennig, indem er sich am Tisch niederläßt, zu Eduard. Danke, Eduard! – Zu Loth. Kaffee saufe ich ... unheimlich.

Loth. Du solltest das lieber lassen mit dem Kaffee.

Dr. Schimmelpfennig. Was soll man machen?! Er nimmt kleine Schlucke. Wie gesagt – ein Jahr noch, dann – hört's auf ... hoffentlich wenigstens.

Loth. Willst du dann gar nicht mehr praktizieren?

Dr. Schimmelpfennig. Glaube nicht. Nein ... nicht mehr. Er schiebt das Tablett mit dem Kaffeegeschirr zurück, wischt sich den Mund. Übrigens – zeig mal deine Hand. Loth hält ihm beide Hände hin. Nein? – keine Dalekarlierin heimgeführt? – keine gefunden, wie? ... Wolltest doch immer so'n Ur- und Kernweib von wegen des gesunden Blutes. Hast übrigens recht: wenn schon, denn schon ... oder nimmst du's in dieser Beziehung etwa nicht mehr so genau?

Loth. Na ob ...! und wie!

Dr. Schimmelpfennig. Ach, wenn die Bauern hier doch auch solche Ideen hätten. Damit sieht's aber jämmerlich aus, sage ich dir, Degeneration auf der ganzen ... Er hat seine Zigarrentasche halb aus der Brusttasche gezogen, läßt sie aber wieder zurückgleiten und steht auf, als irgendein Laut durch die nur angelehnte Hausflurtür hereindringt. Wart mal! Er geht auf den Zehen bis zur Hausflurtür und horcht. Eine Tür geht draußen, man hört einige Augenblicke deutlich das Wimmern der Wöchnerin. Der Doktor sagt, zu Loth gewandt, leise Entschuldige! und geht hinaus.

Einige Augenblicke durchmißt Loth, während draußen Türen schlagen, Menschen die Treppe auf und ab laufen, das Zimmer; dann setzt er sich in den Lehnsessel rechts vorn. Helene huscht herein und umschlingt Loth, der ihr Kommen nicht bemerkt hat, von rückwärts.

Loth, sich umblickend, sie ebenfalls umfassend. Lenchen!! Er zieht sie zu sich herunter und trotz gelinden Sträubens auf sein Knie. Helene weint unter den Küssen, die er ihr gibt. Ach weine doch nicht, Lenchen! Warum weinst du denn so sehr?

Helene. Warum? weiß ich's?! ... Ich denk' immer, ich – treff' dich nicht mehr. Vorhin habe ich mich so erschrocken ...

Loth. Weshalb denn?

Helene. Weil ich dich aus deinem Zimmer treten hörte – ach! ... und die Schwester – wir armen, armen Weiber! –, die muß zu sehr ausstehen.

Loth. Der Schmerz vergißt sich schnell, und auf den Tod geht's ja nicht.

Helene. Ach, du! sie wünscht sich ihn ja ... sie jammert nur immer so: laßt mich doch sterben ... Der Doktor! Sie springt auf und huscht in den Wintergarten.

Dr. Schimmelpfennig, im Hereintreten. Nun wünschte ich wirklich, daß sich das Frauchen da oben 'n bissel beeilte! Er läßt sich am Tisch nieder, zieht neuerdings die Zigarrentasche, entnimmt ihr eine Zigarre und legt diese neben sich. Du kommst mit zu mir dann, wie? – hab' draußen so'n notwendiges Übel mit zwei Gäulen davor, da können wir drin zu mir fahren. Seine Zigarre an der Tischkante klopfend. Der süße Ehestand! ja, ja! Ein Zündholz anstreichend. Also noch frisch, frei, fromm, froh?

Loth. Hättest noch gut ein paar Tage warten können mit deiner Frage.

Dr. Schimmelpfennig, bereits mit brennender Zigarre. Wie? ... ach ... ach so! – lachend – also endlich doch auf meine Sprünge gekommen.

Loth. Bist du wirklich noch so entsetzlich pessimistisch in bezug auf Weiber?

Dr. Schimmelpfennig. Ent-setzlich!! Dem Rauch seiner Zigarre nachblickend. Früher war ich Pessimist – sozusagen ahnungsweise ...

Loth. Hast du denn inzwischen so besondere Erfahrungen gemacht?

Dr. Schimmelpfennig. Ja, allerdings! – auf meinem Schilde steht nämlich: Spezialist für Frauenkrankheiten. – Die medizinische Praxis macht nämlich furchtbar klug ... furchtbar – gesund ... ist Spezifikum gegen ... allerlei Staupen!

Loth lacht. Na, da könnten wir ja gleich wieder in der alten Tonart anfangen. Ich hab' nämlich ... ich bin nämlich keineswegs auf deine Sprünge gekommen. Jetzt weniger als je! ... Auf diese Weise hast du wohl auch dein Steckenpferd vertauscht?

Dr. Schimmelpfennig. Steckenpferd?

Loth. Die Frauenfrage war doch zu damaliger Zeit gewissermaßen dein Steckenpferd!

Dr. Schimmelpfennig. Ach so! – Warum sollte ich es vertauscht haben?

Loth. Wenn du über die Weiber noch schlechter denkst als ...

Dr. Schimmelpfennig, ein wenig in Harnisch, erhebt sich und geht hin und her, dabei spricht er. Ich – denke nicht schlecht von den Weibern. – Kein Bein! – Nur über das Heiraten denke ich schlecht ... über die Ehe ... über die Ehe, und dann höchstens noch über die Männer denke ich schlecht ... Die Frauenfrage soll mich nicht mehr interessieren? Ja, weshalb hätte ich denn sonst sechs lange Jahre hier wie'n Lastpferd gearbeitet? Doch nur, um alle meine verfügbaren Kräfte endlich mal ganz der Lösung dieser Frage zu widmen. Wußtest du denn das nicht von Anfang an?

Loth. Wo hätte ich's denn her wissen sollen?!

Dr. Schimmelpfennig. Na, wie gesagt ... ich hab' auch schon ein ziemlich ausgiebiges Material gesammelt, das mir gute Dienste leisten ... bsst! ich hab' mir das Schreien so angewöhnt. Er schweigt, horcht, geht zur Tür und kommt zurück. Was hat dich denn eigentlich unter die Goldbauern geführt?

Loth. Ich möchte die hiesigen Verhältnisse studieren.

Dr. Schimmelpfennig, mit gedämpfter Stimme. Idee! Noch leiser. Da kannst du bei mir auch Material bekommen.

Loth. Freilich, du mußt ja sehr unterrichtet sein über die Zustände hier. Wie sieht es denn so in den Familien aus?

Dr. Schimmelpfennig. E-lend! ... durchgängig ... Suff! Völlerei, Inzucht, und infolge davon – Degenerationen auf der ganzen Linie.

Loth. Mit Ausnahmen doch!?

Dr. Schimmelpfennig. Kaum!

Loth, unruhig. Bist du denn nicht zuweilen in ... in Versuchung geraten, eine ... eine Witzdorfer Goldtochter zu heiraten?

Dr. Schimmelpfennig. Pfui Teufel! Kerl, für was hältst du mich? – Ebenso könntest du mich fragen, ob ich ...

Loth, sehr bleich. Wie ... wieso?

Dr. Schimmelpfennig. Weil ... ist dir was? Er fixiert ihn einige Augenblicke.

Loth. Gar nichts! Was soll mir denn sein?

Dr. Schimmelpfennig ist plötzlich sehr nachdenklich, geht und steht jäh und mit einem leisen Pfiff still, blickt Loth abermals flüchtig an und sagt dann halblaut zu sich selbst. Schlimm!

Loth. Du bist ja so sonderbar plötzlich.

Dr. Schimmelpfennig. Still! Er horcht auf und verläßt dann schnell das Zimmer durch die Mitteltür.

Helene, nach einigen Augenblicken durch die Mitteltür; sie ruft. Alfred! – Alfred! ... Ach da bist du – Gott sei Dank!

Loth. Nun, ich sollte wohl am Ende gar fortgelaufen sein?

Umarmung.

Helene biegt sich zurück. Mit unverkennbarem Schrecken im Ausdruck. Alfred!

Loth. Was denn, Liebste?

Helene. Nichts, nichts!

Loth. Aber du mußt doch was haben?

Helene. Du kamst mir so ... so kalt ... Ach, ich hab' solche schrecklich dumme Einbildungen.

Loth. Wie steht's denn oben?

Helene. Der Doktor zankt mit der Hebamme.

Loth. Wird's nicht bald zu Ende gehen?

Helene. Weiß ich's? – Aber wenn's ... wenn's zu Ende ist, meine ich, dann ...

Loth. Was dann? ... Sag doch, bitte! was wolltest du sagen?

Helene. Dann sollten wir bald von hier fortgehen. Gleich! auf der Stelle!

Loth. Wenn du das wirklich für das beste hältst, Lenchen –

Helene. Ja, ja! wir dürfen nicht warten! Es ist das Beste – für dich und mich. Wenn du mich nicht jetzt bald nimmst, dann läßt du mich heilig noch sitzen, und dann ... dann ... muß ich doch noch zugrunde gehen.

Loth. Wie du doch mißtrauisch bist, Lenchen!

Helene. Sag das nicht, Liebster! Dir traut man, dir muß man trauen! ... Wenn ich erst dein bin, dann ... du verläßt mich dann ganz gewiß nicht mehr. Wie außer sich. Ich beschwöre dich! geh nicht fort! Verlaß mich doch nur nicht. Geh – nicht fort, Alfred! Alles ist aus, alles, wenn du einmal ohne mich von hier fortgehst.

Loth. Merkwürdig bist du doch! ... Und da willst du nicht mißtrauisch sein? ... Oder sie plagen dich, martern dich hier ganz entsetzlich, mehr als ich mir je ... Jedenfalls gehen wir aber noch diese Nacht. Ich bin bereit. Sobald du willst, gehen wir also.

Helene, gleichsam mit aufjauchzendem Dank ihm um den Hals fallend. Geliebter! Sie küßt ihn wie rasend und eilt schnell davon.

Dr. Schimmelpfennig tritt durch die Mitte ein; er bemerkt noch, wie Helene in der Wintergartentür verschwindet.

Dr. Schimmelpfennig Wer war das? – Ach so! In sich hinein. Armes Ding! Er läßt sich mit einem Seufzer am Tisch nieder, findet die alte Zigarre, wirft sie beiseite, entnimmt dem Etui eine frische Zigarre und fängt an, sie an der Tischkante zu klopfen, wobei er nachdenklich darüber hinausstarrt.

Loth, der ihm zuschaut. Genauso pflegtest du vor acht Jahren jede Zigarre abzuklopfen, eh du zu rauchen anfingst.

Dr. Schimmelpfennig. Möglich –! Als er mit Anrauchen fertig ist. Hör mal, du!

Loth. Ja, was denn?

Dr. Schimmelpfennig. Du wirst doch – sobald die Geschichte oben vorüber ist, mit zu mir kommen?

Loth. Das geht wirklich nicht! Leider.

Dr. Schimmelpfennig. Man hat so das Bedürfnis, sich mal wieder gründlich von der Leber weg zu äußern.

Loth. Das hab' ich genauso wie du. Aber gerade daraus kannst du sehen, daß es absolut heut nicht in meiner Macht steht, mit dir ...

Dr. Schimmelpfennig. Wenn ich dir nun aber ausdrücklich und – gewissermaßen feierlich erkläre: es ist eine bestimmte, äußerst wichtige Angelegenheit, die ich mit dir noch diese Nacht besprechen möchte ... besprechen muß sogar, Loth!

Loth. Kurios! Für blutigen Ernst soll ich doch das nicht etwa hinnehmen?! doch wohl nicht? – So viel Jahre hätt'st du damit gewartet, und nun hätte es nicht einen Tag mehr Zeit damit? – Du kannst dir doch wohl denken, daß ich dir keine Flausen vormache.

Dr. Schimmelpfennig. Also hat's doch seine Richtigkeit! Er steht auf und geht umher.

Loth. Was hat seine Richtigkeit?

Dr. Schimmelpfennig, vor Loth stillstehend, mit einem geraden Blick in seine Augen. Es ist also wirklich etwas im Gange zwischen dir und Helene Krause?

Loth. Ich? – Wer hat dir denn ...?

Dr. Schimmelpfennig. Wie bist du nur in diese Familie ...?

Loth. Woher – weißt du denn das, Mensch?

Dr. Schimmelpfennig. Das war ja doch nicht schwer zu erraten.

Loth. Na, dann halt um Gottes willen den Mund, daß nicht ...

Dr. Schimmelpfennig. Ihr seid also richtig verlobt?!

Loth. Wie man's nimmt. Jedenfalls sind wir beiden einig.

Dr. Schimmelpfennig. Hm –! wie bist du denn hier hereingeraten, gerade in diese Familie?

Loth. Hoffmann ist ja doch mein Schulfreund. Er war auch Mitglied – auswärtiges allerdings –, Mitglied meines Kolonialvereins.

Dr. Schimmelpfennig. Von der Sache hörte ich in Zürich. – Also mit dir ist er umgegangen! Auf diese Weise wird mir der traurige Zwitter erklärlich.

Loth. Ein Zwitter ist er allerdings.

Dr. Schimmelpfennig. Eigentlich nicht mal das. – Ehrlich, du! – Ist das wirklich dein Ernst? – die Geschichte mit der Krause?

Loth. Na, selbstverständlich! – Zweifelst du daran? Du wirst mich doch nicht etwa für einen Schuft ...

Dr. Schimmelpfennig. Schon gut! Ereifere dich nur nicht. Hätt'st dich ja verändert haben können während der langen Zeit. Warum nicht? Wär' auch gar kein Nachteil! 'n bissel Humor könnte dir gar nicht schaden! Ich seh' nicht ein, warum man alles so verflucht ernsthaft nehmen sollte.

Loth. Ernst ist es mir mehr als je. Er erhebt sich und geht, immer ein wenig zurück, neben Schimmelpfennig her. Du kannst es ja nicht wissen, auch sagen kann ich's dir nicht mal, was dieses Verhältnis für mich bedeutet.

Dr. Schimmelpfennig. Hm!

Loth. Kerl, du hast keine Idee, was das für ein Zustand ist. Man kennt ihn nicht, wenn man sich danach sehnt. Kennte man ihn, dann, dann müßte man geradezu unsinnig werden vor Sehnsucht.

Dr. Schimmelpfennig. Das begreife der Teufel, wie ihr zu dieser unsinnigen Sehnsucht kommt.

Loth. Du bist auch noch nicht sicher davor.

Dr. Schimmelpfennig. Das möcht' ich mal sehen!

Loth. Du redst wie der Blinde von der Farbe.

Dr. Schimmelpfennig. Was ich mir für das bißchen Rausch koofe! Lächerlich. Darauf eine lebenslängliche Ehe zu bauen ... da baut man noch nicht mal so sicher als auf 'n Sandhaufen.

Loth. Rausch – Rausch – wer von einem Rausch redet – na! der kennt die Sache eben nicht, 'n Rausch ist flüchtig. Solche Räusche hab' ich schon gehabt, ich geb's zu. Aber das ist was ganz anderes.

Dr. Schimmelpfennig. Hm!

Loth. Ich bin dabei vollständig nüchtern. Denkst du, daß ich meine Liebste so – na, wie soll ich sagen – so mit 'ner – na, wie soll ich sagen, mit 'ner großen Glorie sehe? Gar nicht! – Sie hat Fehler, ist auch nicht besonders schön, wenigstens – na, häßlich ist sie auch gerade nicht. Ganz objektiv geurteilt, ich – das ist ja schließlich Geschmackssache – ich hab' so'n hübsches Mädel noch nicht gesehen. Also, Rausch – Unsinn! Ich bin ja so nüchtern wie nur möglich. Aber, siehst du! das ist eben das Merkwürdige: ich kann mich gar nicht mehr ohne sie denken – das kommt mir so vor wie 'ne Legierung, weißt du, wie wenn zwei Metalle so recht innig legiert sind, daß man gar nicht mehr sagen kann, das ist das, das ist das. Und alles so furchtbar selbstverständlich – kurzum, ich quatsche vielleicht Unsinn – oder was ich sage, ist vielleicht in deinen Augen Unsinn, aber soviel steht fest: wer das nicht kennt, ist'n erbärmlicher Frosch. Und so'n Frosch war ich bisher – und so'n Jammerfrosch bist du noch.

Dr. Schimmelpfennig. Da ist ja richtig der ganze Symptomen-Komplex. – Daß ihr Kerls doch immer bis über die Ohren in Dinge hineingeratet, die ihr theoretisch längst verworfen habt, wie zum Beispiel du die Ehe. Solange ich dich kenne, laborierst du an dieser unglücklichen Ehemanie.

Loth. Es ist Trieb bei mir, geradezu Trieb. Weiß Gott! mag ich mich wenden, wie ich will.

Dr. Schimmelpfennig. Man kann schließlich auch einen Trieb niederkämpfen.

Loth. Ja, wenn's 'n Zweck hat, warum nicht?

Dr. Schimmelpfennig. Hat's Heiraten etwa Zweck?

Loth. Das will ich meinen. Das hat Zweck! Bei mir hat es Zweck. Du weißt nicht, wie ich mich durchgefressen hab' bis hierher. Ich mag nicht sentimental werden. Ich hab's auch vielleicht nicht so gefühlt, es ist mir vielleicht nicht ganz so klar bewußt geworden wie jetzt, daß ich in meinem Streben etwas entsetzlich ödes, gleichsam Maschinenmäßiges angenommen hatte. Kein Geist, kein Temperament, kein Leben, ja wer weiß, war noch Glauben in mir? Das alles kommt seit ... seit heut wieder in mich gezogen. So merkwürdig voll, so ursprünglich, so fröhlich ... Unsinn, du kapierst's ja doch nicht.

Dr. Schimmelpfennig. Was ihr da alles nötig habt, um flott zu bleiben, Glaube, Liebe, Hoffnung. Für mich ist das Kram. Es ist eine ganz simple Sache: die Menschheit liegt in der Agonie, und unsereiner macht ihr mit Narkoticis die Sache so erträglich als möglich.

Loth. Dein neuester Standpunkt?

Dr. Schimmelpfennig. Schon fünf bis sechs Jahre alt und immer derselbe.

Loth. Gratuliere!

Dr. Schimmelpfennig Danke!

Eine lange Pause.

Dr. Schimmelpfennig, nach einigen unruhigen Anläufen. Die Geschichte ist leider die: ich halte mich für verpflichtet ... ich schulde dir unbedingt eine Aufklärung. Du wirst Helene Krause, glaub' ich, nicht heiraten können.

Loth, kalt. So, glaubst du?

Dr. Schimmelpfennig Ja, ich bin der Meinung. Es sind da Hindernisse vorhanden, die gerade dir ...

Loth. Hör mal, du: mach dir darüber um Gottes willen keine Skrupel. Die Verhältnisse liegen auch gar nicht mal so kompliziert, sind im Grunde sogar furchtbar einfach.

Dr. Schimmelpfennig. Einfach furchtbar, solltest du eher sagen.

Loth. Ich meine, was die Hindernisse anbetrifft.

Dr. Schimmelpfennig. Ich auch zum Teil. Aber auch überhaupt: ich kann mir nicht denken, daß du diese Verhältnisse hier kennen solltest.

Loth. Ich kenne sie aber doch ziemlich genau.

Dr. Schimmelpfennig. Dann mußt du notwendigerweise deine Grundsätze geändert haben.

Loth. Bitte, Schimmel, drück dich etwas deutlicher aus.

Dr. Schimmelpfennig. Du mußt unbedingt deine Hauptforderung in bezug auf die Ehe fallengelassen haben, obgleich du vorhin durchblicken ließt, es käme dir nach wie vor darauf an, ein an Leib und Seele gesundes Geschlecht in die Welt zu setzen.

Loth. Fallengelassen? ... fallengelassen? Wie soll ich denn das ...

Dr. Schimmelpfennig. Dann bleibt nichts übrig ... dann kennst du eben doch die Verhältnisse nicht. Dann weißt du zum Beispiel nicht, daß Hoffmann einen Sohn hatte, der mit drei Jahren bereits am Alkoholismus zugrunde ging.

Loth. Wa... was – sagst du?

Dr. Schimmelpfennig. 's tut mir leid, Loth, aber sagen muß ich dir's doch, du kannst ja dann noch machen, was du willst. Die Sache war kein Spaß. Sie waren gerade wie jetzt zum Besuch hier. Sie ließen mich holen, eine halbe Stunde zu spät. Der kleine Kerl hatte längst verblutet. Loth mit den Zeichen tiefer, furchtbarer Erschütterung an des Doktors Munde hängend. Nach der Essigflasche hatte das dumme Kerlchen gelangt in der Meinung, sein geliebter Fusel sei darin. Die Flasche war herunter- und das Kind in die Scherben gefallen. Hier unten, siehst du, die vena saphena, die hatte es sich vollständig durchschnitten.

Loth. W... w...essen Kind, sagst du ...?

Dr. Schimmelpfennig. Hoffmanns und ebenderselben Frau Kind, die da oben wieder ... und auch die trinkt, trinkt bis zur Besinnungslosigkeit, trinkt, soviel sie bekommen kann.

Loth. Also von Hoffmann ... Hoffmann geht es nicht aus?!

Dr. Schimmelpfennig. Bewahre! Das ist tragisch an dem Menschen, er leidet darunter, soviel er überhaupt leiden kann. Im übrigen hat er's gewußt, daß er in eine Potatorenfamilie hineinkam. Der Bauer nämlich kommt überhaupt gar nicht mehr aus dem Wirtshaus.

Loth. Dann freilich – begreife ich manches – nein! alles begreife ich – alles. Nach einem dumpfen Schweigen. Dann ist ihr Leben hier ... Helenens Leben – ein ... ein – wie soll ich sagen?! mir fehlt der Ausdruck dafür – ... nicht?

Dr. Schimmelpfennig. Horrend geradezu! Das kann ich beurteilen. Daß du bei ihr hängenbliebst, war mir auch von Anfang an sehr begreiflich. Aber wie ges...

Loth. Schon gut! – verstehe! ... Tut denn ...? könnte man nicht vielleicht ...? vielleicht könnte man Hoffmann bewegen, etwas ... etwas zu tun? Könntest du nicht vielleicht – ihn zu etwas bewegen? Man müßte sie fortbringen aus dieser Sumpfluft.

Dr. Schimmelpfennig. Hoffmann?

Loth. Ja, Hoffmann.

Dr. Schimmelpfennig. Du kennst ihn schlecht ... Ich glaube zwar nicht, daß er sie schon verdorben hat. Aber ihren Ruf hat er sicherlich jetzt schon verdorben.

Loth, aufbrausend. Wenn das ist: ich schlag' ihn ... Glaubst du wirklich ...? hältst du Hoffmann wirklich für fähig ...?

Dr. Schimmelpfennig. Zu allem, zu allem halte ich ihn fähig, wenn für ihn ein Vergnügen dabei herausspringt.

Loth. Dann ist sie – das keuscheste Geschöpf, was es gibt ... Loth nimmt langsam Hut und Stock und hängt sich sein Täschchen um.

Dr. Schimmelpfennig. Was gedenkst du zu tun, Loth?

Loth. ... Nicht begegnen ...!

Dr. Schimmelpfennig. Du bist also entschlossen?

Loth. Wozu entschlossen?

Dr. Schimmelpfennig. Euer Verhältnis aufzulösen.

Loth. Wie sollt' ich wohl dazu nicht entschlossen sein?

Dr. Schimmelpfennig. Ich kann dir als Arzt noch sagen, daß Fälle bekannt sind, wo solche vererbte Übel unterdrückt worden sind, und du würdest ja gewiß deinen Kindern eine rationelle Erziehung geben.

Loth. Es mögen solche Fälle vorkommen.

Dr. Schimmelpfennig. Und die Wahrscheinlichkeit ist vielleicht nicht so gering, daß ...

Loth. Das kann uns nichts helfen, Schimmel. So steht es: es gibt drei Möglichkeiten! Entweder ich heirate sie, und dann ... nein, dieser Ausweg existiert überhaupt nicht. Oder – die bewußte Kugel. Na ja, dann hätte man wenigstens Ruhe. Aber nein! so weit sind wir noch nicht, so was kann man sich einstweilen noch nicht leisten – also: leben! kämpfen! – Weiter, immer weiter. Sein Blick fällt auf den Tisch, er bemerkt das von Eduard zurechtgestellte Schreibzeug, setzt sich, ergreift die Feder, zaudert und sagt. Oder am Ende ...?

Dr. Schimmelpfennig. Ich verspreche dir, ihr die Lage so deutlich als möglich vorzustellen.

Loth. Ja, ja! – nur eben ... ich kann nicht anders. Er schreibt, adressiert und kuvertiert. Er steht auf und reicht Schimmelpfennig die Hand. Im übrigen verlasse ich mich – auf dich.

Dr. Schimmelpfennig. Du gehst zu mir, wie? Mein Kutscher soll dich zu mir fahren.

Loth. Sag mal, sollte man denn nicht wenigstens versuchen – sie aus den Händen dieses ... dieses Menschen zu ziehen? ... Auf diese Weise wird sie doch unfehlbar noch seine Beute.

Dr. Schimmelpfennig. Guter, bedauernswürdiger Kerl! Soll ich dir was raten? Nimm ihr nicht das ... das Wenige, was du ihr noch übrigläßt.

Loth, tiefer Seufzer. Qual über ... hast vielleicht – recht – jawohl, unbedingt sogar.

Man hört jemand hastig die Treppe herunterkommen. Im nächsten Augenblick stürzt Hoffmann herein.

Hoffmann. Herr Doktor, ich bitte Sie um Gottes willen ... sie ist ohnmächtig ... die Wehen setzen aus ... wollen Sie nicht endlich ...

Dr. Schimmelpfennig. Ich komme hinauf. Zu Loth bedeutungsvoll. Auf Wiedersehen! Zu Hoffmann, der ihm nachfolgen will. Herr Hoffmann, ich muß Sie bitten ... eine Ablenkung oder Störung könnte verhängnisvoll ... am liebsten wäre es mir, Sie blieben hier unten.

Hoffmann. Sie verlangen sehr viel, aber ... na!

Dr. Schimmelpfennig. Nicht mehr als billig. Ab. – Hoffmann bleibt zurück.

Hoffmann bemerkt Loth. Ich zittere, die Aufregung steckt mir in allen Gliedern. Sag mal, du willst fort?

Loth. Ja.

Hoffmann. Jetzt mitten in der Nacht?

Loth. Nur bis zu Schimmelpfennig.

Hoffmann. Ach so! Nun ... wie die Verhältnisse sich gestaltet haben, ist es am Ende kein Vergnügen mehr bei uns ... Also leb recht ...

Loth. Ich danke für die Gastfreundschaft.

Hoffmann. Und mit deinem Plan, wie steht es da?

Loth. Plan?

Hoffmann. Deine Arbeit, deine volkswirtschaftliche Arbeit über unseren Distrikt, meine ich. Ich muß dir sagen ... ich möchte dich sogar als Freund inständig und herzlich bitten ...

Loth. Beunruhige dich weiter nicht. Morgen schon bin ich über alle Berge.

Hoffmann. Das ist wirklich ... Unterbricht sich.

Loth. Schön von dir, wollt'st du wohl sagen?

Hoffmann. Das heißt – ja – in gewisser Hinsicht; übrigens du entschuldigst mich, ich bin so entsetzlich aufgeregt. Zähle auf mich! die alten Freunde sind immer noch die besten. Adieu, Adieu. Ab durch die Mitte.

Loth wendet sich, bevor er zur Tür hinaustritt, noch einmal nach rückwärts und nimmt mit den Augen noch einmal den ganzen Raum in sein Gedächtnis auf. Hierauf zu sich. Da könnt' ich ja nun wohl – gehen. Nach einem letzten Blick ab.

Das Zimmer bleibt für einige Augenblicke leer. Man vernimmt gedämpfte Rufe und das Geräusch von Schritten, dann erscheint Hoffmann. Er zieht, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hat, unverhältnismäßig ruhig sein Notizbuch und rechnet etwas; hierbei unterbricht er sich und lauscht, wird unruhig, schreitet zur Tür und lauscht wieder. Plötzlich rennt jemand die Treppe herunter, und herein stürzt Helene.

Helene, noch außen. Schwager! In der Tür. Schwager!

Hoffmann. Was ist denn – los?

Helene. Mach dich gefaßt: totgeboren!

Hoffmann. Jesus Christus!!! Er stürzt davon.

Helene allein. Sie sieht sich um und ruft leise: Alfred! Alfred! und dann, als sie keine Antwort erhält, in schneller Folge: Alfred! Alfred! Dabei ist sie bis zur Tür des Wintergartens geeilt, durch die sie spähend blickt. Dann ab in den Wintergarten. Nach einer Weile erscheint sie wieder: Alfred! Immer unruhiger werdend, am Fenster, durch das sie hinausblickt: Alfred! Sie öffnet das Fenster und steigt auf einen davorstehenden Stuhl. In diesem Augenblick klingt deutlich vom Hofe herein das Geschrei des betrunkenen, aus dem Wirtshaus heimkehrenden Bauern, ihres Vaters: Dohie hä! biin iich nee a hibscher Moan? Hoa iich nee a hibsch Weib? Hoa iich nee a poar hibsche Tächter dohie hä? Helene stößt einen kurzen Schrei aus und rennt wie gejagt nach der Mitteltür. Von dort aus entdeckt sie den Brief, welchen Loth auf dem Tisch zurückgelassen, sie stürzt sich darauf, reißt ihn auf und durchfliegt ihn, einzelne Worte aus seinem Inhalt laut hervorstoßend: » Unübersteiglich!« ... » Niemals wiederSie läßt den Brief fallen, wankt: Zu Ende! Rafft sich auf, hält sich den Kopf mit beiden Händen, kurz und scharf schreiend: Zu En-de! Stürzt ab durch die Mitte. Der Bauer draußen, schon aus geringerer Entfernung: Dohie hä? iis ernt's Gittla nee mei-ne? Hoa iich nee a hibsch Weib? Bin iich nee a hibscher Moan? Helene, immer noch suchend, wie eine halb Irrsinnige aus dem Wintergarten hereinkommend, trifft auf Eduard, der etwas aus Hoffmanns Zimmer zu holen geht. Sie redet ihn an: Eduard! Er antwortet: Gnädiges Fräulein? Darauf sie: Ich möchte ... möchte den Herrn Dr. Loth ... Eduard antwortet: Herr Dr. Loth sind in des Herrn Dr. Schimmelpfennigs Wagen fortgefahren! Damit verschwindet er im Zimmer Hoffmanns. Wahr! stößt Helene hervor und hat einen Augenblick Mühe, aufrechtzustehen. Im nächsten durchfährt sie eine verzweifelte Energie. Sie rennt nach dem Vordergrunde und ergreift den Hirschfänger samt Gehänge, der an dem Hirschgeweih über dem Sofa befestigt ist. Sie verbirgt ihn und hält sich still im dunklen Vordergrund, bis Eduard, aus Hoffmanns Zimmer kommend, zur Mitteltür hinaus ist. Die Stimme des Bauern, immer deutlicher: Dohie hä, biin iich nee a hibscher Moan? Auf diese Laute, wie auf ein Signal hin, springt Helene auf und verschwindet ihrerseits in Hoffmanns Zimmer. Das Hauptzimmer ist leer, und man hört fortgesetzt die Stimme des Bauern: Dohie hä, hoa iich nee die schinsten Zähne, hä? Hoa iich nee a hibsch Gittla? Miele kommt durch die Mitteltür. Sie blickt suchend umher und ruft: Freilein Helene! und wieder: Freilein Helene! Dazwischen die Stimme des Bauern: 's Gald iis mei-ne! Jetzt ist Miele ohne weiteres Zögern in Hoffmanns Zimmer verschwunden, dessen Türe sie offenläßt. Im nächsten Augenblick stürzt sie heraus mit den Zeichen eines wahnsinnigen Schrecks; schreiend dreht sie sich zwei – drei Mal um sich selber, schreiend jagt sie durch die Mitteltür. Ihr ununterbrochenes Schreien, mit der Entfernung immer schwächer werdend, ist noch einige weitere Sekunden vernehmlich. Man hört nun die schwere Haustüre aufgehen und dröhnend ins Schloß fallen, das Schrittegeräusch des im Hausflur herumtaumelnden Bauern, schließlich seine rohe, näselnde, lallende Trinkerstimme ganz aus der Nähe durch den Raum gellen: Dohie hä? Hoa iich nee a poar hibsche Tächter?


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