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Zweiter Akt

Die Wohnung der Frau John im zweiten Stock des gleichen Hauses, in dessen Dachgeschoß der Fundus des Direktors Hassenreuter untergebracht ist: ein weitläufiges, ziemlich hohes, graugetünchtes Zimmer, das seine frühere Bestimmung als Kasernenraum verrät. Die Hinterwand enthält eine zweiflügelige Tür nach dem Flur. Über ihr ist eine Schelle angebracht, die von außen an einem Draht gezogen werden kann. Rechts von der Tür beginnt eine etwas mehr als mannshohe Tapetenwand, die geradlinig nach vorn geht, hier einen rechten Winkel macht und wiederum geradlinig mit der rechten Seitenwand verbunden ist. So ist eine Art von Verschlag abgeteilt, über den einige Schrankgesimse hervorragen und der das Schlafzimmer der Familie ist.

Tritt man durch die Flurtüre ein, so hat man zur Linken ein Sofa, überzogen mit Wachsleinwand. Es ist mit der Rücklehne an die Tapetenwand geschoben. Diese ist über dem Sofa mit kleinen Familienbildchen geschmückt: Maurerpolier John als Soldat, John und Frau als Brautpaar usw. Vor dem Sofa steht ein ovaler Tisch, mit einer verblichenen Baumwolldecke. Man muß von der Tür aus an Tisch und Sofa vorübergehen, um den Zugang zum Schlafraum zu erreichen. Dieser ist mit einem Vorhang aus buntem Kattun verschlossen.

An der nach vorn gekehrten Schmalwand des Verschlages steht ein freundlich ausgestatteter Küchenschrank. Rechts davon, an der wirklichen Wand, der Herd. Wie denn der hier verfügbare kleine Raum vornehmlich zu Küchen- und Wirtschaftszwecken dienen muß.

Ein etwa auf dem Sofa Sitzender blickt gerade gegen die linke Zimmerwand und zu den beiden großen Fenstern hinaus. Am vorderen Fenster ist ein saubergehobeltes Brett als eine Art Arbeitstisch angebracht. Hier liegen zusammengerollte Kartons (Baupläne), Pausen, Zollstock, Zirkel, Winkelmaß usw. Am hinteren Fenster ein Fenstertritt, darauf ein Stuhl und ein Tischchen mit Gläsern. Die Fenster haben keine Gardinen, sind aber einige Fuß hoch mit buntem Kattun bespannt.

Das ganze Gelaß, dessen dürftige Einrichtung ein alter Lehnstuhl aus Rohr und eine Anzahl von Holzstühlen vervollständigen, macht übrigens einen sauberen und gepflegten Eindruck, wie man es bei kinderlosen Ehepaaren des öfteren trifft.

Es ist gegen fünf Uhr am Nachmittag, Ende Mai. Die warme Sonne scheint durch die Fenster.

Maurerpolier John, ein vierzigjähriger, bärtiger, gutmütig aussehender Mann, steht behaglich am vorderen Fenstertisch und macht sich Notizen aus den Bauplänen.

Frau John sitzt mit einer Näharbeit auf dem Fenstertritt des anderen Fensters. Sie ist sehr bleich, hat etwas Weiches und Leidendes an sich, zugleich aber einen Ausdruck tiefer Zufriedenheit, der nur zuweilen von einem flüchtigen Blick der Unruhe und der lauernden Angst unterbrochen wird. An ihrer Seite steht ein Kinderwagen – sauber, neu und nett –, darin ein Säugling gebettet ist.

John, bescheiden. Mutter, wie wär' det, wenn ick det Fenster 'n Ritzen uffmachen däte und ick machte mir dann 'n bißken de Piepe an?

Frau John. Mußte denn rauchen? sonst laß et man lieber.

John. I, ick muß ja nich, Mutter! Ick mechte bloß jern! Aber laß man! 'n Priem, Mutter, tut et am Ende in selbijenjleichen ooch. Er präpariert sich mit behaglicher Umständlichkeit einen neuen Priem.

Frau John, nach einigem Stillschweigen. Wat? Du mußt noch ma hin uff't Standesamt?

John. Det hat er jesacht, det ick noch ma hin müßte und janz jenau anjeben ... det ick det müßte janz jenau anjeben Ort und Stunde, wo det Kindchen jeboren is.

Frau John, Nadel am Mund. Warum haste denn det nich anjejeben?

John. Weeß ick et denn? Ick weeß et doch nich.

Frau John. Det weeßte nich?

John. Bin ick dabei jewesen?

Frau John. Na, wenn de mir hier in meine Berliner Wohnung sitzen läßt und liechst det janze jeschlagene Jahr in Altona, kommst heechstens ma monatlich mir besuchen: wat wiste denn wissen, wat in deine Behausung vorjehn dut.

John. Wo soll ick nich jehn, wo der Meester de mehrschte Arbeet hat? Ick jeh' dorthin, wo ick scheen verdiene.

Frau John. Ick ha et dir doch in Briefe jeschrieben, det unser Jungeken hier in de Wohnung jeboren is.

John. Det weeß ick. Det hab' ick ihm ooch jesacht! Det is doch janz natierlich, hab' ick jesacht, det et in meine Wohnung jeboren is. Da hat er jesacht: Det is jar nich natierlich! – Na denn, sach' ick, mag et meinswegen uff'n Oberboden bei de Ratten und Mäuse jewesen sind! So kreppte ick mir, weil er doch sachte, det et womeechlich jar nich sollte in meine eijene Wohnung sind jewesen. Denn schrie er: Wat sind det for Redensarten! – Wat? sag' ick, ick bin for Lohn un Brot! for Redensarten, Herr Standesbeamter, bin ick nich! Un nu sollte ick Tag und Stunde anjeben ...

Frau John. Ick hab' et dir doch sojar jenau uff'n Zettel jeschrieben, Paul.

John. Wenn eener jekreppt is, denn is er verjeßlich. Ick jloobe, wenn er mir hätte jefracht: sind Sie Paul John, der Mauerpolier?, ick hätte jeantwort: ick weeß et nich. Na, nu war ick doch'n bißken verjnügt jewesen un hatte mit Fritzen eenen jekippt; denn war noch Schubert und Schindler Karl zujekomm; denn hieß et: ick muß nu 'ne Lage jeben, weil ick doch Vater jeworden bin! – Na! un die Brieder wollten mir ooch nich loslassen un warteten unten an de Tür von't Standesamt. Un nu dachte ick, det se unten stehen! und wo er mir frachte, an welchen Dache det meine Frau entbunden is, denn wußte ick nischt un mußte laut loslachen.

Frau John. Häste man nachher jetrunken, Paul, un haste vorher besorcht, wat neetig is!

John. Det sachste so! Aber wenn du uff deine ollen Dache noch so 'ne Zicken machst! denn wa ick verjnügt! denn freut' ick mir, Mutter.

Frau John. Nu jehste und sachst bein Standesamt, det dein Kindeken an fünfundzwanzigsten Mai von deine Ehefrau in deine Wohnung jeboren is.

John. War et denn nich an sechsundzwanzigsten? Ick ha nämlich schlankweg dem sechsundzwanzigsten Mai jesacht! Denn hieß et, weil er doch merkte, det ick an Ende nich so janz sicher war: stimmt's, denn is jut! sonst komm Se wieder.

Frau John. I, denn laß et man, wie et is. Die Tür wird geöffnet, und Selma Knobbe schiebt einen elenden Kinderwagen herein, der im traurigsten Gegensatz zu dem der Frau John steht; darin liegt, in jämmerlichsten Lumpen, ebenfalls ein Säugling. Nee nee, Selma, mit det kranke Kind bei uns in de Stube rieber, det jing woll vordem, nu jeht det nich.

Selma. Et keucht so ville mit sein Husten. Drieben bei uns wird zu ville jeroocht, Frau John.

Frau John. Ick ha dir jesacht, Selma, du kannst immer komm, ma Milch un ma Brot holen. Aber wo hier mein Adelbertchen womeechlich mit Auszehrung oder derjleichen anfliejen dut, laß du det arme Wurm drieben bei seine feine Mama drieben.

Selma, weinerlich. Mutter is jestern und heut nich zu Hause jekomm. Ick kann nachts nich schlafen mit det Kind. Helfjottchen quarrt de janze Nacht ieber. Ick muß doch ma schlafen. Ick spring' zum Fenster raus, oder ick lass' Helfjottchen mitten uff de Straße und nehme Reißaus, det mir keen Polizist nich mehr finden kann.

John betrachtet das fremde Kind. Sieht beese aus! Mutter, nimm dich ma mit det Häufchen Unglick 'n bißken an.

Frau John, resolut, drängt Selma mit dem Kinderwagen hinaus. Marsch, fort aus der Stube! Det jeht nich, Paul. Wer eejnet hat, kann sich mit fremde nich abjeben. Soll de Knobben sehn, wo se bleiben dut. Wat anders is Selma! Du kannst immer rieberkomm. Du kannst dir hier ooch hernach 'n bißken uffs Ohr leejen. Selma mit dem Kinderwagen ab. Frau John verschließt die Tür hinter ihr.

John. Hast dir doch frieher mit die Knobbeschen Rotznäsen immer bekümmert!

Frau John. Det vastehste nich. Det sich Adelbertchen womeechlich mit schlimme Oochen un Krämpfe von een andret anstecken dut.

John. Det mag sind. Bloß nenn ihm nich Adelbertchen, Mutter. Det dut nich jut, 'n Kind 'n selbichten Namen zu jeben wie een andret, det mit acht Dache, unjedooft, mit Dot abjejang'n is. Det laß man! davor ha ick Manschetten, Mutter.

Es wird an die Tür geklopft. John will öffnen.

Frau John. Wat denn?

John. Na, Jette, 't will eener rin.

Frau John dreht hastig den Schlüssel herum. Ick wer mir woll, wo ick marode bin, von alle Welt ieberloofen lassen. Sie horcht und ruft dann. Ick kann nich uffmachen: wat wollen Se denn?

Eine Frauenstimme, aber tief und männlich. Ich bin Frau Direktor Hassenreuter.

Frau John, überrascht. Ach Jott nee! Sie öffnet die Tür. Nehm Se't nich iebel, Frau Direkter! Ick ha ja nich ma jewußt, wer't is.

Frau Direktor Hassenreuter ist nun, gefolgt von Walburga, eingetreten. Sie ist eine kolossale, asthmatische Dame, älter als fünfzig. Walburga ist ein wenig unscheinbarer gekleidet als im ersten Akt. Sie trägt ein ziemlich umfangreiches Paket.

Frau Direktor Hassenreuter. Guten Tag, Frau John! Ich wollte doch nun – obgleich mir das Treppensteigen schwer wird ... wollte doch nun mal sehen, wie's nach dem frohen Ereignis ... ja ... Ereignis mit Ihnen beschaffen ist.

Frau John. Et jeht mir, Jott sei Dank, wieder so hallweeje, Frau Direkter.

Frau Direktor Hassenreuter. – Das ist doch wahrscheinlich Ihr Mann, Frau John? Das muß man sagen ... muß man sagen – daß Ihre liebe Frau – sich in der langen Wartezeit niemals beklagt und immer ... immer fröhlich und guter Dinge – ihre Arbeit oben bei meinem Mann im Theatermagazin verrichtet hat.

John. Det is ooch. Se hat ihr mächtig jefreit, Frau Direkter.

Frau Direktor Hassenreuter. Nun, da wird man wohl auch ... da wird Ihre Frau wohl die Freude haben – Sie öfters ... öfters als wie bisher – zu Hause zu sehn.

Frau John. Ick ha'n juten Mann, Frau Direkter, wo sorjen dut und solide is. Und deshalb, weil Paul auswärts uff Arbeet jeht, denn hat er mir längst nich sitzen lassen. Aber for so'n Mann, wo'n Bruder schon 'n Jungen von zwölf in de Unteroffiziersschule hat ... det is ooch keen Leben, ohne Kinder! denn kricht er Jedanken! denn macht er in Hamburg scheenet Jeld! denn is alle Dache Jelejenheet, un denn will er fort nach Amerika auswandern.

John. I, Jette, det war ja man bloß so'n Jedanke.

Frau John. Sehn Se, det is mit uns kleene Leite ... det is'n sauer verdientes Durchkommen, wo unsereens hat, aber jedennoch ... Sie fährt John schnell mit der Hand durchs Haar. Wenn ooch eener mehr is un Sorjen mehr sin – sehn Se, det Wasser läuft ihm de Backen runter! – denn freut er sich.

John. Det is, wir haben schon vor drei Jahre 'n Jungchen jehabt, und det is mit acht Dache einjejang.

Frau Direktor Hassenreuter. Das hat mir mein Mann ... mein Mann bereits ... hat mir mein Mann bereits gesagt – wie sehr Sie sich – um den Sohn gegrämt haben. Sie wissen ja ... wissen ja, wie mein braver Mann – Aug' und Herz ... Herz und Auge für alles hat. Und wenn es sich gar ... gar um Leute handelt – die um ihn sind und ihm Dienste leisten – da ist alles Gute ... und Schlimme ... alles Gute und Schlimme ... was ihnen zustößt ... zustößt, so, als war' es ihm selbst passiert.

Frau John klopft John auf die Schulter. Ick seh' ihm noch, wie er mit det kleene Kindersärjiken uff beede Knie dazumal in Kinderleichenwachen jesessen hat. Det durfte d'r Dotenjräber nich anriehren.

John wischt sich Wasser aus den Augen. Det war ooch so. Det jing ooch nich.

Frau Direktor Hassenreuter. Denken Sie ... denken Sie, heute mittag bei Tisch – mußten wir ... mußten wir plötzlich Wein trinken. Wein! wo Leitungswasser in den letzten Jahren ... Karaffen mit Leitungswasser – unser einziges ... einziges Getränk bei Tische ist. Liebe Kinder, sagte mein Mann. – Er ist, wie Sie wissen, elf oder zwölf Tage in den Elsaß verreist gewesen! ... Also ich trinke, sagte mein Mann, auf meine gute, brave Frau John, weil ... rief er mit seiner schönen Stimme! ... weil sie sichtbares Zeichen dafür ist, daß unserem Herrgott ... Herrgott der Schrei eines Mutterherzens nicht gleichgültig ist. – Und da haben wir auf Sie angestoßen! – So! – Und nun bringe ich ... bringe ich Ihnen hier im ganz besonderen ... ganz besonderen Auftrage meines Mannes einen sogenannten Soxhlet-Kinder-Milchapparat. – Walburga, du magst den Kessel mal auspacken.

Direktor Hassenreuter tritt ohne Umstände durch die nur angelehnte Flurtür herein. Er trägt Zylinder, Sommerpaletot, Handschuhe, spanisches Rohr mit Silbergriff, im ganzen die etwas abgeschabte Garnitur des Wochentags. Er spricht hastig und fast ohne Pausen.

Direktor Hassenreuter, sich den Schweiß von der Stirn wischend. Heiß! Berlin macht heiß, meine Herrschaften! In Petersburg ist die Cholera! Sie haben meinen Schülern Spitta und Käferstein gegenüber geklagt, daß Ihr Kindchen nicht zunehmen will, Frau John. Eigentlich ist es ja ein Verfallssymptom unserer Zeit, daß die meisten Mütter ihre Kinder selber zu nähren nicht mehr fähig oder nicht willens sind. Sie haben schon einmal einen Jungen am Brechdurchfall eingebüßt, Mutter John. Hilft alles nichts: wir müssen hier deutsch reden! Damit Sie nun diesmal nicht wieder Pech haben und nicht etwa gar in die Scheren von allerlei alten Basen fallen, deren gute Ratschläge meistens für Säuglinge tödlich sind, hat Ihnen meine Frau auf meine Veranlassung diesen Milchkochapparat mitgebracht. Ich habe damit meine ganze kleine Gesellschaft, auch die Walburga, großgezogen ... Sapristi! da sieht man ja auch mal wieder den Herrn John! Bravo! der Kaiser braucht Soldaten! und Sie hatten einen Stammhalter nötig, Herr John! Gratuliere Ihnen von ganzem Herzen. Er schüttelt John kräftig die Hand.

Frau Direktor Hassenreuter, am Kinderwagen. Wieviel ... wieviel hat es gewogen bei der Geburt?

Frau John. Et hat jenau acht Pfund und zehn Jramm jewogen.

Direktor Hassenreuter, jovial, laut und lärmig. Ha ha ha, strammes Produkt! Acht Pfund zehn Gramm frisches deutschnationales Menschenfleisch.

Frau Direktor Hassenreuter. Die Augen! das Näschen! der ganze Vater! – Das Kerlchen ist Ihnen wirklich ... wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten, Herr John.

Direktor Hassenreuter. Sie werden den Bengel doch hoffentlich in die Gemeinschaft der christlichen Kirche aufnehmen lassen.

Frau John, glücklich und gewichtig. Det wird richtig in de Parochialkirche, richtig am Taufstein, richtig von Jeistlichen wird et jetauft.

Direktor Hassenreuter. Sessa! Und welche sind seine Taufnamen?

Frau John. Det hat natierlich, wie Männer nu eemal sind, 'n langet Jerede abjesetzt. Ick dachte: Bruno! Det will er nich.

Direktor Hassenreuter. Aber Bruno ist doch kein übler Name.

John. Det mag immer sind, det Bruno weiter keen iebler Name is. Da will ick mir weiter drieber nich ausdricken.

Frau John. Wat sachste nich, det ick'n Bruder habe, wo Bruno heeßt und wo zwölf Jahre jinger is: und jeht manchmal 'n bißken uff leichte Weje. Det is bloß de Verführung! Der Junge is jut! Det jloobste nich!

John bekommt einen roten Kopf. Jette ... du weeßt, wat det mit Brunon for'n Kreuz jewesen is! – Wat wiste?! Soll unser Jungeken so'n Patron kriejen? – Et is'n Patron! Aber eener, ick kann et nich ändern ... eener, wo unter polizeiliche Uffsicht is.

Direktor Hassenreuter, lachend. Um's Himmels willen, dann suchen Sie ihm einen anderen Patron!

John. Jott soll mir bewahren ... ick ha mir bei Brunon angenommen, in de Maschinschlosserei Stellung verschafft, nischt davon jehat als Ärjer un Schande! Jott soll bewahren, det er womeechlich kommt un mein Jungeken anfassen dut! Er krampft die Faust. Denn, Jette ... denn kennt' ick nich for mir jutsachen.

Frau John. Immerzu doch, Paul. Bruno kommt ja nich! – Soviel kann ick dir aber jewißlich Sachen, det mein Bruder mich in die schweren Stunden redlich bei Seite jewesen is.

John. Warum haste mir nich lassen kommen, Jette?

Frau John. So'n Mann, wo Angst hat, mocht' ick nich.

Direktor Hassenreuter. Sind Sie nicht Bismarckverehrer, John?

John kratzt sich hinter den Ohren. Det kann ick nu so jenau nich sachen: aber, wat meine Jenossen in't Mauerjewerbe sind, die sind et nich.

Direktor Hassenreuter. Dann habt ihr kein deutsches Herz im Leibe! Ich habe meinen ältesten Sohn, der bei der Kaiserlichen Marine ist, Otto genannt! Und glauben Sie mir, – er weist auf das Kindchen – diese neue künftige Generation wird wissen, was sie dem Schmiede der deutschen Einheit, dem gewaltigen Heros schuldig ist. Er nimmt den Blechkessel des Milchapparates, den Walburga ausgepackt hat, in die Hände und hebt ihn hoch. Also, die ganze Geschichte mit diesem Milchapparat ist kinderleicht: das ganze Gestell mit sämtlichen Flaschen – jede Flasche zunächst ein Drittel mit Milch und zwei Drittel mit Wasser gefüllt! – wird in diesen Kessel mit kochendem Wasser gestellt. Auf diese Weise, wenn man das Wasser im Kessel anderthalb Stunden lang auf dem Siedegrade hält, wird der Inhalt der Flaschen keimfrei gemacht: die Chemiker nennen das sterilisieren.

John. Jette, bei de Frau Mauermeester ihre Milch, womit sie die Zwillinge uffziehen dut, wird et ooch sterilililililisiert.

Die Schüler des Direktors Hassenreuter, Käferstein und Dr. Kegel, zwei junge Leute im Alter zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, haben angeklopft und die Tür geöffnet.

Direktor Hassenreuter, der seine Schüler bemerkt hat. Geduld, meine Herren, ich komme gleich. Ich arbeite hier einstweilen noch im Fache der Säuglingsernährung und Kinderfürsorge.

Käferstein, ausgesprochener Kopf, große Nase, bleich, ernster Gesichtsausdruck, bartlos, einen immer schalkhaften Zug um den Mund. Mit Grabesstimme, weich, zurückhaltend. Wir sind nämlich die drei Könige aus dem Morgenlande.

Direktor Hassenreuter, der noch immer den Milchkochapparat hoch in den Händen hält. Was sind Sie?

Käferstein, wie vorher. Wir wollen das Kindelein grüßen.

Direktor Hassenreuter. Ha ha ha ha! Wenn Sie schon Könige aus dem Morgenlande sind, meine Herren, dann fehlt doch, soweit ich sehn kann, der dritte.

Käferstein. Der dritte ist unser neuer Mitschüler auf dem Felde dramaturgischer Tätigkeit, Kandidat der Theologie Erich Spitta, der durch einen gesellschaftspsychologischen Zwischenfall einstweilen noch Ecke Blumen- und Wallnertheater-Straße festgehalten ist.

Dr. Kegel. Wir machten uns eiligst aus dem Staube.

Direktor Hassenreuter. Sehen Sie, es steht ein Stern über Ihrem Hause, Frau John! – Aber sagen Sie mal, hat sich etwa unser braver Kurpfuscher Spitta wieder mal öffentlich an die Heilung sogenannter sozialer Schäden gemacht? Ha ha ha ha! Semper idem! das ist ja ein wahres Kreuz mit dem Menschen.

Käferstein. Es war ein Auflauf, und da hat er wohl, wie es scheint, in der Volksmenge eine Freundin wiedererkannt.

Direktor Hassenreuter. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach würde der junge Spitta viel besser zum Sanitätsgehilfen oder zum Heilsarmeeoffizier geeignet sein. Aber so ist es: der Mensch wird Schauspieler.

Frau Direktor Hassenreuter. Der Lehrer der Kinder, Herr Spitta, wird Schauspieler?

Direktor Hassenreuter. Wenn du erlaubst, Mama, hat er mir die Eröffnung gemacht. – Aber nun, wenn Sie Weihrauch und Myrrhen bringen, packen Sie aus, lieber Käferstein. Sie sehen, Ihr Direktor ist vielseitig. Bald verhelfe ich meinen Schülern, die ihr nach dem Inhalt der Brüste der Musen durstig seid, zu geistiger Nahrung, Nutrimentum Spiritus! bald ...

Käferstein klappert mit einer Sparkasse. Nun, ich stelle also das Ding, es ist eine feuersichere Sparkasse, hier neben die Equipage des jungen Herrn Maurerpoliers, mit dem Wunsche, daß er es mindestens mal bis zum Regierungsbaumeister bringen möge.

John hat Schnapsgläschen auf den Tisch gestellt, nimmt und entkorkt eine unangebrochene Likörflasche. Na, nu muß ick det Danziger Joldwasser uffmachen.

Direktor Hassenreuter. Wer da hat, Sie sehen, dem wird gegeben, Frau John.

John, während er eingießt. Det is nich jesacht, det for Mauerpolier John sein Kind nich jesorcht wäre, meine Herrn! Aber ick rechen et mir an, meine Herrn. Frau Direktor und Walburga ausgenommen, ergreifen alle die Gläser. Wohlsein! – Mutter, nu komm, wir wolln ooch ma anstoßen.

Es geschieht, sie trinken.

Direktor Hassenreuter, im Ton der Rüge. Mama, du mußt selbstverständlich mittrinken.

John, nachdem er getrunken hat, aufgeräumt. Ick jeh' nu ooch nich mehr nach Hamburg hin. D'r Meester mag ma'n andern hinschicken. Ick zerjle mir schonn mit'n Meester deswejen drei Dache rum. Ick muß mir nu wieder jleich mein Hut nehmen; hat mir wieder ma jejen sechs uffs Büro bestellt! Wenn er nich will, denn laßt er't bleiben: det jeht nich, det'n Familienvater immer un ewich wech von seine Familie is. Ick ha'n Kollegen ... et kost mir een Wort, da wer ick, wo se de Fundamente lejen, bei't neue Reichstagsjebäude einjestellt. Zwölf Jahre bin ick bei meinen Meester! Et kann ja ooch ma woanders sind.

Direktor Hassenreuter klopft John ebenfalls auf die Schulter. Sessa! ganz Ihrer Ansicht, Herr Maurerpolier. Unser Familienleben ist eine Sache, die man uns mit Geld und guten Worten nicht abkaufen kann.

Kandidat Erich Spitta tritt ein. Sein Hut ist beschmutzt, sein Anzug trägt Schmutzflecken. Er ist ohne Schlips. Er sieht bleich und erregt aus und säubert mit dem Taschentuch seine Hände.

Spitta. Verzeihung. Könnte ich mich bei Ihnen mal eben 'n bißchen säubern, Frau John?

Direktor Hassenreuter. Ha ha ha! Um Gottes willen, was haben Sie denn angebahnt, guter Spitta?

Spitta. Ich habe nur eine Dame nach Hause begleitet, Herr Direktor, weiter nichts.

Direktor Hassenreuter, der an einem allgemeinen Lachausbruch ob der Worte Spittas teilgenommen hat. Na hören Sie mal an! Und da setzen Sie noch hinzu: »weiter nichts«? Und verkünden es offen vor allen Leuten?

Spitta, verblüfft. Wieso nicht? Es handelte sich um eine gutgekleidete Dame, die ich hier im Hause auf der Treppe schon öfters gesehen hatte und die leider auf der Straße verunglückt ist.

Direktor Hassenreuter. Ach, was Sie sagen: erzählen Sie mal, bester Spitta. Augenscheinlich hat die Dame Ihnen Flecke auf den Anzug und Schrammen auf die Hände gemacht.

Spitta. Ach nein. Das war wohl höchstens der Janhagel. Die Dame erlitt einen Anfall. Ein Schutzmann griff sie dabei so ungeschickt, daß sie auf den Straßendamm, und zwar dicht vor einem Paar Omnibuspferde, niederfiel. Ich konnte das absolut nicht mit ansehen, obgleich der Samariterdienst auf der Straße im allgemeinen, wie ich zugebe, unter der Würde gutgekleideter Leute ist.

Frau John schiebt den Kinderwagen hinter den Verschlag und kommt wieder mit einem Waschbecken voll Wasser, das sie auf einen Stuhl setzt.

Direktor Hassenreuter. Gehörte die Dame vielleicht jener internationalen guten Gesellschaft an, die man je nachdem nur reglementiert oder auch kaserniert?

Spitta. Das war mir in diesem Falle ebenso gleichgültig, wie ich sagen muß, Herr Direktor, wie dem Omnibusgaul, der seinen linken Vorderhuf geschlagene fünf, sechs oder acht Minuten lang, um die Frau nicht zu treten, die unter ihm lag, in der Schwebe gehalten hat. Spitta erhält eine Lachsalve zur Antwort. Sie lachen! Für mich ist das Verhalten des Gauls nicht lächerlich. Ich konnte ganz gut verstehen, daß einige Leute ihm Bravo zuriefen, Beifall klatschten, andre eine Bäckerei stürmten und Semmeln herausholten, womit sie ihn fütterten.

Frau John, fanatisch. I, hätt' er man feste zujetreten! Die Bemerkung der John löst wieder allgemeines Gelächter aus. Und ieberhaupt, wat die Knobben is: die jehört öffentlich uff'n Schandarmenmarkt, öffentlich uff de Bank jeschnallt und jehörig mit Riemen durchjefuchtelt! Stockhiebe, det det Blut man so spritzt.

Spitta. Ich habe mir niemals eingebildet, daß das sogenannte Mittelalter eine überwundene Sache ist. Es ist noch nicht lange her. Man hat eine Witwe Mayer noch im Jahre achtzehnhundertundsiebenunddreißig hier in Berlin, auf dem Hausvogteiplatz, von unten herauf geradebrecht. Er zieht Scherben einer Brille hervor. Übrigens muß ich sofort zum Optiker.

John, zu Spitta. Entschuldijen Se man! Se haben die feine Dame doch hier am Flur jejenieber rinjebracht? Na ja! Det hat Mutter ja jleich jemerkt, det det keen andrer Mensch wie de Knobben jewesen is, wo bekannt for is, det se Mädel mit zwölf uff de Jasse schickt, selber fortbleibt, trinkt und allerhand Kundschaft hat, um Kinder nich kümmert und, wo berauscht is und uffwachen dut, allens mit Fäuste und Schirme durchpriejelt.

Direktor Hassenreuter, sich raffend und besinnend. Allons, meine Herren, wir müssen zum Unterricht. Es fehlt uns schon eine Viertelstunde. Meine Zeit ist gemessen. Unser Stundenschluß muß leider heute ganz pünktlich sein. Komm, Mama. Auf Wiedersehn, meine Herrschaften. Der Direktor gibt seiner Frau den Arm und geht, gefolgt von Käferstein und Dr. Kegel, ab. Auch John nimmt seinen Kalabreser.

John, zu seiner Frau. Adje, ick muß ooch zum Meester hin. Auch John geht.

Spitta. Könnten Sie mir mal einen Schlips leihen?

Frau John. Ick will mal sehn, wat sich bei Paul in de Schublade vorfinden dut. Sie öffnet den Tischschub und verfärbt sich. Jesus! Sie nimmt ein durch ein buntes Band zusammengehaltenes Büschelchen Kinderhaar aus der Schublade. Da hab' ick ja'n Büschelschen Haar jefunden, wo mein Jungeken, wo mein Adelbertchen schon in Sarch mit Vaters Papierschere abjeschnitten is. Tiefe, kummervolle Traurigkeit zieht plötzlich über ihr Gesicht, das sich aber ebenso plötzlich wieder aufhellt. Un nu liecht et doch wieder in Kinderwachen! Sie geht mit eigentümlicher Fröhlichkeit, das Haarbüschel in der Hand den jungen Leuten vorweisend, zur Tür des Verschlages, wo der Kinderwagen, zwei Drittel sichtbar, sich befindet. Dort angelangt, hält sie das Haarbüschel an das Kinderköpfchen. Na nu kommt mal, kommt mal! Sie winkt mit seltsamer Heimlichkeit Walburga und Spitta, die auch neben sie an den Kinderwagen treten. Seht mal det Härchen und det! –? ob det nich detselbichte ... ob det nich janz und jänzlich een und detselbichte Härchen is.

Spitta. Richtig! Bis auf die kleinste Nuance, Frau John.

Frau John. Jut so! jut so! mehr wollt' ick nich! Sie verschwindet mit dem Kinde hinter dem Verschlag.

Walburga. Findest du nicht, Erich, daß das Betragen der John eigentümlich ist?

Spitta faßt Walburgas Hände und küßt sie scheu und inbrünstig. Ich weiß nicht, weiß nicht – ... oder ich zähle heut nicht mit, weil ich alles von vornherein subjektiv düster gefärbt sehe. Hast du den Brief bekommen?

Walburga. Jawohl. Aber ich konnte nicht herausfinden, warum du so lange nicht bei uns gewesen bist.

Spitta. Verzeih, Walburga, ich konnte nicht kommen.

Walburga. Warum nicht?

Spitta. Weil ich innerlich zu zerrissen bin.

Walburga. Du willst Schauspieler werden? Ist's wahr? Du willst umsatteln?

Spitta. Was schließlich noch mal aus mir wird, steht bei Gott! Nur niemals ein Pastor! niemals ein Landpfarrer!

Walburga. Du, ich habe mir lassen die Karten legen.

Spitta. Das ist Unsinn, Walburga. Das sollst du nicht.

Walburga. Ich schwöre dir, Erich, es ist kein Unsinn. Sie hat mir gesagt, ich hätte einen heimlichen Bräutigam, und der sei Schauspieler. Natürlich hab' ich sie ausgelacht, und gleich darauf sagt Mama, du wirst Schauspieler.

Spitta. Tatsächlich?

Walburga. Tatsächlich! Und dann hat mir die Kartenlegerin noch gesagt, wir würden durch einen Besuch viel Not haben.

Spitta. Mein Vater kommt nach Berlin, Walburga, und das ist allerdings wahr, daß uns der Alte Herr etwas zu schaffen machen wird. – Vater weiß das nicht, aber ich bin mit ihm innerlich längst zerfallen, auch ohne diese Briefe, die mir hier in der Tasche brennen und mit denen er meine Beichte beantwortet hat.

Walburga. Über unserm verunglückten Rendezvous hat wirklich ein böser, neidischer, giftiger Stern geschwebt. Wie habe ich meinen Papa bewundert! Aber seit jenem Sonntag werde ich aller Augenblick' rot für ihn, und sosehr ich mir Mühe gebe, ich kann ihm seitdem nicht mehr gerade und frei ins Auge sehn.

Spitta. Hast du mit deinem Papa auch Differenzen gehabt?

Walburga. Ach, wenn es bloß das wäre! Ich war stolz auf Papa! Und jetzt muß ich zittern, wenn du es wüßtest, ob du uns überhaupt noch achten kannst.

Spitta. Ich und verachten! Ich wüßte nicht, was mir weniger zukäme, gutes Kind. Sieh mal: ich will mit Offenheit gleich mal vorangehn. Eine sechs Jahre ältere Schwester von mir war Erzieherin, und zwar in einem adligen Hause. Da ist etwas passiert ... und als sie im Elternhaus Zuflucht suchte, stieß mein christlicher Vater sie vor die Tür. Er dachte wohl: Jesus hätte nicht anders gehandelt! Da ist meine Schwester allmählich gesunken, und nächstens werden wir beide mal nach dem kleinen sogenannten Selbstmörderfriedhof bei Schildhorn gehn, wo sie schließlich gelandet ist.

Walburga umarmt Spitta. Armer Erich, davon hast du ja nie ein Wort gesagt.

Spitta. Das ist eben nun anders: ich spreche davon. Ich werde auch hier mit Papa davon sprechen, und wenn es darüber zum Bruche kommt. – Du wunderst dich immer, wenn ich erregt werde und wenn ich mich manchmal nicht halten kann, wo ich sehe, wie irgendein armer Schlucker mit Füßen gestoßen wird, oder wenn der Mob etwa eine arme Dirne mißhandelt. Ich habe dann manchmal Halluzinationen und glaube am hellichten Tage Gespenster, ja meine leibhaftige Schwester wiederzusehn.

Pauline Piperkarcka, ebenso wie früher gekleidet, tritt ein. Ihr Gesichtchen erscheint bleicher und hübscher geworden.

Die Piperkarcka. Jun Morjen.

Frau John, hinter dem Verschlage. Wer ist denn da?

Die Piperkarcka. Pauline, Frau John.

Frau John. Pauline? – Ick kenne keene Pauline.

Die Piperkarcka. Pauline Piperkarcka, Frau John.

Frau John. Wer? – Denn wachten Se man 'ne Minute, Pauline.

Walburga. Adieu, Frau John.

Frau John erscheint vor dem Verschlage, schließt sorgfältig den Vorhang hinter sich. Jawoll! Ick ha mit det Freilein wat zu verabreden. Seht ma, det ihr naus uff de Straße kommt. Spitta und Walburga schnell ab. Frau John schließt die Tür hinter beiden. Sie sind et, Pauline? Wat wollen Se denn?

Die Piperkarcka. Wat werde wollen? Et hat mir herjetrieben. Habe nich länger warten können. Muß sehn, wie steht.

Frau John. Wat denn? Wat soll denn stehn, Pauline?

Die Piperkarcka, mit etwas schlechtem Gewissen. Na, ob jesund is, ob jut in Stand.

Frau John. Wat soll denn jesund, wat soll denn in Stande sind?

Die Piperkarcka. Dat sollen woll wissen von janz alleine.

Frau John. Wat soll ick denn von alleene wissen?

Die Piperkarcka. Ob Kind auch nich zujestoßen is.

Frau John. Wat for'n Kind? Un wat zujestoßen? Reden Se deitsch! Se blubbern ja man keen eenziget richtiget deitsches Wort aus de Fresse raus.

Die Piperkarcka. Wenn ick nur sagen, was wahr is, Frau John.

Frau John. Na wat denn?

Die Piperkarcka. Mein Kind ...

Frau John haut ihr eine gewaltige Backpfeife. ... Det sache noch mal, un denn kriste so lange den Schuh um de Ohren, bis et dir vorkommt, det du 'ne Mutter von Drillinge bist. Nu raus! Un nu laß dir nich wieder blicken!

Die Piperkarcka will fort. Rüttelt an der Tür, die aber verschlossen ist. Hat mir jeschlagen, zu Hilfe, zu Hilfe! Brauche mir nich jefallen zu lassen! Weinend. Aufmachen! Hat mir mißhandelt Frau John!

Frau John, vollkommen umgewandelt, umarmt Pauline, sie so zurückhaltend. Pauline, um Jottes willen, Pauline! Ick weeß nich, wat in mir jefahren hat! Sein Se man jut, ick leiste ja Abbitte! Wat soll ick tun? Pauline, soll ick fußfällig uff de Knie, Pauline, Pauline, Abbitte tun?

Die Piperkarcka. Was haben mir ins Jesicht jeschlagen? Ick jehe zu Wache und zeigen an, det mir hier ins Jesicht jeschlagen hat. Ick zeigen an, ick gehen zu Wache.

Frau John hält ihr Gesicht hin. Da! hauste mir wieder in't Jesicht! denn is et jut! denn is et verjlichen.

Die Piperkarcka. Ick jehe zu Wache ...

Frau John. Denn is et verjlichen. Ick sache, Mächen, denn is et. Mächen, sag' ick, akkurat mit de Waage verjlichen! Wat wiste nu, Mächen? Nu jeradezu.

Die Piperkarcka. Wat soll mich nützen, wenn Backe jeschwollen is.

Frau John haut sich selbst einen Backenstreich. Da! Meine Backe is ooch jeschwollen. Mächen, hau zu, und jeniere dir nich. – Un denn komm, denn raus, watte uff'n Herzen hast. Ick will mittlerweile ... ick koche inzwischen for Sie und for mir, Freilein Pauline, 'n rechten juten Bohnenkaffee, Jott weeß et, und keene Zichorientunke.

Die Piperkarcka, weicher. Warum sin denn auf einmal so niederträchtig und jrob zu mich armes Mächen, Frau John?

Frau John. Det is et! det mecht' ick alleene wissen! Komm Se, Pauline, setzen sich. So! Scheeneken sag' ick! Setzen sich! Scheen, det Se mich ma besuchen komm! Wat ha ick von meine Mutter deswejen schon for Schmisse jekricht, ick bin doch aus Brickenberch jebürtig! weil ick mir manchmal ja nich jekannt habe. Die hat mehr wie eemal zu mich jesacht: Mädel, paß uff: du machst dir ma unglücklich. Det kann ooch sin, det se recht haben dut. Wie jeht's, Pauline, wat machen Se denn?

Die Piperkarcka legt Scheine und Silbergeld, die Hand voll, ohne zu zählen, auf den Tisch. Hier is det Jeld: ick brauchen ihm nicht.

Frau John. Ick weeß doch von keenen Jelde, Pauline.

Die Piperkarcka. Oh, werden woll janz jut wissen von Jeld! Et hat mir jebrannt. Et war mich wie Schlange unter Kopfkissen ...

Frau John. I wo denn ...?

Die Piperkarcka. Is vorjekrochen, wo ick müde bin einjeschlafen. Hat mir jepeinigt, hat mir umringt! hat mir jequetscht, wo ick habe laut aufjeschrien, und meine Wirtin hat mir jefunden, wo ick fast abjestorben längelang auf Diele jelegen bin.

Frau John. Lassen Se det man jut sind, Pauline! – Trinken Se erst ma'n kleenen Schnaps! Sie gießt ihr Kognak ein. Un dann essen Se erst ma'n Happenpappen: mein Mann hat jestern Jeburtstag gehat.

Sie holt einen Streuselkuchen, von dem sie Streifen schneidet.

Die Piperkarcka. I wo denn, ick mag nich essen, Frau John.

Frau John. Det stärkt, det dut jut, det mussen Se essen! Aber ick muß mir doch freuen, Pauline, det Se doch wieder mit Ihre jute Natur bei Ihre Kräfte jekommen sin.

Die Piperkarcka. Nu will ick et aber mal sehn, Frau John.

Frau John. Wat denn, Pauline? Wat wolln Se denn sehn?

Die Piperkarcka. Hätt' ick laufen jekonnt, wär' ick früher jekomm. Das will jetzt sehn, warum jekommen bin.

Frau John, deren fast kriechende Freundlichkeiten von angstvoll bebenden Lippen gekommen sind, erbleicht auf eine unheilverkündende Weise und schweigt. Sie geht nach dem Küchenschrank, reißt die Kaffeemühle heraus und schüttet heftig Kaffeebohnen hinein. Sie setzt sich, quetscht die Kaffeemühle energisch zwischen die Knie, faßt die Kurbel und starrt mit einem verzehrenden Ausdruck namenlosen Hasses zur Piperkarcka hinüber.

Frau John. So? – Ach! – Wat wiste sehen? – Wat wiste nu jetzt uff eemal sehn? – Det, det watte hast mit deine zwee Hände erwürjen jewollt.

Die Piperkarcka. Ick? –

Frau John. Wiste noch liejen? Ick werde dir anzeijen.

Die Piperkarcka. Nu haben mir aber jenug jequält und bis auf't Blut jemartert, Frau John. Mir nachjestellt! mir Schritt und Tritt nich Ruhe jelassen. Bis haben Kind auf Oberboden auf Haufen alter Lumpen zu Welt jebracht. Mich Hoffnung jemacht, mit schlechten Spitzbubenjungen Angst jemacht. Mich Karten jelegt von wegen mein Bräutigam un weiterjehetzt, bis bin wie verrückt jeworden.

Frau John. Det bist du ooch noch! Jawoll: du bist janz und jar verrückt! Wat, ick hab' dir jequält? Wat hab' ick? Ick habe dir aus'n Rinnstein jelesen! Ick hab' dir jeholt bei Schneejestöber, bei de Normaluhr, wo de hast mit verzweifelte Oochen – un wie de hast ausjesehen! – hintern Lanternanzünder herjestarrt. Jawoll: denn ha ick dir nachjestellt, det dir der Schutzmann, det dir der jrüne Wachen, det dir der Deibel nich hat holen jekonnt! Ick habe dir keene Ruhe jelassen, ick ha dir jemartert, bis det de nich sollst mit dein Kind unterm Herzen in't Wasser jehn. Äfft ihr nach. Ick jeh' im Landwehrkanal, Mutter John! Ick erwürje det Kind! Ick ersteche det Wurm mit meine Hutnadel! Ick jeh', ick lauf, wo der Lump von Vater sitzen un Zither spielen dut, mitten in't Lokal, und schmeiß' ihn det tote Kind vor die Fieße. Det haste jesacht, so haste jesprochen, so jing et den lieben langen Dach, un manchmal de halbe Nacht noch dazu, bis ick dir hab' hier ins Bette jebracht un so lange jestreichelt, det de bist endlich injeschlafen un bist mittags um zwölf, wie die Glocken von alle Kirchen jeläut't haben, an andern Dache erst wieder uffjewacht. Jawoll, so ha ick dir Angst jemacht, wieder Hoffnung jemacht, so ha ick dir keene Ruhe jelassen! Haste det allens verjessen, wat?

Die Piperkarcka. Aber et is doch mein Kind, Mutter John ...

Frau John schreit. Denn hol et dir aus'n Landwehrkanale! Sie springt auf, läuft umher und nimmt bald diesen, bald jenen Gegenstand in die Hand, um ihn sogleich wieder wegzuwerfen.

Die Piperkarcka. Soll ick mein Kind nich ma sehen dürfen?

Frau John. Spring in't Wasser un such et! denn haste et! Weeß Jott, ick halte dir nu weiter nich.

Die Piperkarcka. Jut! Meejen mich schlachen, meejen mir prügeln, meejen mir schmeißen Wasserflasche an Kopp: eh nich weiß, wo Kind is, eh nich haben mit Augen jesehn, bringen mich keiner und niemand von Stelle fort.

Frau John, einlenkend. Pauline, ick ha et in Flege jejeben.

Die Piperkarcka. Lieje! Ick hör' et doch schmatzen, wo et janz jenau hintern Vorhang is! Das Kind hinter dem Tapetenverschlag beginnt zu schreien. Die Piperkarcka eilt auf den Vorhang zu, dabei nicht ohne falsche Note ein wenig pathetisch weinerlich rufend. Weine nicht, armes, armes Jungchen, jutes Mutterchen kommen schon! Frau John, fast von Sinnen, ist vor den Eingang gesprungen, den sie der Piperkarcka verstellt. Die Piperkarcka, ohnmächtig wimmernd, mit geballten Fäusten. Soll mir jetzt zu mein Kinde reinlassen.

Frau John, furchtbar verändert. Sieh mir ma an, Mächen! Mächen, sieh mir ma in't Jesicht! – Jloobst du, det mit eene, die aussieht wie ich ... det mit mir noch zu spaßen is? Die Piperkarcka hat wimmernd Platz genommen. Setz dir! flenne! wimmere! bis dir, ick weeß nich wat ... jammere, bis det dir die Jurjel verschwollen is! det, wenn de hier rinwillst – denn bist du tot, oder ick bin tot – un denn is ooch det Jungchen nich mehr am Leben!

Die Piperkarcka erhebt sich entschlossen. Denn jeben acht, was jeschehen, Frau John!

Frau John, wiederum einlenkend. Pauline, die Sache is zwischen uns richtig un abjemacht. Wat wollen Se sich mit det Kindchen behängen, wo jetzt mein Kindeken und in beste Hände jeborjen is? Wat wollen Se denn mit det Kindeken uffstellen? Jehn Se zu Ihren Breitijam! da sollen Se woll mit den Besseres zu tun haben als Kinderjeschrei, Kindersorjen und Kimmernis.

Die Piperkarcka. Erst recht! Nu jerade! Nu muß er mir heiraten! – Haben alle ... hat Frau Kielbacke, als ick mir mussen haben behandeln lassen, zu mich jesacht. Soll nich nachjeben! Muß mir heiraten. Auch Standesbeamte gab mich Rat. Hat jesacht, janz wütend, als ick haben erzählt, wohin jekrochen un habe Kind auf Dachboden Welt jebracht ... schreit janz wütend: ick muß nich nachlassen. Hat jesacht arme jeschundene Kreatur zu mich, Tasche jejriffen, Taler zwei Jroschen Jeld jeschenkt. Jut! lasse mir weiter nich ein, Frau John. Adje! Bin bloß jekommen, sowieso, daß morjen nachmittag fünf zu Hause sind. Warum? weil morjen einjesetzter Pfleger von Jemeinde nachsehn kommt. Ick werde mir weiter hier noch rumärgern.

Frau John, starr, entgeistert. Wat? du hast et jemeld uff't Standesamt?

Die Piperkarcka. Etwa nich? Ick soll woll Jefängnis komm?

Frau John. Wat hast du jemeldet beim Standesbeamten?

Die Piperkarcka. Sonst janischt, als det mit Knaben niederjekommen bin. Ick hab' mir jeschämt, o Jott! bin über un über rot jeworden! Mir is, ick sink' jleich in de Erde rin.

Frau John. So! – Wenn de dir so jeschämt hast, Mächen, warum haste's denn aber anjezeigt?

Die Piperkarcka. Weil mich meine Wirtin und ooch Frau Kielbacke, wo mich hinjeführt hat, mich partout nich Ruhe jejeben.

Frau John. So! – Denn wissen se't also uff't Standesamt?

Die Piperkarcka. Na ja, det müssen se wissen, Frau John.

Frau John. ... Aber ha ick dir dat nich einjeschärft ...? ...

Die Piperkarcka. Det muß man melden! Soll ick denn abjeführt Untersuchung und Plötzensee gesteckt?

Frau John. Ick ha doch jesacht: ick jeh' et anmelden.

Die Piperkarcka. Habe jleich bei Standesbeamte jefracht. Is keene jekommen, hat anjemeld't.

Frau John. Un wat haste nu also anjejeben?

Die Piperkarcka. Daß Aloisius Theophil heißen soll un daß bei Sie, Frau John, in Pflege is.

Frau John. Un morjen will eener nachsehn komm?

Die Piperkarcka. Det is een Herr von de Vormundschaft. Was is denn weiter? Nun sin doch ruhig un sin vernünftig! Haben mich wirklich vorher Schrecken in alle Jlieder jejagt.

Frau John, abwesend. Nu freilich: det is nu nich mehr zu ändern. Det is ja nu ooch in Jottes Namen nu jroß weiter nischt.

Die Piperkarcka. Gelt, un kann nu mein Kindchen auch sehn, Frau John?

Frau John. Heute nich! Morjen, morjen, Pauline.

Die Piperkarcka. Warum nich heut?

Frau John. Weil det det Beschreien nich jut dut, Pauline. Also morjen, um Uhre fünfen nachmittag?

Die Piperkarcka. Steht jeschrieben, sagt mir Wirtin, daß Herr von die Stadt Uhren fünfen morjen nachsehn kommt.

Frau John, indem sie die Piperkarcka hinausschiebt und selbst mit hinausgeht, im Tone der Abwesenheit. Jut so. Laß er man kommen, Mächen.

Frau John ist einen Augenblick auf den Flur hinausgetreten und kommt ohne die Piperkarcka wieder herein. Sie ist seltsam verändert und geistesabwesend. Sie tut einige hastige Schritte gegen die Verschlagstür, steht jedoch plötzlich wieder still mit einem Gesichtsausdruck vergeblichen Nachsinnens. Dieses Grübeln unterbricht sie, heftig gegen das Fenster zu eilend. Hier wendet sie sich, und wieder erscheint der hilflose Ausdruck schwerer Bewußtlosigkeit. Langsam, wie eine Nachtwandlerin, tritt sie an den Tisch und läßt sich daran nieder, das Kinn in die Hand stützend. Nun erscheint Selma Knobbe in der Tür.

Selma. Mutter schläft, Frau John. Ick ha solchen Hunger. Kann ick'n Happen Brot kriejen? Frau John erhebt sich mechanisch und schneidet ein Stück von einem Laib Brot, wie unter dem Einfluß einer Suggestion. Selma, der die Verfassung der Frau auffällt. Ick bin's! – Wat is denn? – Schneiden sich man bloß nich etwa mit Brotmesser.

Frau John, mit trockenem Röcheln, das sie mehr und mehr überwältigt, indem sie Brot und Brotmesser willenlos auf den Tisch gleiten läßt. Angst! – Sorje! – Da wißt ihr nischt von! Sie zittert und sucht einen Halt, um nicht umzusinken.


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