Gerhart Hauptmann
Gabriel Schillings Flucht
Gerhart Hauptmann

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Dritter Akt

Zwischen zwei Sandhügeln zieht sich ein breiter Feldweg nach dem Hintergrunde zu, zwischen anderen Hügeln gegen das Meer hin verschwindend. In dem Winkel, den die ferneren Hügel bilden, steht die See als tiefblaue Wand. Darüber das hellere Blau des wolkenlosen Himmels. Rechts vom Wege, im Vordergrund, liegt ein wenig höher hinauf ein Kirchhof; ein Teil seiner niedrigen Umfassungsmauer ist sichtbar, über die Mauer ragt ein altes Kruzifix. Ziemlich weit vorn steht, in die Mauer eingebaut, die kleine, alte, mit Schindeln bedeckte Leichenhalle. Außer einem zerzausten Holunderstrauch an der oberen Ecke, außerhalb der Mauer, zeigt sich keine Vegetation. Nahe bei diesem Holunderstrauch ist aus vier Pfählen und einem Brett vor Jahren eine Bank errichtet worden, die, stark verwittert, noch steht. Links vom Wege liegt ein imposantes, aber stark verfallenes Mauerwerk, Reste eines allen Klosters. Das besterhaltene Stück ist ein Torbogen aus braunrötlichen Ziegelsteinen. Einige sehr alte Pappeln und Eschen erheben sich dahinter. Etwas romantisch Düsteres liegt über diesem Gebiet. Nicht mehr als zwei Stunden sind vergangen seit den Geschehnissen im zweiten Akt.

Lucie liegt unweit der kleinen Bank lesend im Thymian. Mäurer kommt vom Meer her den Weg hervor und zu ihr.

Mäurer. Bravo! Du bist noch allein, Schusterchen. Puh! Ich fürchtete, es würde womöglich um dich her schon russisch gesprochen. Eine verfluchte Geschichte ist das!

Lucie. Ich glaube, der arme Schilling mit seinen Damen kommt nicht, er fürchtet sich.

Mäurer. Wie kann man um Gottes willen ein Weib so wenig im Kusch halten, daß sie einem wie eine Bracke überall auf der Fährte liegt! Die ganze Insel ist mir verleidet. Sie hat längst, kannst du mir glauben, die Witterung, daß wir mit Schilling etwas vorhaben. Das muß sie durchkreuzen. Davon hält sie kein Anstandsgefühl und nichts in der Welt überhaupt zurück. – Aber sie kann ganz sicher sein, ich habe mir das jetzt auf meinem Gange alles durchüberlegt – sie hat in mir einen zum Letzten entschlossenen Gegner gefunden. Diese Beute jag' ich ihr ab.

Lucie. Vielleicht steht es gar nicht so schlimm, wie du denkst, Ottfried, und Schilling hat Energie genug für sich allein.

Mäurer. Sobald sich's um Energie handelt, trau' ich ihm nicht. Nein! Besonders jetzt nicht. Da dürfte doch ein sehr entschiedenes Nachhelfen unbedingt nötig sein; daran soll es nicht fehlen, ich werde schon nachhelfen. Aber ob es gegenüber ihrer überlegenen weiblichen Strategie und ihrem Arsenal gegenüber was nützen kann, weiß ich nicht.

Lucie lacht. Du wirst sie mir schließlich noch ganz interessant machen.

Mäurer. Daß sie interessant ist, leugne ich nicht. Ich muß sogar manchmal an Goya denken. Ich kann mir ohne Schwierigkeit vorstellen, daß sie dort oben – er weist auf den Kirchhof – hinter der Mauer zu Hause ist, in Gräbern haust und in Ewigkeiten verurteilt sein könnte, sich durch heiß gesogenes Männerblut für ein grausiges Scheindasein aufzuwärmen.

Lucie, lachend. Wenn das wahr wäre, müßte man ihr verzeihn.

Mäurer. Durchaus nicht. Ich hätschele keine Gespenster.

Lucie. Wenn ich dir nun aber sage, Ottfried: ich weiß nicht, wieso mir hier alles gespenstisch ist; das Meer am Tage, das ununterbrochene Wuchten und Brausen der Brandung die ganze Nacht! Die Sterne, die Milchstraße ist mir gespenstig! Und ich freue mich, daß alles hier so gespenstig ist! Deshalb lieg' ich auch hier an der Mauer so gerne.

Mäurer. Ich kann dir eine andre Empfindung zugeben, die den meisten Menschen abhanden gekommen ist: das klare Gefühl, das sich hier ununterbrochen meldet, daß hinter dieser sichtbaren Welt eine andre verborgen ist. Nahe mitunter, bis zum Anklopfen. Dieses Gefühl soll dir, wenn du das meinst, erlaubt sein, Schusterchen. Im übrigen aber bin ich für dich verantwortlich, und ich habe eigentlich, als ich dich mit hierhernahm, nicht den Gedanken gehabt, dich in trübe Vorstellungskreise zurückzuverwickeln.

Lucie. Du meinst, daß mir das Träumen von Mutter was Trübes ist?

Mäurer. Mit offenen Augen soll man nicht träumen; am hellichten Tage träumt man nicht. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, daß alle diese Gespenster Blut trinken. Und das auf die Dauer auszuhalten, haben wir alle nicht Blut genug.

Lucie. Du irrst dich, wenn du meinst, daß mir der eigentümliche Zustand, dem ich so gern hier nachhänge, schädlich ist. Er wirkt angenehm; er ist mir wohltätig. Es ist ungefähr so, als wenn jemand durch eine Tür in unbekannte Räumlichkeiten gegangen ist, und während die Tür sich öffnet und schließt, folgt man ihm mit dem Blick und der Seele ein Stück ins Unbekannte hinein.

Mäurer. Ich weiß, wie sehr dieser Zustand verlockend ist . . . dieser Zwischenzustand, könnte man sagen, wo das Schemenhafte sich überall ins reale Leben mischt; wo man mit einem Fuß auf der Erde steht und mit dem andern im Übersinnlichen. Und doch schaudert der Mensch vor dem Eindruck von Todesfällen und den damit verknüpften aufwühlenden Folgezuständen ganz vernünftigerweise zurück.

Lucie. Es ist mir heiter, es ist mir nicht aufwühlend. Ich wiege mich einfach in dem bestimmten Bewußtsein, daß ich mit Mutter verbunden bin. – Es hat außerdem alles um mich etwas eigentümlich Interimistisches. Ich weiß nicht, ich glaube nicht, daß das alles: das Rauschen, das Licht, das Lerchengetriller endgültig ist.

Mäurer legt den Arm um Lucie. Aber hoffentlich sind wir beide endgültig.

Lucie. Meinst du, Liebster? Ich weiß es nicht! Er küßt sie inbrünstig.

Mäurer. Dich nehm' ich in alle Ewigkeit über alle Fixsterne und Planeten des Weltalls mit.

Lucie. Wirklich?

Mäurer. Was hast du denn eigentlich, Lucie?

Lucie. Nichts. Sie sieht ihn mit großen, feuchten Augen grade an. Ich denke nur manchmal – man sieht es zum Beispiel auch in der Sache mit Schilling –, daß, wenn bei dir Liebe und Kunst in Konflikt kommen, daß dir dann die Kunst das vor allem Wichtige ist.

Mäurer. Ja, aber bei uns gehen sie Hand in Hand, kleines Liebchen.

Lucie. Hat diese Hanna nicht vor zwei Jahren noch einen Sohn gehabt?

Mäurer. Sie behauptet sogar, von Schilling.

Lucie. Nun, und?

Mäurer. Jawohl, es kann ganz gut möglich sein. Es ist ein entzückender blonder Strunk; nur leider, wie's scheint, nicht recht lebensfähig.

Lucie. Na, und Schilling?

Mäurer zuckt mit den Achseln. Er hat mir die Photographie gezeigt. – Das Schicksal eines Kindes, Lucie, ist während der ersten Jahre die Mutter. Sie vernachlässigt es, weil sie lieber Tee trinkt und in Wiener Cafés mit verlumpten Studenten kannegießert. Wenn sie es braucht gegen Schilling, denkt sie daran. Ich wundre mich überhaupt, daß sie diesmal auf den Effekt, mit dem Kindchen im Arm als verlassene Mutter aufzutreten, verzichtet hat.

Lucie. Eigentlich bist du sehr hart – doch ich hab' dich lieb, Ottfried.

Mäurer lacht. Dafür bin ich dann auch ein Dauerspielzeug. – Oder ist es nicht wahr, daß ihr, wie Kinder, was ihr liebt, am liebsten zunichte macht?

Lucie. Pst, Ottfried! Sie kommen. Wir wollen ihnen um Schillings willen entgegengehn.

Mäurer. Ungern, äußerst ungern, Schusterchen.

Auf dem Wege im Hintergrunde tauchen Köpfe auf. Schilling, Hanna Elias und Fräulein Majakin. Lucie ist elastisch aufgesprungen, Mäurer erhebt sich langsam und widerwillig, geht aber, nachdem er sich abgeklopft hat, mit Lucie den Ankommenden entgegen.

Schillings Stimme. Ku-u-i! Mäurer antwortet nicht im Weiterschreiten.

Im Hintergrund findet dann die Begegnung statt. Von der Begrüßung sieht man die Verbeugungen und hört undeutliche Stimmen. Wiederum fliegt eine Möwe von links hinten nach rechts vorn durch das Dünental über den Kirchhof. Nach einiger Zeit lösen sich Mäurer und Fräulein Majakin aus der Gruppe und kommen nach vorn. Die übrigen bewegen sich in der Ferne die Hügel links hinauf, stehen einige Zeit in den Anblick des Meeres versunken und verschwinden dann aus dem Gesichtskreis.

Mäurer. Sie kennen Frau Hanna Elias schon lange?

Fräulein Majakin, langsam und überlegt redend, in der Aussprache die Russin verratend. O nein! Ich kenne sie erst seit kurze Zeit. Wir trafen zusammen auf eine Sitzung in Berlin dieses Frühjahr von die letztverwichene große internationale Frauenkongreß. Mein Vater ist Arzt, meine Mutter ist tot. Ich reise schon seit vier Jahren mit meinem Papa in Europa umher. Er hat seine . . . wie sagt man? Praxis? . . . er hat seine Praxis aufgegeben.

Mäurer. Ich war der Meinung, Ihre Bekanntschaft mit Frau Hanna datiere sich schon von Rußland her.

Fräulein Majakin. O nein! Wie gesagt, erst seit kurze Zeit. Aber ich bewundere sehr Frau Hanna, ich verehre ihr sehr, ich liebe ihr sehr. Ich finde, sie ist eine Frau von Bedeutung, sehr überraschend, sehr wunderbar interessant und klug.

Mäurer. Worin sehen Sie ihre Bedeutung, mein Fräulein?

Fräulein Majakin. Ich liebe nicht Frauen, die Sklavinnen sind und die sich ihr Recht am Dasein verkümmern lassen. Ich verehre ihr sehr, ich verdanke sie viel. Ich kann beinah sagen, sie hat mir zu eine neue Religion . . . zu die Religion von Schönheit verholfen.

Mäurer. Haben Sie denn in Rußland nicht solche Frauen massenhaft?

Fräulein Majakin. Nein Wir haben Frauen, sie sprechen den ganzen Tag von die Politik und gar nicht von Kunst. Sie sind oberflächlich. Man sieht selten sie fasziniert von Kunst. Und es ist sehr schön zu bemerken, wie sehr fasziniert von die große Kunst von Professor Schilling Frau Hanna ist.

Mäurer, mit einem sardonischen Lächeln, das liebenswürdig sein soll. Tja! Das ist sehr hübsch, was soll man da sagen? – Und Sie haben nun also die Religion von Frau Hanna auch in sich aufgenommen? Was?

Fräulein Majakin. Nun, ich bin leider noch jung und sehr ungelehrt. Ich kann mir natürlich nur wenig von ihre Verständnis anmaßen. Sie müssen mit mir, wenn ich bitten darf, nachsichtig sein. Aber ich habe sogleich in die Nationalgalerie begriffen, daß Professor Schilling ein großer Künstler ist.

Mäurer. Wo haben Sie das begriffen, mein Fräulein?

Fräulein Majakin. In das Museum zu Berlin, wo mir Frau Hanna so freundlich war und hat mir vor die berühmte Werke von Professor Schilling geführt.

Mäurer. Ich glaube, wenn Sie das mal dem guten Schilling sagen, daß er Professor ist und Werke in der Nationalgalerie hat, würden Sie ihm einen diebischen Spaß machen.

Fräulein Majakin. Wie sagen Sie?

Mäurer. Nichts. Es war weiter nichts.

Fräulein Majakin. Es ist schade um diesen bedeutenden Menschen.

Mäurer, nachdem er sie verdutzt eine Weile von der Seite angesehen hat. Das stimmt vielleicht. Ich hoffe indes, daß es noch nicht zu spät mit ihm ist. Woher kommt Ihnen aber die Einsicht, mein Fräulein?

Fräulein Majakin. Oh, es ist nicht so schwer, in seine fieberhaft peinvolle Augen zu lesen und in die Linie von sein schweres Leiden in seine schönen, verfallenen Gesicht.

Mäurer, beinah erschrocken. Meinen Sie, daß er körperlich leidend ist?

Fräulein Majakin. Von seine psychische Leiden spreche ich begreiflicherweise nicht.

Mäurer. Nun, es macht mir eigentlich jedesmal Spaß, wenn Leute über Schilling erschrecken. Es geschieht nämlich meistens, wenn sie ihn sehen, beim ersten Mal. Schon vor achtzehn Jahren sah Schilling so aus. Er selbst pflegt immer den Witz zu machen, man könne durch dunkle Ringe um beide Augen die Welt viel genauer und gründlicher sehn.

Fräulein Majakin, ohne darauf einzugehen. Denken Sie, ich habe mir nach die Radierungen, die ich sehr liebe, in die Kupferstichkabinette zu Petersburg von Ihre Person, Herr Professor, auch eine solche Idee gemacht.

Mäurer. Wieso? Sie kennen meine Radierungen?

Fräulein Majakin. Oh, ich habe sie schon im zwölften, dreizehnten Jahr durch meinen Papa in die russischen Sammlungen kennengelernt.

Mäurer. Wenn Sie einen solchen Papa haben, brauchen Sie doch eine Hanna Elias nicht!

Fräulein Majakin. Ich habe gedacht an eine lange, bleiche Gestalt mit kohlschwarze Augen und dünne Lippen, an einen Mensch, der vor die viele große und furchtbare Visionen wie von eine Fieber ausgehöhlt und gefoltert ist. Und nun sehe ich eine gesunde Gelehrten.

Mäurer zuckt mit den Achseln, lacht. Ja, so geht's einem, Fräulein, wie das so ist. Man muß nie den unverzeihlichen Fehler begehn, seinen Idolen zu nah auf den Leib zu rücken. Sie sind während der Unterhaltung, zuweilen stehen bleibend, zuweilen schreitend, zu der kleinen Bank an der Mauer gelangt. Aber, bitte, wenden Sie nun Ihren Blick von dem unschuldigen Gegenstand Ihrer Enttäuschung einmal ab, und betrachten Sie unsre wundervolle Umgebung.

Fräulein Majakin. Sie lieben, scheint es, über alles die Einsamkeit.

Mäurer, lustig erregt. Ich bin ein Gott, wenn ich sechs bis acht Stunden täglich ausschließlich mir überlassen bin. Ein Tag in Gesellschaft macht mich zu jenem geschlagenen, ausgeplünderten, armen Mann, der von Jerusalem nach Jericho zog und unter die Mörder fiel.

Fräulein Majakin. Oh, ich liebe Gesellschaft, ich liebe die Menschen!

Mäurer. Und also gefällt Ihnen höchstwahrscheinlich unsre Insel, wo es keine Wiener Cafés, keine Konzerte und keine Theater gibt, nicht?

Fräulein Majakin. O nein, ich begreife wohl, wie dies alles von eine beängstigend kalte Größe und Schönheit ist. Nur ich leide in solche Umgebung an eine schwere Empfindung von die eigne Geringfügigkeit und Verlassenheit. Dagegen ich liebe, wie eine Gott: der Mensch! Mir sagen nichts diese tote Sandhügel, wo nichts auf die Schrei meines Herzens hört. Ich bin für ihr nicht, und sie sind für mir nicht, und nur der Mensch ist dem Menschen Gott, Himmel, Welt, Heimat und Zufluchtsort. Ich kann in die tote Natur keine Sinn bringen.

Mäurer, verdutzt. Wie alt sind Sie denn, Fräulein Majakin?

Fräulein Majakin. Ich bin vor drei Tagen siebzehn geworden.

Mäurer. Da gratulier' ich nachträglich noch!

Lucie kommt in ihrer temperamentvollen Art über die Dünen nach vorn.

Lucie. Du läßt uns ja auf hinterlistige Weise im Stich, lieber Ottfried!

Mäurer, kühl. Wieso?

Lucie. Ich störe doch nicht hier ebenfalls?

Mäurer, kurz, trocken. Wieso ebenfalls? – Keineswegs doch, Lucie. Lucie stutzt, lacht und nimmt mit einigem Abstand auf der Erde Platz. Sie zupft Halme aus und kaut sie, zugleich Mäurer und Fräulein Majakin unauffällig beobachtend.

Lucie. Dein schnelles Abbiegen hat, glaub' ich, den guten Schilling etwas gekränkt, Ottfried.

Mäurer antwortet Lucien durch einen Blick über die Augengläser, wobei er erstaunt und mit Mißbilligung ihrer Indiskretion den Kopf schüttelt, schließlich wendet er sich mit Achselzucken von ihr ab und zu Fräulein Majakin. Wovon sprachen wir doch, Fräulein Majakin?

Fräulein Majakin. Oh, verzeihen Sie, Herr Professor, was mögen dies wohl für alte Ruinen sein?

Mäurer. Es sind Reste von einem alten Kloster, einer ehemaligen Franziskaneransiedlung. Hier hausten die grauen Mönche von Stralsund. Man findet noch alte Kellergewölbe, und ich weiß bestimmt, wer an Geister glaubt, der kann die Fratres und Patres noch sehen nachts ihre Messe zelebrieren und Umzug halten.

Lucie. Kannst du mir eigentlich sagen, Ottfried, ob dort nach Westen zu in der See noch andre Inseln sind?

Mäurer. Nein.

Lucie. Ich höre den ganzen Tag, und zwar ununterbrochen, Glockenläuten.

Mäurer. Ich auch. Es kann eine Glockenboje, aber noch wahrscheinlicher absolute Gehörstäuschung sein.

Fräulein Majakin. Ich zweifle fast an die Wirklichkeit, wenn ich denke, daß mich der glühende Wunsch von meine unreife Mädchenjahre, Sie zu sehen, nun auf diese unbekannte, einsame Insel, in diese fremde, sonderbare Umgebung auf einmal ganz wunderbar erfüllt worden ist. Sie blickt auf ihre Hände, die etwas zerpflücken.

Schilling und Hanna Elias erscheinen im Hintergrund.

Schilling, mit faxenhaften Gebärden, schreiend. Ahoi! – Kuckuck! Ahoi, Kuckuck!

Mäurer, nervös beunruhigt. Beinahe möchte ich gegen Sie ehrlich sein. Ich stimme nicht . . . ich weiß nicht, woran es liegt . . . ich sympathisiere mit Ihrer Freundin Hanna Elias nicht. Ich gerate in einen, wir Deutsche nennen das: rappligen Zustand. Ich bin ungerecht, es reizt mich an dieser Persönlichkeit jede Miene, jede Bewegung, jedes Wort. Wenn es Ihnen recht ist und Sie meine Gesellschaft nicht lästig finden, so könnten wir ihnen vielleicht noch für einige Zeit, um die Kirchhofmauer herum, aus dem Wege gehn.

Lucie, mit Entschlossenheit. Damit würdest du Schilling bitter beleidigen!

Schilling, wie vorher, etwas näher. Ahoi, Kuckuck! Der Kuckucksruf, den Schilling laut und ziemlich getreu nachmacht, wird vom Echo, aus der Gegend des Kirchhofs, jedesmal stark und deutlich wiederholt.

Mäurer zuckt mit den Achseln, wird vor Ärger rot und sagt scheinbar gleichgültig. Wo werden Sie denn im kommenden Winter sein, Fräulein Majakin?

Fräulein Majakin. In Berlin. Mein Vater gedenkt bis zu Ende März in die dortige Bibliothek zu arbeiten.

Schilling, noch näher. Kuckuck! – Echo: Kuckuck! – Ahoi! – Echo: Ahoi! – Hört ihr den Kuckuck, Kinder?

Mäurer ruft dagegen. Im Herbst einen Kuckuck? Botanik schwach!

Schilling, äußerlich übertrieben forsch, in heimlich bettelnder Verlegenheit. Ehrenwort, Ottfried! Kannst du nicht hören?

Lucie, zu Ottfried. Du kannst dich auch überzeugen, daß unter den toten Vögeln, die nachts an den Scheiben des Leuchtfeuers zugrunde gehn und die um den Leuchtturm unten herumliegen, auch der Kuckuck ist.

Schilling, wie vorher. Kuckuck! – Echo: Kuckuck! – Kuckuck! – Echo: Kuckuck.

Mäurer. Du bist ja recht spaßhaft aufgelegt.

Schilling. Ihr lacht, weil ihr nicht wißt, wer da eigentlich antwortet.

Mäurer. Na, ich denke, ein Kuckuck!

Schilling. Ja Kuchen, Ottfried! Das ist der spaßhafte Anton mit der Sense, der hinter der Leichenhalle sitzt! – Hört ihr ihn denn nicht dengeln, Kinder? Man hört das, Geräusch eines Dengelnden. Kuckuck! – Echo: Kuckuck! lauter als vorher. Die Gesellschaft bricht in krampfhaftes Lachen aus. Wer hat gute Augen von den Herrschaften? Der lese mal, was hinten auf dem Spritzenhaus, oder wollte sagen auf der Totenkapelle, geschrieben steht!

Lucie liest langsam und laut. »Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Erster Korinther fünfzehn, fünfundfünfzig.«

Schilling, mit theatralischer Geste und Wildheit. Kuckuck! – Echo: Kuckuck! – Kuckuck! – Echo. – Kuckuck. – Echo.

Mäurer. Nanu hör aber mal auf mit dem gruseligen Unsinn.

Schilling ist mit Hanna Elias, die sehr bleich ist, herangekommen.

Schilling, krampfhaft unbefangen. Ich gestatte mir, vorzustellen: Ottfried Mäurer, Frau Hanna Elias, langjährige brave Freundin meinerseits. Ein Königreich für ein Glas Pilsener Bier, meine Herrschaften.

Mäurer. Wieder verschwitzt – Donnerwetter noch mal! Gleich, wenn wir zu Hause kommen, wird nach Stralsund telegraphiert, und morgen hast du ein ganzes Faß davon.

Hanna, laut zu Fräulein Majakin. Er war schrecklich niedergedrückt, wie er sagt, und nun ist ihm die heitere Laune wiedergekommen.

Schilling, mit ironischer Begeisterung. Das ist die unendliche Freude, Freude, Freude, mein liebes Kind!

Hanna, finster. Oh, ich nehme nicht an, daß etwa nur ich die einzige Ursache deiner Freude bin. Dennoch fühl' ich sehr wohl, wie wichtig es war, hierherzukommen.

Schilling, mit ironischem Pathos. Ich danke, du opferfreudiges Weib.

Mäurer. Vielleicht interessiert es Sie, Fräulein Majakin, einen Blick auf die ärmlichen, namenlosen Gräber zu tun.

Schilling. Willst du dich wieder drücken, Ottfried?

Mäurer. Mich drücken? Wieso? Ich verstehe dich nicht.

Schilling. Weil dir vielleicht die Gesellschaft eines Künstlers, der nicht so viel solides Sitzfleisch hat wie du, störend ist.

Mäurer, schneidend. Ich stehe bei meiner Arbeit meistens. – Wir kommen gleich wieder; ich zeige der Dame nur mal einige der eigentümlichen Inschriften, die auf dem Kirchhof sind.

Schilling. Ein toter Heuschreck hopst nicht mehr.

Mäurer. Wie meinst du?

Schilling. Das wäre auch so 'ne nette Inschrift. Dort oben liegen nämlich Leute, die, ohne zu wissen wie, auf diese Insel gekommen sind.

Mäurer. Jawohl, es sind gestrandete Seeleute.

Schilling. Sie sind sonst ziemlich mit heiler Haut, die Füße voran, hier angelangt. Nur mit etwas durchnäßten Unterhosen. Aber die trocknen schon wieder mit der Zeit. Manche ohne Hut, einige sogar ohne Strümpfe. Einem wackren Seemanne macht das nichts! Man kann ja pumpen, pumpen, pumpen sein Leben lang.

Mäurer. Wenn das deine neuerworbene gute Laune sein soll, lieber Schilling, dann wünsch' ich mir wirklich deine sogenannte schlechte Stimmung von heute morgen zurück! – Entschuldige uns einen Augenblick.

Mäurer entfernt sich mit Fräulein Majakin, und man sieht ihn durch eine kleine Gitterpforte den Kirchhof betreten. Schilling blickt ihnen nach, zuckt die Achseln, lacht kurz in sich hinein, nimmt auf der Bank Platz und zieht Hanna neben sich, mit dem Blick immer noch das Paar auf dem Kirchhof verfolgend. Alsdann fährt er schnell herum und sieht mit einem verlorenen Lächeln Lucie an, die noch ruhig im Sande liegt.

Schilling. Ja ja, so geht's in der Welt, Fräulein Lucie.

Lucie antwortet, indem sie Thymian in der Handfläche reibt, mit Bedeutung. Der Mensch denkt, und der Kutscher lenkt.

Hanna. Gott sei Dank, ich habe es schon auf der Züricher Universität verlernt, mir von Männern, die unhöflich sind, imponieren zu lassen.

Schilling. Und auch Leute, die auf ihren Erfolgen wie auf Stelzen gehn, imponieren mir nicht.

Lucie. Das kommt Ihnen nicht aus dem Herzen, Schilling. Sie erhebt sich. Übrigens, Schilling, wenn Ottfried wiederkommt und er etwa mich, was ich nicht glaube, vermissen sollte, sagen Sie, bitte, ich wäre zu Haus.

Schilling, mit Beziehung auf Fräulein Majakin Lucies Worte wiederholend. »Der Mensch denkt, und der Kutscher lenkt!« Es ist kein Verlaß in solchen Sachen. Die Überraschungen hören nicht auf. Mit Augenzwinkern. Wollen wir mal schlau nach dem Rechten sehn? Schilling hat sich erhoben und schleicht mit komischer Vorsicht, als ob er Mäurer und die Majakin belauschen wollte, gegen die Kirchhofmauer, die er erklettert.

Lucie, unwillkürlich lachend. Fallen Sie bloß nicht da runter, Schilling!

Schilling. Und besonders nicht nach innen hinein!

Lucie. Nein; lieber, wenn's geht, noch mal nach außen.

Schilling tut einen absichtlich komischen Fall von der Mauer nach außen, Lucie läuft lachend davon und verschwindet. Schilling steht da und putzt sich die Kleider ab.

Hanna. Gabriel, hast du dir weh getan?

Schilling. Keine Spur! Ich glaube, ich rutschte freiwillig runter. Sie an sich ziehend, heiß, ihr ins Ohr. Wolln wir noch mal in die Dünen gehn? Bernstein suchen, mein' ich natürlich.

Hanna, bleich und erregt. Tu alles nach deinem Belieben mit mir.

Schilling. Komisch, die wilden Schwäne, die über uns hinleierten! Bist du erschrocken?

Hanna. Ein wenig!

Schilling. Ich nicht. Meinethalben könnten es Viecher mit Klauen gewesen sein, ich hätte dich doch nicht losgelassen! Du Schwarze, du Schneekühle, du Braut von Korinth! Er stutzt. Siehst du Mäurer?

Hanna. Gott sei Dank, nein, ich sehe ihn nicht.

Schilling, schadenfroh, geheimnisvoll. Er hat auf die Majakin angebissen.

Hanna. Nun, weder als Künstler noch auch als Mensch, ich bewundere ihn nicht. Er kann nur wehrlose Frauen beleidigen.

Schilling, mit spaßhafter Entrüstung. Ja, es ist wahr, Hanna; soll ich ihn fordern?

Hanna. Du scherzest; ich weiß. Du sollst es nicht tun und tust es auch nicht.

Schilling. Durst. Er läßt sich auf die Erde nieder, mit dem Munde über eine Lache, und trinkt. Oh, schmeckst du prächtig! – Er gewahrt sein Spiegelbild in der Lache und erschrickt. Kruzitürken, bin denn das ich?!

Hanna. Du trinkst doch aus dieser grünlichen Lache nicht?!

Eine Krähe schreit.

Schilling. Verfluchte Krähe! Willst du dein Maul halten! – Komm mal her. Hanna, sieh mich mal an – –? Wie seh' ich aus?

Hanna. Ganz wie immer, Liebster!

Schilling. Na, alsdann! Wozu soll ich nach Griechenland? Er ist aufgestanden und starrt bewegungslos gegen das Meer hin.

Hanna vermag ihre heimliche Beängstigung durch seinen eigentümlichen Zustand nicht mehr zu verbergen. . . . Und wenn du mir diesen Augenblick die Weisung geben willst, Gabriel: reise ab, in derselben Stunde will ich noch abreisen. Befiehl mir! Ich weiß, daß du von diesem kalten, herzlosen Menschen abhängig bist. Ich will deine Hand küssen und will abreisen. Ich sehe wohl ein . . . ich will nicht, daß du gepeinigt bist.

Schilling. Horch mal, die See rauscht bis hierherauf. – Er horcht, erhebt plötzlich aus starrer Versonnenheit ekstatisch die Arme, als ob er eine überirdische Vision sähe. Oh! Oh! Oh!! Oh!!! Das Element! Das Element! Wie geblendet von einem überirdischen Glanz, in den er sich auflösen möchte, beginnt er zu wanken.

Hanna. Um Himmels willen, was ist dir denn, Gabriel?

Schilling. Nichts! Gar nichts! Ruhn! Müde! Nur ausruhn, Liebchen! Er hängt schwer in Hannas Armen, die ihn zur Erde niedergleiten läßt.

Hanna. Gabriel! Gabriel! Gabriel!

 


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