Gerhart Hauptmann
Buch der Leidenschaft
Gerhart Hauptmann

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Zweiter Teil

Venedig, am 6. Februar 1897.

Wir sind in Venedig eingelaufen. Die phantastische Wasserstadt, die ich zum ersten Male sehe, ist mir nun also eine Wirklichkeit. Anjas Jugend ist von den Prokurazien umrahmt, von märchenhaften Gebäuden orientalischer Gotik umstellt, von Glockentürmen und Kirchenkuppeln überragt und schaukelt auf Gondeln durch die Straßen. Ihre und meine Augen, wenn wir sie aufschlagen, treffen auf die Wunder Tintorettos, Veroneses und Tizians. Wir schwimmen gleichsam im Glanz zwischen zwei Himmeln hin, und wenn wir schreiten, sind Marmorstufen unserer Füße tägliches Brot.

Anja ist in einem Hotel untergebracht, während ich ein Zimmer an der Piazza San Marco innehabe. Es ist nachts zwölf Uhr, ich bin allein. Der Fasching lärmt, der Platz scheint in einen Ballsaal verwandelt. Kinder treiben Kreisel, als ob es Tag wäre.

Wenn ich den Blick durch die Scheiben des hohen Fensters meines kahlen, großartig-ungemütlichen Zimmers in den Procuratie vecchie über den Platz schweifen lasse, welch ein buntes Farben- und Maskengewimmel! Pierrots, Kolombinen, grotesk verlarvt oder nur mit der seidenen Halbmaske, ziehen in lachenden, schwatzenden, lärmenden Zügen, nicht ohne Gitarrengeschnarr und Mandolinengeklimper, umher oder stehen in Gruppen beieinander. Die farbenbunten Cafés unter den Lauben strotzen von Licht, und auch sonst ist die Piazza hell erleuchtet.

Wie kommt es nun, daß wir wirklich und wahrhaftig hier gelandet sind? Säulen und Säulengänge sind schuld daran. Sieht man dorische, ionische oder korinthische Säulen im Nordlandnebel, so mag es kommen, daß man einige Tage später im Lande der Säulen und Tempel erwacht. Es waren wiederum die Kolonnaden vor der Nationalgalerie, die es uns antaten, als wir, in ihrem Schutz umherwandelnd, den stürzenden Regen abwarteten, nachdem wir die Museen besucht hatten. Die dort erfahrenen Eindrücke wirkten auch diesmal mit, uns im Gedanken an unser Berliner Winterdasein etwas wie Verbannung oder Gefangenschaft empfinden zu lassen und, verbunden damit, den unwiderstehlichen Drang zur Flucht.

Ich schilderte Anja die Wunder von Rom, malte Neapel, Capri, Herkulanum und Pompeji aus, schwor, wer den Süden nicht kenne, wisse noch nicht, was Leben sei. Auch der sei nur halb, der im Norden nicht die Erinnerung an den glücklichen Himmel Griechenlands und Italiens in sich habe. Wir froren. Unsere Liebe fror. Das naßkalte Wetter drang uns bis auf die Haut, wir mußten uns endlich einmal trocknen. Wir litten allenthalben an einem Gefühl der Obdachlosigkeit: wir wollten einen glückseligen Wandel unter Palmen, an goldenen Gestaden azurner Golfe daraus machen. Jetzt galt es zu schwelgen, denn wir hatten genug gedarbt.

Wir wurden von einem Wirbel gepackt! Wir hatten es satt, mit dem Reichtum unserer Liebe in Finsternissen, zwischen Gossen und Traufen herumzuirren, waren es müde, uns immer wieder von den Blutegelbissen unseres Gewissens erholen zu müssen. Wir warfen es von uns und traten es tot. Marmorne Götter tauchten auf: ein weißes Winken weißer Hände versprach uns Berauschten den wahren Rausch. Wir fühlten, sie unbeachtet lassen war Todsünde! sie beachten aber und ihnen folgen: Auferstehung, Himmelfahrt! Das eine die Hölle, die Verdammnis für ewig, in diesem gar nicht hoch genug zu bewertenden Leben mit seiner Nimmerwiederkehr ein Verlust, der nicht zu ermessen war – das andere ein Jubel, ein Aufschrei des Glücks, eine Vollkommenheit.

Es war eine Woge, die uns ergriff: wir würden uns hingegeben haben, und wenn wir gewußt hätten, wir müssen an einer Klippe zerschellen!

Wie ungeheure Schwärme von Zugvögeln fuhren die Argumente auf uns ein, unwiderstehlich durch ihre Masse und den schwirrenden Schlag ihrer Flügel, durch die Wucht ihres Schwunges nach Süden fortreißend. Es war mit uns nicht mehr zu paktieren: kein Zugang führte in unsere Benommenheit.

Bedenken konnten dem Sturme nicht standhalten, sie hatten uns lange genug wie ein widerwärtiger Leim an den Boden geklebt: mochte Melitta, wenn sie von unserer Flucht in die Freude erfuhr, noch so bitter betroffen sein.

Ja, und abermals ja: ich hatte recht, mich einmal ganz der Misere zu entraffen, einmal die Verzweiflung abzuschütteln, die eben doch in Berlin unser Begleiter ist. Was haben Anja und ich mit der Trübsal ausgehender und betrogener Existenzen zu tun?! Was gehen uns alte Männer an, die beschränkt und friedlich auf dem Boden ihres Verzichts vegetieren? oder jenes Donna-Anna-Schicksal in Mozarts »Don Juan«, das sich immer und ewig wiederholt? Hatten wir nicht das Recht, den göttlichen Keim der Freude, den wir beherbergen, einmal an die Sonne zu tragen, statt in Nebel und Kälte immer nur mühsam seiner Verkümmerung entgegenzuarbeiten? Es war ein helles Aufblitzen inneren Lichts, als ich nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, das zu tun, deutlich empfand.

Nun auf einmal steht Anja ganz in meinem Schutz. Aller Widerstand der Familie ist von uns beiden zunichte gemacht. Niemand fragt mehr, auch nicht der Vormund, was Anja tut, wo Anja weilt, wenn sie mit mir zusammen ist. Wir sind ein fest verbundenes Paar, freilich zunächst ohne Sinn und Vermögen für alles das, was mit dem Gedanken einer Ehe verbunden ist. Das Bohemientum ist unser Bereich mit allen seinen besonderen Reizen.

Erlösend und befreiend ist die Festivitas dieser Stadt, für Anja und mich das wahrhaft entfaltende Element dessen, was in uns ist. Überall Gold, Purpur und Hermelin, überall Veronese, Tintoretto und Tizian, Tintoretto, Tizian, Veronese. Ein Rausch von lebenbejahender Fülle, Macht der Freude, die ich überall der Geliebten gleichsam zu Füßen legen kann.

Liebe ist eine Trunkenheit, Begeisterung ist eine Trunkenheit, diese Stadt Venedig aber ist eine einzige Trunkenheit: mit der himmlischen Liebe Mariens hat sie nur zu tun, soweit sie irdisch ist. Denn diese meergeborene Stadt ist die Aphrodite unter den Städten. Aber Pracht und Prunk, der juwelenbesetzte, schwere Mantel, der sie bedeckt, ist einer Königin des Himmels ebenso würdig. Prunkbeladen ist in Venedig selbst die Luft, wenn einmal die Sonne Venedigs alle seine Zauber entbindet.

Ich lehne es ab, an die schlammigen Kummerstraßen im nordischen Nebel zu denken. Ich schüttle mich. Dies und das aber aus jenem Bereich läßt sich besonders in nächtlichen Stunden nicht ganz ausschalten. Vor etwa acht Tagen bin ich von Dresden aufgebrochen, nachdem ich meiner Pflicht genügt und einige Tage bei Melitta und den Kindern zugebracht hatte. Sie mag glauben, obgleich ich davon nicht gesprochen habe, daß ich aus beruflichen Gründen und ohne Anja nach dem Süden gegangen bin.

Widerwillig besuchte ich mit Melitta eine gegossene Schlittschuhbahn, wo man zum gräßlichen Lärm einiger Blechinstrumente gegen zehn Pfennig Eintrittsgeld Bogen schlagen durfte. Dieser vereiste Bauplatz, umgeben von einem hohen Plankenzaun, war ein überaus häßlicher Aufenthalt. Aller Augenblicke wurde man durch das Einfahrt fordernde Heulen eines Zuges auf dem nahen Viadukt stumm und taub gemacht. Das jämmerliche Wintervergnügen, das Melitta genügen mußte, schlug mir aufs Herz, der Braunkohlenrauch auf die Lungen. Glück, Freude und Sonne in vollen Zügen zu schlürfen, während Melitta hier verstoßen und einsam herumhumpeln würde, schien mir zeitweilig eine Unmöglichkeit. Es kam der Abschied, es kam die Abreise. Die Kinder waren zur Schule gegangen. Melitta hatte es vorgezogen, um die Schmerzen des Abschieds nicht zu verlängern, statt mit mir auf den Bahnhof, allein auf die Eisbahn zu gehn. Ich sollte ihr im Vorbeifahren, auf dem Viadukt, aus dem Fenster des Schnellzugs winken.

Es war an einem nebelgrauen, feuchtfinsteren Vormittag, als der Zug aus der Halle fuhr. Der schwarze Qualm unserer Maschine, die heftig fauchte, stürzte sich gleichsam kopfüber in die wenig belebten Straßenzüge längs des Viaduktes hinab. Bekannte Gegenden tauchten auf, jetzt das Haus, in dem meine Frau wohnte, dann, mir stockte der Atem, die Eisbahn hinter dem schmutzigen Plankenzaun. Und nun auf der leeren Fläche, in schwarzem Barett, schwarzer Pelzjacke und türkischem Schal, eine einzige, einsam humpelnde Frau. Wir winkten, winkten . . .!

Ich hatte nicht gedacht, daß mir noch einmal ein Abschied von Melitta so stechend schwer werden würde. In diesem Augenblick wollte ich wieder die Tafel meines Schicksals mit einem Schwamm reinigen und alles außer dem Namen Melitta auslöschen.

Gott sei Dank war ich allein im Coupé. So konnte ich mit den Zähnen knirschen, konnte die Tränen der Wut und des Ingrimms abtrocknen, die mir den Blick verschleiert hatten, als der türkische Schal zu winken begann. Selten ist wohl so stark und so schmerzhaft an meinem Herzen gerissen worden!

Nun, da ist er ja wieder, der Schatten, den das stärkste Licht nicht auflösen, sondern nur vertiefen kann. Ich denke, ich gehe zu Bett, um nicht womöglich zum Verräter zu werden an dieser mir vom Himmel geschenkten, göttlichen Zeit. Freilich, der wäre zum Übermenschen erhoben, der sie ohne den feinen, trübenden Schleier vor der Sonne, der sie im verlorenen Stande der Unschuld genießen könnte. – Oder nicht . . .?

 

Rom, am 22. Februar 1897.

Regen, Schauder, schlechte Nacht. Leute wie ich werden ein gewisses unheimliches Reisegepäck nicht los, wenn sie sich auch noch so viele Mühe gegeben haben, es daheim zu lassen. Mein Gedächtnis ist zu gut. Zu dem guten Gedächtnis kommt nun hier in Rom noch das sogenannte Hundegedächtnis. Ein wesentlicher Teil meines Jugendlebens und -leidens hat sich auf dem römischen Boden abgespielt. Ein heiterkühnes Streben brachte mich mit achtzehn Jahren hierher. Als mich zum erstenmal der Lärm dieser ewigen Stadt umrauschte, weckte sie eine Empfindung eigener Bedeutung in mir. Es war das Gefühl für das ungeheure Schicksal dieser Stadt, das sich mir mitteilte, obgleich ich dieses Schicksal damals wie heute nur zu ahnen vermochte. Einerlei, das Gefühl war da: und so hatte ich groß fühlen gelernt, ganz gleich, ob ich in dem Objekt irrte oder nicht, das ich ihm unterschob. Aber wie man, in einem Sturme wandernd, selbst gleichsam zum Sturme wird, hatte ich ganz recht, mir nach Maßgabe meiner Gefühlserfahrung Wichtigkeit zuzubilligen.

Über den Korso bewegen sich jetzt die Maskenzüge des Karnevals. Um dieselbe Zeit vor siebzehn Jahren hatte mein mächtiger Römerrausch sein Ende erreicht. Es wäre beinahe ein Ende mit Schrecken geworden.

Eines Morgens wachte ich in meinem zellenartigen Zimmerchen mit hohem Fieber auf, nachdem ich am Abend vorher, als letztes Mittel gegen ein immer wachsendes Unbehagen, einen langen Dauerlauf ausgeführt hatte. Meine Wirtin verständigte einen Freund. Der Arzt, den er brachte, forderte Überführung in ein Krankenhaus. Meine Braut, damals in Rom, wurde von meinem Zustand unterrichtet – es war dieselbe Melitta, die nun vielleicht wieder auf dem greulich vernebelten Bauplatz humpelt –, Freund Seebaum trug den schwer an Typhus Erkrankten über die Treppe in die Droschke hinab, um ihn in das Deutsche Hospital einzuliefern. Noch weiß ich genau, wie auf der Fahrt über den Korso aller Augenblicke Schellenkappen und Pritschen in den Wagen hineinlärmten oder Lapilli gegen die Fenster hagelten.

Alles ist wie gestern geschehen und doch, wie gesagt, siebzehn Jahre her.

Ich hatte heut also eine schlechte Nacht. Die aufgestörten Bilder dieser Nacht ließen mich vergessen, daß siebzehn Jahre vergangen sind, und im Aufschrecken war es mir, als käme nun erst jener Morgen, wo ich die Wirtin an meinem Bett die Hände ringen, dann Freund Seebaum und den Arzt erscheinen, endlich meine Braut, Melitta, in der Bestürzung und Angst ihres Herzens sah. Hundertmal erlebte ich wiederum, in Schweiß gebadet, die langsame Fahrt durch das Faschingsgewimmel und alles, was dem Zusammenbruch vorangegangen war. In diese quälend überfüllte Traumeswelt ergoß sich nun als ein schwarzer Strom alles das, was ich, in Paris, auf dem Meer und überhaupt seit dem Eintritt Anjas in mein Leben, andere leiden gemacht und selber gelitten hatte.

Was zog mich eigentlich nochmals nach diesem Rom und heißt mich die düsteren Todesschauer noch einmal durchkosten, die ich damals empfunden habe? –

Ein Brief meines Vaters ist angelangt. Er teilt mit, daß Onkel Schulte gestorben sei.

Er schließt den Brief: »Wir Alten müssen ja nun alle das Feld räumen, das ist natürlich. Der Gedanke daran stört meine Lebensfreudigkeit nicht. Ich freue mich des Tages, der mir in mäßiger Gesundheit verliehen wird, und sage nur: Walt's Gott!«

Da fängt sie schon an sich auszuwirken, die Stimmung, die über dem Besuch meines Vaters und meines Onkels Schulte in Grünthal lag.

Der erste Blitz ist aus dem heiter-schweren Himmel des Verzichtes herabgezuckt. Ich finde die Haltung und philosophische Ruhe meines Vaters bewundernswert, aber ich bin noch nicht alt genug, um den Todesgedanken, die hier überall um mich aufschießen, ohne Schauder und Furcht zu begegnen.

 

Rom, am 28. Februar 1897.

Der gestrige Tag ließ sich heiterer an und ist ebenso zu Ende gegangen. Auf Regentrübe ist Sonne gefolgt. Im allgemeinen bleibt es dabei, daß die Außen- und Innendinge gleichermaßen von der Art der Beleuchtung, der Luftmischung, der Temperatur, kurz, vom Klima abhängen. Außerdem steckt eine Grippe in mir, die vielleicht ihren Höhepunkt überschritten hat.

Anja und ich besuchten Freunde, die in ähnlicher Lage sind wie wir, einen Maler Emmerich Rauscher und seine Geliebte, in der Via Flaminia. Diese beiden Menschen, wenn man von der Kunst des Malens absehen will, besitzen eigentlich nichts als ihre Schönheit und ihre Leidenschaft.

Sie haben sich in einem halb zerbröckelten kleinen Hause in der orientalisch wirkenden, zerbröckelnden Straßenflucht vorstadtmäßig eingenistet. Sie bewohnen zwei Räume von geradezu klassischer Dürftigkeit. Auf den roten Fliesen des einen die Feldbettstelle und Matratze darauf, welche nachts die Liebenden trägt. Als Decken müssen Mäntel und andere Kleidungsstücke herhalten. Der andere Raum ist das Studio. Der einzige Tisch und einige nach italienischer Art unpolierte, strohgeflochtene Bauernstühle können frei gemacht werden, wenn man ein Gelage veranstalten will, wozu es denn gestern auch gekommen ist.

Nachdem die erste Wiedersehensfreude vorüber war, zogen wir aus, um einzukaufen, und kamen mit den erforderlichen Korbflaschen, Brot-, Butter- und Salamimengen heim. Ein andrer »alter Römer« und Freund kam hinzu, der die Eigenschaften eines Malers mit denen eines Forschers vereinigt, da er ernste botanische Schriften geschrieben hat. Und so wurden Stunden begonnen, durchlebt und ausgekostet, die selten sind.

In diesen kahlen Räumen eines römischen Armenviertels hatte der größte und früheste unter den Göttern, hatte Eros sein Quartier aufgeschlagen. Die zauberische Jüdin aus Odessa, Geliebte des Freundes, war so weiß wie Milch und so schwarz wie die Nacht. Schwarzes Feuer brannte in ihren Augen. Wenn es jemals Lemuren gegeben hat, so wie Esther Naëmi mußten sie aussehen. Sechsundzwanzig Jahre höchstens war diese blutlos-wächserne Frau, die ihren Mann verlassen hatte. Das zarte, grade Näschen, der feine, süße, immer gefährlich zuckende Mund waren von solcher Feinheit und Vielfältigkeit des Linienspiels, daß jedes andere weibliche Antlitz dagegen derb wirkte.

Ihr verlassener Mann hatte dieses gefährliche Rassenwunder in Zürich kennengelernt, wo sie unter den frühesten Studentinnen eine war, auch damals in Rußland bereits verheiratet, um von den Eltern frei zu werden und einen Auslandspaß zu erhalten. Sie war durch und durch revolutionär, auch im Moralischen, und hielt sich hierin für nur sich selbst verantwortlich.

Ich war nicht froh, als in Gestalt dieser Jüdin das Verhängnis über Rauscher kam. Von Anfang an war es unwahrscheinlich, daß gerade er, verheiratet und Vater von Kindern wie ich, sich jemals dem Gewebe einer solchen Spinne entreißen würde.

Die Spinne ist eine Blutsaugerin. Auch diese Spinne, wie alle anderen. Das Aussehen meines Freundes bestätigt das. Es gibt keinen Mann, der die Gefahr, in der er schwebt, nicht fühlen sollte. Was mit dem vampirisch genossenen Blut geschieht, weiß man nicht, da es Esther Naëmis Farbe nicht ändert.

Alle Bedenken aber, alle Sorgen und Befürchtungen versanken in den immer höher gehenden Wellen unseres Symposions. Gegenwart, eine glückliche und erhöhte Gegenwart, ließ Vergangenheit und Zukunft nicht zurücktreten, nahm sie vielmehr beide in sich auf, aber nur, um sie in ihrem Feuer zu verzehren und als eine Art Freudenopfer verlodern zu lassen. Das große Gastmahl Platons, bei dem ein Sokrates, Alkibiades und Aristophanes unter den Gästen waren, muß es sich gefallen lassen, wenn die meisten kleineren Gastmähler, bei denen Künstler und sonstige Freunde des Schönen zusammen sind, sich ihm verwandt fühlen. Unser Kreis war klein, wenig liegt an den Namen derer, die sich im Laufe des Abends noch anfanden. Genug, sie waren von einem Geist erfüllt, und das, was in Gestalt zweier leidenschaftlich liebender Paare im Zentrum stand, ist ja wohl, wie man bei dem höchsten Priester des Schönen lernen kann, etwas, wodurch man dem wahren Sein und dem Schönen an sich am nächsten kommt. Wir tranken den dunklen südlichen Wein, und so wurden nur immer Libationen und abermals Libationen dargebracht, bis wir Zuzug aus den ewigen Reichen erhielten: Perikles, Pheidias, Platon, ja Sokrates selbst tauchte auf, Winckelmann fand sich oft zitiert, Goethe ersah die Gelegenheit, sich an den Feuern zu erneuen, die hier genährt wurden, und mischte nicht selten seine Stimme unter die unsrigen. Wir beiden irregulären Paare verbrachten hier eine heilige Nacht unter allerhöchster Legitimation. Wußten wir auch am Morgen nicht, was wir gefühlt und genossen hatten, da die Flamme erlischt, wenn der Brennstoff verzehrt worden ist, so zweifelte dennoch keiner, daß wir Stunden der höchsten Befreiung gelebt hatten.

Emmerich Rauscher hatte wohl einen Aufschwung notwendig. Bei weitem nicht alle Künstler hier in Rom sind von der Art, daß sich die Geister Winckelmanns und Goethes unter ihnen wohlfühlen könnten. Es ist da ein kleiner philiströser Ring, der sich auftraggierig um die deutsche Botschaft herumlagert und Rauscher nach Kräften Schwierigkeiten bereitet. Hier macht ihn das Verhältnis, in dem er lebt, anstößig. Was sie alles selbst auf dem Gewissen haben, stört diese Kollegen nicht. Seinem Antrag, in den deutschen Künstlerverein aufgenommen zu werden, hat man also nicht stattgegeben und, um das zu rechtfertigen, Rauscher noch besonders verleumdet: er lasse sich von der Geliebten aushalten.

Niemand weiß besser als ich, daß dies die infamste Lüge ist. Ich kenne die Quellen seiner Bezüge. Niederträchtigkeit aber muß sich ausleben, und wer wüßte nicht, daß eine wenn auch nur moralische Steinigung durchzuführen ein gesuchtes Vergnügen ist.

Wie ein Stahlbad hat der gestrige Abend auf Rauscher gewirkt. Er scheint mir ein anderer Mensch geworden. Er hat einen festen Schritt und Blick und, was die Zukunft angeht, neue Zuversicht.

 

Sorrent, am 2. März 1897.
Albergo Cocumella.

Es ist viel unausgesprochen geblieben aus den letzten Tagen und wird es am Ende bleiben für immer. Unausschöpfbar ist dieser Zusammenklang von Gegenwart und Vergangenheit, die ich in Rom erleben mußte. Allzuviel drang dort auf mich ein.

Es scheint mir, daß ich hier in Sorrent, insonderheit in der Cocumella – so heißt mein Hotel – den Ort gefunden habe, wo es sich im Verborgenen leben und arbeiten läßt. Wie unaussprechlich die Schönheit des Ortes ist! Fast leidet man Schmerzen unter der Größe und Süße der Eindrücke. Kaum faßlich, daß man dies alles nun vielleicht wochen- und monatelang täglich wiedersehen und genießen soll: am Morgen, am Tag und am Abend zuletzt, während die Sonne sinkt, versunken ist und über dichten Gärten von Zitronen und Apfelsinen die Fläche des Meeres verlischt. Heute tönte und schluchzte dazu ein Sprosser, eine italienische Nachtigall.

Cocumella: mit Behagen schreibe ich das Wort. Wie wohlig umfriedend ist mir schon jetzt dieser Begriff. Ich schreibe, und alles ist ruhig um mich, sitze wie der Mönch in der Zelle. Die Tür ist geöffnet auf ein flaches Terrassendach, ich höre den lauen Regen träufeln.

Jesuiten haben dies ehemalige Kloster bewohnt. Es ist eine morgenländische Anlage, die von heiter verschlossenem Lebensgenusse spricht.

Wir heutigen Nutznießer und Bewohner der Cocumella-Herberge haben den Vorteil von dieser schön verzweigten, weiten mönchischen Anlage. Ich bin kein Mönch, denn wenn ich, von meiner Zelle aus, das Dach überschreite, gelange ich an Anjas Tür, die keine Nonne ist.

Und doch ist mönchisches Wesen auch in mir, dessen ich hier froh werde.

Fast vollkommen ist meine Ruhe und Abgeschlossenheit. Diesen Zustand verbürgt den meisten Bewohnern die klösterlich durchdachte Architektur, ihre stillen Winkel und Andachtsplätze.

Das Gärtchen der Cocumella stößt an den Rand des hohen Steilufers. Im Innern der weichen Felsmassen führt ein Gang mit Treppen und Treppchen, offenen Söllern und Loggien zum Strande hinab. Die kleine Spiaggia gehört zum Hotel und ist außerdem nur noch vom Meere zugänglich. In den Loggien und Söllern genießt man die tiefste Einsamkeit und mehr noch am Strand, den ich deshalb besonders liebe.

Riesige Felsmauern schließen ihn ein, in denen Natur und Architektur sich zu einer seltsamen Phantasmagorie verbinden. Riesige Strebepfeiler sind bis zur Höhe geführt, Vorsprünge zeigen kräftige Rundtürme, an schwindelerregenden Schroffen öffnen sich Höhlen mit Geländern gegen das Meer hinaus. Die ganze natürlich-künstliche Bastion trägt überdies malerischen Schmuck von Bäumen und Schlingpflanzen, sie hängen gleich Wimpern über den Öffnungen und langen mit Strähnen und Ketten von Blüten zur Tiefe hinab.

Auf der kleinen Marina sonnen Anja und ich uns oft stundenlang. Wir waren gewöhnt, da uns niemand bisher gestört hatte, sie als unser Privateigentum zu betrachten. Heute nun fanden wir dort ein Pärchen der üblichen Hochzeitsreisenden vor. Der geschniegelte Ehemann gab sich als Maler aus, er stand wenigstens hinter einer Staffelei. Die junge Gattin im knappen Tailormade-Kleide hatte sich in der Nähe niedergelassen. Ich hoffe zu Gott, daß sie morgen verduftet sein werden.

 

Sorrent, am 3. März 1897.
Albergo Cocumella.

Mein erster Eindruck hat mich getäuscht. Das geschieht mir nicht selten, wie ich allmählich anzunehmen Grund habe. In dem Maler, auf den ich gestern an der Marina stieß, habe ich einen liebenswürdigen Gentleman und Künstler kennengelernt. Wir haben unsere Gedecke zusammengelegt, da auch seine reizende Frau und Anja Freundschaft geschlossen haben.

Der junge Preysing, mit Vornamen Götz, der übrigens ein gesunder Bajuware ist, trat auf mich zu und richtete Grüße von Emmerich Rauscher aus, mit dem er in Rom zusammen war. Merkwürdig, Rauscher hat mir von Preysing nie gesprochen. Seine Bekanntschaft mit ihm geht auf München zurück.

Der Verkehr mit dem jungen, schönen Paar ist sehr wohltuend. Sie ist eine lebenslustige Österreicherin, die, wie Anja, gut lachen kann, Preysing nicht nur ein talentvoller Maler, sondern auch ein gebildeter Mann, der viel in der Welt herumgekommen ist. Er hat Humor und weiß zu erzählen.

Übrigens aber ist er ein Mensch, der das Herz auf dem rechten Flecke hat. Das beweist die Art, wie er von Emmerich Rauscher spricht und immer wieder erwägt, wie man ihm aus der jämmerlichen Lage, in die er geraten ist, heraushelfen könnte. Wenn er auf Esther Naëmi kommt, gerät er in Erbitterung.

Er wünscht ihr den Tod, ja, er behauptet, sie sei schon tot und habe deshalb kein Recht zu leben. Er zitiert die Braut von Korinth:

Ist's um den geschehn,
muß nach andern gehn,
und das junge Volk erliegt der Wut.

Er will jedoch Rauscher nicht nur von ihr, sondern auch von seiner eigenen Frau losmachen. Rauscher sei zu gut, um im Broterwerb für die Familie auf- und unterzugehen. Es stellt sich heraus, wir haben für diesen leider etwas willensschwachen jungen Menschen die gleiche Vorliebe.

»Wäre nicht dieses durchtriebene, höchst gefährliche Weib«, sagt Preysing, »so könnte man Rauscher herkommen lassen. Für ihn würde das eine Erlösung, für uns das größte Vergnügen sein, aber sie läßt ihn nicht los, hält ihn fest, wo er ist, oder hängt sich ihm an.« Er schließt: »Ich habe das sichere Vorgefühl, daß die Sache für Rauscher das traurigste Ende nehmen muß, wenn es nicht bald gelingt, ihn aus den Fängen dieser Harpyie zu reißen.«

Es wurde darüber gestritten, ob Rauscher in seiner Liebe glücklich sei oder ob er sich nur in sein unvermeidliches Schicksal ergeben habe.

Eigentlich ist es recht von außen her, wie Preysing über Rauscher spricht, eine Art, in die ich seltsamerweise einstimme. Inwiefern soll diese Sache weniger berechtigt und gefahrvoller als die meine sein? Irgendwie schmeckt die Atmosphäre um dieses fieberhaft überhitzte Paar allerdings nach Untergang: was dermaßen lodert, muß schnell verbrennen. Hier ist nicht wie bei uns ein Neubeginn an ein Ende geknüpft, sondern hier scheint ein Ausgang, scheint das Ende selber zu sein.

Irgendwie haben die Atmungsorgane meiner Ehe für den Weg, den ich vor mir sehe, nicht ausgelangt. Anja mit ihren frischen Kräften ist eingesprungen. Die Lebensreise wird in einem ganz neuen, schnelleren Rhythmus fortgesetzt. Ich weiß, daß Melitta zu dieser Gangart nicht fähig ist und ihr sowohl für den Weg als für das neue, ferner und höher gesetzte Ziel die Kräfte fehlen. Auch ohne Anja, wie ich jetzt sicher glaube, würde ich das erkannt haben, und eines Tages hätte ich, Melitta zurücklassend, meinen Weg allein fortgesetzt.

Es ist eine gewisse Schwermut in mir, über die ich mich nicht beklage. Seit Rom hat sie wieder Gewalt über mich. Ist sie vielleicht eine Frucht von Italien? Ihr Wesen ist viel zu allgemein, als daß ich sie aus meinen besonderen Umständen herleiten könnte.

Es ist nicht eigentlich eine Verdüsterung, wie sie zuzeiten Melitta gefährlich wird. Sie hat Weite und Größe und erhebt auch wohl, indem sie bedrückt. Sie gab mir jüngst in Florenz in der Sagrestia nuova und in Rom vor der Pietà des Michelangelo die Fähigkeit, diesem Titanen des Schmerzes nachzufühlen. Die Schwermut des nordisch bewölkten, nächtlichen Tages mag furchtbar sein. Die Schwermut des unbewölkten Himmels, wie sie ein Dante, ein Michelangelo auf sich zu nehmen hatten, übersteigt sie an Furchtbarkeit.

Grato m'è il sonno, e più l'esser di sasso,
mentre che il danno e la vergogna dura;
non veder, non sentir m'è gran ventura,
però non mi destar, deh, parla basso!

Das ist eine übergroße, überirdische Müde!

Meine Schwermut, die bald zu meinem kranken und verarmten Bruder Marcus, bald zu meinem um eine Chimäre wütend ringenden Bruder Julius, bald zu Melitta in die Ferne schweift, bringt in unseren heiteren Kreis immer wieder allzu ernste Gesprächsthemen. Länger als ein Jahrzehnt begleitet mich auf allen meinen Wegen der »Gefesselte Prometheus« des Aischylos. Da ist ein Gott, ein aufsässiger Gigant von Hephaistos auf Befehl des Zeus an eine Felswand über dem Meer geschmiedet. Dort besucht ihn täglich ein riesiger Geier, der seinen Leib zerreißt und an seiner Leber frißt. Im Symbole liebten die Alten das Gräßliche. Warum ergriff ich diese Gestalt, bewahrte ich diese Gestalt, umfange ich diese Gestalt noch heut mit Leidenschaft?

In allen Gestalten des Michelangelo, und zwar nur in den seinen, ist das Prometheische. Wir sprachen davon, und Anja veranlaßte mich, den neugewonnenen Freunden Notizen über die Pietà vorzulesen. Eigentümlicherweise sah ich diesmal in der Ewigen Stadt nichts als die Pietà. Auch in dem kahlen, öden, seelenlosen Barock der Peterskirche, das sich nicht einmal zu dem ihm wesenhaften leeren Pathos steigert, sah ich sie allein. Man sollte sie wegnehmen und um sie allein und für sie allein einen Tempel bauen.

Alles Titanentum des Titanen ist hier zerbrochen vor einer rätselhaften Übermacht. Keine Madonna irgendwelchen Meisters hat die unergründliche Tiefe dieser Pietà. Diese Maria ist Wissende, Erdmutter, Gottesmutter. Nicht zerbrochen, sondern nur ruhig geworden in übermenschlicher Leidenskraft. Und plötzlich, in einem Augenblick, kam es mir vor, als sei sie der Gestalt gewordene Genius Michelangelos in seiner tiefsten und eigensten Schöne.

 

Sorrent, am 16. März 1897.
Albergo Cocumella.

Hohe Zeiten, glückselige Zeiten, göttliche Zeiten! Getragen von Jugend, Liebe und Schönheit, haben wir eine Lustfahrt erlebt und leider nun hinter uns. Anja und Frau Preysing im Wagenfond, Preysing und ich auf den Rücksitzen, bewegten wir uns unter heitersten Gesprächen langsam fort, überm Meer, auf der schönsten Felsenstraße der Welt, Positano vorbei, um den ersten Tag in Amalfi zu enden. Im allerglücklichsten Zustand, der Menschen vielleicht geschenkt werden kann, im heitersten Zentrum irdischen Seins und aller Erfüllungen, brannten wir innerlich gleichsam von Ungenügsamkeit und schwelgten in allen Möglichkeiten glückseligen Lebens. Wieviel Schlösser haben wir nicht in die Luft und auf die strahlenden Felsterrassen zur Linken gebaut, Inseln besiedelt, die aus dem wogenden Blau der Tiefe zur Rechten tauchten, und viele andere im Glanze des himmlischen Raums! Irdische Menschen aber überhaupt noch zu sein, mochten wir auf der Terrasse des Kapuzinerklosters in Amalfi, jetzt einer Herberge, nicht mehr annehmen, als wir uns im nächtlichen Mondschein und in einer balsamischen Luft ohnegleichen förmlich auflösten: von einer ähnlichen, überweltlichen Möglichkeit irdischen Atmens hatten wir bis dahin nicht gewußt.

Gegen diesen Zustand, der alles in uns zum Schweigen brachte, was nicht Empfindung war, erschien alles grob, was selbst Liebe in unserer Lage zu bieten hat. Wir schlossen kein Auge in dieser Nacht und waren am Morgen, als wir in unserem Landauer saßen, beinahe froh, solchen fast unerträglichen Wonnen ins grelle, derbe, formenscharfe Tagesleben entronnen zu sein.

Am zweiten Abend nahm uns das alte Albergo del Sole in Pompeji auf, das ich aus meiner Frühzeit kenne. Niccolò Erre, der alte Wirt, lebt nicht mehr. Er liebte die Künstler und diese ihn, und wenn sie zu tief in die Kreide gekommen waren, so beschmierten sie irgendeine Wand seines Gasthofs mit sogenannter Malerei und lösten sich dadurch aus.

Durch dieses seltsame Museum wurden unsere Humore lebhaft aufgeregt, und wir fanden uns, im Gegensatz zum vergangenen Abend, in eine überlebte, aber sehr wirkliche, von unverwüstlicher Lebensfreude getragene Künstlerwelt zurückversetzt. Da wir, Preysing und ich, einst darin heimisch waren, schwelgten wir in Erinnerungen, kramten Malergeschichten aus, wie sie seit Boccaccio immer wieder vorkommen, und zogen unsere Damen, die keine Spielverderber sind, in einen Wirbel von Lustigkeit. Diesmal waren wir ohne allen Vorbehalt Zigeuner geworden und genossen das tiefe, sorgenlose Behagen des Augenblicks.

Tags darauf erstiegen wir den Vesuv, das heißt, wir bedienten uns kleiner Pferde, die uns treulich hinauftrugen. Allmählich kamen wir in die Regionen der erkalteten Schlackenfelder und Laven, die in ihrer Trostlosigkeit die Welt, die unter uns lag, zu einem unwahrscheinlichen Traum machten. Alle diese Aschen- und Schlackenberge, auf denen nicht der kleinste Grashalm Fuß fassen kann, waren von den Kyklopen, die man im Innern des Berges rumoren hörte, durch die Esse gequetscht oder von ihren Fäusten und Schaufeln in gewaltigem Bogen herausgeschleudert worden. Unwillkürlich griff ich nach der Vorstellung solcher Dämonen, mit denen die Griechen selbst trostlos fürchterliche Höllen bevölkerten. Man wurde dadurch einigermaßen von dem furchtbaren Klange des »Lasciate ogni speranza« abgelenkt. Hephaistos-Humore drängten sich auf, und wir lachten über den zu beneidenden Götterschmied, der eine Aphrodite zur Frau hatte, die ihn, ihrem Wesen gemäß, zwar mit aller Welt betrog, aber dem hitzigen und erhitzten Mann, sooft er nur wollte, ihre unsterblichen Reize zu kosten gab. Mit nicht geringem Vergnügen stellten wir uns die ewig sündlose Sünderin, mit Ares in flagranti ertappt, im kunstvollen Netze des Gatten vor, das den beiden in eins verschlungenen Leibern auseinanderzukommen unmöglich machte. Ist ins Bereich erbarmungsloser Naturmächte je ein Volk wie die Griechen mit Götterhumoren sieghaft eingedrungen? Nehmt sie hinweg, und sogleich umgibt uns tödliche Wüste und Finsternis.

Hie Amalfi, hie Vesuv, die Ruinen des schwelgerischen Pompeji an seinem Fuße: nicht zuviel Wesens von sich selber und seinen kleinen Beschwerden zu machen würde angesichts dieser Lage zu empfehlen sein. Oder sollten wir uns fortgesetzt über das beklagen, was mit dem Dasein unlöslich verbunden ist? Was wäre der Tag ohne die Nacht, seine Folie?! Was wäre das Leben ohne den Tod?! Wäre ein Anfang möglich ohne ein Ende? ohne Entbehren ein Genuß? ein Gewinst ohne den immer drohenden Verlust?

Auf der höchsten Spitze des Feuerberges, mit der weitesten Aussicht über Land und Meer, war ich geneigt, mir die völlige Absolution von jener Schuld zu erteilen, deren Last noch am Kraterrande, bis wohin ich sie mitgeschleppt hatte, auf mir lag.

 

Sorrent, am 19. März 1897.
Albergo Cocumella.

Wir haben an die Idylle von Sorrent wieder angeknüpft und sie fortgesetzt. Gestern hörten wir Tasso, Ottaverime aus dem »Befreiten Jerusalem«. Es war ein Steinmetzmeister, der sie, umgeben von seinen Gesellen, zwischen behauenen und unbehauenen Steinen, zwischen Grabkreuzen und Marmorengeln aus dem Gedächtnis sprach. Außer den Preysings und uns hörten sie noch ein Droschkenkutscher und ein Zollbeamter.

Was der Steinmetz sprach, daß er es sprach und wie er es sprach, hatte etwas Erstaunliches. Dabei war es ein Vorgang, der beinahe nüchtern, selbstverständlich und ohne alles Pathos vorüberging.

Am Morgen hatten wir, im warmen Sande unserer kleinen Marina hingestreckt, also in märchenhafter Umgebung, in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht geschwelgt, dem von Aladin und der Wunderlampe. Den Blick auf das blaue Wasser gerichtet, den Tummelplatz für Dämonen, Zauberer und Abenteurer, um uns die steilen Wände der Felsen mit ihren Höhlen, Stützpfeilern, Treppen und Söllern, konnten wir uns des Wesenhaften dieser Erzählung ganz anders bemächtigen als der Leser im Norden, der, mit dem Rücken am warmen Ofen, im Stübchen sinnt.

Abwechselnd lasen Preysing und ich.

Realität der Gestalten, naive, tiefe Symbolik, die auch die Zauber- und Wunderwelt umfaßt und wirklich macht, endlich eine seltene Kunst der Komposition sind das, was in dieser großen Dichtung sogleich in die Augen fällt. Ihre höchste Schönheit aber vollendet sich in dem ewigen Gegenstand, den sie entfaltet.

Aladin beginnt als Nichtsnutz. Er führt sich als Knabe so übel, daß der Vater sich darüber zu Tode grämt, der Schneider, weil sein Sohn kein Schneider werden will. Schicksal in seiner grausen Wunderlichkeit läßt den Alten hinsterben, ohne ihm den leisesten Wink davon zu geben, daß sein Sohn dereinst den Thron des Kalifen besteigen wird.

Von einem so herben und richtigen Zuge abgesehen, ist zu bewundern, wie der Dichter die Linie Aladin edel und ebenfalls richtig führt. Er läßt ihn innerlich und wahrhaft vom Taugenichts zum Kalifen werden, bevor das Glück ihn dazu macht.

Die Kräfte der Wunderlampe werden anfangs nur sparsam gebraucht, allmählich mehr und schließlich zu zwei Hauptleistungen vorgefordert: ein geringer Teil ihrer wahren Kraft. Hierdurch bleibt Aladin der Herr ihrer Wunder und der Anteil, den wir nehmen, seiner menschlichen Art bewahrt. Man verehrt die Klugheit des Jünglings und Mannes, seine sittliche Kraft und Heiterkeit, die maßvoll begehrt und den steilen, gefährlichen Pfad des Glückes sicher wandelt. Man erfreut sich der von ihm bewahrten inneren Harmonie, die sich selber adelt.

Immer wird der Anteil des Hörers vornehmlich an alles Menschliche geknüpft, nächst Aladin an seine Mutter. Schicksal und Wunder unterbrechen den natürlichen Verlauf der Ereignisse nur, ähnlich wie im Leben, an gewissen entscheidenden Wendungen.

Aladins Mutter ist mehr als das: sie ist die Mutter überhaupt und als solche eine der ergreifendsten Gestalten der Weltliteratur. Wie sie sich gegen den Sohn verhält, als der Vater gestorben ist, wie sie dem Zauberer begegnet, der Wunderlampe gegenüber handelt, wie sie den Gedanken Aladins, die Tochter des Sultans zu heiraten, ihm auszureden sucht, die geplante Werbung Wahnsinn nennt, sich weigert, sie zu überbringen und dann doch sechzig Tage im Diwan harrt, bis sie ebendiese Werbung anbringen kann: das alles zeigt Wahrheit und Schönheit in tiefster Verbundenheit.

Und dann der Sultan, ein eifriger und tätiger Mann, ein edler Mensch voller Größe und Güte. Er hat eine kindliche Freude an Aladin, liebt ihn heißer als seine Schätze, ist im Verhältnis zu seiner Tochter väterlich und wird denn doch einmal recht zornig, als ihm Palast und Tochter entführt worden sind.

Wie natürlich folgen sich die Wünsche Aladins: er ist begraben und wünscht sich ans Licht, er hat Hunger und wünscht zu essen. In der Liebe aber und durch die Liebe erst werden seine höheren Wünsche befreit. Nun hofft und begehrt er, göttliche Kräfte auszunützen, durch sie zu wirken, zu beglücken und mitzuteilen, sonst nichts.

Diese Art des Wachstums haben alle großen Naturen mit ihm gemein. Sie sprengen das Dunkel, sie greifen für sich, was notwendig ist, sie gewinnen in der Liebe und durch die Liebe höhere Kräfte, die sie der Menschheit opfern und hinschenken.

Und ich? Ich klopfe bescheiden an die Türe eines Hauses, wo die hohen Träger ähnlicher Schicksale versammelt sind.

 

Sorrent, am 23. März 1897.
Albergo Cocumella.

Ich will noch ein wenig die Feder neben meinen Gedanken herlaufen lassen. Sie mag ihre Spur ziehen, damit ich später einmal, wenn es mir beschieden sein sollte, den Weg wiederfinde, den mein Denken genommen hat. Der letzte Abend in der Cocumella ist da, der letzte Abend in Sorrent. Morgen verlassen wir den alten Häuserkomplex mit seinen Winkeln, Gängen, Treppchen und flachen Dächern. Auf eines von ihnen führt, wie gesagt, die augenblicklich geöffnete Tür meiner Zelle hinaus, die mir lange Zeit ein angenehmes und friedliches Asyl gewesen ist. Es machte mir nichts aus, wenn bei Regen die Decke naß wurde und zu tropfen begann, bei Sturm aber ein gewisser Leinwandhimmel mit farbigen Engelchen, der sie bedeckte, sich wie ein loses Segel klatschend bewegte. Nun freilich verlasse ich ohne Bedauern diesen mir liebgewordenen Raum und das weitverzweigte gastliche Kloster.

Wie gesagt, es war mir ein lieber Aufenthalt. Ungestört konnten wir einander angehören, Anja und ich, hatten gleichgestimmte Freunde getroffen, fanden zu den gehörigen Zeiten den Tisch gedeckt. Eine Fülle unausgenützter Räumlichkeiten, die zu unserer Verfügung standen, ermöglichte uns, beim Tee, beim Chianti, wann immer wir wollten, im kleinsten Kreise allein zu sein, als ob wir ein Privathaus bewohnten.

Die Reise führt, Gott sei Dank nur in Etappen, nach Norden zurück. Naturgemäß kann der Gedanke unserer Rückkehr die Seele nicht allzusehr beflügeln. Hatte ich doch in der schönen Gegenwart dieser Fremde meine Sorgen fast abgestreift und gewisse Fesseln, die ich nun wieder auf mich nehme. Aber was hilft es, die Zeit ist um.

Man ist in Italien. Laulicher Frühling, weicher Regen wechseln mit jenem unerhörten Glanz über Golf und Küste, der nur diesem Lande eigen ist. An einem leuchtenden Morgen erhebt man sich und findet sein Inneres grau, lustlos und anteillos. Obgleich man nun fast allen Reizen des Lebens empfindungslos gegenübersteht, hat diese Art Kirchhofsruhe mit Gemütsruhe keine Ähnlichkeit. Vielmehr ist man auf eine Weise beunruhigt, die eigentlich beunruhigender als die meisten anderen Arten und Weisen von Unruhe ist.

Irgendein Ablauf hat sich vollendet, irgendein Intervall ist erreicht, es besteht eine Art Entzauberung. Aus dem Licht, aus der Landschaft, aus dem Liebesleben, aus den Beziehungen der Freundschaft, ja des Ehrgeizes ist der Antrieb herausgenommen. Man kann weder wünschen noch wollen, weil Ehre, Ruhm, Reichtum keinen Reiz mehr besitzen. Jenes Organ, das im Menschen die große Illusion, den großen Majaschleier gebiert, hat ausgesetzt. Was aber fängt man mit einem Dasein an, aus dem der schöne Schein, die begeisternde Täuschung, der seligmachende Glaube verschwunden sind!

Um einer solchen Leere zu entgehen, fliegt man nicht plötzlich wie ein Vogel auf, man schleppt sich eher mechanisch fort, auf ähnliche Weise wie ein großes, schwer bewegliches Schiff, das in einer Region der Windstille nach dem kläglichen Auskunftsmittel des Ruders greift.

Eine Begräbnisstimmung ist in mir, wenn ich auf das Dach hinaustrete und meine Augen unter dem Sternenhimmel über die Wunder des südlichen Golfes schweifen lasse, die nichtssagend für mich geworden sind. Auch das Genossene erscheint entwertet, wie denn ebensowenig das Künftige Anziehungskraft besitzt.

Man fragt sich, gleichsam hilflos aufgestört, wie man die verlorenen Paradiese der Illusionen retten, sich und die verwelkte Welt zu neuem Blühen bringen soll. Durch den Verstand, in dessen Gebiet sich ein Wissen von dem Verlust geflüchtet hat, ist das schöpferische »Fiat« nicht zu ersetzen. Nun, wir müssen geduldig abwarten.

Oder sind wir dazu verurteilt, alle Quellen der Erde leer zu trinken und doch den brennenden Durst nicht loszuwerden, der uns quält?

 

Soana, am 15. April 1897.

Es lohnt vielleicht festzuhalten, unter welchen Umständen ich diese Zeilen schreibe. Es ist ein Uhr nachts. Mich umgibt ein sehr einfacher Raum: Bett, Waschständer, gelb gebohnerter Brettfußboden mit breiten Ritzen. Vor mir ein Ausziehtisch, darauf Bücher, Schreibzeug und sonstiges Zubehör. Die Fenster klirren, das Haus erbebt von Zeit zu Zeit. Ein kleines Haus, ein winziges »Sanatorium«, welches ein Schweizer erbaut hat, der über das ärztliche Physikum nicht hinausgekommen ist.

Anja und ich sind, neben einer distinguierten jungen Engländerin, die einzigen Gäste dieser engen, weltverlorenen Schweizer Pension.

Anja schläft, wie ich hoffen will. Mir selbst ist es ein, sagen wir ruhig, erhabener Genuß, den Frühlingsaufruhr der Natur zu erleben. Ich habe weißen, starken Waadtländer Wein getrunken, der auf die Nerven geht. Seine Wirkung scheint der ähnlich zu sein, die vom Absinth berichtet wird. Ich darf nicht sagen, ich tränke vorsichtig. Ich brauche zuweilen Betäubung. Aber Betäubung ist nicht das richtige Wort: ich rette, ich steigere mich gern in jenen Bewußtseinszustand, den wir Rausch nennen. In diesem Augenblick befinde ich mich zum Beispiel in solch einem Rausch.

Aber was ist denn eigentlich Rausch?

Gerade er ist es, der mir nicht ermöglicht, jetzt eine klare Definition des Wortes zu geben. Dagegen kann ich recht wohl dies und das über die Veränderungen meines Wesens aussagen, die er mit sich bringt. Die ungeheure, immer wieder aufleuchtende jähe Lichtfülle der Blitze zum Beispiel, die in unregelmäßigen Zwischenräumen einander folgen und gleichsam jagen, dieses mitunter von allgewaltigem Donner begleitete Phänomen, das mich, nüchtern, erschrecken, peinlich erregen, ängstigen würde, hält mich nun in einem Zustand tiefster Verzückung fest, und anstatt mir wie sonst das Gefühl eigener Nichtigkeit aufzuzwingen, scheint es mich in das Reich übermächtiger Naturgewalten emporzuheben.

Ich sitze hier, ein wenig dabei mit der Feder kritzelnd, bei jedem Blitz, bei jedem Donner von einer dämonischen, göttlich furchtlosen Freude erfüllt, und kann verfolgen, wie ich, gleichsam ein Demiurg, das ganze Schauspiel auf mich beziehend, durch unwillkürliche Ausrufe und Trümmer von Selbstgesprächen mit: Herrlich! Prachtvoll! Göttlich! Zensuren erteile, wie mir der Donner Gelächter abnötigt, wie ich da capo sage, zu leisem, innigem Beifall die Flächen der Hände zusammenschlage, und so fort.

Meine zwei Stearinkerzen sind umgeben von Finsternis. In das ununterbrochene Rauschen des Regens, der in die Weinberge träuft, mischt sich das Rauschen eines nahen Wasserfalls. Er ist aber fern genug und sein Geräusch abgedämpft genug, um nicht zerreißend in die fremde, nächtliche Monotonie der Stunde einzugreifen. Was die Finsternisse in sich bergen, kenne ich. Unser Haus ist an einen steilen Abhang gestellt. Die Felsterrassen, Steilwände und Abstürze des Monte Generoso liegen ihm hallend gegenüber. Der Blitz bringt jedesmal für diese ganze verborgene Felsenwildnis vollkommen tageshelle Gegenwart.

Gestern abend brannte der Monte Generoso in wahrer Sinaibrunst. Alle Nebel verschwanden, und Klarheit umgab die aufgetürmten Gesteinsmassen. Sie traten nahe, magisch nahe, und das Buschwerk, das, noch unbelaubt, in rostbraunen Flecken die Schroffen überzieht, leuchtete. Grünspangrün traten gewisse Grasflächen hervor. Wie eine Ziege, die sich verstiegen hat, sitzt ein weißes Gebäude im Geklipp. Es strahlte, als habe es eigenes Licht. Nichts drängt sich hier zwischen den Menschen und die Urnatur. Der Aufruhr aber, der mich in dieser Stunde umgibt, und die Begnadung des Weltaugenblickes, in dem ich lebe, würdigt mich gleichsam der Teilnahme an einem erhabenen Schöpfungsakt.

Ich kenne das Datum meiner Geburt, die Anzahl der Jahre, die ich gelebt habe, die Zeit, welche seit Christi Geburt vergangen ist. Wenn wir nun aber Jahrtausende, Jahrmillionen hinzudenken, so ist in alledem das nicht enthalten, was ich als Weltstunde oder Weltsekunde bezeichne. Es ist vielmehr das, was ein Augenblick ist, was niemals war und was nie wiederkehrt. Mit keinerlei Kreislauf weder der Tage noch der Jahre ist es verbunden.

Was steht nun eigentlich auf dem Papier? Ich werde es später vergeblich zu verstehen suchen. Und nur wenn mich ähnliche, innere Blitze erleuchten wie die wirklichen dieser Nacht, werde ich von dem chaotischen Reichtum und der gärend-schöpferischen Großartigkeit etwas wissen, deren erhabenes Medium ich bin. Wäre ich Musiker, was ich im Grunde eigentlich sein möchte, ein sinfonisches Gleichnis würde diesem grundlosen Erlebnis, dieser Nachtstunde, dieser Vigilie besser gerecht werden.

Ein neuer Blitz! Ist es nicht wie der Widerschein des erhabenen Flügelschlags eines Cherubs? Und was sind das für Fühlungen und für Phantasien? Würde ich sie wohl haben, wenn ich nicht dieses Trauma, diese immer offene Liebeswunde in mir hätte? Es ist freilich eine Metapher, denn eine wirkliche blutende Wunde ist es nicht. Aber in dieser Metapher, in diesem Bilde der Wunde wird das Schicksal, das Menschenschicksal überhaupt, wie in keinem anderen gekennzeichnet.

Hunderte Meilen von mir entfernt schläft oder wacht in diesem Augenblick ein verlassenes Weib. Noch sind unsere Seelen aufs engste verhaftet. Im nahen Zimmer, nebenan, schläft ein anderes Weib, dem ich ganz unlöslich verbunden bin. Ich habe Briefe erhalten. Man hat die Taufe meiner Kinder nachgeholt. Es würgt mich ein bißchen, daß ich nicht dabeigewesen bin. Ich, der Vater, bin nicht dabeigewesen. Es ist mein Bruder Julius, der mich – wieder muß ich etwas hinabschlucken – bei dem feierlichen Aktus vertreten hat. Ein Usurpator, ein Eindringling! Was geht ihn mein Weib, was gehen ihn meine Kinder an? Der Brief, den er mir geschrieben hat, ist ein Hohn. Ich liebe, leide, empfinde, umfasse meine Geliebten, wie er es niemals vermag noch begreifen wird. Er aber spielt dafür den Mitleidigen. Er schlürft aber eigentlich mit frechen, vollen, herausfordernden Zügen den Schaum von dem Becher meines mir vom Geschick geraubten Familienglückes.

In meiner Seele haben sich vermählt
Schmerz und die Lust: o liebe, goldne Zeit,
da Schmerz noch Schmerz war, Lust noch Lust. Nun ist
die Lust das Weh und ach! das Weh die Lust. –
Ein lichter Engel fliegt von Ost herauf,
gleich hebt ein schwarzer sich aus Westens Tor,
und in die weiche Krone duftiger Lilien,
womit mich jener krönet, windet dieser
oh! scharfe Stacheln. –
Gott schnitt, des Himmels Tropfen drin zu fangen,
aus Quassiaholz mir meinen Becher: ihn
und keinen andern darf ich künftig leeren,
der macht mir bitter selbst den Honigseim!

Aber ich will nicht ins Enge und allzu Persönliche zurückfallen und lieber schlafen gehn.

 

Nürnberg, am 20. Mai 1897.

Die Winterreise mit Anja ist in dieser Viertelstunde abgeschlossen.

Ich bin allein. Ihr kleines, liebes Gesicht kämpfte tapfer wie immer gegen die Tränen, als sie mir noch einmal aus dem Fenster die Hand reichte. Augenblicklich ist sie für mich nur noch eine Vorstellung. Ich weiß nun wirklich nicht, was ich soll und wozu ich noch auf der Erde bin. Aus meinem Uhrwerk ist die Feder, aus meinem Leben der Sinn genommen.

Mein ganzes Wesen faßt gleichsam ins Leere nach ihr. Einige Stunden bin ich noch gefesselt an diese wunderbare alte deutsche Stadt, über der sich Gewölke murrend auftürmen, während die Sonne auf mich heruntersticht. Aber was ist sie mir in diesem Augenblick? Die überschwengliche Fülle der Obstblüte im alten Stadtgraben, das gleichsam jauchzende Wipfelgrün, das an dem alten, rötlichbraunen Gemäuer von Brücken, Türmen und Burgen brandet, an dem ich mich mit Anja nicht satt sehen konnte, läßt mich jetzt anteillos. Wenn ich erst wieder auf den Eisenschienen rolle, wird mir wohler sein. Schon indem ich diese Zeilen schreibe und damit die Zeit töte, genieße ich eine gewisse Beruhigung. Ich überzeuge mich, daß ich gleichsam im Handumdrehen das jetzt Geschriebene, als in der Vergangenheit liegend, durchlesen werde. Und dann wird auch diese peinliche Übergangsstunde vorüber sein.

Ich habe mich also, das ist der Punkt, in ein mir völlig entfremdetes Gestern zurückzufinden. Die im großen ganzen so glückliche Ungebundenheit der letzten Monate wird von unabwendbarem Lebensernst abgelöst. War es nicht eine Zeit der Wunder? ein einziges Wunder? Ein so schönes und freies Dasein unter eigenster Verantwortung hat im bürgerlich geregelten Gange des Lebens keine Stätte.

Morgen werde ich nun also Melitta und die Kinder in ihrem Dresdner Hauswesen wiedersehen. Aber der Ort, an den die Sehnsucht mancher Stunden, etwa im Anblick der Schönheiten südlicher Natur oder auch in schlaflosen Nächten, meine Seele getragen hat, will mich heute durchaus nicht anlocken. Ich verhehle mir nicht, er steht, fast zu meinem Entsetzen, vor mir wie ein fremdes, leeres Haus, wie eine Flucht unbewohnter, gespenstiger Zimmer, die ich durchschreiten muß.

In der Tat, ich muß dieses Haus durchschreiten. Aber daß ich es eben nur durchschreiten werde, entlastet und beflügelt mich. Indem ich eile, es zu betreten, und alles in mir voll peinlicher Ungeduld danach drängt, fliehe ich eigentlich bereits vor dem, was ich erreichen möchte. Bin ich für eine solche Entfremdung, einen solchen Verrat an dir, arme, heißgeliebte Melitta, verantwortlich? Wenn ich die Jahreszeiten, Kälte, Hitze, Tag, Nacht, Sonnenschein und Finsternis in all ihrer Mannigfaltigkeit betrachte, Regen, Gewitter. Schloßen, Schnee, Wiesengrün und Sandwüste auf mich wirken lasse, so bin ich mir bewußt, ein völlig einflußloser Betrachter dieser Erscheinungen zu sein: darf ich mir, mit Rücksicht auf Werden und Vergehen in der Natur und die fortgesetzte Wandlung der eigenen Seele, die gleiche Unverantwortlichkeit zubilligen? Ich weiß es nicht. Der Blick des Betrachters aber ist jedenfalls das einzige in mir, dem ich eine Art Unveränderlichkeit zuschreibe.

 

Wentdorf bei Hamburg, am 2. Juli 1897.

»Es war ein Mann im Lande Uz . . .«

»Aktien, Aktien, kaufe diese Masut-Aktien!« sagt mein Bruder Marcus. »Es dauert nicht lange, so heizt die ganze Kriegs- und Handelsmarine der Welt nicht mehr mit Kohle, sondern mit Masut!« – Er selbst besitzt einen wertlosen Stoß solcher Aktien. Sonst ist Marcus jetzt ganz und gar auf Unterstützung angewiesen. Die kleinen Summen von einer Tante seiner Frau treffen nie anders ein als gewürzt mit Vorwürfen. Aber Marcus macht Pläne, hofft und hofft. Er, den das Glück verlassen, gibt sich überdies viel damit ab, anderen Leuten zu ihrem Glück zu verhelfen.

Melitta und ich wohnen hier in einem einfachen Gasthof. Es schien mir diesmal angemessener, uns hier statt in Dresden zu treffen, in Wentdorf, wo Marcus ein kleines, billiges Häuschen an Wald und Wasser gemietet hat. Sein Geist ist klar, aber seinem Körper sind deutliche Zeichen des Verfalls aufgeprägt. Er ist von allen seinen geschäftlichen Beziehungen losgelöst. Ein Leiden, das ich schon damals in Bußbek dunkel gespürt habe, ist inzwischen auf eine erschreckende Weise fortgeschritten.

Melitta und ich werden durch den Verkehr mit Marcus, der Schwägerin und den Kindern von uns selbst abgelenkt. Hier ist man dem letzten Ernst von alledem nah, was man im festlichen Lichte Italiens noch unter großen Symbolen betrachten konnte.

Marcus atmet kurz, der Kopf des starken Mannes ist zwischen die Schultern gesunken. Er weist mir beim Zubettgehen seine Waden, die er seine Wasserkannen nennt. Er drückt den Finger in das Fleisch und zeigt mir, wie sich die Vertiefungen nur langsam ausgleichen.

Er weiß genau, wie es mit ihm steht, aber Todesfurcht ist ihm nicht anzumerken.

Im tiefen Blauschwarz ihres Haares und der Weiße ihres ovalen Gesichts, immer dunkel gekleidet, geht Melitta wie das verkörperte Schicksal herum. Dennoch ist ihre Stimmung gleichmäßig. Wie ich glaube, ist es ein neuer, harter Entschluß, der sie aufrechterhält. Sie, die einst mit den Kindern nach Amerika die Flucht ergriff, wo sie wahrscheinlich mit ihnen zugrunde gegangen wäre, beherrscht jetzt eine andere, entgegengesetzte Entschlossenheit, mich um keinen Preis der Welt loszulassen. Sie hat den Kampf mit Bewußtsein aufgenommen und stützt sich auf ebendenselben unbeugsamen Geist, der, sobald wir über Paris sprechen, sich geltend macht. Ich sage ihr: Deine Handlungsweise von damals war ein Attentat auf mein Leben! Dann sieht sie mich an, und ihr starres Auge leugnet es nicht. Sie würde nicht mit der Wimper gezuckt haben, wenn dieser Streich mich tödlich getroffen hätte.

Wie gesagt, dieser aus einem entschlossenen Verzicht geborene, unbeugsame Willensakt gibt ihr die neue Sicherheit. Die Hingebung, die sie einst geübt, die Fügsamkeit, der sie sich gegen ihre Natur befleißigte, der verletzliche Stolz, der lieber den Geliebten als den kleinsten Teil seiner Liebe hergeben wollte, sind nicht mehr. Ihr Ersatz ist Härte und meinetwegen die Grausamkeit, der Entschluß: ich werde ihn nie der anderen ausliefern, ich besitze ihn, ich binde ihn! er hat den Kindern und mir zu dienen, so wird es heut, morgen und immer sein!

Die tiefe Entfremdung, die aus diesem neuen Wesen hervorgeht, stört mich im Grunde nicht, wird doch mein Leben dadurch erleichtert.

Im ebenerdigen Häuschen meines Bruders Marcus stehen sechs Kinderbetten. Drei Knaben und drei Mädchen tummeln sich tags im Garten herum. Man ist in einer überaus seltsamen Atmosphäre. Ein Vater, noch nicht vierzig Jahr und schon von der Hand des Todes berührt, im Reigen umtanzt von schönen, gesunden Kindern. Eine Frau aus Patrizierkreisen, die klaglos zu ihm hält und den ganzen Haushalt allein bestreitet.

Dazu ist Marcus ein Philosoph, eine Art Hedoniker, der niemand in seiner Umgebung traurig werden läßt. Sein Lieblingsbuch besteht aus den wenigen Seiten des Predigers Salomo, den er nie von der Seite läßt. »Ich habe das Meinige dahin«, sagt er mir. Und dann, mit dem Prediger fortfahrend: »Denn wer hat fröhlicher gegessen, getrunken und sich ergötzt als ich!« So kann man Marcus nichts Lieberes tun, als ihm ein festliches Mahl zu geben mit guten Gerichten und gutem Wein, dem er grundsätzlich nicht entsagt, obgleich er ihm ärztlich verboten ist. Und es gibt keinen zweiten Menschen, der bei einer blumengeschmückten, besetzten Tafel die Welt und ihre Miseren, inbegriffen seine eigenen, so ganz und gar vergißt.

So wurde das Familienfrühstück in unserem Hotel gestern sehr ausgedehnt. Marcus schwelgte in Hummern und Sekt und erging sich in allen seinen Humoren.

Durch Melittas verdüsterte und verdüsternde Gegenwart und die Ausgelassenheit des zum Tode Verurteilten hatte das kleine Gelage, bei dem ich kein Spielverderber war, doch, was ich natürlich nicht merken ließ, etwas Unheimliches. Caroline, die Schwägerin, war übrigens Geburtstagskind. Betrachte ich sie, eine der drei jungen Frauen, die den Aufschwung in unsere Familie brachten, so dauert mich ihr trauriges Los.

Sie, ihre Liebe, ihr Vermögen, war gleichsam die Woge, auf der Marcus aus Dunkelheit ins Licht, aus dem Bereich der Tiefe in das höherer Möglichkeiten gehoben wurde. Heut ist diese Woge zurückgeebbt und kann sich niemals wieder erheben. Aber Caroline weiß es nicht oder beklagt sich wenigstens nicht.

Innerlich erlebtes Leiden macht groß. Der letzte Ernst, der nun mit dem Wesen meines Bruders eins geworden ist, läßt ihn seine geschäftlichen Mißerfolge als Geringfügigkeiten ansehen. Auch sein Zorn gegen unseren Vater ist abgekühlt. Etwas wie Naturnähe, Gottesnähe, allgemeines Verstehen brachte die Todesnähe über ihn. Er forscht in den Sternen, behorcht die Stimme der Wälder, gibt sich tiefen Betrachtungen hin, wobei allerdings nicht selten eine ihm eingeborene wilde Lebenslust in erschreckenden, manchmal gruseligen Einfällen zum Durchbruch kommt. »Ich schreie noch aus der Nasenquetsche heraus!« sagte er lustig gestikulierend beim Geburtstagsmahl. Obgleich niemand wußte, was er mit diesem Ausdruck meinte, war es doch keinem zweifelhaft. Ein eisiger Grufthauch ging durch den Raum.

Venedig und hier, Sorrent und hier: welcher Gegensatz! Wie ertrage ich diese Atmosphäre des Stillstands und des Niedergangs!?

Ich will meinen Zustand in ein Bild fassen.

Auf einer leuchtenden Meeresfläche schwimmt Melitta mit schwarzen Segeln auf schwarzem Boot, ich aber daneben im bloßen Wasser. Die Sonne steht nicht am Himmel, sondern sie liegt am Grunde des Meeres. Das ist die Sphäre Anjas in meinem Innern. Eine Insel von grauem Gewölk steht am Himmel: auf sie, die ein dunkles, schweres Familienschicksal verbildlicht, wird überdies noch der Schatten des schwarzen Schiffes geworfen. Melitta, Marcus und Caroline haben nur den Blick dorthin, während ich vornehmlich durch das untere Leuchten gesättigt werde.

»Es war ein Mann im Lande Uz . . .«

 

Berlin-Grunewald, am 8. August 1897.

Ich bewohne ein möbliertes Zimmer in Grunewald. Aus irgendeinem Grunde wollte ich die Bibel nachschlagen, fand aber keine in meinen Koffern. Ich führe ja schließlich eine Kofferexistenz. Die Pensionsdame konnte mir aushelfen. Hiob. Ich schlug das Buch Hiob auf. Was ich sonst suchte, war vergessen. Ich las es durch und fühlte die tiefste Erschütterung.

Man pflegt vom »armen Hiob« zu reden. Dann wäre auch Prometheus, der an den Kaukasus geschmiedet ist, dem der Geier die Leber behackt, etwa »armer Prometheus« zu nennen. Der aber ist nicht arm, dessen Titanentrotz durch übermenschliche Qualen nicht gebrochen wird.

Auch Hiobs, des anderen Titanen, Trotz wird nicht gebrochen. Der Schluß des Berichtes oder Gedichtes, worin er zur Demut umgebogen wird, trägt den Stempel der Fälschung allzu deutlich. Hiobs Gott verhält sich zum Zeus des Prometheus etwa wie das Universum zu dem Planeten, auf dem wir heimisch sind.

Bin ich ein Sünder? heult er. Bin ich denn gottlos? warum leide ich denn solch vergebliche Plage? Seine Töchter wollen ihm einreden, daß er gottlos sei und dieser Gottlosigkeit wegen leide. Nein, wahrhaftig, ruft er, ich bin nicht los von Gott! Warum suchest Du meine Sünden, schreit er zu Gott, als wäre ich gottlos, so Du doch weißt, wie ich nicht gottlos sei, so doch niemand ist, der sich aus Deiner Hand erretten möge?

Dieser Titan wird groß durch die Erkenntnis seiner Nichtigkeit vor Gott. Anzunehmen, ein Mensch könne gottlos sein, erscheint ihm die aberwitzigste Lästerung, deren menschlicher Hochmut fähig ist.

Er, Gott, ist eins und alles, alles und eins! klagt Hiob. Es ist niemand außer ihm. Wer will ihm antworten? Und er macht es, wie er will. Und wenn er mir gleich vergilt, was ich verdient habe, so ist sein noch mehr dahinten.

Habe ich ein einziges Teil wirklich an der mir zugeschriebenen Sünde, will ich mir einen winzigen Teil davon in aller Demut zumessen, noch mehr, noch bei weitem mehr daran ist von Gott. Zeus ist ein kleinerer Demiurg. Aber entpersönlicht hat auch Hiob seinen Gott noch nicht. Nur hat er ihm gleichsam die Persönlichkeit als Maske gegeben, während Alles in Allem seine Wahrheit ist.

Hiob, der sich sündlos fühlt, vollkommen sündlos, weil unlöslich aus Gott, wird in seiner schrecklichen Erleuchtung zu einem grauenvollen Hymnus auf Gottes Allmacht und Größe, seines Peinigers, hingerissen. Aus den Furchtbarkeiten der Verwesung und Zersetzung bei lebendigem Leibe heult seine markerstarrende Stimme Gottes Lob. Er ist Gott allzu nah und so der weiseste unter den Menschen geworden. Aber er hält sich selbst nicht dafür: Kehret euch alle her und kommt, ich werde doch keinen Weisen unter euch finden! Er fährt fort: Wo will man aber Weisheit finden und wo die Stätte des Verstandes? Niemand weiß, wo sie liegt, und wird nicht gefunden im Lande der Lebendigen. Der Abgrund spricht: Sie ist in mir nicht. Und das Meer spricht: Sie ist nicht bei mir! Nur die Verbannung und der Tod sprechen: Wir haben mit unseren Ohren ihr Gerücht gehört.

Hiob also hat an der Stätte der Verbannung durch sein übermenschliches Leiden etwas wie ein Gerücht vom Bestehen der Weisheit gehört.

Unter den furchtbaren Gottesoffenbarungen seiner martervollen Stunden wird Hiobs Wesen ins Übermenschliche gedehnt. Aber er hält nichts von seinem nutzlosen Sehertum. Will denn nicht ein Ende haben mein kurzes Leben und von mir lassen, daß ich ein wenig erquicket würde? Er will nicht sehen, er will nicht dieses furchtbar grelle Licht: Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen, die des Todes warten, und er kommt nicht, und grüben ihn wohl aus dem Verborgenen? Auf das Drängen seiner Tröster: Sage, Gott ist voll Güte! Gott ist gerecht! Sage: Ich habe seine Strafe verdient! ist Hiobs Schweigen die einzige Antwort.

Aber ich greife auf seine letzten Worte über den Tod zurück: Die des Todes warten, und er kommt nicht, und grüben ihn wohl aus dem Verborgenen! Es klingt paradox, und doch ist es wahr: der Tod ist dem Leben die allerunumgänglichste Notwendigkeit. Wäre er nicht in der Welt, wir würden die Erde nicht mehr nach Kohle noch nach Gold noch den Himmelsraum nach Göttern und Himmeln durchwühlen, sondern einzig und ganz allein nach ihm.

Ich weiß nicht, woran es liegt, aber mich überfällt, besonders des Morgens nach dem Aufstehen, jetzt wieder eine neue, seltsame Art von Müdigkeit. Mein Tageskreislauf, mein Wochenkreislauf, der Monats- und Jahreskreislauf liegen wie Gebirgswall hinter Gebirgswall vor mir, und die Aufgabe lautet, diese alle, unter Zwang und mit Lasten beschwert, zu übersteigen: Arbeit, Mühsal, Schweiß – eine unlösliche Aufgabe, deren Lösung sogar sinnlos ist.

Diese Lebensmüdigkeit geht über ein Menschenleben hinaus. Wenn ich des Morgens den mit Wasser vollgesogenen Schwamm über meinen Scheitel ausdrücke, so packt mich zuweilen Grauen in der peinlichen Ahnung, die Vollendung dieses Lebens durch den Tod könne der Anfang eines neuen sein. –

Von Marcus erhalte ich eben einen Brief. Es befindet sich dieser Bericht darin:

»Du erinnerst Dich an Emilie, unser kleines, etwas leichtfertiges Dienstmädchen. Caroline war eine Geldsumme abhanden gekommen. Der Schlüssel des Faches, darin sie verwahrt worden war, lag in ihrem Nähtischchen. Der Wachtmeister nahm Emilie ins Gebet, da man eigentlich nur auf sie Verdacht haben konnte. Aber das Mädchen leugnete hartnäckig. Die Sache schien damit abgetan. Vor drei Tagen nun kam das Mädchen von einem Ausgang nicht zurück. Ihre Freundin wurde zugleich vermißt, die im Nachbarhause bedienstet war. Du weißt, daß ein tiefer, schwarzer Graben hinter unserem Hause fließt. In diesem träge schleichenden Wasser, einige Kilometer flußabwärts von uns, hat man die beiden jungen Frauenzimmer nackt, mit Wäscheleinen aneinandergebunden, tot aufgefunden.«

Du weißt, daß ein tiefer, schwarzer Graben hinter unserem Hause fließt . . .

 

Berlin-Grunewald, am 1. Oktober 1897.

Ich trage zu Neste, will sagen, richte mir hier eine Wohnung ein. Das ist ein großer Schritt, der mich viel Kopfzerbrechen und viel Überwindung gekostet hat.

Ich bin, nachdem ich sie in Dresden öfters besucht habe, wieder einige Tage mit Melitta und den Kindern in Grünthal gewesen. Auch hier hat es wegen der neuen Wohnung Kämpfe gegeben. Melitta sieht nicht mit Unrecht in meinem Entschluß, mich hier seßhaft zu machen, einen Umstand, durch den ihre Hoffnung auf meine Rückkehr sehr verringert wird.

»Niemals werden die Kinder einen Fuß über die Schwelle deiner neuen Wohnung setzen!« sagt Melitta mit Bitterkeit. – »Für diese Maßregel liegt kein Grund vor, da ich allein wohne«, sage ich. »Was ich mir da schaffe, ist ja nur ein Strohwitwer- oder Junggesellenheim. Eine Umgebung, in der ich mich einigermaßen zu Hause fühle, brauche ich. Nicht nur, weil ich dem vogelfreien, gehetzten Zustand entgehen, sondern auch, weil ich arbeiten muß.«

Der junge Mensch, Künstler, Möbelzeichner, Innenarchitekt, der mir fünf Parterrezimmer mit Holzdecken, Paneelen, Kaminanlagen und so weiter versieht, ist ein Original, dessen Umgang mir viel Vergnügen macht. Den Fortschritt der Arbeit verfolge ich, wobei ich jedoch vor jedem Betreten der Wohnung einen entschiedenen Widerwillen hinabzuwürgen habe. Der Maurer, die Tischler gehen und hocken singend und pfeifend in den Zimmern herum, und während ich unter ihnen stehe und mir das warme, behaglich reiche, recht anspruchsvolle Heim vorstelle, das im Entstehen begriffen ist, kann ich einer tiefen, schmerzlichen Bewegung kaum Herr werden bei dem Gedanken, daß ich es mit Melitta und den Kindern nicht teilen kann.

Aus dieser Empfindung aber wächst eine zweite Unmöglichkeit, nämlich mit Anja die Wohnung zu teilen.

Seltsam, daß ich seit meiner Rückkehr von Amerika noch nicht weitergediehen bin. Der Konflikt hat eine schleichende Art angenommen.

 

Berlin-Grunewald, am 6. Oktober 1897.

Es ist etwas Sonderbares um ein Krankenbett. Die Welt in seinem Bereich ist verändert. Nachdem ich vor kurzem bei Marcus davon Zeuge gewesen bin, alsdann die Aura erlebt habe, die um das Schmerzenslager des kranken Hiob gewaltig ist, sitze ich nun öfter am Bett einer leidenden Frau, dem der Frau Lydia, Anjas Mutter.

Es besteht keine Gefahr, daß Anja diese Zeilen zu Gesicht bekommt. Den ganzen Ernst des Zustandes nämlich, in dem sich ihre Mutter befindet, kennt sie noch nicht. Freund Hüttenrauch hat sie untersucht und eine Wucherung irgendwo in der Magengegend festgestellt, die zum Tode führen muß. Er sagte es mir, ließ aber einstweilen die Familie Anjas im ungewissen.

Es ist der Gang der Natur, wenn eine Mutter von ihren Kindern, vom Leben scheiden muß. Frau Lydia aber ist kaum sechzig Jahr. Ohne das tückische Übel, das sie befallen hat, könnte sie noch Jahrzehnte leben, um so mehr, da man in ihrer Familie langlebig ist. Ihre Mutter ist wenig vor dem hundertsten Lebensjahr gestorben.

Noch vor kurzem glich Frau Lydia einer schönen, stolzen, ebenmäßig gebauten Römerin, noch kündete sich die Matrone nicht an. Auch jetzt scheint sie eine Frau, deren Lebenskraft unzeitig gebrochen werden soll.

Anjas Bruder und auch sie selbst ahnen vielleicht das von Hüttenrauch Unausgesprochene. Daß die Kranke selbst den schlimmsten Ausgang ins Auge faßt, ist nicht zweifelhaft. Der Blick würde es sagen, womit sie manchmal in meinem verweilt, aber es klingt auch aus ihren Worten. Es kann am Ende nur diesen Sinn haben, wenn sie von ihrer nahen großen Reise spricht. Und schließlich hat sie Anja unzweideutig erklärt: »Jetzt, wo ich mit deinem Freunde auf guten Fuß komme, ihn kennenlerne und gern habe, ist es aus, und ich muß fort.«

Was um solche Krankenbetten am schwersten ertragen wird, ist jene Entbundenheit des Gefühlslebens, die uns kaum mehr denken, sondern immer nur fühlen, fühlen läßt. Eine so spröde, herbe und tapfere Natur selbst wie Anja ist dem fortwährenden Überfluten durch Gefühle und wieder Gefühle willenlos preisgegeben. Sie lacht, wenn sie weint, und weint, wenn sie lacht. Liebe, Mitleid, Trennungsweh, Angst vor dem nahen Unbekannten, Bewußtsein des drohenden schwersten Augenblicks durchdringen einander und lösen sich voneinander. Auch überträgt sich das Kranksein des Kranken auf die sorgenden Seelen, die um ihn sind. Die fremdartig peinvollen Phantasien seines fiebernden Hirns, seiner marternden Schwäche übertragen sich. Der Wirbel wird auch den Helfern spürbar und gefährlich, und es ist, als wolle er sie in den Abgrund ziehn.

Die Quellader der Kindesliebe ist bei Anja angeschlagen und, man möchte sagen, verblutet sich. Alles strömt jetzt der Mutter zu, bis zur Ausgewundenheit. Wir wissen, daß dieses feierlich wehe Geschehen ein typisches ist: es bestehen, mit Würde und Treue bestehen, und andererseits es überstehen ist wiederum eine der unumgänglichsten Aufgaben. Wir sind alle unter dem Eindruck einer überkommenen, heiligen Menschenpflicht, die wir als etwas Selbstverständliches hinnehmen, obgleich wir bisher noch nie zu ihrem und einem ähnlichen Dienst gebraucht wurden: dem beizustehen, der dem ungeheuren Augenblick der Trennung vom Dasein entgegengeht. Dieses Geschehnis ist so groß, daß alles andere daneben nichtig wird. Solange der mystische Dienst daran im Gange bleibt, ist man mit allen Ansprüchen profanen Daseins ausgeschlossen. Kaum wage ich Anja anzurühren, als wäre sie eine Priesterin.

In der Pflege und Sorge um ihre Mutter, ob sie mir gleich wenig Zeit von ihrer Zeit widmen kann, vergißt mich Anja trotzdem nicht. Ich erhalte Nachrichten, Briefe, Zettel. Neben der Emsigkeit in der Pflege der Sterbenden geht eine gleiche Emsigkeit im Dienst unserer Liebe her. Und zwar in der Form, die unter solchen Umständen möglich ist. Wie doch die Schrift und das schriftliche Wort eines leidenschaftlich geliebten Menschen zauberhaft und verzaubernd ist! Stundenweise wird das öde Zimmer meiner Pension, in dem ich vereinsamt und harrend sitze, durch ein Stückchen Papier und einige Bleistiftstriche darauf in eine leuchtende Camera mystica verwandelt, in der die Geliebte gegenwärtig ist und meine ganze Seele besitzt.

 

Grünthal, am 19. Dezember 1897.

Was ist das? Ich bin allein. Es ist nachts zwölf Uhr genau, und ich bin allein. Wo bin ich allein? Draußen ist eine glitzernde Stille. Weite, bläuliche Schneeflächen liegen unterm Mond. Es ist Vollmond, der Himmel rein, die bekannte Kuppel auf die alte Weise mit Sternbildern und Milchstraße ausgeziert.

Ich bin in Grünthal. Heute morgen war ich noch in Berlin, sah Anja und ihre kranke Mutter. Nun sitze ich hier in der Einsamkeit meines alten Studierzimmers. Was sonst noch das Haus mit mir teilt, ist schlafen gegangen oder eben dabei. Noch knistern zuweilen die alten Rohrdecken.

Sonst aber ist alles Stille, außerhalb der Fenster alles lautloser, mächtiger, einsamer Glanz. Die Uhr steht still. Welcher Gegensatz zu Berlin!

Die Dezembertage vor drei Jahren, jene schicksalhafte Zeit, jene Lebenswende steht vor mir. Sind seitdem wirklich nicht mehr als drei Jahre hingegangen? Was habe ich alles weniger äußerlich als innen erlebt in so kurzer Zeit!

Da! fliegen da nicht im Mondschein Fetzen verkohlten Papiers, Reste von Briefumschlägen und Briefen herum, von unsichtbaren Hauchen bewegt? Das einstige Autodafé, das sich in die Schneefläche einbrannte, hat noch immer nicht seine Arbeit ganz getan und scheinbar allerlei Unverbrennliches übriggelassen.

Ist man von Leidenschaften, den damit verbundenen Kämpfen, Sorgen und Gefahren wachgehalten, so dehnt sich die Zeit. Es ist wie mit einer Nacht, die dem gesunden Schläfer eigentlich einen Augenblick, nachdem er sich niedergelegt, zu Ende ist, dem Schlaflosen aber wie ein endloser Zeitraum, erfüllt mit peinvollem Wahnsinn, erscheint.

Melitta ist hier, die Kinder sind hier, wir wollen Weihnachten zusammen feiern. Es besteht diesmal keine Gefahr, wie vor drei Jahren um die gleiche Zeit, ich könne noch vor dem Fest davongehen.

Auch Marcus, seine Caroline und ihre Kinder sind hier. Ich habe diesen Familientag vor einigen Wochen beschlossen, in die Wege geleitet und nun zustande gebracht. Ich wollte, daß Vater und Marcus sich versöhnen, ich wollte beiden und allen Beteiligten eine Freude machen. Die ausgeglichene Güte des kranken Marcus hat überdies bewirkt, daß ich selbst meinem Herzen nachgeben und beiseitesetzen konnte, was ich mit Julius und Lore Bittres erlebt habe.

Marcus hat Vater und Mutter in Schlierke besucht, Vater hat ihn wiedergesehen. Alle waren erschüttert und tief gerührt, sie umarmten sich unter Tränen. Von Konflikten kann angesichts des veränderten Bildes, das der kranke Marcus bietet, nicht mehr die Rede sein.

Das kleine Berghaus ist bis unters Dach mit Besuchern vollgepackt. Hüttenrauch ist mit Marcus, gleichsam als Leibarzt, gekommen. Er hat seine Frau, eine Schweizerin, mitgebracht. Und so müssen Sofas, auf die Erde gelegte Matratzen und anderes als Schlafgelegenheiten herhalten.

Gleich als Marcus aus seinen Decken und Pelzen geschält worden war und das Haus betrat, wurde Doktor Hüttenrauchs Hilfe nötig. Die Tagereise von Hamburg, die Erregungen des Wiedersehens, die dünne, stählerne Bergesluft fielen ihm aufs Herz. Durch eine Tasse giftschwarzen Kaffees kam es wieder ins Gleichgewicht.

Wie gesagt, ich sitze allein. Wenn ich mich in meinem Studierzimmer umsehe, wo alles, Bücher, Abgüsse nach Antiken, Stehpult, Teppich, noch seine alten Plätze hat, könnte ich recht gut meinen, daß die letzten drei Jahre nichts geschehen und alles beim alten geblieben sei. Die Empfindung der Traumhaftigkeit allen Lebens drängt sich in solcher Stunde auf.

Was ist der eigentliche, heimliche Sinn dieses Familientages? Er schwebte mir vor als ein Abschiedsfest. Innere Trennungen sind vorhanden und werden sich weiten. Äußere und innere Trennungen stehen nahe bevor. Wie der Blick auf Marcus, der Blick auf die alten Eltern zeigt, Trennungen von solcher Art, die nur Kinderglaube zu überwinden hoffen mag. Aber gerade darum wollte ich alle noch einmal in Liebe, Freundschaft und Freude festlich vereinen, bevor das Bindeband reißt.

So gefaßt, ist dieses begonnene Fest unter unendlich vielen sogenannten Festen das einzige wahre und wirkliche.

Im Hausflur stehen drei große Kisten, jede einige Zentner schwer. Den Inhalt habe ich in verschiedenen Delikateßgeschäften der Potsdamer und der Französischen Straße zusammen mit Anja ausgesucht. Das Haus liegt einsam: ich wollte, daß wir in jeder Beziehung gut versorgt und verproviantiert wären und sich die Mühen des Wirtschaftens dadurch vereinfachten. Welche Erleichterung ist es für mich, daß Anja so klug und fern von allem hysterischen Wesen ist. Alle diese guten Dinge, Prager Schinken, Pasteten, feine Wurstwaren, Gemüse, Kaviar, Mirabellenbüchsen, Weine, Liköre, Punschessenzen, waren ja schließlich für Festlichkeiten bestimmt, die sie nicht mitmachte. Ihre eigene Mutter liegt krank auf den Tod. Wenn ich trotzdem dergleichen Feste durchführte, war es nicht eigentlich kalt und gefühllos von mir? Und lag es nicht nahe, einen Beweis für meine Verwurzelung in der Familie, für eine unüberwindliche Neigung nach der ihr feindlichen Seite zu sehen? Aber weder ein Vorwurf noch auch nur ein Wort des Nichtverstehens, des Befremdens über das, was ich unternahm, ist über ihre Lippen gekommen. Sie wählte aus, sie stellte zusammen, sie ermutigte, wo ich zweifelte, es konnte alles gar nicht reichlich und üppig genug für uns sein. Wenn ich mir dagegen die Gefühle vorstelle, die ihrem unbefangen vernünftigen Wohlwollen in einem ähnlichen Falle antworten würden!

Wie stark, wie stark ist in dieser Stille und an diesem Ort mein allgemeines Liebesgefühl! Immer wieder habe ich mit Erschütterung dieses »Seid umschlungen, Millionen!« der Neunten Symphonie gehört. Auch in solche Weiten ist hier mein Herz geweitet. Das aber, was ich wirklich umschlinge und in dieser stillen Stunde an meiner Brust, in meinem Herzen vereine, hat eine andre naturgegebene Wirklichkeit. Da ist mein Weib, da sind meine Kinder, da sind meine Brüder, da sind meine Neffen und Nichten, da ist mein Vater und meine Mutter, da ist Hüttenrauch, mein Freund. Und über dem allem schwebt, schwebt: über den Sternen, unter den Sternen der Winternacht – es ist nicht zu ändern – die süße Geliebte!

 

Grünthal, am 22. Dezember 1897.

Es kommt mir vor, als wären wir alle in einem Zustand krankhaften Nervenlebens. Er ist dem ähnlich, welcher eintritt, wenn man sich etwa zu ungewöhnlicher Stunde nachts wecken lassen muß und sich erhoben hat, um eine Reise anzutreten oder irgendeiner Pflicht zu genügen. Die bekannte Umgebung, alles im Hause und außer dem Hause, bekommt dann ein anderes Gesicht. Auch die Menschen bekommen ein anderes Gesicht. So ungewöhnlich ist der Zustand unseres Zusammenseins.

Äußerlich geht es zu wie etwa in einer kleinen Schweizer Pension. Wir essen an einer gemeinsamen Tafel, das heißt, Bruder Julius und seine Frau, die ja das Haus jetzt allein bewohnen, wirtschaften der Einfachheit halber nicht abgesondert. Die Kinder tummeln sich draußen im Schnee auf Schlitten und Schneeschuhen. Gestern haben Melitta und ich mit dem Ehepaar Hüttenrauch eine Bergpartie gemacht und sind von der bekannten Neuen Baude auf Kammhöhe wie üblich im sausenden Tempo zu Tale gerodelt.

Heute, am Mittwoch, war Festtafel. Die Eltern hatten sich angesagt, da sie Weihnachten und Silvester in aller Stille zu Hause verbringen wollen. Vater fürchtet die Aufregung.

Die Festtafel gegen zwei Uhr mittags hatte einen stillen, gewissermaßen gedämpften Verlauf. Die alten Unstimmigkeiten zwischen Vater und Marcus, die ja doch mit den Lebensereignissen der letzten Jahre innig verflochten sind, durften nicht berührt werden, und so war der Gesprächsstoff zusammengeschmolzen. Die Wintersonne schien übrigens auf den Tisch, und der Weißwein funkelte in den Römern.

Leider können sich Julius und Lore nicht von einer gewissen Gekniffenheit frei machen. Es kommt mir vor, als ob sie das, was sie zwar mitgenießen, doch mit scheelen Augen betrachten, soweit ich nämlich der Urheber bin. Obgleich das Grünthaler Häuschen mir gehört, kommt ihnen meine Verfügung darüber wahrscheinlich wie ein unerlaubter Eingriff vor. Mehr freilich als Idee denn als Auswirkung. Nur hätte sie statt von mir von Julius und Lore ausgehen, ins Werk gesetzt und durchgeführt werden sollen. Es scheint ihnen peinlich, statt Gastgeber, unter den Geladenen zu sein.

Wenn mich das nun freilich betrübt, so soll es mir doch nicht die Freude verderben an dem, was geschehen ist. Es gewährt mir tiefe Genugtuung. Viele warme Händedrücke von Vater, Mutter, Marcus, Caroline und auch von Melitta sagen mir, daß ich das Rechte getroffen habe. Marcus genießt die Tage trotz seines Leidens mit einer breiten, philosophischen Sorglosigkeit. Man fühlt ihm an, welche Last ihm durch die Versöhnung mit Vater und durch die Aufhebung seiner Vereinsamung von der Brust genommen ist. –

Frau Lydia, wie mir Anja schreibt, ist ins Krankenhaus überführt worden, wo sie operiert werden soll. »Da wird eben noch, bevor sie stirbt, ein Chirurg fünfhundert Mark verdienen!« sagt, nachdem er es erfahren, Hüttenrauch.

Ich hatte heut einen schlechten Traum. Gegen das Haus, in dem wir wohnen, rückten im Mondschein von allen Seiten Skorpione an. Man durfte den Fuß nicht aus der Tür setzen.

 

Grünthal, am 27. Dezember 1897.

Es ist gegen 11 Uhr vormittags. Gestern bin ich spät schlafen gegangen. Der übrige Teil der Nacht wurde recht lang durch Schlaflosigkeit und mehrere alpdruckhafte Beängstigungen, mit denen ich nach längeren oder kürzeren Zeitspannen beim Erwachen zu ringen hatte. An solchen Zuständen leide ich. Man kann nicht erwachen, man ist gelähmt, halb bewußt gelähmt. Man schreit, von einem Traumbild beängstigt oder nur deshalb, weil man gelähmt ist und nicht erwachen kann. Es würde schwer sein, die Fälle solcher Alpängste zusammenzuzählen, die ich erleiden mußte. Sie scheinen Rückstände keineswegs freundlicher Erlebnisse aus anderen, früheren Entwicklungsstufen unserer Art zu sein und sind keine angenehme Zugabe.

Das Haus ist leer. Man tummelt sich allgemein draußen im Schnee. Selbst Marcus ist in einen sogenannten Hörnerschlitten gesetzt worden, der durch die strahlende Winterlandschaft von einem Gaule gezogen wird. Ich aber habe mich in mein Zimmer eingeschlossen.

Es ist wieder eine Art Alp, der trotz des Wachens immer noch auf mir liegt und mit dem ich einsam ringen, von dem ich mich befreien muß.

Die Spannung in der Atmosphäre dieser seltsamen Woche steigert sich. Die Räume des Hauses scheinen Akkumulatoren, seine erwachsenen Bewohner Batterien zu sein. Dieses Zusammenziehen eines schon auseinandergelebten Familienkreises drängt vielleicht naturgemäß zur Explosion.

Ich bin erregt. Gerade deshalb aber ist ein kühler und klarer Kopf notwendig, wenn ich der Sache Herr werden und unbefangen wieder unter die Meinen treten will.

Die echte Familie ist und bleibt ein sehr kompliziertes Ding, eines, das man mit äußerster Vorsicht behandeln muß. Es stellt sich freundlich und harmlos dar, sofern man der Übereinkunft genügt, was es verschließt, nicht aufzustören. Wenn man Seelisches mit Materiellem vergleichen will, so mag man an die halkyonische Ruhe und Heiterkeit des Meeres denken, das so Fürchterliches verbirgt.

Es überkommen mich Taucherneigungen.

Aber der Mensch versuche die Götter nicht und begehre nimmer und nimmer zu schauen, was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen. Ein moderner Kyniker, der behaupten würde, auf Gewohnheit und Selbstsucht, keineswegs auf Liebe beruhe Familienzusammenhang, würde durchaus nicht immer recht behalten, in den meisten Fällen sicherlich. Wären diese erzenen Bindungen nicht so stark, sie könnten die zerstörenden Zentrifugalkräfte nicht in Grenzen halten, Kräfte, unter die Neid, Überhebung, Abneigung des allzu Verwandten und allzu Bekannten und schließlich der Haß zu rechnen sind, Haß, in den sich ja Liebe so leicht verwandelt.

Will man mit seiner Familie leben, so bedarf es einer gewissen Oberflächlichkeit. Weder darf das Auge noch die innere Vorstellung noch der Gedanke noch das Gefühl allzu tief in sie eindringen. Kinder könnten von einem ungefähren Blick in die Seele gewisser Väter oder Mütter den Tod davontragen. Väter könnten dabei, besonders wenn sie Besitz zu hinterlassen haben, denselben, nämlich ihren eigenen Tod, in den mörderischen Augen und Gedanken ihrer Söhne sitzen sehen. Seltsame Dinge könnte entdecken, wer sich über das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern unterrichten will. Und Bruderhaß ist ein Haß, gleichsam ein Amalgam aus Liebe und Haß, der in seiner ausgesuchten Furchtbarkeit unter die besterfundenen Martern der Hölle zu rechnen ist.

Vielleicht ist es gar nicht die Ehrsucht in Julius, die ihn auf dem Wege des Bruderhasses vorwärtstreibt. Stecken nicht öfters Frauen dahinter? Ist es vielleicht nur Lore, die mir meine äußere Geltung, meinen wachsenden äußeren Wohlstand nicht verzeiht? Wären wir beide unbeweibt, ein Vorfall wie gestern wäre gewiß nicht eingetreten.

Nachdem es nun aber geschehen ist, nachdem ich dies Urteil über die verborgene Substanz der Familie ausgesprochen habe, kann ich nun eigentlich wieder mit ihr, in ihr heiter und harmlos sein?

Weil ich es sein will, werde ich es sein. Alle diese Menschen, auch innerhalb der Familie, sind schließlich Leidende. Ihr Menschentum haben sie nicht gewählt, und irgendein Drang nach dem Höheren, Besseren steckt noch in allen selbstischen Strebungen. Zwar verdüstert sich weiter das allgemeine Familienbild, wenn ich die unsichtbaren Risse betrachte, durch welche die einzelnen, scheinbar verbundenen Paare tatsächlich geschieden sind. Ich beiße die Zähne zusammen, wenn ich es hinschreibe. Mein vierundsiebzig Jahre alter Vater hat noch vor anderthalb Jahren meiner Schwester im geheimen die Absicht, sich von meiner Mutter zu trennen, ausgesprochen: ein Gedanke, der einem Sohne unfaßbar ist. Und doch klafft derselbe viel breitere Riß, ein Spalt, ein Abgrund, zwischen Melitta und mir, und die Kinder haben damit zu rechnen. – Und mitunter hört man das Gras wachsen! Ich höre das Gras wachsen, das sich über dem Grabe der Ehe Lores mit Julius ausbreiten wird. Die Zerwürfnisse sprechen bereits ihre Sprache. Und endlich sehe ich den sich immer erweiternden Riß zwischen dem Ehepaar Hüttenrauch. Hüttenrauchs Frau versteht sich nicht mit seiner Mutter, die ein armes, von Geistesschwäche befallenes Weibchen ist. Die Mutter soll fort. Aber Hüttenrauch will sie nicht von sich lassen. Deswegen werden sie eines nahen Tages ganz gewiß auseinandergehn.

Also – es knackt, knallt, kracht überall in dem engverbundenen Familien- und Freundesraum, wie in den Möbeln eines erwärmten Zimmers, wenn die Winterkälte, der kristallklare Atem des Todes, hereingelassen wird.

Was war es eigentlich, was gestern zu diesem wüsten Tumult beim Abendessen den Anlaß gab?

Mann mit zugeknöpften Taschen,
dir tut niemand was zulieb:
Hand wird nur von Hand gewaschen;
wenn du nehmen willst, so gib!

Diese Verse von Goethe waren die schuldig-schuldlose Ursache.

Es geht immer sehr lebhaft zu bei Tisch. Gestern saßen wir zehn Personen an der Tafel, da meine Schwester gekommen und der Lehrer des Ortes eingeladen war. Wir Brüder sind Leute, welche einander keine Ruhe geben und zu einer behaglichen, inhaltslosen Unterhaltung nicht fähig sind. Wir leiden alle drei an Einfällen, sprechen nur wirklich Gedachtes, meist augenblicks erst Gefundenes, und zwar lebhaft, aus. Es wird gestritten: wir kämpfen für unsere Behauptungen. Wir tun es nicht lau, sondern meistens mit Heftigkeit. Unter uns Brüdern ist Julius der heftigste, aber man ist daran gewöhnt. Marcus ist eine Vollnatur, breiter, überlegener, ruhiger, aber viel gefährlicher als Julius, wenn einmal, wie die Kellnergeschichte beweist, der Jähzorn über ihn kommt. Gestern verbreitete sich das Gespräch über Pädagogik, Naturwissenschaften, Literatur, Anarchie, Sozialismus und Militär, kurzum, die Stimmung war angeregt, unsere neun Kinder an ihrem Tisch im Nebenzimmer aßen, lärmten und amüsierten sich, der Einklang ließ nichts zu wünschen übrig, trotz ziemlich geräuschvoller Vielstimmigkeit.

Ich saß an einer der Schmalseiten der Tafel. Beim Platznehmen hatte Marcus übermütiger- und unvorsichtigerweise laut gesagt: »Titus« – das ist meine Wenigkeit –, »steige auf deinen Präsidentensitz!« Obgleich ich den Fauxpas, da ich die automatische Wirkung eines solchen Wortes auf Julius kenne, nach Kräften zu vertuschen suchte, war es nicht mehr zu verhindern, daß Julius blaß, sein heiteres Lächeln starr wurde, daß er sich schweigend niedersetzte und, gleichsam abwesend, mehrmals mit der Hand über den rotblonden Schnurrbart und das dürftige Ziegenbärtchen fuhr. Dann blickte er abwechselnd, unter Innehaltung einer betonten Schweigsamkeit, an seiner Umgebung unbeteiligt, die Decke oder Lore an und kaute an seinen langen Bartenden, die er zu diesem Zweck zwischen die Lippen strich.

Dieses Verhalten kenne ich. Es ließ durchaus nichts Gutes vermuten.

Immerhin, nach dem Fisch schien die Sache so ziemlich vergessen zu sein. Hatte ich mich nun, um dieses Ziel zu erreichen, zu lebhaft gezeigt und dadurch Öl in die Lampe seines Ärgers gegossen, jedenfalls trat er nach dem Braten zu allem und jedem, was ich sagte, in die entschiedenste Opposition. Ich will nicht behaupten, daß er mit vollem Bewußtsein Streit suchte. Er ist nun einmal der ältere Bruder, der gewöhnt war, schon als Knabe von höherer Stelle auf mich herabzusehen, wenn er mich auch zu fördern suchte. Meine führende Rolle in diesen Tagen, wie gesagt, wurmte ihn. Es traf seine allerempfindlichste Stelle, als ich nun noch äußerlich, wenn auch nur im Scherz, zum Präsidenten proklamiert wurde. Die Sache war auf die Spitze getrieben, es konnte so nicht weitergehen.

Kurz und gut, Julius rieb sich nach jeder Behauptung, die ich tat, nach jedem Satz, jedem Worte an mir, nichts, aber auch gar nichts wollte er gelten lassen. Ich fühlte natürlich genau, wo es hinauswollte. Julius wollte beweisen, wollte es sozusagen ad oculos demonstrieren, daß er noch immer der Überlegene, daß er und nicht ich der »Präsident« dieses Kreises war.

Stets neigte Julius zur Gewaltsamkeit. Seine geistige Gewandtheit erlaubte ihm, sich für seine Willkürakte eine moralische Begründung zurechtzumachen. Sein ganzes Verhalten gestern bei Tisch ging schließlich auf einen großen Willkürakt, auf eine unantastbare Feststellung seiner alten Macht hinaus. Von Fall zu Fall wurde er diktatorischer. Als ich einen meiner Jungens zurechtweisen mußte, wies er seinerseits vor dem Jungen den Vater, das heißt mich selbst zurecht und wurde nur immer angriffslustiger, als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß er meine Autorität vor dem Kinde herabsetze. Die Spannung hatte bei diesem Vorgang bereits einen hohen Grad erreicht, und besonders der Gast und freundliche Lehrer des Ortes wußte nicht recht mehr, wie er es anstellen sollte, damit er nach Möglichkeit unbeteiligt, ja ungegenwärtig erschien.

Der Ton, womit Julius mich vor meinen Kindern abkanzelte, genügte noch nicht, so aufreizend, so unmöglich er war, um die Katastrophe herbeizuführen. Ich verlor meine Selbstbeherrschung nicht. Dies ist für den Unbeherrschten sehr aufreizend. Ich schickte den Jungen, der schließlich doch mehr dem Vater als dem Onkel gehorchte, zurück an den Kindertisch, wodurch sich Julius' Verwundung vertiefte, und nahm einen Anlauf, den Tafelfreuden und der geselligen Heiterkeit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.

Ich weiß nicht mehr, wo das Gespräch sich nun hinwandte. Ich versuchte Marcus aufzuheitern, der während der peinlichen Szene geschwiegen, aber auf eine mir Sorge machende Art und Weise mehrmals die Farbe gewechselt hatte. Dies glückte mir auch nach einiger Zeit. Die allgemeine Unterhaltung bewegte sich bald wieder in den Bahnen der Harmlosigkeit, wenn sich auch Julius daran nicht beteiligte. Der Lehrer erzählte Melitta alte Geschichten, die er in den Stunden mit ihren und meinen Kindern erlebt hatte. Die Kinder tumultuierten wie vorher. Plötzlich kreiste irgendein Gespräch um Goethe herum und, Gott weiß es, in welchem Zusammenhang, zitierte ich die bereits oben notierten Worte:

Mann mit zugeknöpften Taschen,
dir tut niemand was zulieb:
Hand wird nur von Hand gewaschen;
wenn du nehmen willst, so gib!

Als ich, wieder völlig bei guter Laune, von der Leber weg diese Verse gesprochen hatte, sprang Julius auf, riß dabei die Decke beinah vom Tisch, so daß mehrere Gläser in Scherben gingen, schrie zwei- oder dreimal die Worte zu mir herüber: »Pfui, schäme dich!« und war in der nächsten Sekunde verschwunden. Daß seinem Bruder Marcus eine solche Szene im Augenblick todbringend sein konnte, daran dachte er nicht.

Eine Grabesstille war eingetreten.

Als diese Grabesstille kaum empfunden worden war, erhob sich meine Schwägerin Lore vom Tisch, zerknüllte die Serviette, warf sie zur Erde und entfernte sich, den Stuhl dabei umstoßend, nachdem sie, allerdings nur ein einziges Mal, auf das allerheftigste »Pfui!« gesagt hatte.

Die Grabesstille trat nochmals ein.

Was nun geschah, war den Zurückbleibenden doppelt unverständlich. Frau Hüttenrauch nämlich erhob sich schweigend vom Tisch und folgte den beiden auf brüske Weise. Marcus' bärtiger Pflanzerkopf blähte im Atmungsbedürfnis die Backen, er schien wie mit Kalkmilch bestrichen zu sein.

Ich erhob mich und wollte zu reden beginnen. Da stürzte, völlig bewußtlos vor Wut, Julius wieder herein.

Auf die nun folgende Art und Weise suchte der Bruder meinem Charakter gerecht zu werden. Er durchschaue mich wohl, sagte er. Alles, was ich tue, diese ganze Veranstaltung, sei aus den nichtswürdigsten, nichtsnutzigsten und schmutzigsten Beweggründen hervorgegangen. Ich sei durch und durch schmutzig, korrupt und durch meine Gelderfolge verdorben. Ich möge nur nicht den Irrtum begehen, mir meine erbärmlichen Spielgewinste als Verdienst anzurechnen. Der Zufall, schrie er, der bloße Zufall habe mir die Pfennige in die Taschen getan, mit denen ich jetzt wie ein Hansnarr, ein Hanswurst, ein Jahrmarktsbudenbesitzer, ein Marktschreier, ein Tapezierlehrling tagaus, tagein herumklimpere. Ob ich wohl glaube, daß diese paar Kisten voll Fresserei ihn zum Parasiten, zum armen Verwandten, zum Mitesser herabwürdigen könnten, der sich von mir nach meinem Belieben hinter die Ohren schlagen und abwechselnd vor den Bauch und in den Hintern treten lasse. »Behalt dir deine Würste! behalt dir deine Pasteten! behalt dir deinen verfluchten Kaviar!« brüllte er. »Eher sterbe ich Hungers, als daß ich mich noch weiter von dir mit Almosenspeise versehen, von dir regalieren und dafür malträtieren lasse! Ich will dir sagen, wenn du es noch nicht weißt, was du bist: ein Gernegroß! eine Null! ein Nichts! Was du weißt und kannst, habe ich, nur ich dir eingetrichtert. Ich muß dir das sagen, du mußt das hören, du mußt dir das klarmachen, damit du nicht in die Versuchung kommst, dich, durch eine falsche Vorstellung von dir selbst, etwa noch blöder und dümmer zu machen. Mir steht es zu, alles steht mir zu, alles und alles ist mein und ganz allein mein, was du dir in deinem lächerlichen und kindischen Dünkel anmaßest.«

Unter einem solchen Hagel von bösartigem Unsinn, von blinder Wut steht man wie unter einer Naturgewalt, und solche ist nicht zu widerlegen. Man sieht einen Zustand von Besessenheit und glaubt an die Herrschaft wilder Dämonen. Schließlich sind wir ja auch in den sogenannten Zwölf Nächten. Waren etwa die Skorpione, die ich im Traume sah, wie sie von allen Seiten gegen das Haus herankrochen, jene verkappten, tückischen Unholde, die uns hernach aneinanderhetzten? In den Zwölf Nächten, heißt es, walten sie frei. Nun böse Geister, einstmals Götter, sind ihnen christliche Häuser von Weihnachten bis zum Hahnenschrei des sechsten Januar sozusagen freigegeben. Mit Wacholder haben wir nicht geräuchert. Einen Zauberschutz gegen dieses Gelichter von Hexen und Kobolden haben wir nicht ums Haus gelegt. Unkirchlich, wie wir sind, haben wir Kruzifixe, um sie zu vertreiben, nicht hier. Es gelang ihnen jedenfalls, unsere Familien- und Festgemeinschaft dermaßen zu umnachten und zu verwirren, daß ein Ende mit Schrecken nur wie durch ein Wunder vermieden ward.

Marcus, der bis dahin alles in sich hineingewürgt hatte, stand plötzlich wie ein Verstorbener da. Und was er hervorstieß, was er und wie er schrie, das war von der Art, daß uns allen das Blut in den Adern gerinnen wollte. Hier wäre die Grenze! Das ginge zu weit! Julius habe ihm allerdings viel Gutes getan, aber das käme hier nicht in Frage. Hier überschreite er, Julius, alle Grenzen der Denkbarkeit und des möglicherweise noch Erduldbaren. Mit einem Schlage vernichte er in ihm, Marcus, alle Gefühle und Verpflichtungen zur Dankbarkeit. Dies Betragen sei so, sagte er, daß der Mann, der es sich erlaube, in eine verschlossene Zelle mit den dicksten Eisenstäben statt der Fenster hineingehöre. Für dieses Betragen rechtfertige sich kein noch so bescheidener Versuch zur Entschuldigung. Er habe mit solchen Leuten nichts zu tun und bitte, ihn nicht mehr zu inkommodieren.

Da er wankte, lief alles herzu, voran der völlig niedergedonnerte Julius, ihn zu stützen. Man gab ihm recht, man beruhigte ihn, Hüttenrauch rief nach schwarzem Kaffee, Melitta weinte, die heulenden Jüngsten wurden von Lore besänftigt und hinausgeführt, der Lehrer versuchte, ohne beachtet zu werden, sich von den Damen des Hauses zu verabschieden. Als sich die Tür hinter Marcus geschlossen hatte, hörte ich, der ich auf meinem Platz geblieben war, wie ihn auf dem Flur ein Asthmaanfall überkam, und erkannte, daß er noch immer alle helfenden Hände von sich stieß. Julius wurde durch die wieder geöffnete Tür von Hüttenrauch zurückgedrückt, und ich muß gestehen, daß der bittere Gallengeschmack, der mir in die Kehle stieg, als ich den nun so veränderten, nun so bestürzten, kleinlaut gewordenen Bruder wiedersah, dessen Unbeherrschtheit ihn vielleicht zu Marcus' Mörder gemacht hatte, nichts zu wünschen übrigließ. Dieses Schlimmste, Gott sei Dank, ist ihm erspart geblieben.

Ich höre Schellen. Der Schlitten meines Bruders Marcus hält vor der Tür. Hüttenrauch hat nachts über in seinem Zimmer geschlafen. Es ist nebenan. Es gab Gelauf, es wurde gesprochen, dem Patienten wurden Medikamente eingeflößt. Aber heut morgen schien die Gefahr vorüber, der Anfall überwunden zu sein. »Was mich betrifft«, sagte Hüttenrauch, »ich hatte erwartet, es wäre das Ende. Doch hat er's dieses Mal noch geschafft. Unmittelbare Lebensgefahr besteht nicht mehr.«

Marcus selbst ist bei guter Laune. Auf den gestrigen Vorfall hat er nur mit zwei Worten Bezug genommen, als er ins Frühstückszimmer geführt wurde: »Kinder, ich habe nun mal eine Ochsennatur!«

»Es war ein Mann im Lande Uz . . .«

 

Grünthal, am 29. Dezember 1897.

Das Wetter ist gleichmäßig kalt und klar. Wenn ich in den Schnee hinaustrete, in die blendende Helligkeit, so ist mir doch anders zumute als in weniger mit Schicksalsbewußtheit belasteten Zeiten. Die Sonne ist uns ja wohl zu einer selbstverständlichen Erscheinung geworden. Zuweilen, und so auch in diesen Tagen, erfasse ich sie als einen am Tage scheinenden Stern, ja eigentlich als Kometen, dessen Kopf nur sichtbar ist.

Und wenn ich das noch immer gequälte Wesen meines Bruders Julius betrachte, so scheint es mir viel Saturnisches zu haben, wie mir denn unsre ganze Familie unter dem Einfluß des fernsten und merkwürdigsten aller Planeten, des Saturn, zu stehen scheint. Das allerschwerste, allertiefgründigste, allervielfältigste Menschenschicksal ergibt sich ja unter der Strahlung Saturns im Erleiden und Handeln gleich gewaltsam. Melancholie, Tränen, Verworrenheit sind unter ihm heimisch. Der humor melancholicus kommt von der Milz, die dem Saturn untersteht. Er schafft Träume, Träume, Träume, heitere Träume, schwermütige Träume, nichtige und solche, welche hellsehend sind. Julius hat sich von Jugend auf, so gesellig er im übrigen scheint, gern von seiner Umgebung abgesondert. Auch jetzt, wo gesellige Berührung ja doch der Zweck dieser Familientage ist, ist Julius viel allein. Zu anderer Zeit als die anderen verläßt er das Haus, zu anderer kehrt er wieder heim. Selbst unbemerkt, sehe ich ihn oft mit der ihm eigenen Versonnenheit durch den Schnee dahinstapfen. Ich weiß, er bemerkt mich erst im letzten Augenblick, wenn ich ihm nachgehe oder entgegenkomme. Er ist dann zunächst immer freundlich zerstreut, und man kann es ihm jedesmal anmerken, er werde es dankbar empfinden, wenn man ihn weiter sich selbst überließe. Sein Blick ist dann gleich wieder grüblerisch nach innen gekehrt, dort gibt es immer vieles zu schaffen.

Es ist das ganze, schwere, reiche, verworrene saturnische Erbe in ihm, was immer wieder der Ordnung und Schlichtung bedarf. Es sind diese Innengewalten, die zugleich äußere Mächte sind und sich dem inneren Blick nicht nur als immerwährende Gegenstände staunender Betrachtung darbieten, sondern auch, da es Naturkräfte sind, der Bezähmung, Begrenzung, Versöhnung und Harmonisierung bedürfen: – wenn sie ihr Gefäß nicht zersprengen sollen.

Ich habe vorgestern etwas gleichsam über das Haupt der Medusa niedergeschrieben, das unter dem Oberflächenleben einer Familie verborgen sein kann. Heute nenne ich es das Saturnische. Kein Wunder, daß man sich in den Tagen, da das Licht der Welt geboren ist (Lux crescit: diese Formel findet sich in der christlichen Weihnachtspredigt, dem griechischen Kalender und in heidnischer Liturgie!), an astrale Verbundenheiten erinnert. Zogen doch noch vor wenigen Tagen die drei Könige, »Kaspar, Balzer, Melcher zart«, umher, die den Stern des Heilands gesehen haben und, von ihm geführt, das göttliche Kind in der Krippe vorfanden. Also nochmals: Saturn! Saturn! Ich verstehe meinen Bruder besser im Zeichen saturnischer Besessenheit als im Zeichen moderner Psychiatrie. Er, der mir immer, von der Hand des Dämons gezeichnet, zu irgendeinem großen Schicksal berufen schien, erlangt vor meinem Urteil als leidender Träger planetarer Einflüsse höhere Bedeutsamkeit. Eine solche Betrachtungsart macht ihn zu einem Gegenstand reiner Teilnahme. Das, was unpersönlich an ihm wird, weitet und, ich möchte sagen, heiligt seine Persönlichkeit und bringt alles andere in mir zum Schweigen außer einer liebevollen Verbundenheit. O dieses saturnische Mittelalter! Wie hat es den Menschen groß gemacht! Um seinetwillen und um ihn herum war das Weltall geschaffen, wodurch nun freilich der Mensch zum allzu schwachen Träger eines kosmischen Schicksals ausersehen ward. Das ist eine Last, die auch Atlas nur symbolisch zu tragen imstande ist. Dieses Schicksal, diese leidende Verbundenheit mit dem All mußte die Erlöseridee gebären, die einen höheren Ausdruck als den uralten indischen niemals gefunden hat.

Immer wieder, wenn der Christbaum brennt, gibt es einen unaussprechlichen Augenblick. Es ist, als ob ein Erkenntnisorgan, das sonst nicht in Erscheinung tritt, uns im besonderen Licht einen einzigen kurzen Einblick gewährte. Nicht durch das Auge, durch das Gefühl. Und wenn man diese unbedingt mystische Erfahrung umschreiben will, so könnte man sagen, es sei ein gedankenschnelles Durchbrechen und Wiederverschwinden sonst unzugänglicher, außermenschlicher Zustände. –

Ich will meinem Bruder alles verzeihen. Wenn ich bedenke, wie ich ihn angesichts der Lichter des Weihnachtsbaumes ergriffen und leidend sah, wie er an sich und anderen trägt, wie er, bewußt und unbewußt, dem ganzen Menschenschicksal verhaftet ist, wie alles in ihm nach Erlösung schreit: für sich, für die anderen, für die Welt, wenn ich bedenke, zu welchen Höhen der Menschheitshoffnung der begeisterte Jüngling uns andere ehemals hinreißen konnte, welche kristallreine Lauterkeit im Wollen und Handeln ihn auszeichnete, so muß ich bekennen, daß ich, was sein Wollen und Ringen anbelangt, einem zweiten Menschen wie ihm nicht begegnet bin.

Es ist ja richtig, daß er den furchtbaren Ausbrüchen seiner Natur nicht mehr wie früher gewachsen ist. Der lichte Genius, der immer bei ihm die Führung wieder übernahm, verdichtet sich nicht mehr zur Sichtbarkeit. Seine Fackel, wenn er nicht gar vertrieben ist, hat die Leuchtkraft verloren. Nach einem Auftritt wie dem letzten würde Julius vor zehn Jahren Reue und Bedauern gezeigt und, soweit er mich betraf, mich durch Zurücknahme aller Beleidigungen versöhnt haben. Eine Regung der Art zeigt er heute nicht.

Aber wie gesagt: er ist ein Gefäß für Mysterien, er kämpft einen nicht gewöhnlichen Kampf, er trägt ein nicht gewöhnliches Schicksal. Es sind finstere Dämonen, mit denen er zu kämpfen hat, und ein dauerndes schweres Ringen zeigt sich in jedem seiner Züge. Und wo er zurückstößt, ist es nicht vielleicht darum, weil die Welt allenthalben die tiefen Liebeskräfte seiner Seele zurückgestoßen hat? Kräfte, die allerdings von Reizbarkeiten aller Art umgeben sind. Habe ich ihm doch oft gesagt: »Julius, du bist wie ein Mensch ohne Haut. Berührt man dich nur, und geschähe es auch mit der äußersten Vorsicht, schreist du sofort wie ein Besessener.«

 

Grünthal, am 2. Januar 1898.

Es ist heute, am sogenannten zweiten Neujahrstag, eine gewisse Stille eingetreten. Die festlichen Hindernisse des Lebens liegen hinter uns. So merkwürdig inhaltsschwer und auch schön sie waren, sind sie doch einer Hügelkette nicht unähnlich, die nun überstiegen ist. Die Ebene des kommenden Jahres eröffnet sich.

Der Silvesterabend war doch wohl von allen erlebten der merkwürdigste. Selbst das grübelgrämliche Wesen meines Bruders Julius hatte einer heiter-ernsten Vertiefung Platz gemacht. Ein neues Jahr fängt ja schließlich mit jedem Tage an, und ein Blick in die Zukunft, die immer dunkel bleibt, drängt die gleichen Fragen auf und das gleiche Nachdenken. Dennoch weckt der Zeitpunkt, wo es in der Silvesternacht vom vereinsamten und verschneiten Kirchturm zwölfe schlägt, alles dieses viel tiefer auf.

Der Christbaum war mit frischen Lichtern besteckt worden und erhielt um Mitternacht nochmals seinen Weihnachtsglanz, während draußen Prosit-Neujahr-Rufe durch die verschneiten Täler hallten. Wir hielten die Kinder zum Singen an, wobei zwischen den sangesfrohen Vettern eine Art Wettstreit entstand, der, mit verschiedenen Soli ausgetragen, schließlich einen meiner Jungens, Willfried, die Palme erringen ließ. Er sang das Lied »O wie ist es kalt geworden . . .«.

O wie ist es kalt geworden
und so traurig, öd und leer!
Rauhe Winde wehn von Norden,
und die Sonne scheint nicht mehr.
Schöner Frühling, komm doch wieder,
lieber Frühling, komm doch bald,
bring uns Blumen, Laub und Lieder,
schmücke wieder Feld und Wald!

Die Stimme des Knaben ist von der Art, strömt eine solche Unschuld und Reinheit aus, daß sich unser aller Ergriffenheit bemächtigte. Es zuckte bedenklich um Marcus' Mund – wir hatten den armen Mann aus dem Lande Uz in einen alten Familienlehnstuhl gesetzt –, Julius drückte sich unauffällig ins Nebenzimmer, während ich selbst, unter dem verworrenen Zudrang von Gefühlen, nach Fassung rang. Was sieht, was fühlt, was faßt man nicht alles zusammen in einem solchen Augenblick, der schließlich im Mitleid mit allem und allen und nicht zuletzt mit sich selbst gipfelt.

Wir hatten, Hüttenrauch, Julius und ich, in einer bakchischen Raserei unser »Prosit Neujahr« wild in die sternklare Nacht hinausgeschrien. Inzwischen kam der Christbaum in Brand, eine Bowle wurde zubereitet aus heißem Rotwein, in den man Zucker, zerschmolzen in brennendem Rum, tropfte. Dies brachte uns auf den Gedanken des Bleigießens. Der gläubige Unglaube, der uns beherrschte, ermöglichte uns diese Spielerei, trotz der gefährlichen Brüchigkeit unserer inneren Zustände. Es wurde sogleich nach Blei gesucht, eine Waschschüssel mit Wasser herzugetragen, dazu die nötigen Blechlöffel, und bald bewies das zischende Geräusch der im Wasser verschwindenden und erkaltenden Bleitropfen und das Gelächter der Kinder, daß der Orakelbetrieb im Gange war.

Aus dem tief Verharrenden dieser Tage waren alle nun plötzlich losgelöst, und auch die räumliche Gemeinschaft wurde bereits als Beengung empfunden. Jeder Gedanke drängte voll Ungeduld in die Zukunft der Zeit und des Raumes hinaus. Man konnte es gleichsam nicht ertragen, in der natürlichen und gegebenen Stufenfolge der Ereignisse sich langsam gegen das Neue hinzubewegen. Man zögerte nicht, den Dienst von Dämonen in Anspruch zu nehmen, den unsichtbaren Blitz ihrer jeden Raumes spottenden Flügelschläge, um Kommendes jetzt schon, wenigstens ahnungsweise, vorwegzunehmen. In ein wahres Fieber geriet der Rationalist und Atheist Hüttenrauch, so daß Julius und ich ihn deshalb hänselten.

Merkwürdig war in jedem Betracht die Geisterstunde von zwölf bis eins. Auch ohne das Bleigießen schienen mir die Schleier der Zukunft hinweggenommen. Daß Marcus am kommenden Silvester noch unter den Lebenden sein würde, war nicht anzunehmen. Und doch hatte ich ein Gefühl, er mache irgendwie die Umkehr aus tiefster Nacht zum Lichte mit, aus der Enge rings umschließender Finsterkeit in die weiten Gebiete kommenden Lichtes. Die Hüttenrauchs zeigten sich besonders erregt. Sie haben, da sie beide körperlich kräftig sind, die Gewohnheit, im Scherz zu boxen, ja miteinander zu ringen, wenn sie übermütig sind. Es geht dabei gar nicht weichlich zu, es kommt vielmehr darauf an, kräftige Püffe auszuteilen und ohne Mucksen zu erdulden. Wenn dabei auch der Rahmen einer scherzhaften Tollheit nicht überschritten wird, so gibt es doch Griffe und Blicke dabei, in denen der Ingrimm des Kampfes nicht nur etwas Gespieltes ist. Wir lachten viel über dieses Ringerpaar, ich freilich mit gemischten Gefühlen. Ein wahrer und tiefer Gegensatz verbarg sich, durch die Umstände einigermaßen verharscht, in dieser etwas gesuchten Saturnalie. Es war mehr als fraglich, ob ähnliche Kämpfe am nächsten Silvester noch stattfinden würden.

O wie ist es kalt geworden
und so traurig, öd und leer!

Was mich betrifft, so regten sich in mir, ohne daß ich es jemand von meiner Umgebung ahnen ließ, weitesten Ausmaßes Feuerflügel.

Rauhe Winde wehn von Norden,
und die Sonne scheint nicht mehr.

Spinoza sagt, Trauer sei eine Leidenschaft, durch welche die Seele zu geringerer Vollkommenheit übergehe. Und weil dies so sei, strebe die Seele, »soviel sie kann, sich das vorzustellen, was die Wirkungskraft des Körpers vermehrt oder fördert«. Das aber ist Freude, durch welche auch die Seele zu größerer Vollkommenheit übergeht. Der Affekt der Freude, mit Bezug auf Seele und Körper zugleich, ist auch Lust und Heiterkeit.

Schöner Frühling, komm doch wieder,
lieber Frühling, komm doch bald,
bring uns Blumen, Laub und Lieder,
schmücke wieder Feld und Wald!

Liebe ist nichts anderes als Freude, begleitet von der Idee einer äußeren Ursache: Anja!

Meine Feuerflügel weiten sich und fahren dahin, meine Seele kann nichts mehr halten: nicht der Gedanke an die arme, einer neuen Verlassenheit entgegenlebende Melitta, nicht der Gedanke an den armen Hiob, meinen Bruder, nicht der Gedanke an Anjas wahrscheinlich todgeweihte Mutter löscht ihn aus. Mag sein, ihr Schicksal vollendet sich in der Nacht, das meine drängt, strebt und fliegt nach dem Lichte, der schneeichte Wall der Alpen liegt unter mir, ein großer Zugvogel fliegt nach dem Süden. Dort erwarte ich die Geliebte, ich fühle, dort werde ich sie im Arm halten, wenn sie des Dienstes am Krankenbett der Mutter enthoben ist.

Beim Bleiguß kam für Hüttenrauchs Frau ein Schiff heraus, mit vollem Wind in den Segeln. Als sie es sorgfältig zwischen die Fingerspitzen beider Hände nahm, brach der Rumpf mitten entzwei. Was ich mir goß, nannte man einstimmig einen Zugvogel.

 

Berlin, am 6. Februar 1898.

Schnelldampfer »Möwe«, der auf der Höhe von Southampton noch Passagiere aufgenommen hat, ist wenige Stunden später, nachts, im Kanal, wahrscheinlich bei Nebel, von einem Kohlenschiff gerammt worden und gesunken. Gerettet sind von der Besatzung zwei Mann und nur wenige Passagiere.

Als ich diese Nachricht las, – im ersten Augenblick begriff ich sie nicht, wenigstens nicht in ihrer ganzen Tragweite. Gleich darauf fiel die furchtbare Wirklichkeit, die hinter diesen wenigen Schriftzeichen steckte, wie ein zusammenstürzendes Gebäude über mich hin.

Schnelldampfer »Möwe«, das war jenes Schiff, mit dem ich vor drei Jahren etwa um dieselbe Zeit den Ozean überquert hatte. Ich gehörte damals in jene Gruppe von Passagieren, die sich auf der Höhe von Southampton einschifften. Als ich das große schwimmende Haus bestiegen hatte, ging ich sogleich beruhigt zu Bett, eingelullt von einem Gefühl der Geborgenheit. Der Untergang eines so gewaltigen Organismus schien vor Gott und Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. Und doch waren die Passagiere diesmal schon nach wenigen Stunden mit dem Ruf »Save your souls! Rettet eure Seelen!« geweckt worden. Für den Körper, den irdischen Leib, gab es eine Rettung nicht mehr.

Schnelldampfer »Möwe« ist untergegangen, vor drei Jahren mein Lebens-, mein Schicksalsschiff! Von seinem Steuer, seiner Schraubenwelle, der Festigkeit seiner Wanten, der Zuverlässigkeit seines Kapitäns und seiner Offiziere war während zweier aufwühlender und aufgewühlter Wochen alles, was ich bin und habe, abhängig. Heut sehe ich es als Gespensterschiff, sehe es mit völliger Deutlichkeit, als ob es nicht gesunken sein könnte. Jede Einzelheit des auf Gedeih und Verderb verbundenen Gemeinwesens ist mir volle Gegenwart.

Ich schließe die Augen: und da schwimmt, kämpft in voller Fahrt das Gespensterschiff. Sein Vorderteil wird über den Kamm eines hohen Wellenberges ins Leere hinausgeschoben. Es kippt vornüber und stößt mit der Spitze in den unteren Teil des nächsten Wellenberges hinein. Die Schraube hinten braust dabei in der Luft. Schwere Fahrt! Schwere Fahrt! Aber es läßt nicht nach, es tut gute Arbeit, das Gespensterschiff. Unsere »Möwe« ist brav, sie wird uns ans Ziel bringen.

Dort steht Herr von Rössel, der Kapitän, dort der Erste Offizier, ein nervig harter, vornehmer Mann, verkörperte Pflicht, verkörperte Furchtlosigkeit. Sie leiten noch immer mein Gespensterschiff. Ihre Namen nennen die Zeitungen, ihre Leichen sind noch nicht angeschwemmt.

Ein Schiffsjunge trat zum Kapitän, wie es heißt, und brachte ihm einen Schwimmgürtel. Kapitän von Rössel sagte zu ihm: »Ich danke, mein Sohn, ich brauche ihn nicht.«

Er sagte plötzlich »mein Sohn« zu dem Schiffsjungen.

Nun liegt der Schnelldampfer »Möwe« mit der großen Wunde in seinen Wanten am Meeresgrund. Ich werde zum Taucher und gehe darin spazieren.

Im Rauchzimmer schwimmen Fische umher. Sie untersuchen blöde, was von und unter den Plüschpolstern ist, die Likörflaschen von der Bar, die Zigarrenkisten und Aschbecher. Natur ist in sich blind, wo sich der Geist, die hochgebietende Vernunft, nicht geboren hat. Natur ist sich selber tot, wo sie nicht vergeistigt wird. Auch diese »Möwe«, die eine Zeitlang mein Schicksal vorwärtsgetragen hat, ist damals Natur, vergeistigt, gewesen, während sie heut wiederum entgeistigt, der toten Natur verfallen ist.

Einstmals war sie mein Seelenraum. Ich und das wirkliche Schiff waren eins geworden. Hilfreich trug es mich über den Ozean, erhielt mich dem Leben, trug mich der besseren Zukunft entgegen. Sollte ich mit diesem tätigen, starken Geistleib nicht dankbar zeit meines Lebens verbunden sein und trauern um ihn wie um einen Toten?

Die »Möwe« hat meinen Wahnsinn gesehen, als meine Halluzinationen sich gleichsam selbständig machten und meine kühle Vernunft erlag. Ich war ein Nichts in ihr und noch weniger ein Etwas auf dem weiten Ozean und am allerwenigsten eine Sache von Wichtigkeit auf dem Meere des Lebens. Aber das alles interessiert mich nicht. Was ich nicht bin, hat keine Bedeutung für mich. Auf das, was ich bin, allein bin ich angewiesen. Und so bin ich denn alles, was für mich ist, und das ist überhaupt nicht, was nicht für mich ist. Darum darf sich der Mensch zum Gotte machen.

Es war nicht die Natur, die mich rettete und in ihre Arme nahm, als die »Möwe« mich über das Wasser trug, es war der Geist, der Menschengeist, aus dem ihr Organismus geboren wurde. Durch ihn allein schwebte ich sicher über der furchtbaren Tiefe des Ozeans und konnte so seine schreckliche Größe bewundern.

Mein Seelenschiff liegt nun auf dem Grunde des Ozeans. Man könnte es zertrümmerten Geist nennen. Das ist es für den, der das Wesenlose der Materie vom Wesenhaften zu trennen weiß. Ich werde seiner noch oft gedenken.

Aber ich bin nicht dort, wo das Gestern hinter mir in Trümmer gesunken ist. Ich bin hier, führe den Griffel, schreibe und lese. Das verdanke ich freilich nicht dem Geist, sondern einer anderen Macht, die über allen Ozeanen und Schiffen erhaben und wirkend ist. Und solange sie mich bejaht, kann mich das Nein irgendeiner geringeren Welt nichts anfechten.

 

Nürnberg, den 19. März 1898.

Man hat bei Anjas Mutter einen operativen Eingriff gemacht und dabei festgestellt, daß die wirklich geplante Operation nutzlos wäre. Nach Schließung der Wunde wurde die Kranke in ihre Wohnung zurückgebracht, die sie nun lebend nicht mehr verlassen wird. Aus der Narkose erwacht, küßte sie, in dem Gedanken, gerettet zu sein, dem Chirurgen inbrünstig die Hand.

Wie kommt es, daß ich Anja in so schwerer Zeit allein lasse? Es gibt verschiedene Gründe dafür. Und wenn ich auch den Gedanken, dabei von einem gewissen Egoismus geleitet zu sein, mir selbst gegenüber nicht ableugne, so ist er doch nicht die wichtigste Ursache. Eher eine Art Selbsterhaltungstrieb, der sich auf Anja und mich bezieht. Sich zwischen den gebieterischen Forderungen der nun kommenden schweren Stunden und mir zu teilen, müßte, wie ich beobachten konnte, über Anjas Kräfte gehn.

Beistand vermag ich ihr nicht zu leisten. Meine Stellung in der Familie ist nicht derart, daß ich, ohne Befremden zu erregen, im Kreis der Verwandten auftreten könnte. Ich würde also, wenn ich in der Nähe bliebe, von den engeren Trauerfeiern ausgeschlossen sein und müßte bei den erweiterten Fremdheit heucheln.

Wir sind auf dem Wege nach Italien, mein Freund Dr. Joël und ich. Leider – so ist das Leben! – läßt es sich ungefähr voraussehen, wann Anja nachfolgen wird.

Während sie nun aber unter dem Banne schmerzensdüsterer Pflichterfüllung und schwerer Trübsal ist, schenkt sich hier in dieser wundervollen alten Stadt zwei gleichgestimmten Menschen – nochmals sage ich: so ist das Leben! – eine wahrhaft festliche Zeit. Joël, beinahe zehn Jahre jünger als ich, sieht die Wunder von Nürnberg zum erstenmal, und ich mache dabei den Cicerone.

Wir haben es nun so weit gebracht, daß uns hinter dem Nürnberg von 1450 bis 1550 das Nürnberg von heut versunken ist. Wir verkehren dagegen mit Dürer und Pirckheimer, laden uns in die Werkstätten ein, wo der Erzgießer Peter Vischer mit seinen Söhnen, und zwar am Sebaldusgrabe, arbeitet. Wir vergessen nicht den Schuster Hans Sachs, und wenn wir in das magisch verzaubernde Wasser seiner Schusterkugeln, hinter denen das Öllämpchen knistert, hineinblicken, so sehen wir einen anderen Mann, der wie kein zweiter in diese Umgebung hineingehört und einen Hans Sachs in sich trägt. Ich sage getrost, daß Goethe überhaupt der unsichtbar-gegenwärtige Dritte in unserem Bunde ist.

Goethes »Faust«, wie wir in der Sebalduskirche vor dem Sebaldusgrabe übereinkamen, ist ein diesem aufs engste verwandtes Gebilde der Renaissance. Renaissance aber sind diese beiden Werke allein insofern, als sie den Inhalt, die Ganzheit, die Materialisation, den Niederschlag zweier individueller Seelen darstellen. Im übrigen enthalten sie alle Elemente des christlichen Mittelalters. Mir scheint überhaupt die sogenannte Renaissance nicht eigentlich darin zu bestehen, daß antike, heidnische Elemente sich im Christentum erneuern, weil die römisch-katholische Kirche selbst durchaus nichts anderes als Gnosis ist, eine Geistesballung, in der sich jüdisch-christliche und griechisch-heidnisch-christliche Elemente unlöslich durchdringen.

Da Joël und ich tagsüber zusammen sind und eine Menge von Eindrücken durchsprechen, würde es schwerhalten, auch nur die Wegspur dieser Wanderungen im Geiste nachzuzeichnen. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle erstreckt sich dieser tägliche Weg und von da aus wiederum zurück.

Durch den Sieg des Protestantismus, glaubten wir zu erkennen, habe die Kunst den schwersten Schlag erhalten. Damit sei ein Gebiet der Seele, vielleicht die gewaltigste Sprache der Seele verstummt. Ein traditionelles, ununterbrochenes Sein weiter Seelenreiche sei dadurch zerstört worden und so wenig mehr vorhanden, daß nicht einmal der Ausdruck »tot« noch anwendbar auf ihr Nichtsein ist. So steht der taube Mensch von heut zum Beispiel vor dem stummen Sebaldusgrab.

Die ganze neuere Philosophie, sagte ich, von Spinoza bis zu Herbert Spencer herauf, hat die Wirklichkeit des Objektes nicht erhärten können. Daß die subjektive Existenz von der objektiven geschieden sei, nennt Spencer einen realistischen Schluß. Die physischen Erscheinungen sind ihm Zeichen, höchstens Symbole einer sogenannt objektiven Existenz. Diese bleibt vollkommen unbekannt. Bewußtsein ist nur ein sehr roher Maßstab für die Außendinge bei ihm. Es liegt also alles im Subjektiven, wobei, wenn von Symbolen und Zeichen mit Fug die Rede ist, äußere Realitäten allerdings vorausgesetzt bleiben müssen.

Nun, der Mythos ist die lebendige Kehrseite einer solchen Auffassung. Eigentlich ist er die Vorderseite, welche diese Erkenntnis zur toten Kehrseite hat. Und so steigen wir, Joël und ich, täglich, stündlich in den großen Mythos des Mittelalters.

Im Mittelpunkt stehen die Dome und Bauhütten. Die Wasserspeier lösen sich los und gehen, steigen, fliegen, kriechen des Nachts, Dämonen mit Adler-, Schafs- und Hundsköpfen, Krallen und Hufen, über die Dächer und durch die Gassen. Hinter den bläulich phosphoreszierenden Kirchenfenstern halten tote Heilige, aus den Krypten steigend, Messen ab. Man hört die Gesänge der Nonnen und Mönche. Auf der Mauer der Pegnitzbrücke sitzt, mit dem Rückenende überm Wasser, ein höchst ordinärer Satanas. Er hat seinen Schwanz in die Flut gehängt, und Pegnitzweibchen benützen ihn wie einen Strick, um emporzuklimmen. Am Tage sogar, unter den Fleischbänken, erkennen wir hier in einem kleinen, verhutzelten Bauern mit gespaltenem linkem Ohr den Wassergeist Schlitzöhrchen. Ein hübsches Bürgermädchen, das auf dem Markte Pfefferkuchen kauft, kann uns mit ihrem feuchten Rocksaum nicht verbergen, daß sie ein Naturwesen, eine Nixfrau und mit dem Wassermann auf dem Grunde der Pegnitz verehelicht ist. Sie weiß, daß wir wissen, und sieht uns an. Aber ihr Mund ist auf eine saugende, satyrhaft-dämonische Weise verführerisch. Wir haben Grund, uns in acht zu nehmen.

Kein Zweifel, daß es Hexen gibt. Man sieht sie mit fetten Schweinen am Strick daherkommen. Und über dem allem, hinter dem allem, überall: das furchtbar an die Kreuzespfähle genagelte Erlöserbild, mit seinem Blut, Eiter, seinen dornengespickten Gliedmaßen Martern und Verwesung ausschreiend auf gräßliche Grünewaldische Art. Diese ewig offene Wunde, dieses alle Innerlichkeit, alle Tränen, alle verzückte Liebesraserei gebärende, ewig fließende Trauma des Mittelalters, mit Wasser, Blut, Eiter, Essigschwamm zusammen: das ewig fließende Licht!

Mindestens einmal des Tages finden wir uns im »Bratwurstglöckl«. Man sitzt dort enggedrängt um den Tisch und erquickt sich an Tucherbier und Bratwürstchen. Gestern hatten wir unter uns einen entlassenen oder entlaufenen Fremdenlegionär. Er wurde in dem Maße gesprächiger, als wir seinem Geldbeutel nachhalfen. Die Wurstportionen und die Krüge Bier mehrten sich. Es war von dem neuen Deutschen Reich bei diesem Burschen wenig zu spüren, der noch völlig in den Humoren der »Facetiae«, des »Rollwagenbüchleins« und der »Briefe der Dunkelmänner« wurzelte. Er spielte sich in einer unserem historischen Bedürfnis sehr entgegenkommenden Art und Weise auf den »miles gloriosus« hinaus und log, sein Deutsch mit französischen Brocken mischend, in einer höchst vollkommenen Art.

Daß er wirklich in Marokko und da herum gedient hatte, war nicht zweifelhaft. Arabische Brocken flogen umher, und die Schilderungen der Städte, der Märsche, der Gefechte, der Militärstationen im Atlas und in den Oasen der Wüste waren zu anschaulich, als daß sie hätten können erfunden oder, was bei einem Mann seiner Art sowieso ganz unmöglich war, erlesen sein.

»Seltsam«, sagte ich später zu Joël, als wir wieder zu zweien allein saßen, »wie gespenstisch in gewisser Beziehung eine solche Erscheinung ist: ein lebendiger Mensch aus versunkener Zeit. Was zieht einen solchen Menschen nach Afrika, heißt ihn, sich in die mohammedanische Welt stürzen, macht ihn zu einem Mischmasch von Gotik und Tausendundeiner Nacht? Isa ist bei ihm Jesus Christ. ›Inschallah‹ ist sein zweites Wort. Als er wegging, grüßte er mit ›Salaam‹. Eine große Rolle spielte bei ihm ein Zauberer, ein Marabut, der Dämonen beschwor und ihm die Zukunft genau voraussagte. Sein Aberglaube war ungeheuer, und doch schimpfte er auf die Mollas und ebenso auf die katholischen Pfaffen und gab ihnen alle Namen, mit denen man Lügner, Betrüger, Räuber und Diebe irgend belegen kann. Nie wird er trotz allem vergessen, sich beim Eintritt in die Kirche mit den in Weihwasser eingetauchten Fingern zu bekreuzigen. Er könnte ein Stammesgenosse der Westgoten aus dem achten Jahrhundert sein, als diese Spanien an die Araber abtreten mußten.«

Joël wies auf den alten Gedanken hin, wonach alle historischen Epochen ihre Vertreter unter den Gegenwartsmenschen hätten. So ist es gewiß, und wir stimmten in dieser Annahme überein. Was daraus folgt, ist auf der Hand liegend. Also sollen wir weniger oder wenigstens nicht ausschließlich alte Pergamente studieren, sondern unser Forscherauge auf die Inhalte der ins Unendliche mannigfaltigen Menschenköpfe richten, welche die unzugänglichsten, geheimnisvollsten und lebendigsten historischen Archive sind.

Einem verwandten Bestreben verdanke ich dieses Tagebuch. Aber das Urlebendige bleibt eben doch das gesprochene Wort: und zwar das naive, aus reinem Mitteilungstrieb gesprochene. Also die immer und immer wieder mit allen Ausdrücken der Geringschätzung bedachte Masse: welch ein ungeheures, unerschöpfliches Erntefeld! wie unübersehbar die mögliche Ausbeute! welches uferlose Mysterium!

 

Bellagio, am 27.März 1898.
Villa Serbelloni.

Gestern sind wir hier angekommen. Die Dunkelheit herrschte bereits, als wir den mächtig aufrauschenden Park der Villa Serbelloni betraten, die in ein Hotel umgewandelt ist. Der düstere Bau mit den langen Korridoren, nur erst zum Teil in Betrieb genommen, begrüßte in uns, Joël und mir, wie es schien, die ersten Gäste. Es stellte sich allerdings heut morgen heraus: ein Engländer ist noch hier, der mit acht oder zehn Terriers einige kleine ebenerdige Zimmer bewohnt.

Unsere Ankunft, unser einsames Abendessen in dem mit schweren Möbeln und Portieren ausgestatteten düsteren Raum standen in einem unerwarteten Gegensatz zu den sonstigen Eindrücken unserer Fahrt. Man hätte glauben können, in einem weltentlegenen schottischen Schlosse zu sein, in dem düstere Geister umgehen, Gespenster einer blutgetränkten Vergangenheit.

Nichts aber hätte unseren Neigungen, der abenteuerlichen Losgelöstheit unserer Seelen mehr entsprechen können. Von allen Seiten drängten die Gespenster unseres Lebens in diese willkommene Atmosphäre und nahmen ihre Färbung an. Dieser junge Mensch aus Schneidemühl ist zwar nicht in die gleichen Konflikte wie ich verwickelt, aber sein von Natur schwereres Blut, die tragische Erbschaft des Judentums, sein Entwicklungsgang zum Gipfel einer ungewöhnlichen Geistigkeit haben einen Leidens- und Schicksalsweg auferlegt. Er ebensowenig wie ich empfinden das Leben als eine flache und breite Bequemlichkeit. Wir wünschen es auch nicht als das zu empfinden. Vielmehr sehen wir es nur insofern als wertvoll an, als wir es für eine Idee, die es steigern kann oder darüber hinausgeht, einsetzen und wenn nicht hinwerfen, so doch dafür verbrauchen können.

Schließlich hat jeder Mensch, wie gesagt, seine Utopie. Sie ist eine Fata Morgana meinethalben. Mit trügerischen Oasen und Seen lockt sie den Wüstenwanderer zu sich hin. Aber die meisten verdursten keineswegs, die ihr zustreben, wenn sie auch nur immer wieder die wirkliche Oase finden, niemals die Spiegelung, niemals die Utopie, die nach wie vor hinter allem Erreichten unerreichlich ist: ein unumgänglicher Hausrat der wandernden Seele.

Nun also, wir widmeten uns, wie fast immer, den Gedanken und überhaupt Möglichkeiten, durch die sich, wie wir glauben, das Leben über sich selbst hinaus steigern läßt, und taten es schließlich im Sinne von Wanderern, denen das trügerische Wesen der Luftspiegelungen trotzdem nichts Fremdes ist: was wir indessen seit Wochen geübt haben und weiter tun werden, das auf eine dämonische Weise einmal gleichsam zu vollenden, wie in ein Metakosmion in die Fata Morgana, die Utopie mitten hineinzusteigen, sie in einem Akt schönen Wahnsinns wirklich auf Stunden zu erobern, gaben wir uns, ohne Gläser und Flaschen zu zählen, im Schlosse des blutigen Than von Cawdor dem Genusse hin.

Der Butler, der einzige Kellner, der alte Diener Daniel aus dem Räuber-Drama Schillers, schlich auf unhörbaren Sohlen und brachte getreulich bis lange nach Mitternacht, was wir wieder und wieder zu haben wünschten. Aus den dämmrigen Winkeln des hohen und dumpfen Raumes traten nacheinander beschworene Geister hervor, Geister von Toten, Geister von Lebenden, Geister in einer solchen Menge und Deutlichkeit, daß man erstaunen muß, welche Völker von Schatten das Hirn auch nur eines Menschen beherbergen kann.

 

Tremezzo, 11. April 1898. Ostern.
Villa Cornelia.

Anja ist hier. Die Mutter ist am 28. März ihren Leiden erlegen. Villa Serbelloni mit der schönen Halbinsel, wo ich mit Joël bis vor kurzem gewohnt habe, liegt uns nun schräg gegenüber, jenseits des Sees. Wir haben das Haus, in dem wir sind, für längere Zeit gemietet und wohnen, Anja, Joël und ich, allein darin.

Bis Bellinzona bin ich Anja entgegengeeilt und habe sie auf dem Bahnsteig glücklich in Empfang genommen. Wir durchlebten nun etwa zweimal vierundzwanzig Stunden, in denen Leben und Tod, Trübsal und Glück, Liebeswahnsinn und harte Wirklichkeit unlöslich verbunden gewesen sind. Es schlugen Dinge hinein, die an das Italien der Romantik und an die Zeit erinnerten, wo Liebe und Romantik dasselbe bedeuteten. Der Rausch des Wiedersehens und Wiederbesitzens blühte neben der grundlosen Kluft, die eine Trennung für ewig gerissen hatte.

Etwas anderes trat hinzu. Welche Veränderung geht mit einem Mädchen vor, das, bereits vaterlos, nun seine Mutter verloren hat! In Trümmern hinter ihr liegt das Elternhaus. Anja ist einsam und schutzlos geworden. Denn nun hat sie plötzlich auch keinen Bruder und keine Schwestern mehr. Die Familie ist auseinandergefallen.

Niemals würde Anja sagen: Titus, ich habe fortan nur dich. Aber wer sollte verkennen, daß es wirklich so ist. Sie verrät es mit keinem Wort, um so weniger kann es ihr Wesen verbergen. Mit einer ganz anderen Inbrunst und Hingabe, mit einem ganz anderen Vertrauen umfängt sie mich.

Wir werden hier von einer prachtvollen Frau aus dem Volke, einer Böhmin, bedient, die einen Italiener geheiratet hat. Sie ist die Kastellanin des Hauses. Die häuslichen Arbeiten, inbegriffen die Küche, werden von ihr aufs beste besorgt. Wir, Joel, die Geliebte und ich, bilden fast zu allen Stunden des Tages ein angeregtes Trifolium mit dem einzigen Wunsch, in unserer Dreieinsamkeit nicht gestört zu werden.

Das Häuschen selbst war ehedem Eigentum eines napoleonischen Generals, der hier seine Tage beschlossen hat. Die hübschen Zimmer enthalten Empiremöbel. Unzählige Kupferstiche an den Wänden, alle aus den Ruhmestagen Napoleons, offenbaren die leidenschaftliche Liebe des Generals zu seinem einstigen Kaiser und Herrn. »Une belle époque« steht unter einem Holzschnitt, welcher den ersten Napoleon, gestiefelt und gespornt, auf einem Adler stehend zeigt. Nur in dieser Epoche wünscht er zu leben: die Mauern, welche die spätere dem alten, verbitterten Haudegen ausschließen mußten, strahlen die geliebte schöne Epoche aus Hunderten von Rahmen und Rähmchen nach innen aus, wozu eine Unzahl von Souvenirs kommen, Degenquasten, Sporen, Schärpen und Miniaturen auf Porzellan, die in Vitrinen verschlossen sind. Den Abschluß macht »Marche du cortège funèbre, une véritable marche triomphale, de Napoleon, dans les Champs Elysées à Paris, le 15 décembre 1840«, womit die schöne Epoche noch einen schmerzlich erhabenen Nachklang fand.

Der Wandel dieser Tage ist leicht. Was kann es Schöneres geben, als im Augenblicke des Lebens durch das Leben selber belohnt zu werden, zu wissen, wozu man lebt, indem man lebt. Alles trägt hier dazu bei, diesen Zustand zu gewährleisten, vor allem die süße, weiche, an sich beglückende Natur um uns her. Die köstliche Luft, das blau flutende Licht überall, der farbig immaterielle Zauber der Obstblüte, das zitternde Schilf, die Pracht und Macht des Ganzen vollkommen in Schönheit aufgelöst. Dahinter und über allem gegen Norden die blendend weiße Fata Morgana der Alpen, so nahe also der Tod, die Schnee- und Eiswüste, wo Leben sich nicht mehr erhalten kann. Dies alles an jedem Morgen begrüßen dürfen, bis zum Abend darin versinken, um nachts, im Scheine des Mondes, eine noch bei weitem märchenhaftere Welt in staunendem Schweigen zu genießen, genügt gewiß, um die Frage nach dem Sinne des Lebens aufzuheben. Wir aber sind drei Menschen, aus dem Gewöhnlichen und Banalen des Daseins ausgeschieden, dem Zwange des Alltäglichen entflohen und entrückt, durch die Abgeschlossenheit und Art unseres Wohnens sogar in eine andere, schöne Epoche, »une belle époque«, abgesunken und hingeschieden. Wir lieben einander. Wir sind miteinander harmonisch eingestimmt. Joël genießt den Süden zum erstenmal. Aus dem Auge des einen holt der andere Vertiefung. Wir haben alle genug gelitten, um uns des wundervollen, beglückenden Gegensatzes eines solchen Daseins voll und innig fühlend bewußt zu sein. Und nun ich, der letzte von den dreien, würde nicht einmal, mit Anja vereint, mit ihr zum ersten Male unter eigenem, schützendem Dach, aller der äußeren Wonnen bedürfen. Aber wie erfüllen sie uns unter solchen Umständen, und wie werden sie wiederum von uns erfüllt!

 

Tremezzo, 13. April 1898.
Villa Cornelia.

Eben hat das Orchester den letzten Satz einer Symphonie gespielt. Jetzt stimmen die Musikanten für ein neues Stück: eine Katzenmusik löste die göttliche Eingebung Schuberts, die Unvollendete, ab. Noch besser! die Musikanten zanken sich. Sie schlagen einander die Fiedelbögen und Notenblätter um die Ohren. Die Instrumente selbst werden zu Waffen. Wie bei homerischen Helden und Kämpfen sausen Schimpfworte, Kotwürfen ähnlich, hin und her.

Was will ich eigentlich damit sagen?

Was immer und überall in uns und außer uns überwunden werden muß, wenn wir zur Harmonie gelangen wollen, das ist Anarchie.

Schon mit zehn Jahren und früher habe ich über mich nachgedacht. Ich fange keineswegs jetzt erst damit an. Mit sechzehn Jahren wußte ich, daß ich eine Menge Anlagen, auch zum Schlimmen, in mir hatte, ja daß es nicht viele Verbrechen gibt, die außerhalb des Bereiches liegen, denen der beste aller Menschen in einem unbewachten, hemmungslosen Augenblick nicht verfallen könnte. Es kommt also darauf an, die inneren Bestien, Triebe, Regungen, Gedanken an ihren Ketten, in ihren Käfigen, hinter ihren Gittern und Maulkörben festzuhalten.

Sollte ein Mensch diese Zeilen lesen, so wird er finden, daß sie ein Spiegel seines Inneren sind. Weil aber irgendein Affekt in ihm sich vielleicht mit einer Lüge verbinden wird, gerät er in Wut und bestreitet das.

Ich leide wieder einmal an niederdrückenden Stimmungen.

Man hat mir den verwilderten Nachbargarten zur Verfügung gestellt. Nun also: inmitten dieser Einsamkeit fallen die Musikanten in meinem Innern, fallen die Bestien meines Innern wütend übereinander her – und schließlich auch über mich, ihren Dirigenten und Bändiger. Für diesen hat das Schwäche, Übelkeit, Blutverlust, Ekel an allem, besonders am Leben im Gefolge.

Ich fülle hier eine offenkundige Lücke in meinem Tagebuch, vielleicht aber mit zu großen Worten aus. Rückwärts brauche ich nicht zu blättern, da ja schließlich alles hier Geschriebene noch in mir ist. Der Rhythmus aber, in dem sich meine anarchischen Stunden wiederholen, ist ganz gewiß in diesen Blättern nicht innegehalten. Sie treten regelmäßig, nach nicht allzu langen Zwischenräumen auf und enden jedesmal mit dem äußersten Tiefpunkt meiner Lust zu leben. Es kommt darauf an, diese dunklen Stunden zu überwinden.

Von Dresden kommen Briefe mit Anklagen. Hätte ich nicht vielleicht besser getan, diese Sache mit Anja gar nicht erst anzufangen? War nicht die Gelegenheit zum Abbruch gegeben mit der Fahrt über den Ozean? Häusliche Harmonie, bürgerliches Behagen, wohlhabender und wohlhäbiger Lebensgenuß im Kreise der Meinen wäre mir durch die Achtung der Welt veredelt worden, ein so klug durchdachtes und geführtes Leben hätte mich zu einem sorgenlosen, tätig-glücklichen Mann gemacht. Ich habe mir selbst mein Leben zerstört, den zu dreiviertel vollendeten Bau meines Glückes eingerissen.

Wo sind meine Kinder? Ich sehe sie nicht. Und doch brauche ich den Umgang mit Kindern, um jung zu bleiben. Wo sind die geselligen Kreise, in denen ich meinen Stolz hätte können spazierenführen, das Echo, den Erfolg meines Lebens hätte erfahren können? Heute drücke ich mich mit einem krampfhaft an mich gezogenen Freunde voll feiger Furcht in Verstecken herum, bin heimatlos, ja fast landflüchtig geworden.

O diese Musikanten, Dämonen, Bauchredner! Der eine schreit: Du hast das Vermögen deiner Frau hinausgeworfen! Du hast drei Haushalte zu bestreiten und den vierten, von Bruder Marcus, zum Teil. Merkst du nicht, daß du immer magerer, immer reizbarer, immer hohlwangiger wirst? Wie willst du deine Berufsarbeit durchführen, die es dir einzig ermöglicht, deinen, Anjas, Melittas und den Haushalt des Bruders Marcus über Wasser zu halten? Was aber dann, wenn du zusammenbrichst? Dann bleibt für euch alle die Straße, die Armenfürsorge!

Mag sein, ich bin körperlich nicht auf der Höhe. Das Leben ist, wie es heißt, ein bewegliches Gleichgewicht. Körperschwäche macht willensschwach. Der Waagebalken ist allen Anstößen feindlicher Mächte preisgegeben. Ich kann mir indes nicht verhehlen, daß meine schlechte Gesundheit eine Folge der fortgesetzten Zermürbung des Gemütes ist. Dieses schreckliche Kreiseldenken, das immer wieder die unlösliche Frage lösen will, schlägt auf den Magen, schlägt auf das Herz, unterhält im unteren Brustkorb ein Gefühl der Übelkeit. Mir ist schlecht, Kinder! will ich wieder und wieder sagen, schweige aber, um Anja und Joël nicht zu erschrecken, und stürze wohl einen Kognak hinunter.

Beim Mittagessen war ich einsilbig. Ich mußte mir sagen, daß meine Schweigsamkeit, meine mangelnde Eßlust Anja und Joël zu irritieren und zu bedrücken geeignet waren. Anja hielt sich lange zurück, dann wollte sie wissen, an was ich dächte. Ich gab zur Antwort: »Ich weiß es nicht.« Diese Antwort war keine Antwort. Anja und Joël stocherten daraufhin verstimmt und verletzt im Essen herum. Ich hätte nicht gut geschlafen, fügte ich an.

Anja fühlte die Richtung meiner Gedanken.

Als Joël nun eine Frage nach meinem körperlichen Befinden tat, konnte ich nicht mehr an mich halten. Ich unterlag einer Störung des Gleichgewichts. Ich müsse mir eingestehen, erklärte ich, was ich mir nicht verbergen könne. Alle Selbsttäuschung helfe nichts. Ich sei am Ende mit meinen Kräften. Ich hätte es mir und andern zu verbergen gesucht, aber es sei leider eine Tatsache: mich vergifte ein Ekel an allem und allem. Die produktiven Kräfte meines Geistes seien versiegt, ich hätte frivol damit gewirtschaftet. Es mache mir aber im Grunde nichts. Ich sagte: »Es klingt nichts mehr in mir oder so viel und so wenig wie bei einer Glocke, die Sprünge hat.« Ich hätte versucht, allerlei grobe Lügen, als ob ich einer Leidenschaft, einer Liebe, einer Tat, einer folgerichtigen, fleißigen Arbeit noch fähig wäre, aufrechtzuerhalten. Nichts von alledem liege mehr im Bereich meiner Möglichkeit, nicht die Hingabe, geschweige die Treue. Lediglich unüberlegt und frivol und nahezu verbrecherisch hätte ich Anja in meinen verderblichen Strudel gezogen. Ich sei einfach ein Bankrotteur, der, längst völlig verarmt und mittellos, seinen Gläubigern einen Reichtum erlogen habe.

Anja stand auf und verließ den Raum. Joël aber sah mich mit einem gleichsam entfremdeten, tief erstaunten Blicke an, der weite Entfernungen zwischen uns legte.

Wie seltsam, daß aus drei innig verbundenen Seelen in wenigen Augenblicken drei vollständig Fremde werden können!

Schwarze Stunde in Villa Cornelia.

 

Tremezzo, am 13. April 1898, zwölf Uhr nachts.
Villa Cornelia.

Anja schläft, Joël schläft. Der Zwischenfall ist wieder ausgeglichen.

Habe ich Bruder Julius sowie meine ganze Familie vor einiger Zeit als unter dem Einfluß des Planeten Saturn angesehen, so hat sich das wiederum bestätigt. Denn heute an Anja weniger maßlos und übel gehandelt zu haben als bei der jüngsten Grünthaler Tischszene Julius an uns, darf ich mir nicht zubilligen. Ich kam zur Besinnung in dem Augenblick, als ich es um Anjas lieben und tapferen Mund zucken sah – aber da war sie auch schon verschwunden.

In ebendemselben Augenblick, nicht früher, nicht später, war auch die ganze Fülle der Neigung, die Liebe zu ihr wieder da. Wie ein gestauter Quell brach sie aus, unaufhaltsam mein Wesen zu ihr fortreißend. Ich ging ihr nach, ich kniete vor ihr und leistete tausendfache Abbitte, ihre Stirn, ihren Mund, ihre Hände mit Küssen versöhnend.

Und so bin ich über den toten Punkt auch dieses Tages wieder hinweg.

Bei lauen Naturen können Vorgänge wie der, dessen Urheber jüngst mein Bruder, und der, dessen Urheber ich am heutigen Tage war, nicht stattfinden. Ihr Verlauf, wenn ich bis zum Bewußtwerden meines Geistes in das Vergangene zurückblicke, scheint sie beinahe als wesentlich und für die Erhaltung gegenseitiger Neigung organisch notwendig auszuweisen.

Aber ich werde jedenfalls weiter an meiner Erziehung arbeiten und nehme mir also aufs neue vor, Depressionen, Mutlosigkeiten, Kleinmutstimmungen bei mir selbst zu verbergen und bei mir selbst durchzukämpfen.

 

Tremezzo, am 15. April 1898.
Villa Cornelia.

Die prächtige böhmische Beschließerin der Villa Cornelia hat uns die Bücher- und Autographensammlung gezeigt, die der einstige Besitzer des Hauses, jener ehemalige napoleonische General, hinterlassen hat. Alles dreht sich naturgemäß auch hier um das Idol des alten Haudegens. Joël bekam bei dieser Gelegenheit ein vergilbtes Heftchen in die Hand, dessen Inhalt, in englischer Sprache geschrieben, allerdings davon eine Ausnahme darstellte. Einen gewissen Brief ins Deutsche zu übertragen reizte ihn und wurde ihm von unserer verständigen Adoptivmutter gern erlaubt. Es handelt sich um das Schreiben eines jungen Lords, in Paris verfaßt und an einen unverheirateten Onkel in England gerichtet. Gestern schon konnte ihn Joël in deutscher Sprache vorlesen, als wir, wie üblich, nach dem Abendbrot unsere kleine Akademie zu dreien eröffneten. Der Gentleman, der, reich, unabhängig und von hohem Stande, vor ungefähr achtzig Jahren seine Jugend in Paris genossen haben muß, macht seinem Onkel Eröffnungen über eine gewisse Marion, mit der er ein Liebesverhältnis angefangen hat. Ich war verblüfft, denn, von vielen andersgearteten Umständen abgesehen, schien es mir doch in mancher Beziehung, als ob ich in einen Spiegel hineinblickte. Das Vergnügen, das ich aus diesem Grunde an dem frisch heruntergeredeten Briefe fand, bewog mich, ihn abzuschreiben, und ich reihe ihn hiermit unter die Dokumente von Tremezzo ein. Leider ist sein Schluß verlorengegangen, und wir bleiben darüber im unklaren, wie die Sache geendet hat.

 

Brief des jungen Lord B. aus Paris
an seinen unverheirateten Onkel, Lord S. in London

Geliebter Onkel!

Aus einer Anzahl von guten Gründen bin ich hier in Paris. Ich höre an der Sorbonne, ich besuche die Kunstsammlungen, ich vervollkommne mich in der französischen Sprache, indem ich nur französische Bücher lese, mich in die Gesellschaft stürze und fast jeden Abend im Theater zu sehen bin. Schließlich und endlich aber bin ich hier, um zu leben und zu genießen, und Du bist es gewesen, dessen Erzählungen am Kamin mir die Leidenschaft für diese wunderbare Stadt eingeflößt und der mir, eingehüllt in viele unschätzbare Ratschläge, seinen Segen hierher mitgegeben hat.

Bereits in einem meiner ersten Briefe schrieb ich Dir etwas von einer gewissen Marion. Mit einem dergleichen Namen aufwarten zu können hätte sicher noch etwas Zeit gehabt. Aber Du warst durchaus nicht erstaunt. Das Leben sei kurz, sagtest Du, und Paris sei nicht die Stadt, um in solchen Dingen Zeit zu verlieren. »Ich gratuliere Dir zu Deiner Marion, und mögest Du alle Himmel aller Himmelbetten der Jugend mit ihr durchfliegen.«

Seit September bin ich nun hier. Heute, wo ich diese Zeilen schreibe, ist es um die Mitte des Januar. Ich habe, nachdem ich Dir einmal Marions Namen nannte, vermieden, auf sie zurückzukommen. Du wirst angenommen haben, ich sei ihrer längst müde geworden und inzwischen tändelnderweise von Blume zu Blume weitergeflogen, meinen Schnabel nach Art der Kolibris in immer neue Kelche versenkend.

Das ist, bester Onkel, nicht der Fall.

Da wirst Du nun freilich bedenklich den Kopf schütteln: er, der als gläubiger, hoffnungsvoller Schüler zu meinen Füßen saß, hat doch wohl meine Lehren, meine Mahnungen, meine Leitgedanken in den Wind geschlagen, jedenfalls aber nicht mit der genügenden Gewissenhaftigkeit befolgt. – Wenn Du solche Gedanken hast, so ist es schwer, Dir darauf zu antworten. Einerseits habe ich immer genau darauf zu achten versucht, Deiner aus reicher Erfahrung stammenden Weisheit nachzuleben. Andererseits bin ich nicht imstande, heute mit der Freiheit des Hedonikers Aristipp vor Dich hinzutreten, der Dein unsterbliches Vorbild ist. Ich würde lügen, wenn ich Dir sagte, daß ich zwar Lais besitze, aber nicht von ihr besessen bin.

Onkel, ich bin von Lais besessen.

Du wirst wissen wollen, inwiefern.

Du sprachst mir oft von dem Reiz der Pariserin. Sie spiegle sich, sagtest Du, ganz und gar in der anmutigen Oberflächlichkeit ihrer Konversation. Sie sei durch Grazie, Unpersönlichkeit und leidenschaftliche Hingabe mehr an die Liebe als an den Geliebten bezaubernd. Alle diese Züge, den letzten ausgenommen, sind zutreffend bei Marion. Denn nur ich und nur ich genieße voll und ganz ihre Hingabe.

Sie ist eine kleine Schauspielerin an der Comédie Française, wie Du weißt. Es ist möglich, daß sie Karriere machen würde. Ich habe sie nicht zuerst im Theater, sondern, ganz im Gegenteil, in der Kirche kennengelernt. Meine Zugehörigkeit zur High Church hindert mich nicht, das Zeremonial des römisch-katholischen Glaubens mitzumachen, wenn ich eine katholische Kirche betrete. So bin ich, nach berühmten Mustern, unweit der kleinen Marion, weil ich mich von ihr angezogen fühlte – natürlich war es in Notre-Dame –, als der Priester den Kelch emporhob, niedergekniet. Wir sahen uns von der Seite an, und auf der Stelle war alles entschieden.

Nun ja, wirst Du sagen, warum denn nicht?! Ach, lieber Onkel, wenn es nur das wäre! Es ist ja richtig, daß die Schnelligkeit, mit welcher dergleichen Verbindungen eingegangen werden, meist für ihre kurze Dauer und die Leichtigkeit ihrer Lösung spricht. Erschrick nicht, wenn sich in meinem Gedankengang das Wort Ehe nicht ganz vermeiden läßt. Ehen, sagt man, werden im Himmel geschlossen. Nun kann ja von einer Ehe zwischen mir und Marion in Deinen Augen allerdings nicht die Rede sein, aber die Vorstellung läßt mich nicht los, wir seien da, in der mächtigen Kathedrale, nebeneinander kniend, von einer höheren Macht ohne unser Wissen und Wollen zusammengegeben und gewissermaßen getraut worden.

Sie nennt mich François. Daß ich den Lordtitel führe, weiß sie nicht. Hierin habe ich Deinen Rat, bester Onkel, besonders genau durchführen können. Du rietest mir: Wenn Du lernen, leben, lieben willst, so steige weniger in die Gesellschaft hinauf als in sie hinab. Dort aber begibt man sich aller überordnenden Titel und Auszeichnungen, oder man bleibt ein Fremder und zieht enttäuscht und mit langer Nase ab. Dies ist ein Rat, der mir das wahre, echte, volle Leben erschlossen hat.

Onkel, ich dachte, eine kleine Liebschaft zu entrieren. Es ist etwas ganz anderes daraus geworden. Ich bin unter die Auswirkung irgendeiner himmlischen Macht, eines Planeten geraten. Ich weiß nicht, ob es die Venus ist. Dann wäre sie wohl in eine Verbindung mit Saturn getreten, den, wie ich neulich gelesen habe, die Babylonier Stern der Nemesis nannten oder so. Ich sollte es, sagtest Du, in der Liebe nie recht ernst werden lassen. Nun, wenn dies ein Spiel ist, was ich erlebe, so ist es ein Spiel der Katze mit der Maus, und ich bin wahrhaftig dabei nicht die Katze.

Warum soll ich mich aber bemühen, Dir meine innen und außen veränderten Zustände deutlich zu machen? Du würdest, wenn Du nicht auch auf diesem Gebiet Erfahrung hättest, mich kaum, so wie Du es tatest, davor gewarnt haben. Nur ein Kind, das sich den Finger daran verbrannt hat, kennt das Licht. Also: Gott grüße Dich, liebes Kind!

Es kommt mir sehr gelegen, dies Licht, um es zum Symbole meines Erlebnisses zu erheben. Seit ich Marion kenne, sehe ich Paris in einem neuen Licht, sehe ich mich in einem neuen Licht, ganz zu schweigen davon, was ich nach meiner Verwandlung durch Marion oder durch die Konjunktion von Saturn und Venus alles in einem neuen Lichte sehe: meine Lordschaft, Eure Lordschaft, meine ganze Verwandtschaft, England, die ganze Welt.

Das Bild von der Katze und der Maus bezieht sich übrigens nur auf mein Ausgeliefertsein an sich. Ich bin fremden Mächten ausgeliefert. Sie können mich einzig und allein durch das Medium der Seele reich und glücklich oder arm machen und zur Verzweiflung treiben. Einstweilen haben sie mich reich, reich, reich gemacht!

Mit dem Reichtum standen aber die Sorgen auf. Ich habe nicht geglaubt, daß so ein bißchen Liebschaft eine solche Revolution an Haupt und Gliedern hervorrufen kann. Früher lebte ich sorgenfrei, weil ich nichts zu verlieren hatte. Heute ist – von wem? vom Teufel? – eine Gedankenfabrik in mir errichtet, in der mit Tag- und Nachtschicht durchgearbeitet wird.

Fragst Du, warum ich nicht in den vorigen Zustand zurücktrete, so ist das für mich ebenso, als ob Du mich fragtest, warum ich mir nicht einen Strick um den Hals lege und mich erdrossele. Ich würde das Leben aufgeben, wenn ich das neue Leben aufgeben müßte, da ein anderes seitdem für mich nicht mehr vorhanden ist.

Du hattest auch zu Deiner Zeit Deine Marion. Sie hat Dir sogar einen Sohn geschenkt. Du pflegtest immer lächelnd zu sagen: zwar hättest Du ihn nur bis zu einem Alter von einem Jahre und drei Monaten gekannt, aber Du wärest überzeugt, Du könntest mit ihm, was die Beherrschung der französischen Sprache anbelangt, nicht mehr konkurrieren. Eines Tages bist Du, ohne daß Deine Marion etwas davon erfuhr, über den Kanal zurückgereist, allerdings nicht ohne vorher ihr und dem Kinde ein kleines Vermögen auszuwerfen, das beide der Sorge um das tägliche Brot enthob.

Ein solcher Ausgang wäre für mich ein Ding der Unmöglichkeit.

Du kannst Dir von den bezaubernden Reizen, von der bestrickenden Jugend meiner Marion keinen Begriff machen. Dabei besitzt sie einen überlegenen Geist und in ihm jede Grazie und Schalkhaftigkeit. Selbstverständlich, daß sie mir hierin und noch in manchem anderen weit überlegen ist. Aber da höre ich Dich lachen: das wolle nichts sagen.

Ihr Gedächtnis ist wunderbar. Sie liest eine Rolle durch und hat sie im Kopfe. Ich kann Dir aber gar nicht sagen, was sie sonst noch alles im Kopfe hat. Wo man nicht hindenkt, sogar bis hinein in die Politik, zeigt sie Interesse und gute Kenntnisse. Sie weiß mehr von unseren englischen Staatsmännern als ich und hat sogar ihre Bücher gelesen. Sie spielt Violine, sie spielt Klavier, sie hat eine zauberhafte Singstimme, ihre Chansons stellen sie neben die erste Chansonette, obgleich sie ein zartes Geschöpf und heut noch nicht achtzehn Jahre ist. Sie könnte als Drahtseilkünstlerin auftreten. Seit etwa vier Wochen gebe ich ihr Reitunterricht. Heute springt sie bereits mit so überlegener Sicherheit, daß selbst Lady Cromwell einpacken könnte. Sie kleidet sich mit vollendeter Anmut und ist dabei ohne Eitelkeit, wie sie denn auch, trotz aller ungewöhnlichen Gaben, ohne allen Dünkel ist. Und nun erst jene Reize, von denen sich nicht einmal in einem vertraulichen Briefe reden läßt! Onkel, Onkel, Du würdest wahnsinnig! Die Musen, welche die Tage beherrschen, werden des Nachts von den Grazien durchaus entthront. Psyche, Aphrodite, der ganze griechische Olymp ist an solchen Nächten beteiligt, an diesem von der Sonne durchglühten Inselmarmor, der beweglich ist. So absurd es klingt und so wenig Verwandtes ich mit Kandaules habe, zuweilen leide ich körperlichen Schmerz unter diesen Blitzen von Schönheit eines fremden, seligen Gestirns, von dem sie zu kommen scheint. Ich möchte sie fast, nämlich diese Erlebnisse, unerhörte Botschaften, verzückt in die Welt hinausschreien. Kannst Du mir sagen, warum einem siebzehnjährigen Dinge vor Stumpfsinn der Speichel aus dem Munde läuft, während es eine andere Siebzehnjährige geben kann, die der Inbegriff aller irdischen und himmlischen Begabungen ist?

Dieser Dithyrambus, wie ich weiß, wird Dir nur Dein bekanntes allwissendes Lächeln abnötigen. Ich darf mich aber dabei nicht aufhalten. Es gibt Dinge, die der Mentor meiner Jugend wissen muß. Das große Wunder und damit die große Wendung, die größte Erneuerung und Wandlung meines bisherigen Lebens ist eingetreten. Ich lebe eine früher nicht einmal geahnte Gegenwart, und keine Zukunft ohne Marion könnte für mich eine Zukunft sein.

Ich bin noch nicht vierundzwanzig Jahre. Vorschriften in bezug auf den Stand der Familien, deren Töchter für mich als Gattinnen in Betracht kommen, sind nicht mit dem Besitze verbunden, dessen Erbe ich bin. Daß ich trotzdem Marion, allein schon als Französin und überhaupt, nur nach schweren Kämpfen als Herrin von Alston und Longford werde durchsetzen können, ist selbstverständlich. Solche Kämpfe scheue ich nicht: weder mit noch ohne Bundesgenossen.

Damit ist nun wohl das Hauptsächlichste von dem zu Deiner Kenntnis gebracht, was Du wissen mußt, nämlich, daß ich Marion heirate.

Wenn Du nun, nachdem Du diesen Passus gelesen, von Deinem bekannten Kaminsessel aufspringen, dem alten Joe klingeln, einen Familienrat zusammenrufen und mich schließlich mit dem ganzen Familienrat hier in Paris überfallen solltest, so ändert das nicht das geringste daran. Gott sei Dank habe ich ein hübsches Hotel auf dem Boulevard St. Germain und einen französischen Koch, der sich ebensowenig wie ich vor Euch fürchten wird und ebensowohl wie ich bereit sein wird, Euch den Mund zu stopfen, allerdings mit bedeutend delikateren Dingen als ich. Was Euch aber bei keiner Tafel außerdem erspart werden kann, ist Marion.

Onkel, ihre Mutter ist krank. Sie wird vielleicht binnen wenigen Wochen nicht mehr am Leben sein. Ich habe für beide ein hübsches Quartier gemietet, das, so hell, heiter und elegant es ist, doch nun durch das Schmerzenslager der Mutter einen etwas spitalartigen Charakter bekommen hat. Eine Krankenschwester, die nach Karbol riecht, öffnet Dir etwa die Tür, und klingelt es, wenn Du in der Wohnung bist, so läßt man gewiß den Arzt herein, oder es kommt etwas aus der Apotheke. Es ist nun erstaunlich, wie Marion zugleich das höchste Glück und den tiefsten Schmerz mit ihrem Wesen umschließen kann. Denn wie sie mich liebt, ist noch niemand geliebt worden. Um meinetwillen würfe sie alles hin. Ihr Bruder, ein junger Kleriker, hat es mir unter Kopf schütteln ausgesprochen. Ich, sagte sie, sei ihr Gott, ihre Religion, ihre Mutter, ihre Kunst und ihr Vaterland. Ihren Schauspielberuf wird sie nächstens aufgeben. Bei alledem ist sie in Tränen gebadet. Ihre Augen stehen fast immer voll Tränen, wenn sie nicht um die Kranke beschäftigt ist. Und wenn sie mit dem Lachen des Glücks dich stürmisch umfängt, so kann sie das Schluchzen trotzdem nicht zurückhalten.

Es ist Natur, es ist Wildheit in ihr. Du mußt nicht glauben, daß sie etwa eines dieser bekannten französischen Püppchen ist. Eine ihrer Großmütter hat sich der französische Großvater und alte Gallier wahrscheinlich aus der Tungusensteppe mitgebracht. Daher hat sie das Elementare und Kraftvolle in der Leidenschaft, was sie für mich zu rauben, Hühner zu stehlen, zu hungern, zu morden, zu sterben befähigen würde. Du glaubst natürlich an solche Märchenerzählungen Deines Neffen nicht. Du nimmst an, sie wisse, wer ich sei, und fuße darauf in ihrem Verhalten. Nun, daß ich einigermaßen vermögend bin, kann ihr kaum noch verborgen sein. Meinen Stand, meinen Lordtitel kennt sie noch immer nicht. Trotzdem aber, ich schwöre zu Gott: stellte ich mich heute als Bettler und etwas noch Schlimmeres heraus, sie würde, um mich über Wasser zu halten . . . ja, was würde sie denn? – sie würde sogar auf die . . . kein Wort weiter! kurz: sie würde sich unbedenklich für mich aufopfern.

Nun ja, ich weiß, was Du sagen wirst: daß man solche Eigenschaften gewiß für einen Zigeuner und Strauchdieb brauche, für eine künftige Lady Alston und Longford nicht. Ich aber brauche sie, lieber Onkel. In ihnen manifestiert sich jenes unlösbare Ineinandersein, ohne das eine Liebe keine ist und ebensowenig eine Ehe. Mann und Weib, heißt es, sollen sein ein Leib, und ich setze hinzu: eine Seele.

Mit einer Leidenschaft, einer Passion in ihren Anfängen auszukommen ist keine Kleinigkeit. Es ist, lache nicht, weder physisch noch psychisch eine Kleinigkeit. Bis zum achtzehnten, zwanzigsten, zweiundzwanzigsten Jahre wird der Mann langsam aufgebaut. Nun erlebt er in Wochen, in Tagen, in Stunden eine Körper und Seele um und um stürzende, eruptiv-explosiv-revolutionäre Umbildung. Ich schreibe Dir etwas ausführlicher, weil ich nun einmal grade dabei bin und übrigens Deine Gepflogenheit kenne, Briefen solcher Art besondere Beachtung zu schenken und ihnen einen Platz in Deinem Archiv einzuräumen. Eigentlich habe ich zum Schreiben so gut wie gar keine Zeit. So wird, weil das Leben nun einmal weitergeht und neue Schichten sich über die alten legen, was ich erlebe, für mich eines Tages nicht mehr im Geiste gegenwärtig, greifbar, faßbar sein, bis eben auf das, was ich etwa in Briefen wie diesem gelegentlich wiederfinde. Werde ich aber selbst aus den Briefen die ganze Macht der Erschütterung wieder herauslesen, der ich jetzt preisgegeben bin?

Mein ganzes Wesen ist eine ungeheure Erschütterung, die, einer Erderschütterung ähnlich, alles und alles mit Einsturz bedroht. Die Kräfte des Abgrunds sind befreit und leben in der Entfesselung. Gut englisch ausgedrückt, lieber Onkel, ich komme mir manchmal so sehr wie ein Tollhäusler vor, daß ich plötzlich zusammenschrecke und mir der Kopf in den Nacken fährt, weil ich, wie den Hundefänger mit seinem Netz, den Narrenhausvorsteher mit seiner Zwangsjacke hinter mir her glaube.

Ich werde vielleicht diesen Brief nicht absenden. Er bietet, wenn ich, wie es mich fortzufahren reizt, in meinen Bekenntnissen wirklich fortfahre, Euch und allen vielleicht eine Handhabe, mich zu entmündigen, wenn Euch das etwa dienlich erscheint. Ich betone aber, daß, wenn Leidenschaft allerdings mit einer Krankheit viel Ähnliches hat, sie eine gesunde Krankheit ist. Sie wird ertragen, sie wird überwunden, sie steigert sogar das Wesen des Menschen und vollendet es, wenn der Mensch, was er soll, dieser naturnotwendigen Krisis gewachsen ist. Die durch neun Monate laufende Krisis im Leben eines Weibes, das empfangen hat und schließlich unter Wehen gebiert, ist ein analoger Fall. Ich glaube sogar, daß auch wir gebären, aber freilich nur unter dem Schein des Gleichen in uns den neuen Menschen und Mann hervorbringen. Hier wie dort das Mysterium der Geburt, das in beiden Fällen mit Lebensgefahr verbunden ist.

Man nehme allein die Explosionen des Trieblebens. Ich will kein Engländer sein, lieber Onkel, wenn das nicht allein schon Wahnwitz ist. Ich bin zum Skelett abgemagert. Der Dienst, den niemand von mir verlangt, ist fürchterlich. Aber warum ist er fürchterlich? Weil er Genüsse betäubender, verwirrender, völlig betörender Art in sich schließt, die uns bis dahin nicht bekannt waren und nach denen man also mit lechzender Gier immer wieder verlangt, zugleich gehetzt von quälender Angst, sie könnten einem durch Tücke des Schicksals plötzlich entzogen werden. Diese Angst ist meist eine vollständig sinnlose. Nur dann aber ist man von ihr befreit, wenn man den geliebten Gegenstand umfangen und buchstäblich gefangen hält.

Onkel, ich bin wahrhaftig kein Zyniker, aber ich komme mir manchmal wie einer vor. Es handelt sich da um Dinge, die, wenn man sie mir von andern erzählt hätte, mir Schlüsse von Verworfenheit und dergleichen aufgedrängt hätten, obgleich alles vielleicht nur auf eine erheblich gesteigerte Temperatur, also beschleunigten Puls und beschleunigtes Lebenstempo zurückzuführen ist. Jawohl, es handelt sich hier um ein Fieber, eine vertrocknende Fieberglut, einen vertrocknenden Schlund, eine brennende Wut, einen Wüstendurst, ja einen Durst wie jenen des reichen Mannes in der Hölle, den Lazarus nicht durch einen Tropfen Wassers lindern darf . . . Ein solcher Durst also sucht überall mit kühner, mit frecher Rücksichtslosigkeit und Waghalsigkeit seine Befriedigung: dort, wo zwei Türen davon der Arzt mit der Krankenschwester am Bette der Mutter steht, dort, wo jeden Augenblick die Klingel des Inspizienten Marion auf die Bühne rufen kann, nachts oder gegen Morgen unter Apachengefahr auf den Bänken des Bois de Boulogne, in der Eisenbahn, im Getreidefeld, kurz überall, lieber Onkel, wo Ort und Augenblick mit der Distinktion eines Lords nicht entfernt in Übereinstimmung zu bringen sind. Und auch Marion ist im Kloster erzogen . . .

Schließlich entbehrt dieses alles nicht der Sinnlosigkeit. Du weißt, unser alter deutscher Diener Krause ist mit mir, den Vater sich seinerzeit aus Hannover mitbrachte;: sein Takt und seine Ergebenheit sind über jeden Zweifel erhaben. Und eine Menge Schlafräume, von einem erfahrenen, freundlichen alten Mädchen bedient, atmen die vollkommenste Diskretion. Was ist zu tun? Dieser Eros scheint sich im Bereiche des wilden Zufalls und außerhalb aller abgesteckten Grenzen des Hergebrachten und Verpflichtenden am wohlsten zu fühlen.

Willst Du mir glauben, daß, während ich auf der einen Seite von dem Gedanken eines neuen, höheren Lebens, einer tätigen, nach höchsten Zielen ringenden Zukunft besessen bin, ich zugleich eine ausgesprochene Neigung zum Vulgären bekommen habe? Wir sind nicht nur oft in Moulin Rouge zu sehen, nicht nur in den Studentenkneipen des Quartier Latin, sondern auch in Montmartre-Lokalen, wo sogenannte Künstler, Straßendirnen und Apachen ständige Gäste sind. Dort unter allerlei Pärchen als eben auch so ein Pärchen zu sitzen ist ein schwer zu beschreibendes Vergnügen für uns. Diese Leute von der Straße, Gassensänger, Zeitungsverkäufer, Leierkastenmänner, Dirnen und Zuhälter, sind von einer vollendeten Höflichkeit. Fällt Marion etwas auf die Erde, gleich bücken sich vier, fünf Köpfe danach. Man bietet uns Zigaretten an, bettelnde Eindringlinge stoßen auf eine selbstverständliche Freigebigkeit. Vielleicht mehr, als Dir gut scheint, habe ich mir, wie Du siehst, Deinen Rat, in die Tiefe der Gesellschaft zu tauchen, zu Gemüte geführt.

Hiermit schließt leider das erfrischende Dokument.

 

Dresden, am 12. Mai 1898.

Die Stadt blüht, und ringsum ist Harmonie. Melitta ist dankbar für meine Gegenwart, wir freuen uns einfach der schönen Jahreszeit, besuchen Theater und Restaurants und machen mit den Kindern Ausflüge.

Meine Winterreise mit Anja und Joël erfuhr zuletzt eine schöne Steigerung. Es war mir gelungen, den blonden Siegfried, Emmerich Rauscher, von den beiden um ihn kämpfenden Frauen für einige Wochen loszumachen, und als er mit Feldstuhl, Staffelei und Malkasten, Utensilien, die er seine Malgebeine nannte, in Lugano aus dem Zuge sprang, schien er so heiter, zuversichtlich und sorgenfrei wie in seiner besten Zeit.

Etwas Aufschwunghaftes kam durch Rauscher in unseren Kreis. Man wundert sich nicht, daß die Frauen ihm nachstellen. Irgendwie wird man froh und festlich gestimmt in seiner Gegenwart. Wenn ihn die wunderbare Luft und Natur von Lugano entzücken, so ist das ein Grund, um doppelt und dreifach von ihr beglückt zu sein. Meine heimliche Freude war groß, wenn ich ihn an irgendeiner schönen Stelle, an der Straße nach Cassarate etwa, hinter seiner Staffelei beobachten konnte, in Ausübung seiner Kunst, die er infolge seiner Ehewirren fast aufgegeben hatte. Das wiedergewonnene freie Dasein gefiel ihm so gut, daß er allerlei kühne Pläne äußerte. Er habe von den Frauen eigentlich nie etwas wissen wollen und sei schließlich nur immer in ihre Schlingen gefallen. Nun fühle er, wie eine ganz entschiedene Wendung seiner versklavten Umstände sich ankündige. Noch einmal müsse er zwar nach Berlin zurück, dann werde er aber auf lange Zeit hinaus für jedermann unauffindbar sein. Eine naturnahe Lebens- und Arbeitsperiode in den völlig fremden Verhältnissen irgendeiner Südseeinsel schwebt ihm vor, etwa nach dem Vorbilde Gauguins, der sich und seine Kunst in selbstgewählter Verbannung auf Tahiti erneuert.

Es ist das einzige, was ihn retten kann.

Unvergeßliche Abende haben wir in der Nische einer stillen italienischen Trattoria zugebracht, am runden Tisch, um die Korbflasche herum, im Holzkohlenduft der nahen Bratküche, im Genuß italienischer Speisen und schöner Früchte und vor allem unser selbst. In diesen bedeutsamen Stunden, die sich meist bis tief in die Nacht fortsetzten, schwieg jeder andere Wunsch als der, möglichst lange in einem Zustand zu verweilen, der uns, wie eben unserer, wunschlos machte. Er enthielt ein Genügen, dessen Wesenhaftes schwer auszusprechen ist. Es steigt vielleicht aus der Kraft, alles Miserable des Daseins auszuschließen, alles Gute, Große und Schöne zu lieben, gastlich zu hegen und, als einzigen Gegenstand endloser, heiterer Gespräche, zu verehren.

Auch im Verkehr mit Melitta besteht in guten Zeiten diese Möglichkeit, und wer uns in diesen Tagen begegnet, die ich, ohne die Nemesis herauszufordern, als gute bezeichnen möchte, würde nichts von der Tragik ahnen, die in uns verborgen ist. So ist es mir eben doch gelungen, durch die überwiegende Versöhnungstendenz gegenüber dem Unvereinbaren unserer Zustände, Melitta eine verhältnismäßig heitere Lebensform zu erkämpfen, was meine instinktive Absicht gewesen ist.

Wir sprechen von Rauscher, sprechen von Joël, den ich ihr vorgestellt habe, sprechen sogar von unserer Luganeser Tafelrunde, inbegriffen Anja, mit Unbefangenheit. Melitta denkt mich in Berlin zu besuchen, was mich allerdings in mancherlei Peinlichkeiten verwickeln würde.

Übrigens hat sie sich hier einen angenehmen Kreis geschaffen, ist beliebt und wird verehrt, besucht Ateliers von Malern und Bildhauern, Menschen, die ohne Vorurteile, strebsam und heiter sind und durch die sie in das lebendigste Leben verwickelt wird.

 

Berlin-Grunewald, am 5. Juli 1898.

Seit einigen Tagen bin ich in meiner neuen Wohnung in Grunewald. Ein tiefer Schatten ist gleich zu Anfang hineingefallen.

Anja kam gegen Mittag aus der Stadt. Ohne auf meine Begrüßung einzugehen, ließ sie es zu, daß ich ihr aus dem Mäntelchen half. Ein bißchen befremdet durch ihre Schweigsamkeit, wollte ich eben eine Frage tun, als sie mir die Pupille ihres linken Auges zeigte. Sie war erweitert. Ich erschrak. Ein Augenarzt hatte ihr Atropin hineingegeben.

Es habe sich ein schwarzer Fleck vor dem Auge eingefunden, sagte sie, sie habe sogleich den Arzt aufgesucht und dieser einen Netzhautriß festgestellt. Hoffnung, daß der schwarze Fleck sich verlieren werde, habe er ihr nicht zu geben vermocht.

Sie hielt sich nicht mehr, begreiflicherweise: Anja brach in Tränen aus. Sie dürfe nun nicht mehr lesen und schreiben, womit auch der Beruf als Geigerin unterbunden sei. Sie könne fortan weder turnen noch radfahren, was ihr doch bei ihrer Freude an sportlichen Dingen eine große Entsagung bedeute. Dabei hatte der Arzt zur Vorsicht gemahnt, es könnten, würde sie außer acht gelassen, neue Netzhautrisse und also neue Verfinsterungsflecken auftreten.

Also auch Anja ist nun von einem Hiobsschicksal gestreift worden.

Ihren großen, dunklen Augen sah man es niemals an, daß sie kurzsichtig sind. Man sieht ihnen auch den neuen Defekt nicht an. Natürlich erging ich mich in allen möglichen und unmöglichen Tröstungen, wobei auch diese Tatsache immer wieder törichterweise Erwähnung fand. Gewöhnung, sagte ich, werde sie bald das kleine Sehhindernis bis zur Unbemerklichkeit überwinden lassen. Und wirklich: an eine solche Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit glaube ich. Ich beschwor sie vor allem, nicht zu weinen. Ein gleichsam monatelanges Sterben der Mutter und das ewige Weinen aus Nervenschwäche und Abschiedsweh machte ich für das eingetretene Übel verantwortlich. Ich liebe, liebe Anja und fühle es tausendfach in einem solchen Augenblick. Was aber sagt ein Liebender etwa zum andern unter solchen Umständen? Geliebte, ich bin dein zweites Ich. Du wirst mit meinen Augen sehen, soweit dich die deinen im Stich lassen. Ich bin du, du bist ich. Ich werde keinen Beruf mehr haben in der Welt, als dir, nur dir zu Diensten zu sein.

Und wirklich, Anjas Liebe zu mir, meine Liebe zu ihr hat ihr schon im Laufe des heutigen Nachmittags mindestens zu einer verständigen Fassung durchgeholfen. Stundenlang war ich um sie bemüht, und schließlich hatte sich ihr resoluter Lebensmut wiedereingestellt. Immerhin: kaum glaubten wir, ein wenig festeren Boden unter den Füßen zu fühlen, mit einer Menge von Widerständen fertig geworden zu sein, die ärgsten Hindernisse aus unserem Weg geräumt zu haben, da trifft von irgendwoher ein Pfeil aus dem Hinterhalt und reißt eine neue, unheilbare Wunde.

 

Schlierke, am 28. Juli 1898.

Vor wenig Tagen, am fünfundzwanzigsten, traf ich meinen Vater im Lehnstuhl am offenen Fenster sitzend an. Er war etwas bleicher als gewöhnlich. Seine angeschwollenen Beine waren hochgelegt. Er betrachtete die ihm so liebe Gegend, wie es mir schien, mit einer gelassenen Heiterkeit. »Es ist hübsch, daß du noch mal kommst!« sagte er. Dann sprachen wir still und friedlich zusammen. Es war das erste Mal, daß er in meiner Gegenwart Anja erwähnte, und zwar mit den Worten: »Wo hast du denn deine Kleine zurückgelassen?« Es lag eine Uhrkette auf dem Tisch, über dem sich der schwarze Schrank mit dem von meinem Vater geschätzten Tischlerwerkzeug erhob. Er wußte, daß ich die Kette von jeher bewundert hatte. Ich tat es wieder, gewohnheitsgemäß. Er bemerkte wie beiläufig: »Nimm sie dir! Aber nimm sie dir gleich!« wiederholte er und ruhte nicht eher, als bis ich sie an der Weste befestigt hatte.

Mutter weckte mich in der folgenden Nacht, weil Vater unruhig und von Beängstigungen befallen wurde. Wir setzten ihn auf den Großvaterstuhl im Wohnzimmer. Er schien beruhigt und hieß uns zu Bette gehn. Am Morgen wurde der Arzt geholt. Ich sah Vater erst, als er schon bei ihm war. Man hatte ihm das sogenannte türkische Tuch meiner Mutter um die Schultern gelegt, er saß auf dem ärmlichen Diwan seines kleinen Arbeitszimmerchens. Seine Beine waren in Decken gewickelt. Ich setzte mich ihm zur Seite und griff seine Hand. Der Arzt hatte Knie an Knie mit ihm auf einem Rohrstuhl Platz genommen.

Seine Untersuchung hatte, wie er sagte, nichts Erhebliches festgestellt. Die kleine Indisposition ginge wohl bald vorüber. Da, unter seinen Händen und Worten, eigentlich ohne Ankündigung, brach der große Anfall aus. Immer schneller senkte und hob sich des Kranken Brust. Er glaubte die letzte Stunde gekommen. Gott gebe, daß es seine schwerste gewesen ist. Jedes Ausstoßen des Atems war ein unfreiwilliger Schmerzensschrei, jedes Einholen der Luft ein Rasseln und Röcheln: beides drang durch das ganze Haus. Kopfnickend sah er uns in den Pausen an, wie: ja, ja, nun ist es wirklich soweit, daran ist nun eben nichts mehr zu ändern. Und nachdem er die sehnsüchtig erwartete, vom Arzt verschriebene Medizin eingenommen, sagte er: »Keine Linderung!« Dabei hing sein Auge an der Medizinflasche mit verzweifelter Hoffnung und furchtbarer Seelenangst. Man hatte ihm jetzt die eiskalten Hände an eine mit heißem Wasser gefüllte grüne Brunnenflasche gelegt, die zufällig das Etikett einer Mineralquelle trug, die vor Jahren uns gehört hatte. Nie vergesse ich dieses »Keine Linderung!«. Es kam aber doch eine Linderung. Die Hände des Kranken krampften sich, der Kopf ward von einer fremden Macht nach hinten geworfen, das Auge brach, und die Lebensfrist, die ihm vielleicht noch gegeben war, schätzte der Arzt nach Sekunden. Allein der Kranke sank nur in einen tiefen Schlaf, und bis heut ist ein ähnlicher Anfall nicht wiedergekehrt.

»Wenn nur nicht noch allzuviel Leiden vor dem Ende durchzukämpfen sind!« hat Vater gestern zu Mutter gesagt. »Das Ende ist mir nicht fürchterlich, was dann kommt, darauf bin ich vorbereitet.«

Heute morgen, als er erwachte, lehnte er jede Unterhaltung mit der Begründung ab, man solle ihn dort lassen, wo er sei, und nicht wieder ins Leben zurückreißen. Vater war allezeit ein beherrschter Mensch, der keinen schlimmeren Vorwurf kannte als den der »Gefühlsduselei«. Aber nun hatte er eine Landschaft, einen Garten gesehen, eine Empfindung von Wonne gehabt, von der er sich nicht mehr trennen wollte. Kissen und Rollen mußten verlegt werden. Auf alle mögliche Weise wurde versucht, die Lage wiederzufinden, in der ihm das Wunder zuteil wurde. »Es war Kindheit!« sagte er.

Ist es vielleicht doch Rekonvaleszenz, die ja mit vielen Zeichen jugendlicher Erneuerung verbunden ist? Ein altes Weibchen von denen, die nie fehlen, wo ein Todesfall in der Luft liegt, ist allerdings nicht der gleichen Meinung. Er habe das Paradies gesehen, sagte sie, in das er in wenigen Tagen eingehen werde.

Vor einigen Tagen noch war ich bei Anja in Grunewald. In den partiellen Verlust der Sehkraft des einen ihrer lieben, schönen Augen hat sie sich tapfer hineingefunden. Was aber noch immer in ihre Seele seinen Schatten wirft, das ist das Krankenlager, der Tod ihrer Mutter. Nicht nur ihre Träume, sondern auch gewisse schreckhafte Nervenerregungen am hellichten Tage zeugen davon.

Sie hat mich auf meiner Reise hierher bis Königswusterhausen begleitet. Während der Fahrt erzählte sie mir: sie habe Violine geübt und sei plötzlich unterbrochen worden. Oder besser: sie unterbrach sich selbst und war nicht imstande weiterzuspielen, weil irgendein Ton, ein Klingelzeichen ihr plötzlich die Mutter gegenwärtig gemacht habe. Sie wollte nun wissen, was es gewesen sei, und erfuhr, die in der Küche tätige Wienerin habe unversehens eine Handklingel vom Tische gestoßen. Es war ebendieselbe Klingel, die wochenlang am Krankenbett der Mutter gestanden hatte und von ihr gebraucht worden war, wenn sie jemand herbeirufen wollte.

Ich habe während der schweren Stunden meines Vaters immer wieder an die sonderbare Schelle von Anjas Mutter denken müssen, die der Köchin vom Tische fiel.

 

Berlin-Grunewald, am 3. Oktober 1898.

Was ist alles geschehen inzwischen?! Nichts, als daß mein Vater gestorben ist.

Seit ich Bewußtsein habe und darin das Bild meines Vaters trug, war in mir die Furcht vor dem, was jetzt eingetreten ist. Nun aber ist es bereits vorüber: es erschien wie der Dieb in der Nacht, und schon entferne ich mich weiter und weiter davon, förmlich mit Siebenmeilenschritten. Auch die Zeit des Wartens und Fürchtens scheint mir nun wie ein Augenblick. Irgendwo stehen die Worte zu lesen: »Das, was nach tausend Jahren geschehen wird, das wird schnell eintreffen.«

Ich habe die Totenmaske meines Vaters nehmen lassen und hier in meiner engen, gewölbten Mönchsbibliothek aufbewahrt. Wenn ich den Deckel der kleinen, altertümlichen Truhe öffne, darin sie geborgen ist, und sie aus ihrer Hülle von schwarzem Samt herausschäle, so tritt ein unaufhaltsames, automatisches Tränenfließen bei mir ein, ein eigentümliches, mir völlig unbekanntes Phänomen, das so lange dauert, als ich sie anblicke.

Die Nachricht, es sei wiederum eine Wendung zum Schlimmen eingetreten, erreichte mich abends auf Hiddensee. Nach einer forcierten Reise traf ich vierundzwanzig Stunden später in Schlierke ein und habe den Vater noch lebend getroffen. Es war nicht zu erkennen, ob er an meinem Kommen noch Anteil nahm.

Im Morgengrauen trat dann das Erwartete ein. Der Kranke wünschte, daß Schwester Balbina, eine Nonne, ihn im Bett aufrichte. Er schob die Füße aus dem Bett heraus und saß auf dessen Kante, als ob er aufstehen wollte, als der Tod ihn traf. So, noch lebenswarm, fanden ihn Julius und ich, die der schreckliche Ruf unserer Schwester »Vater stirbt!« aus dem Schlaf gerissen hatte. Der Tod hatte eben die Stunde bei Tagesgrauen gewählt, die sich mein Vater als die nun einmal nicht zu umgehende letzte immer gewünscht hatte.

Ich fühlte die letzte Wärme in ihm. Die Nonne flüsterte: »Nur nicht laut sprechen.« Wie ein weißer Vorhang sank es über seinen Scheitel, seine Stirn, sein Gesicht und weiter allmählich herab.

Es kam der Arzt, der den Tod meines Vaters attestieren mußte. Warum fiel eine kurze Angst mich an, als der Arzt den Leichnam behorchte? Wie, wenn das Herz noch schlüge, der Tote erwachte und das furchtbare Leiden aufs neue anfinge? Es war eine überspannte Befürchtung, aber schon der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit flößte mir Grauen ein.

Um elf Uhr früh war Vater bereits aufgebahrt, um zwölf Uhr das Begräbnis bestellt, um ein Uhr der Platz auf dem Kirchhof ausgesucht. In mir stieg eine Woge von Haß, wie ich ihn kaum je gefühlt, beim Anblick des Totengräbers auf. Im Verhandeln mit ihm verlor sie sich.

Wir haben Vater am dritten Tage, vor und mit Aufgang der Sonne, also früh gegen fünf, zur Ruhe gebracht.

Um dreiviertel fünf betrat ich die Straße. Es herrschte eine graue, tiefe Dämmerung. Hinter großen Gewölken ahnte man Licht. Ich ging allein. Blasse Himmelsstellen waren sichtbar. Da begannen die Glocken eines Kirchturms zu läuten, wie wir es angeordnet hatten. Jeder Ton, der erscholl, war allein für ihn. Da brach alles Rätsel, alle Liebe in mir auf.

Auch davon hatte Vater zuweilen gesprochen, daß er wünsche, bei Morgengrauen beerdigt zu werden. Er wollte des Glaubens schon leben und ihn durch die letzte Fahrt betont wissen, am Anfang eines großen Morgens zu sein. Wären wir doch eine Dämmerstunde früher aufgestanden! Das erwachte Leben der Gasse beleidigte mich. Schon als sie den Toten aus seinem Hause heraustrugen, gab mir der Zynismus des Alltags einen Schlag vor die Brust. Ein Kutscher des Leichenwagens auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlug sein Wasser ab. Arbeiter, lebhaft sprechend, überholten dann den Leichenzug und rissen flüchtig die Mützen herunter. Alles und alles, die glotzenden Blicke der Neugierigen, die berufliche Beileidsmiene des Pastors, die sogenannten Leidtragenden – alles und alles, mit dem Stempel des Alltäglichen behaftet, beleidigte mich.

Nun, auch das ist vorübergegangen.

 

Grünthal, den 24. Juli 1899.

Das Gestern hab' ich verloren,
das Morgen muß ich suchen gehn,
eine bange Stunde ist mir gewiß.

Es gewittert und wetterleuchtet. Von Zeit zu Zeit rauscht ein Platzregen über das Haus und in die Wipfel der hundertjährigen Linden vor dem Fenster. Es ist eine halbe Stunde vor Mitternacht. Eine schwere kosmische Bangnis zwingt mir die Feder in die Hand. An dieses Tagebuch habe ich lange nicht gedacht. Wie lange nicht? Die letzte Eintragung stammt, wie ich sehe, vom 3. Oktober vergangenen Jahres, was darin steht, weiß ich nicht. Zwischen heut und damals liegen neuneinhalb Monate.

Ich bin wieder Hausvater. Melitta und die Kinder schlafen nebenan. Sie schlafen. Man schläft inmitten der Bangnisse, Gefahren und Furchtbarkeiten des Lebens. Die letzten Monate waren voll davon.

Es gewittert, wie gesagt. Es blitzt, und ich zucke zusammen. Man hat wohl Grund zusammenzuzucken, wenn plötzlich der Himmel zerreißt und Verderben herniederfährt. War es denn darauf abgesehen, als die Sonne schien und der Monat Mai die Menschen beglückte?

Caroline mit ihren Kindern ist hier. Sie ist Witwe geworden. Ich habe sie nach neun schweren Tagen – darunter die letzten, die Marcus zu leben hatte – von Wentdorf hierher geleitet. Mutter und Kinder sind über mir, in den engen Dachkammern, untergebracht.

Der Todeskampf meines Bruders Marcus war ein furchtbarer. Genug davon. Wie kommt es, daß Menschen solche übermenschlichen Foltern zu erdulden haben? Sein lautes Röcheln wurde während dreimal vierundzwanzig Stunden in allen Nachbarhäusern gehört und ließ die Leute des Nachts nicht schlafen.

Ein Brief meines Bruders traf mich vor vierzehn Tagen hier, noch eigenhändig von ihm geschrieben. Er legte die Sorge für die Seinen in meine Hand. Es war das einzige, was man aus den wirren Zeilen herauslesen konnte. Caroline schrieb, er sei erkrankt. Da mich die Fassung des brüderlichen Briefes das Allerschlimmste ahnen ließ, ja, da ich in ihm den letzten Notschrei erkannte, trat ich sogleich die Reise nach Wentdorf an.

Beruhigen über das Schicksal der Seinen konnte ich ihn nicht mehr, der Todeskampf war bereits eingetreten.

Ich schreibe bei einem Petroleumlämpchen. Überallher, als wenn dieses noch gelöscht werden sollte, drängt und drückt eine tiefe, heiße, feuchte Finsternis. Verirrte Insekten, Käfer, Nachtschwärmer taumeln herein. Leben wir denn nicht auch am hellichten Tag in einer ähnlich erstickenden Nachtschwärze, die selbst den Raum nur durch die Bewegung der Luft ahnen läßt?

Eben hat es wieder geblitzt. Alles, der Garten, das Tal, die Wiesenbäche, die Berglehnen, die Hütten, Fernes und Nahes, lag für einen Augenblick wie unter dem hellsten, ruhigsten Mittagslicht. Schon hat alles die Nacht wieder eingeschluckt. Wenn man rückwärts blickt, ist es dann etwa anders mit unserem Leben?

Die meisten Menschen unterliegen wohl immer wieder, Gott sei Dank, möchte man sagen, ein und demselben Gedankengang: Gewiß, mein Vater, meine Tochter, mein Vorgesetzter starb. Das hat seine Nachteile und hat seine Vorteile. Sonst geht mich die Sache am Ende nichts an. Ein furchtbares Unglück ist geschehen, es sind Bergleute verschüttet worden. Bei einem Eisenbahnunglück sind viele Menschen, darunter Bekannte, zerquetscht, verbrannt, zerrissen worden, sind auf entsetzliche Weise zugrunde gegangen. Man liest das des Morgens in den Zeitungen. Natürlich, wozu sind die Zeitungen da? Das Zeitunglesen hat seine Zeit. Man wird deshalb nicht eine Minute später vom Frühstück aufstehen. Daß einem selber etwas dergleichen passieren könnte, damit rechnet man ja eigentlich nicht, gewöhnt, selbst wenn man an die eisernen Notwendigkeiten, die Naturgesetze denkt, sich stillschweigend auszunehmen. Da aber plötzlich, mit einem Male, spürt man ganz nahe eine furchtbare, unversöhnliche Macht, die man ebensowohl einen unversöhnlichen Feind nennen könnte, die in einem Augenblick dem einen armen Gimpel die Belehrung und dem andern die Vernichtung bringt. Sie hat lange gezögert, aber nun ist sie gekommen!

Mir ist, als müßte diese schadenfrohe, gnadenlose Macht, dieser von Tücke und Wut weißglühende Dämon und alles zermalmende höllische Scharfrichter im nächsten Augenblick hervortreten und an mir vollstrecken, was seines Amtes ist.

In Wentdorf, nach schlimmsten Tagen und schlaflosen Nächten, in denen ich nur immer Gott bitten konnte, den Bruder vom Leben zu erlösen, traf mich ganz unvermittelt die Nachricht von meines Freundes Emmerich Rauscher schwerer Erkrankung und am Tage darauf von seinem Tode. Überdies ist am gleichen Tage, als mein Bruder starb, ein Blitz in eine der Linden vor unserem Hause gefahren, hat Äste abgeschlagen und einen Pfosten der Laube geschält, in der meine Mutter und meine Schwester saßen, die, halb betäubt, mit dem Schrecken davonkamen. Kann man sich da des Gedankens erwehren, daß man durch irgendeinen geheimen Urteilsspruch – Vater, Mutter, Schwester, Bruder, Freund – dem Verderber zur Exekution überantwortet worden sei?!

Welche Ahnungen, welche näher und näher dringenden Drohungen!

Emmerich Rauscher also ist tot, dessen seelische Gesundung in den hoffnungsvollen Luganeser Tagen so nahe schien. Er starb in dem furchtbaren Coma diabeticum an einer schnell verlaufenden Zuckerruhr. Nach dem lustigen Abschied in Leipzig, auf der Rückreise von Italien, mit dem allerfröhlichsten, zuversichtlichen Ruf »Auf Wiedersehen!« habe ich ihn aus den Augen verloren. Nun wird sein Fehlen im Kreise der Lebenden fast zur Unbegreiflichkeit. Man muß auf die düsteren Ahnungen, die in der römischen Zeit seine krampfhaften Umstände hervorriefen, zurückkommen, wenn man diesen jähen Ausgang verstehen will. So betrachtet, ist Rauscher ein Mann, den Liebe getötet hat.

Kann mir das Unerwartete, kaum Gefürchtete nicht ebenso nahe wie Rauscher sein? Ist nicht die Macht, deren Joch ich trage, die nämliche?

Sollten wir wirklich noch von Verantwortung reden bei alledem? Ich bin völlig verzagt, völlig eingeschüchtert. Meine Konflikte, ob Anja, ob Melitta, scheinen mir lächerlich. Anjas, meine und Melittas Schmerzen um dieser Sache willen erscheinen mir lächerlich. Im Grubenlichte dieser Nacht, in den Bedrängnissen und Erschließungen dieser Nacht treten sie mir als ein unverschämter, herausfordernder Dünkel vor die Seele, gemacht, die Nemesis auf uns herabzurufen. Was einigen wir uns nicht, was lieben und beglücken wir uns nicht nach allen unseren Kräften in dieser furchtbaren Abhängigkeit, in dieser kurzen Gnadenfrist, deren Ende im Tausendstel eines Augenblicks ohne Kündigung eintreten kann? Warum bin ich hier, und Anja ist tot? Ich dulde, daß sie für mich tot ist, obgleich sie lebendig ist. Oder ist ein Mensch, der nicht bei uns ist, für uns nicht so lange tot, als er nicht bei uns ist? Und ist dieser Verlust wiedergutzumachen? Kann ich Anja für die Zeit je wieder lebendig machen, in der sie für mich tot gewesen ist?

Was wühlt, wimmelt, atmet, ächzt, träumt, weint, wartet, lauert, wird, wächst und stirbt nicht alles im Bauch der Nacht! Die Zimmerdecke knirscht über mir. Ich höre ein weinendes Kinderstimmchen. Die arme Witwe läuft hin und her, um erwachte Kinder, die sich fürchten, zu beruhigen. Wo ist bei solchen Umdrängungen, solchen Gefühlen von Begrabensein unter feindlichen Mächten der Welt die sogenannte Kultur? Die Geschichte, die Geographie, das Einmaleins, der Darwinismus, die allgemeine Wehrpflicht, die Errungenschaften der Technik, der Antisemitismus haben nichts dabei zu tun. Dagegen ist das Gefühl, das elementare Gefühl der Ohnmacht da des auf Gnade und Ungnade Preisgegebenen. Mag sein, daß die Zerknirschung, die Urangst, das Zittern, das damit verbunden ist, in die Gebiete des Religiösen hinüberführen.

Ich schließe ab. Ich rufe die Bewußtlosigkeit. Doch kann ich die Hoffnung, im Licht zu erwachen, nicht aufgeben.

 

Dresden, am 12. November 1899.

Es ist eine neue Welle, Woge, Flut, Sorge oder Freude, die mich heute trägt. Ihr tieferes Wesen muß noch geheim bleiben. Es ist nicht mehr die einsaugende, rückwärts treibende, rückwärts reißende, einschlürfende, nächtliche Ebbe, deren Opfer ich noch jüngst in Grünthal war, mit den dumpfen Gewitterschlägen, so hörbaren als unhörbaren. Sind dies etwa zu große Worte? Ja, wenn sie klein wirken: denn es gibt keine Worte, groß genug, um an das Leben und an das Lebensschicksal auch nur eines Menschen heranzureichen. Es ist ein bloßer Gedanke, eine Wirklichkeit des Gedankens, die Idee von etwas, das sich raunend, nicht einmal flüsternd ankündigt. Dieser Gedanke freilich, diese Idee hat in einem irdischen Keime ihren Ausgangspunkt. Das Geheimnis bleibt ungelüftet. Aber die Woge, die große, vorwärts tragende Woge ist da, die große Flut.

Wenn ich das Geheimnis nicht einmal diesen nur mir bekannten Blättern anvertraue, so ist es nicht darum, weil das, was daran eine große Tatsache ist, von unberufenen Augen entdeckt werden könnte. Nein, es ist das Zarte daran, das Wunderbare, das Heilige darin, was vorerst selbst den Weg in die Hieroglyphe des Griffels scheut, sich fast vor mir selbst geheimhalten möchte. Dieses Erlebnis zartester Geistigkeit läßt jeden Vergleich als zu grob erscheinen, den man heranzöge, um es verständlich zu machen, mit der Rosenknospe etwa, die, fest verschlossen, allein von ihrem Inhalt weiß, mit den märzlichen Frühlingsschauern beim Anblick eines Krokusfeldes am Rande der Schneegrenze! Diese Vita nuova, in deren Inneres das Geheimnis gebettet, mit der es verbunden ist, läßt sich vielleicht durch lyrische Poesie oder, was das gleiche ist, durch Musik ausdrücken.

Das Weib ist vom Manne befruchtet worden. Der männliche Keim wurde von je im weiblichen Körper zur Reife gebracht. Später hat dann die Seele des Weibes die Seele des Mannes befruchtet, einen weiblichen Keim in sie gelegt, dem die Veredlung dieser Seele, ihre Beseligung, wenn sie beseligt ist, ihre Besänftigung, wenn sie besänftigt ist, allein zu danken ist. Kinder können wir nicht zur Welt bringen. Seltsamerweise blieb unser beneidenswertes Geschlecht verschont von dieser furchtbaren Aufgabe. Aber etwas Analoges zum Werden, Wachsen und Geborenwerden des Liebeskeimes tritt in der Seele des echten Mannes ein, wenn er von der Seele eines geliebten Weibes erkannt worden ist. Mit diesem Vorgang im Leben des Mannes ist Freude im allerzartesten Betracht verknüpft.

Ich meine nicht Herrennaturen mit Schnauzbärten, die den Begriff des Männlichen, das sie verehren, mit Zorn, Härte und Dickfelligkeit und nur den Begriff des Weiblichen, das sie verachten, mit Weichheit, Güte und Zartheit verbinden: ihre Härte, ihr Zorn, ihre Dickfelligkeit machen sie keineswegs weiser und retten sie ebensowenig vom Tod, wie Weichheit, Güte und Zartheit zum Toren machen oder ein frühes Sterben nach sich ziehen. Und übrigens, Männer mit wetterfestesten Ansichten sind oft und oft jämmerlich verstrickt in die allerweichliste, allerfeigste Bigotterie, während Heldentaten erstaunlichster Art von Weichlingen getan werden.

Es ist eine neue Welle, Woge, Flut, Sorge oder Freude, die mich heute trägt. Ihr tieferes Wesen muß noch geheim bleiben. Wenn ich aber die Sorge darum herausgreife, so kann ich mir nicht verhehlen, daß sie, wenn auch von Freude und Hoffnung getragen, eine bitterschwere ist.

Denn das Schöne, wovon ich schweige, ist doch auch dazu verurteilt, alles Häßlichste in der Welt wider sich aufzurufen. Sollen wir sagen, das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf, und das sei die Ursache? Sagen wir lieber, das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist wirr von Jugend auf.

Ich lebe hier im Kreise meiner Familie. Mag sein, daß ein gewisser Trieb, gleichsam Nester zu bauen, mit dem unausgesprochenen Neuen zusammenhängt, das in mein Leben getreten ist. Ich habe einen Bauplatz an der Elbe gekauft und bin eben wieder mit Melitta und den Kindern dort gewesen, um ihn zu besichtigen. Was für ein wunderliches Quiproquo! Oder ist es kein Quiproquo, wenn ich eigentlich ein Asyl für jemand anderen und noch jemand anderen gemeinsam mit mir errichten will, es aber für Melitta und mich errichte? Aber der Trieb ist unwiderstehlich. Er ähnelt, wie gesagt, einem Zustand, wie es das Nesterbauen und Zu-Neste-Tragen der Vögel ist.

In einem solchen Zustand verdichtet sich Jugend, deren Wesen Hoffnung ist, deren Wesen wiederum Heiterkeit. So bin ich denn unter dem erwärmten Blicke Melittas – es ist ein milder, schneefreier Tag – auf dem Rasen und zwischen den Obstbäumen des Bauplatzes mit den Kindern herumgetollt.

Welches grausame Versteckenspiel fordert doch von uns mitunter die Wirklichkeit! Man ist gezwungen, jemand in den Taumel einer Hoffnung zu verwickeln, deren Verwirklichung auf Kosten seines Lebensglückes geht, ihn an einer Erneuerung teilnehmen zu lassen, die für ihn nicht nur keine ist, sondern dazu führen muß, die letzte Möglichkeit einer solchen für ihn auszuschließen. Und doch ist meine Absicht durchaus nicht, zu täuschen. Ich möchte Melitta, ich möchte die Kinder allen Ernstes an dem neuen Lebensabschnitt und Aufschwung teilnehmen lassen, der sich ankündigt. Dies ist noch möglich im Augenblick. Aber wird es noch möglich sein und sich fortsetzen lassen, wenn der Keimpunkt des kommenden Aufbaues nicht mehr zu verbergen ist?

Ein hübsches Landhaus mit freier Aussicht über den belebten Strom soll für Melitta und die Kinder errichtet werden. Und zwar soll es deshalb errichtet werden, weil ich für Anja und mich ein Landhaus in meiner Heimatgegend bauen will. Dies zu tun, uns beide endlich unter dem gleichen Dach zu vereinigen, ergibt sich als eine Notwendigkeit. Doch könnte ich mir die Verwirklichung dieses Planes nicht abringen, wenn ich nicht Melitta und die Kinder vorher aus der dürftigen Etage herausgenommen und in gleicher Weise versorgt hätte. Selbstverständlich, daß der Bau von zwei Villen zugleich meine materiellen Kräfte aufs äußerste anspannen muß.

Diese Seite der Sache indessen belastet mich nicht. Ich fühle Kräfte, ich fühle Gewißheiten, Steigerungen der Arbeit, Wirkung ins Allgemeine, ich fühle Zukunft unter den Flügeln trotz alledem, besitze Freunde, habe Hilfsquellen und werde ganz gewiß das durchsetzen, weshalb mein ganzes Wesen Wille und nur Wille geworden ist.

Melitta ahnt die wahre Ursache meines Handelns nicht. Ihr forschender Blick, den ich auch heute auf dem Grund und Boden ihres künftigen Hauses immer wieder auf mir ruhen fühlte, kann unmöglich dahinterkommen. Ihre zaghafte Deutung geht, bitter genug für sie und mich, dahin, als ob ich nunmehr die Anstalten träfe, meine Genie- oder Künstlerfahrten aufzugeben, um auf neuer, besserer Basis ein Bürgerleben mit ihr und den Kindern aufzubauen. Natürlich halte ich die andere kommende Gründung, zu der diese nur eine Stufe ist, vor Melitta geheim.

Mein Gewissen ist rein. Ich bin mir mit Sicherheit bewußt, daß ich kein frevelhaftes Spiel spiele, sondern versuche, diejenigen in dem Kreis meines Lebens und meiner Sorge festzuhalten, mit denen mich Pflicht und Liebe nach wie vor verbunden halten. Die Kraft aber, über Melittas Kopf hinweg zu entscheiden, geht keineswegs aus Willkür hervor, sondern ebenfalls aus Liebe und Pflicht, die mich gleichermaßen mit Anja verbinden.

Dieser sonderbare Instinkt, dessen belebter, angefachter, betäubter, undurchsichtiger Ausdruck ich augenblicklich bin, ist sicherlich etwas, das samt seinem Ausgangspunkte irgendwie schicksalsmäßig zweckhaft ist. Er löst und er hebt sich aus einer Zeit, wo der Boden gleichsam unter den Füßen wankte und Geräusche des Berstens und Brechens laut wurden, nicht anders als unter den Hufen eines Reiters über dem Bodensee. In einer Zeit oder nach einer Zeit, wo die dumpfen Paukenschläge des Todes die Welt zu einer einzigen Drohung machten, gebiert sich der Lebenskeim, um alle sonnenhaft aufwärtsdringenden, vertrauenden und liebenden Regungen um sich zu sammeln, trotz alledem und alledem!

Soll ich Melitta die Wahrheit sagen, die sie in wenigen Monaten doch erfahren muß?

 

Dresden, am 13.November 1899.

Ich habe Melitta die Wahrheit gesagt.

Auf einmal muß ich erkennen, wie zäh ihre Liebe und Hoffnung und wie noch ganz ungebrochen sie ist. Alle die hinter uns liegenden Kämpfe, endgültigen Regelungen und Abschlüsse haben den Glauben, daß sich das Ausgebrochene wieder zurückfinden, das Krummgebogene wieder gerade machen ließe, nicht zerstören, nicht einmal schwächen können. Der ganze Konflikt, die alte, umgekehrte Zwickmühle ist wieder da. Man ist selber in ihr der Stein, der immer, wenn er das eine vollkommen macht, die Einheit des anderen zerstört: hätte ich wohl geglaubt, daß Melitta noch einmal so heftig gegen die Zerstörung aufstehen würde?

Es kann am Ende nicht anders sein. Ruhiges Nachdenken, wie es jetzt, da ich hinter verschlossener Tür schreibe, wieder möglich ist, bestätigt mir das. Dadurch, daß Anja sich Mutter fühlt, ist eine neue Lage gegeben, eine Wirklichkeit, gegen die gehalten alle noch so bestimmten, noch so heftigen Auseinandersetzungen zwischen mir und Melitta gegenstandslose Luftgebilde sind. Mit solchen hatte Melitta sich abgefunden. Mochten sie sich durch Jahre fortsetzen, sie legten der Rückkehr alter Zustände kein neues Hindernis in den Weg. Das aber geschah durch die neue Tatsache.

Wie hilflos, wie unkompliziert und wie wenig dem Leben gewachsen ist das Seelenvermögen, das man metaphorisch als Herz bezeichnet. Um und um erblindet, erkennt es nur seinen Gegenstand. Es lehnt jede Hilfe des Verstandes ab in den besonderen Nöten, denen es unterworfen ist, und gerät doch, mit oder ohne solche Hilfe, in immer dasselbe Netz von Irrwegen nur tiefer hinein. Alles, was Melitta in ihrer Abwehr tut und spricht, ist zweckwidrig. Die Härte, mit der sie das Schuldlose schuldig macht, entfremdet sie mir. Was gleichsam das Kapital unserer Liebe und Ehe retten soll, hilft es, im Gegenteil, abtragen. Müßte sie denn nicht wissen, daß mich jeder Schlag gegen das Ungeborene im Allerheiligsten meiner Seele und Liebe treffen und verwunden muß?

Allzuleicht überschlägt sich Leidenschaft und gerät in den Zustand von Raserei, der sie gegen sich selbst bewaffnet.

Freilich ist es nicht leicht, womit sich Melitta abzufinden hat. Das Mittel geduldigen Ausharrens, von dem sie die Lösung unseres Konfliktes erwartete, hilft gegen den neuen, schuldlosen, ungeborenen Gegner nicht. Aber es mag auch Frauen geben, Mütter, die durch das bloße Wesen der Mutterschaft, selbst wenn es sich mit einer Rivalin verbindet, zu Mitgefühlen bewegt und über ihren engen Egoismus erhoben werden. Anzeichen solcher Art zeigt Melitta nicht.

Es lohnt, einen Blick in mich selber zu tun. Es ist beinah so, als ob ich, und nicht die Geliebte, das Kind gebären sollte. Trägt sie es wirklich, so trage ich seine Idee in mir. Und wenn ich ebendiese Idee heut vor Melitta enthüllt habe, so geschah es im Dienste der Idee, geschah es, nicht nur die kommende Inkarnation der Idee vorzubereiten, sondern den Empfang und den Weg des entstandenen Geschöpfes in der Welt. Vielleicht würde Melitta, habe ich, wie ich jetzt erkenne, gedacht, etwas ganz Wunderbares tun, es würde vielleicht etwas menschlich Großes, menschlich Allversöhnendes, tief Verstehendes über sie kommen und sie befähigen zu erkennen, wie unabwendbar göttlich, heilig, glückselig und schwer, unendlich schwer für Anja und mich das Gegebene zu tragen sein würde. Das Wunderbare indes ist nicht eingetreten.

Im großen ganzen habe ich diese Eröffnung nur ungern und mit Widerstreben gemacht. Das Pflänzchen der Hoffnung, das Pflänzchen der Freude, das Pflänzchen des Glückes ist noch allzu zart, als daß man es gern dem Eishauch konträrer Winde aussetzen möchte. Ich habe dabei vielmehr einem harten Gebote der Pflicht gehorcht, das sich, wenn nicht heute oder morgen, so doch übermorgen durchsetzen müßte. Außerdem vertrage ich selbst eine Lüge durch bloßes Verschweigen nur kurze Zeit.

Welche stillen und innigen Ereignisse gingen dieser Feuertaufe der neuen Schicksalsphase voraus? Zweifel, Sorgen und dann gewonnene Klarheit über das, womit man sich abfinden mußte. Abfinden ist in dem Sinne gemeint, der nun einmal für höher organisierte Menschen durch die illegitime Lage und die damit gegebenen widerwärtigen Kämpfe gegen das nichtsnutzige Vorurteil der Welt gegeben ist. Aber die Besinnung war kurz, die Freude brach durch, und der entschlossene Mut für das kommende Geschenk unserer Liebe trat hervor, um sich durch keine Drohung noch Finte niederer Mächte fortan mehr beirren zu lassen. Es war ein Glück, ein Rausch, ein Fest, als Anja und ich bis dahin gelangt waren und, im Refektorium meiner Wohnung einander gegenübersitzend, das Gegebene als Begnadung willkommen hießen und den kommenden Kämpfen und Mühsalen mit einer Art Überschwang ins Auge blickten: auch dem großen Ernst, dem ein Weib in solcher Lage gegenübersteht, wo sie ja doch ihr eigenes Leben wagen muß. Bis gegen Abend saßen wir, von den Mysterien des Werdens unmittelbar berührt, bei Tisch und ließen sogar die Gläser klingen, dem Gegenwärtig-Ungegenwärtigen kleine Libationen darbringend und dem, was einstweilen weder weiblich noch männlich war, allerlei Namen des einen und anderen Geschlechtes im vorhinein aussuchend.

Was man nicht sieht, nicht persönlich erlebt, davon ist der Begriff meist schattenhaft. So macht sich auch Melitta nicht den rechten Begriff davon, welcher unabwendbaren Macht sie gegenübersteht. Oder verbirgt sie es selbst vor sich selber? Jedenfalls nimmt sie den Kampf gegen diese Macht mit allen erdenklichen Mitteln auf. Die Heftigkeit, die Verwicklung und Endlosigkeit des Gesprächs bringen es mit sich, daß alle Seiten der Frage bis zur Geisteszerrüttung erörtert werden. Für die physische Gefahr, die Anja droht, hat sie keinen Sinn. Ebendieselbe Frau läßt sich hier zu keiner Art Teilnahme bereit finden, die selbst in legitimer Ehe, sooft sie sich Mutter fühlte, in begreiflicher Angst vor den kommenden Sorgen und Nöten fast verzweifelte. Welche Erschwerung des Lebens das Kind zu bewältigen haben werde, wenn es außer der Ehe geboren würde, auch das, wie sie sagte, ginge sie nicht das mindeste an. Sie lehnte sogar jede Erwägung darüber ab, ob es nicht ihre wie meine Pflicht wäre, des Kindes wegen sich scheiden zu lassen. Sie werde das nie und nimmer tun. Sie sähe recht wohl, daß die ganze Sache nichts anderes als ein kalter, raffiniert ertüftelter Schachzug sei, den Anja gegen sie ausspiele. Sie solle nur ja nicht glauben, daß sie, Melitta, dawider nicht auf der Hut wäre. Anjas Kind interessiere sie nicht, sie habe ja ihre eigenen Kinder.

Ich selbst bin natürlich in einer Verfassung, die man als ganz normal kaum mehr bezeichnen kann. Der Zustand Anjas, die Würde, mit der sie ihn trägt, erschüttern mich. Die verdoppelte und verdreifachte Sorge um sie ist eigentlich mit einer vielfach gesteigerten Liebe gleichbedeutend. Diese Liebe fließt auch auf die Meinen über und findet ihren Ausdruck in dem Drange, ihnen zum Beispiel durch den Villenbau wohlzutun. Aber das Herz, wie gesagt, ist dumm, und auch ich kann von mir nicht behaupten, in Behandlung seiner Angelegenheiten dem kühlen Verstande den Vorrang gelassen zu haben.

 

Berlin-Grunewald, am 3. Januar 1900.

Es ist zwei Stunden nach Mitternacht. Ein Tag hat begonnen, dessen Ende für mich eine Entscheidung bringen wird. Ich gehe auf die Art meines Berufes nicht ein, mit dem sie zusammenhängt. Es handelt sich um ein Werk, über dessen Gelingen oder Mißlingen, Erfolg oder Mißerfolg gleichsam coram publico das Urteil gefällt werden soll.

Alle Kerzen meiner einsamen Wohnung sind in Brand gesteckt, im Speisezimmer und im Wohnzimmer auf den Kronleuchtern, auf Handleuchtern in der kleinen dazwischenliegenden Mönchszelle und Bibliothek. Hier sitze ich und schreibe wiederum in dies Buch, nachdem ich eben zum soundsovielten Male mein Testament für den Todesfall durchgesehen und abgeändert habe.

Sind es nicht Schlachten, vor denen man immer wieder steht und die man immer wieder durchkämpfen muß? Ein »echter Hausvater« wird, da ihr Ausgang unsicher ist, seine Angelegenheiten beizeiten ordnen.

Ordnen? Das wäre zuviel gesagt. Er wird versuchen, der Anarchie nach seinem Tode wenigstens einigermaßen mildernd entgegenzutreten.

Ich denke hauptsächlich an Anja und an die Sicherungen, die sie und das kommende Kind schützen sollen, wenn ich nicht mehr am Leben bin.

Eine Abendgesellschaft, die wir gaben, endete schon nach elf Uhr. Dann habe ich Anja nach Hause gebracht und, zurückgekehrt, zwei Stunden geschlafen. Das ist die kurze Frist, die mir seit Wochen und Wochen beschieden ist und nach der ich, regelmäßig erwachend, so munter wie am Tage bin.

Immer kann das nun freilich nicht so fortgehen.

Ich habe eben eine hunderthändige Seelenbeschäftigung, wenn diese Metapher gestattet ist: die ideelle für meinen Beruf, die materielle, die mit ihr verbunden ist, die sorgende, die Melitta und die Erziehung meiner Kinder betrifft, die sorgende, die Anja betrifft, die sorgende, die mich selbst betrifft, da ich körperlich ziemlich erholungsbedürftig bin und mich nur durch stärkste Anspannung meines Willens aufrechterhalte. Weiter wird meine Seele durch die Witwe meines Bruders Marcus und ihre Kinder sorgend beschäftigt. Auch Julius gibt ihr Arbeit, dessen Schritt äußerst unsicher ist, dessen Zustände arger Verwirrung entgegengehen. Rauscher ist hin, aber auch dort ist nach seinem Tode ein Söhnchen von Esther Naëmi erschienen, ein engelhaft schönes, leider krankes Kind, das Sorge macht.

Aber die schwerste, am stärksten lastende Aufgabe bezieht sich auf Anja und die nun kommende kritische Zeit, die, an sich ein Martyrium, in unserer Lage doppelt und dreifach ein solches ist und Aufbietung aller Liebe, Umsicht und Fürsorge fordert. Bei alledem immer die Angst, es könne in Dresden etwas Schreckliches eintreten. Melittas Anlage an und für sich, verbunden mit dem Druck der Ereignisse, der nun wieder beinah so stark wie am Anfang unseres Konfliktes ist, können sie immerhin zu irgendeiner unwiderruflichen Handlung hinreißen.

Unter den Gästen, die vor noch nicht drei Stunden die jetzt so verlassenen Räume belebten, befand sich diesmal auch Götz Preysing, mit dem wir seit den Tagen von Sorrent in Beziehung geblieben sind. Er kam ohne seine schöne Frau, die seltsamerweise in Zürich studiert. Sie habe, sagte er, plötzlich sich die Marotte, Ärztin zu werden, in den Kopf gesetzt.

Wie sich doch seit den Sorrentiner Tagen das kaleidoskopische Bild unseres Lebenskreises bereits verändert hat! Wir sprachen von Rauschers Liebesidyll in Rom und dann – welcher ungeheure Schritt! – von den schrecklichen Brunhild-Kriemhild-Szenen, die sich über dem Totenbette dieses blonden Siegfried zwischen seiner angetrauten Frau und Esther Naëmi abgespielt hatten. Sie waren in Gegenwart des Toten sozusagen mit Nägeln und Zähnen aneinandergeraten.

Dieses Leben, sagte ich, und insonderheit diese Stadt Berlin kocht von Leidenschaft.

Wie anders die Welt doch aussieht, wenn man sich des Nachts zu ungewöhnlicher Stunde erhebt. Man ist gleichsam den Müttern, den innersten Quellen der Dinge, näher. Es ist, als sei man von der Oberfläche des Lebensmeeres in seine Tiefe gesunken und dort zu einem neuen, magischen Tiefenleben aufgewacht.

 

Berlin-Grunewald, am 4. Januar 1900.

Der Graus ist vorübergezogen, das Urteil gesprochen, das ich gestern noch zu erwarten hatte. Die Öffentlichkeit des Welttheaters hat über mich gestritten wie über einen Gladiator. Mir ist zumute wie einem, der im Kampfe gegen afrikanische Löwen und Tiger unterlag, von ihnen zerrissen und darüber noch von dem ganzen Amphitheater ausgezischt wurde.

Dabei bin ich im Frack. Bei gewissen Hinrichtungen ist nämlich nicht nur der Scharfrichter im Frack, sondern auch der Verurteilte. Genug davon. In zwei Tagen lasse ich Berlin hinter mir.

Es ist hohe Zeit. Wie gestern, ist es genau zwei Uhr. Wie gestern habe ich alle Kerzen in meiner Wohnung entzündet. Ich komme mir vor wie eingeschlossen in einer wohnlich ausgestatteten, magisch erleuchteten Gruft.

Eben habe ich Anja nach Hause gebracht. Ich war abgehetzt, zerrüttet, zerstört. Aber irgendwie hat mein heutiges Schicksal Anjas Neigung – Mitleid ist Liebe! – leidenschaftlich gesteigert. Das wurde zur Marter, wurde zur Qual für mich. Es gibt keinen noch so geliebten Menschen, den man nicht zuweilen bitterlich hassen muß. Gott sei Dank, daß endlich außer mir niemand als meine alte Wirtschafterin in der Wohnung ist.

Ich bin Schmerz, Wut, Haß, Ekel, Abscheu, Lebensüberdruß durch und durch. Wäre es nicht das beste, wenn ich, statt daß mir andre fortwährend Streiche spielen, dem Leben, der Welt, dem Himmel und dem engen Kreise der Meinen einen Streich spielte? Sie närren mich, sagt Hamlet, daß mir die Geduld reißt. – Still!

Was ist das für ein Wort: still? Könnte ich es sagen als ein großer Magier: Still! – Still, ihr Verfolger, ihr Neider, ihr Pharisäer, ihr Schlechtmacher und Besserwisser, ihr Sorgen, ihr Stimmen nutzloser Bemühungen, Hader, Zank, Streit, still! still!

»Übers Niederträchtige niemand sich beklage«, sagt Goethe. Doch, doch! ich beklage mich. Ich bin den Nichtsnutzigkeiten, Schurkereien und Gemeinheiten des Lebens nicht gewachsen. Ich bin wehleidig! Alles tut mir weh, weh, weh! Wenn ich eine Harfe mit tausend Saiten wäre und man spielte darauf, wie man auf mir spielt: schreien, schreien vor Schmerz würde jede Saite! Diese ganze nutzlose Qual des Daseins sei verflucht!

Ich fürchte mich vor dem Bett. Jemand wollte keinen Posten auf einem Ozeandampfer annehmen, ob er auch noch so viel Geld verdiene: eine Seereise habe zu viele schlechte Momente. Das kann ich bezeugen: meine Fahrt nach Amerika. Nein, ich gehe heut nicht zu Bett. Auch meine Lebens- und Landreise hat zu viele schlechte Momente, und nicht nur damals in Paris war mir das Bett etwas Ähnliches wie der glühende Rost des heiligen Laurentius.

Bin ich denn überhaupt seit jener Zeit auch nur um einen Schritt weitergekommen? Würge ich mich nicht noch immer hoffnungslos in der gleichen Schlinge herum?

Mit meinem öffentlichen Mißlingen ist eine äußerliche Hoffnung zusammengebrochen. Ein wenig Gelingen auf einer Seite hätte mir gerade in diesen Zeiten unendlich wohlgetan. Schließlich aber, mein eigner augenblicklicher Zusammenbruch ist noch kläglicher. Wo bleibt denn mein bißchen Philosophie? Habe ich mir nicht eine ganze Sammlung von Krücken, Latwergen, Pflastern, Salben und Balsamtöpfen, Tropfen und Pillen angelegt? Wo bleibt mein Seneca? Marc Aurel? »Verursacht dir ein Gegenstand der Außenwelt Leid, so ist er es nicht, der dich beunruhigt, sondern dein Urteil darüber.« Schön gesagt, schwer getan. »Wenn es dir Leid bringt, daß du nicht wirken kannst, wie es dir vernünftig erscheint, warum nicht lieber wirken, wie es eben geht, als sich dem Leide hingeben?« Leicht gesagt, schwer getan! »Kann ich nicht wirken, wie ich will, hat das Leben für mich keinen Wert.« – »Nun, so verlaß das Leben freundlich, wie wenn du es vollbracht hättest, in milder Stimmung gegen deine Widersacher!« Leicht gesagt, schwer getan.

Das kalte Licht einer Gaslaterne dringt von der Straße herein. Jenseits düstern die Grunewaldkiefern, diese Besen, zwischen die hinein sich von Zeit zu Zeit der Inhalt Berlins ergießt, um jedesmal, wie Ebbe nach Flut, zurückzuweichen. Was haben sie nicht alles gesehen! Wieviel Trümmer, Scherben, Leichen und sonstiges Strandgut des Lebens ist nicht in diesem furchtbaren Walde zurückgeblieben und abgelagert worden! Nein, ich will nicht, ich sträube mich, eines von diesen Dutzendopfern abzugeben und morgen den Polizeibericht zu bereichern.

 

Soana, am 17. Februar 1900.

Ich lebe mit Anja unter den düsternden und nebelnden Schroffen des Monte Generoso im Bergversteck. Draußen glitzert lockerer Schnee, der tagsüber, mit Regen untermischt, gefallen ist. So geschieht es hier öfters im Winter. Morgen um die Mittagszeit wird die weiße Decke nicht mehr vorhanden sein. Wie gesagt, wir liegen hier im Versteck. Wir haben uns vor der Welt verkrochen. Das ärmliche kleine Sanatorium, von dem braven Schweizer Arzte geführt, paßt gerade für uns, in seiner verlassenen Enge und Trostlosigkeit. Außer uns hat es keine Gäste.

Weshalb müssen wir uns verkriechen? Diesmal mag wohl ein Grund alle anderen überwiegen, die dabei mitwirkten. Es ist der Tyrann, der, ob auch unsichtbar, gegenwärtig ist, und zwar, ob auch unsichtbar, als Tyrann! Aber schließlich haben wir uns auch schon früher hier erholt, winzig geworden in der überragenden Größe der Allnatur, die auch persönliche Schicksale kleiner, weil allgemeiner macht und ihre Lasten somit verringert.

Man pflegt in Badeorte zu gehen, um den vom Kampfe des Lebens ramponierten und abgenutzten Leib zu erneuern. Was wir hier bisher gesucht und gefunden haben, war gleichsam ein Seelenbad. Und es ist ja auch wirklich ein ziemlich hoher Wall zwischen hier und den Kampfplätzen Niflheims, den man durch eine Röhre im Gestein, Gotthardtunnel genannt, von Norden nach Süden durchschlieft, so daß man, von Staub, Schweiß, Blut und Wunden abgeschnitten, sich Bädern und Waschungen der Seele hingeben kann.

Nun ja, das ist eine Überlegung, die triftige, ehemals fast allein wirkende Gründe für unsern hiesigen Aufenthalt zu finden weiß. Er wurde aber auch deshalb gewählt, weil er vor den Verfolgungen der Welt einige Sicherheit bietet. Und damit komme ich auf den Punkt, komme auf den Tyrannen, von dem ich anfangs gesprochen habe und dessen Anspruch und Macht täglich stärker und stärker wird.

Deshalb ist es heute nicht so schlechthin wahr, das Seelenbad!

Ich heiße der Mangel.
Ich heiße die Schuld.
Ich heiße die Sorge.
Ich heiße die Not.

Die vier grauen Schwestern, die sich mit solchen Worten vorstellen, sind jedenfalls dieses Mal unsere Badeweiber.

Leide ich wohl ein wenig an Verfolgungswahn?

Mangel? Er steht nun wohl gerade nicht vor der Tür. Immerhin tritt sein Gespenst immer wieder aus Briefen Melittas hervor, die es seltsamerweise seit der Stunde unserer Verheiratung an alle Wände zu malen nicht müde ward. Die Gewöhnung an Besitz liegt der Enkelin Augsburger Patrizier nun einmal im Blut und der Zwang, sich immer wieder nach Kräften zehnfach und tausendfach vor dem gefürchteten Mangel zu verbarrikadieren. Ich selbst war dieserhalb, was meine Person betrifft, von je ziemlich gleichgültig, wenngleich ich natürlich auch meine Träume vom Reichtum eines Krösus gehegt habe. Nun aber haben wir, bevor ich selber »verdiente«, etwas gedankenlos von Melittas Vermögen drauflosgelebt, und so ist es beträchtlich zusammengeschmolzen, und ich fühle die Pflicht, der ich auch teilweise schon genügt habe, es nach und nach wiederherzustellen. Aber diese Beweise vom Ernste meines guten Willens genügen nicht, ihre Furcht zu beschwichtigen.

Da kommt nun freilich auch mit dem ersten warmen Lüftchen der Hausbau an der Elbe in Gang. Durch Hypotheken und Baugelder ist alles im großen und ganzen gesichert, aber ich habe durch diese Marotte des Gemüts erhebliche Lasten auf mich genommen. Und daß Voranschläge bei Bauten überschritten werden, ist eine Alltäglichkeit. Melitta hält mich von jeher für unpraktisch, obgleich sie einen Beweis dafür nicht in Händen hat. Sie sagt, ich sei ein Illusionist: was ich im Hinblick auf Kunst gelten lasse. Aber ihre furchtbeladene, schwarzseherische Anlage meint damit den Optimismus in mir, der mich, blinder Gläubigkeit, zu gewagtesten Unternehmungen fortreiße.

Nun ja, vielleicht habe ich etwas am Leibe wie einen blindbeflügelten Schritt. Es ist in mir bei allem Erleiden, bei allem Erdulden ein Geist des Vordringens. Meine Fregatte liegt nicht im Hafen, sie hat Fahrt, wie man sagt, und ich bin ihr Steuermann. Was würde Melitta sagen und schreiben, wenn sie wüßte, daß ich für Anja, mich und das kommende Kind ein Asyl, eine Herberge, eine Burg in der Nähe von Grünthal plane? Sie würde glauben, es sei hohe Zeit, mich zu entmündigen.

Warum soll ich es mir verbergen: ich gehe in der Tat mit einem gewissen gläubigen Leichtsinn in diese und manche andere Unternehmungen hinein, keineswegs sicher, daß sie mir nicht über den Kopf wachsen, weshalb Melittas Sorgeninstinkte nicht durchaus unberechtigt sind. Aber Nachtwandler darf man nicht anrufen.

Sorgen und Ängste, wie sie Melitta hegt, kennt Anja nicht. Ihre Überlegungen gehen über die Erfordernisse der Stunde nicht hinaus. Furcht, eines Tages in Not geraten zu können oder nicht satt zu werden, hat sie mir niemals ausgedrückt. Das ist eine große Hilfe für mich.

Kein Gedanke, der an Vorwurf oder auch nur an Klage, des Kindes wegen, streifen könnte, ist je über ihre Lippen gekommen.

Und weiter: ihr ganzes Wesen ist unter der wachsenden Veränderung schon heute nichts als schlichte, stille, selbstverständliche, stolze, unbeirrbare, unberührbare Mütterlichkeit. Ich muß sie nur immer heimlich anstaunen. Welche Haltung, welche Ruhe, welche Würde, welcher Ernst, obgleich sie auch körperlich leiden muß. Das große Mysterium ist fühlbar über ihr. Und was sehe ich nicht alles daneben klein werden!

Anja ist eine Frau geworden. Wie die ihr sonst eigenen schnellen Bewegungen sich verbieten, so hat auch ihr schlagfertig schneller Geist den Rhythmus der Ruhe und Würde erhalten. Ihre Worte, Atemzüge und Schritte sind still und gedankenvoll. Mir ist ein ganz neuer Mensch geschenkt worden, an dem sich mir die ganze Hoheit des weiblichen Berufes offenbart.

 

Soana, am 20. Februar 1900.

Regen, Kälte, schlechtes Wetter, öde und kalte Zimmer, schlechte Betten, schlechtes Essen, Verlassenheit! Anja braucht Pflege und hat nichts als meine Unbeholfenheit und höchstens einmal das Mädchen oder den dicken Wirt mit der Wärmflasche. Ein bißchen Tee, ein bißchen Semmel, das ist alles, was sie seit Wochen zu sich nimmt. Kein Arzt, keine Hilfe weit und breit, was Anja auch immer zustoßen mag. Schwere Tage, qualvolle Nächte! Aber wo sollen wir schließlich hinflüchten?

Anja könnte sich in die Behandlung eines Arztes geben. Es gibt Institute genug in der Schweiz, wo eine Frau ungestört ihre Stunde erwarten kann. Aber wir trennen uns nicht voneinander. Gerade jetzt kann sie nicht ohne mich sein und ich ohne sie ebensowenig. Wenn sie wieder reisefähig ist, wollen wir nach einem anderen Asyl auf die Suche gehen.

 

Soana, am 22. Februar 1900.

Ich habe heute wieder seltsam geträumt. Jetzt, im Wachen, werden meine Träume Gegenstand des Nachdenkens. »Gegenstände« in bezug auf Träume, ein seltsames Wort. Aber ich weiß augenblicklich kein besseres. Träume: das ist der Teil des menschlichen Wesens, der sich durchaus selbst begnügt. Es ist derjenige Inhalt des Geistes, der Realität vortäuscht. Es ist der vollkommen allein schöpferische Teil des Geistes, der auf Regungen hin tätig wird, aber nicht dadurch, daß Objekte von den fünf Sinnen ergriffen werden. Am Tage durchschreitet das Bewußtsein wie ein Mann mit einem Lämpchen die äußere Welt, in der Nacht die innere. Aber was ist das für ein Mann, der die innere Welt mit dem Lämpchen durchschreitet? Ein anderer, ganz unsichtbarer und doppelt schöpferischer, der Objekt und Beleuchtung zugleich bedeutet.

Ich kann mein Ich bei diesem inneren Vorgang nicht ausschließen. Was ist nun aber wohl dieses Ich? Ich treibe keine wissenschaftliche Psychologie. Herbart sagt, das Ich sei durchaus kein wirkliches Wesen, ebensowenig die Seele selbst: es beruhe dagegen auf einem Geschehen der Seele. Aber nicht einmal als ein ursprüngliches Geschehen der Seele sei es anzusprechen. Es sei zum Beispiel beim Säugling nicht da, sondern kristallisiere sich erst aus den Niederschlägen während der Sukzession der übrigen Lebensvorgänge. Das reine Ich sei lediglich ein Werk der Spekulation. Es gäbe nur ein sogenanntes empirisches Ich: es bestünde aus der Summe seiner Vorstellungen, Begehrungen und Gefühle, oder sagen wir, aus der Summe seiner Erfahrungen. Seltsam, daß wir trotz alledem immer das reine Ich voraussetzen. Meinethalben: beim Säugling ist es nicht da, aber im Tiefschlaf ist es auch nicht da. Warum soll man nicht einen geschliffenen Diamanten in dickem Seidenpapier unsichtbar aufbewahren und ihn in einem gegebenen Augenblick herauswickeln?!

Während meiner Träume ist mein Ich das Lämpchen, als Bewußtsein gedacht: dieses Bewußtsein erstreckt sich auf Empfindungen des Gesichts, des Gehörs, des Geruchs, des Geschmacks und des Tastgefühls, ohne daß die Sinne durch wirkliche Gegenstände beschäftigt sind.

So entsteht eine zweite Welt. Ist es vielleicht die einzig wirkliche Welt, von der andern, der zweiten, der trügerischen, die wir nicht kennen, noch kennen werden, unabhängig? Sie ist ebenso weit, ebenso reich, makrokosmisch und mikrokosmisch ebenso ausgestattet wie die äußere. Sie bietet Details bis in die Fäden eines Rockes, eines Hemdes, eines seidenen Taschentuchs. Ja, sie bietet weit mehr als die wirkliche Welt, da sie uns den Luftraum ebenso wie die Tiefen des Meeres erschließt, in die wir uns mühelos versenken, während wir ebenso mühelos, und zwar ohne Flügel, uns in die Lüfte erheben können.

In ihrem Traumbesitz besteht und besitzt sich die Persönlichkeit. Und darum hat jeder mehr als nur das Recht, Träumer zu sein. Es ist für ein großes Leben, für ein Aus-dem-Grunde-Leben notwendig, immer wieder in die allüberflutende Traumsee hinabzutauchen. Wie sollten Erfahrungen des wirklichen Lebens einen Wert, einen Klang, kurz Poesie erhalten, ohne mit dieser magischen Flut getauft zu werden! Wie eng und beschränkt, wie klein, blöde, stumpf, zerbröckelt, zerstückelt müßte ohne das Traumreservoir, ohne den Zauber des unerschöpflichen unterirdischen Stroms das Dasein hinlaufen. Ohne den schöpferischen Durchbruch der Universalität des Traumes würde der Mensch kein Mensch geworden sein.

Was wissenschaftlich trockene Menschen über Träume aussagen, interessiert mich nicht. Man kann am Rande des Traumsees verharren und nie von seinem Wasser geweiht werden. Auch will ich nichts wissen vom Handwerk der Traumdeuter. Sie führen das Wunder der Träume auf eine Zukunftsbanalität zurück, wie die Psychologen auf eine ursächliche Banalität, also auf eine in der Vergangenheit. Ich gebe mir nur von der Universalität Rechenschaft, in welche das Traumleben den zusammenfassenden Geist versetzt.

Also: ich bin im Traum, um mit dem düstersten Erfahrungsgebiete anzufangen, erschossen, von rückwärts erdolcht, kurz, auf alle möglichen Arten und Weisen getötet worden und habe ebensooft das Ereignis des Todes bis zur Bewußtlosigkeit durchgemacht. Ich bin mit dem Pferd, mit dem Rad gestürzt, mit oder ohne Pferd und Rad in Abgründe, Gletscherspalten und dergleichen kopfüber hineingeschleudert worden. Immer wieder habe ich erfahren, wie einem in dem Augenblick zumute ist, wo das Unglück eben geschieht und nicht mehr zu wenden ist. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, auch nur einen Teil von diesem Erleben mit allen seinen minuziösen Einzelheiten darzustellen. Man hebt im Traum eine Hand voll Sand, und hätte man die entsprechende, jahrelange Zeit, so könnte man seine Körner zählen, die einer ganz bestimmten Summe entsprechen würden.

Ich komme nun zu den andere betreffenden Todesfällen: Bevor mein Vater wirklich starb, wie oft habe ich, in Weinen aufgelöst, an seinem Totenbett, seinem Sarge, seinem Katafalk gestanden! Dasselbe geschah bei meiner Mutter, die heut noch lebt. Welche Menge schwerster Erfahrungen ringsherum, die mich wissend gemacht haben, bevor ich irgendeinen wirklichen Todesfall erfuhr, der dann keineswegs stärker, sondern milder wirkte.

Und dann, bevor die Liebe in mein Leben trat: wie viele Liebchen habe ich nicht in Träumen gehabt, so süß, zärtlich, gütig, jung und schön, daß der Abschied auf ewig, den ich von ihnen jedesmal beim Erwachen nehmen mußte, mir nicht leicht wurde! Es half nichts – so vollkommen war ihre Existenz –, mir zu sagen, daß ich mich in ein Geschöpf meiner eigenen Phantasie verliebt hätte, das ja schließlich, wenn auch im zerteilten Zustand, noch in mir sei. Es war mir, als wenn mich ein wirkliches Wesen besucht, geküßt, umarmt und hingebend geliebt hätte. Viele Tage, oft wochenlang, gingen mir diese Erscheinungen nach. Ich gedachte ihrer mit bitter schmerzender Wehmut und Entsagung. Dies alles geht über die enge menschliche Erfahrungsmöglichkeit bereits weit hinaus.

Nun aber hatte ich schon als Kind kosmische Träume, hatte eine Größenvorstellung, eine Größenempfindung, die eine noch so unsinnige Zahl der bekannten Weltraummessungen mir heut nicht mehr vermitteln kann. Später – da diese Träume mir noch heute wirklicher als jede erlebte Wirklichkeit vor der Seele stehen und mir noch immer die gleiche Größenvorstellung, die gleiche Empfindung ungeheurer Massenausdehnungen geben – glaubte ich zu dem Schlusse berechtigt zu sein, daß man, fünf- oder sechsjährig, den kosmischen Ursprüngen näher sei und die Erinnerung an sie noch unverhüllter bei sich trage. Nun also: in einer Zeit, wo mir noch die Welt mit dem allerengsten Horizont zu Ende war, ich einen Blick in den nächtlichen Himmel wohl kaum mit Bewußtsein getan habe, sah ich Weltkörper riesenhaftester Art in mir kreisen, die mir noch nach dem Erwachen Schreie des Entsetzens, Schreie des Staunens, Rufe der Bewunderung abnötigten.

So habe ich, lange bevor ich den Pizzo Centrale in Leinwandschuhen mühsam bestieg, im Traum auf unendlich höheren Bergen gestanden: damit verbunden ist meist ein Schwindelgefühl. Was ist überhaupt das Schwindelgefühl? Ist es nicht etwas, dem eine Realität entspricht und das wir um unserer Erhaltung willen überwunden haben? Der Mann, der über das Turmseil geht, hat es ebenfalls überwunden, sonst würde er auf das Pflaster hinabstürzen.

Und enthält nicht der Traum den unendlichen Raum und in ihm Myriaden von Welten, Myriaden von Göttern und Menschen, Dingen, von denen in der wirklichen Welt nichts sichtbar geworden ist? Darum ist der Traum keineswegs nur der Inbegriff aller Erfahrungen der Wirklichkeit, sondern unendlich viel mehr und etwas ganz anderes!

Nehmen wir nun die Oberfläche der Erde, soweit sie Landschaft zu nennen ist. Ich weiß ungefähr von den Landschaftstypen, die meinem offenen Auge im Leben vorgekommen sind, etwa: Schlesien, Gebirge und Ebene, Oder, Elbe, Teile von anderen großen Flußläufen, Städte, Blicke auf die Hochalpen, Ostseegebiete, Seereise um Europa herum. Wie mit einem Scheinwerfer vermag sie noch heut mein inneres Auge in einem fast zeitlosen Augenblick zu übergehen. Ich sehe Landschaften aller Art, von den Landschaften meiner Träume ist keine darunter. Bin ich selber in meinen Träumen der einzige Demiurg und Weltschöpfer? In gewissem Sinne, aber in einem höheren Sinne nur Medium. Andere Planeten, andere Weltzeitaugenblicke, andere Sphären sind es, aus denen meine Traumlandschaften hervorgegangen, in welche sie hineingeboren sind. Die mir bekannte Flora sehe ich wohl darin, aber in einem ganz anderen, fremden Lichte. Die rote Tulpe hat ein ganz anderes Rot, die Hyazinthe ein anderes Blau. Wenn mir Anja oder Melitta in einer solchen Landschaft begegnen, so haben sie wohl mit ihren Urbildern eine mir unverkennbare Ähnlichkeit, sie sind aber nicht mehr Menschen, sondern Göttinnen. Und dementsprechend ist auch meine Empfindung süßer, heißer, und zwar von einem neuen Feuer, und selig geworden. Ich werde hier nicht diese Landschaften schildern, in denen meine ganze Seele, seelenhaft innig verbunden mit jedem Blatt, Wassertropfen, Sonnenstrahl, Grashalm oder Sandkorn, hängt: das abgenutzte Wort »paradiesisch« dafür einsetzen hieße ihr Wesen nicht verdeutlichen. Genug daß alle diese Landschaften meines Innern eine zweite, andere Erde ausmachen, auf deren heiligen und seligen Fluren – ein Geschenk meiner Träume – ich mich auch im Wachen ergehen kann. – Mein Leben fängt in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts an: wie kommt es, daß ich heut so alt wie die Menschheit zu sein glaube?! Das läppische nahe Datum hemmt mich nicht, ich gehe drei, vier, fünf Jahrtausende, Jahrmillionen in die Vergangenheit. Ich lasse die Diluvialperiode, die Bronze-, die Steinzeit, die Zeit des Pithekanthropos hinter mir, kurz, ich bin »so alt wie der Westerwald«, und das alles aus Gnaden meines Traumlebens. Eine so ungeheure Welle wirft die nächtliche Traumwelt in die trockene Wüste des Lebens herauf und hinein, alles in Zauberprismen spiegelnd.

Aber der Traum enthüllt auch das Furchtbare. Schrecken, Schrecken ohne Ende, nie im Leben erlebt, dringen ein. Metzgereien, Zerschmetterungen, Totschläge, Folterkeller, Bergstürze, blutige Henker und Henkerwerkzeuge. Sie lassen mich Verbrechen begehen, Verbrechen hehlen. Ich muß mich verstecken, ich habe Häscher hinter mir. Ich werde überführt und zum Richtplatz geschleppt. Und wenn ich in Schweiß gebadet erwache, glaube ich dem schrecklichen Verhängnis eines früheren Lebens entflohen zu sein.

 

Soana, am 4. März 1900.

Götz Preysing war zwei Tage hier und ist heut wieder abgereist.

Ich gedenke des schönen Paares auf der kleinen Marina der Cocumella. Was es zu verkörpern schien, war Glück, Jugend, vornehme Unabhängigkeit, ein Paradigma von alledem, das junge Paar auf der Hochzeitsreise. Es war der beneidenswerte Fall, den man immerhin auf Reisen manchmal sieht, wo der schöne Mensch den ebenbürtigen schönen Menschen gefunden hat. Eine Bevorzugung dieser Art schien mir damals beinah herausfordernd. Nun also: die schöne Frau ist tot. Die vornehm schlanke Gestalt in dem Tailormade-Kleide liegt heute unter der Erde und modert. Aber sie ist nicht einmal leicht dahingelangt und hat vorher manches zu erdulden gehabt. Das Ende hat sie dann selbst bestimmt.

Preysing hat uns aus keinem anderen Grunde besucht, als um uns sein Herz auszuschütten.

Er lebte von seiner Frau geschieden. Es war nicht recht darüber klarzuwerden, wann die Scheidung betrieben und durchgesetzt worden ist. Wahrscheinlich schon vor unserer letzten Begegnung. Die elegante und schöne Frau Preysing studierte, wie schon gesagt, in Zürich, um sich zu zerstreuen und abzulenken.

Preysing erwies sich bei seinen Konfessionen mächtig erregt. Aus allerlei Andeutungen löste sich aber, außer der tragischen Katastrophe, nicht volle Klarheit über die Einzelheiten heraus. Die schöne, bei ihrem Tode etwa zweiundzwanzigjährige Frau war jedenfalls diskreter Geburt, die Tochter eines Fürsten S. und einer Erzherzogin. Dieser Umstand schien Folgen gehabt zu haben, die Preysings Rolle bei der Heirat problematisch erscheinen ließen und sein Gewissen belasteten. Das Mädchen war im Kloster erzogen, hatte dann, wie es scheint, allein unter der Protektion des Vaters in Wien gelebt, bis Preysing sie, Gott weiß unter welchen Bedingungen, übernommen hatte.

Sie war blond, blauäugig, licht, vollendete Dame, flotte Reiterin, hatte das frohe Wiener Blut, und dennoch unterlag sie der tiefsten Verdüsterung. In Zürich ist nun ein Student in Erscheinung getreten, der ihr zum Verhängnis geworden ist.

Zu den Unbegreiflichkeiten und labyrinthischen Verzweigungen der liebenden Seele und ihrer Konflikte gehört auch das Sich-Trennen, obgleich man durch leidenschaftliche Neigung unlöslich verbunden ist. So war die Studentin mit dem Maler und der Maler mit ihr in Verbindung geblieben. So hing die Verstoßene nach wie vor mit leidenschaftlicher Liebe an ihm, und so geriet sie in meine Lage, nämlich, wie ich zwischen Frauen, zwischen zwei feindliche Männer.

Preysing erzählt: »Wir waren übereingekommen, ich und meine geschiedene Frau, als unabhängige Freunde eine gemeinsame Reise um die Welt anzutreten, die etwa auf anderthalb Jahre berechnet war. Wir dachten uns dies als neue Probezeit. Glückte die Probe und fanden wir uns am Schluß der Reise in unserem gemeinsamen Leben bestärkt, so wollten wir uns abermals heiraten.«

Solche Pläne und Proben tragen den Charakter einer ganz besonderen Unbegreiflichkeit, die nur aus dem Seelenfieber der Leidenschaft erklärbar ist. Weiter läßt sich davon nichts sagen. Das Unverständliche aber: in dem Seelenringen der Liebenden hat es seine Verständlichkeit.

Es war drei Uhr nachts: Schlackerwetter mit Schnee vermischt im Monat Januar. Preysing begab sich mit dem Hotelwagen nach der Bahn, wo er – es war in München – seine von Zürich kommende ehemalige Frau erwartete. Sie kommt, sie fliegt ihm glückselig um den Hals. Man fährt ins Hotel, erregt von der Freude des Wiederfindens. Preysing hat einen Imbiß und Wein zurechtstellen lassen. Morgen will man die Reise nach Bremen und von da nach New York antreten. Man ist guter Dinge, speist und trinkt. Wiedersehen und Stille der Nacht fordern, wie immer, ihre Rechte.

Wiedersehen, Wiederhaben, Wiederbesitzen, Wiedergenießen und Stille der Nacht!

Da geschieht es, das Unerwartete.

Es klopft. Der Nachtportier reicht eine Karte herein. Man sieht sich an, man versteht das nicht. Ein cand. med.! – Preysing liest, der Name ist ihm unbekannt. Nun liest auch Frau Preysing die Karte.

Das Folgende muß man in der Erzählung Preysings gehört haben. Frau Preysing lacht auf. Sie findet sich scheinbar belustigt. »Das ist ein Irrtum«, sagt sie zu ihrem Mann. »Bitte, nur einen Augenblick!« Darauf schlägt sie sich oberflächlich den Mantel um und ist im Nu aus dem Zimmer verschwunden.

Preysing weiß nicht, ob, als sie heiter wieder erscheint, zwei, drei oder fünf Minuten vergangen sind; mehr, sagt er, können es nicht gewesen sein. Und schon fliegt sie ihm wieder in die Arme. Aber da wird sie ihm plötzlich so schwer . . . Und ob er es glauben will oder nicht, ob er zu Stein erstarrt oder nicht, er fühlt, er hat eine Tote im Arme.

Sie hatte dem unlösbaren Dilemma durch schnell wirkendes Gift ein Ende gemacht.

Das Erlebnis ist ungeheuer! Schwer, sich vorzustellen, wie jemand es überwinden kann.

Die Tote wurde in aller Stille aus dem Hotel geschafft. Ein Skandal ist vermieden worden. –

Das Auge Preysings ist nicht mehr das alte, der ganze stämmige bajuwarische Mensch nicht mehr im Gleichgewicht. Mehrere Nächte, gesteht er mir, habe er, unsinnig vor Schmerz, mit den leeren Kleidern seiner toten Frau im Bett gelegen, als ob er etwas von ihr damit festhalten oder wiedergewinnen könne, und vielleicht nur durch diesen Fetischismus sei er bewahrt geblieben vor dem völligen Niederbruch.

Wird er sich wieder ins Leben zurückfinden?

Er hatte, als das Schlimmste geschah, ein Porträt des Prinzregenten beendet und dafür den Titel Professor erhalten. Nun sollte die Reise um die Welt, zu der er mit vielen Empfehlungen ausgestattet war, ihm Ruhm, Geld und Frieden bringen. Nach der Heimkehr erwartete ihn eine Anstellung unter den berühmten Lehrern der Akademie.

Preysing schwieg lange, als er auch das erzählt hatte, und stürzte ein Glas des schweren Waadtländer Weins hinunter.

In mir wurde vieles aufgewühlt. Unwillkürlich vermischte sich Melittas Gestalt mit der jener unglückseligen Frau, die Ratlosigkeit in den Tod gejagt hatte. Wer konnte sich dafür verbürgen, daß bei Melitta diese Gefahr vorüber war?!

Vielleicht aber ist sogar etwas Schönes, etwas Großes, etwas Erhabenes um diese Gefahrenzonen des Lebens, wenn aus den Tiefen des Wesens die Gefühle schmerzhaft, wehvoll, brennend und auch wieder lustvoll aufbranden, wenn ein rätselvolles und peinlich groß geartetes Traumleben den Schlaf ersetzt, darin alle Geheimnisse des Urlebens brodeln und wiederum die Gefühle frei, mächtig, farbig und magisch bildergebärend wogen, dem von Stürmen aufgerissenen Meere gleich: große Worte, die wiederum an die Größe der Sache nicht heranreichen. Nennt das jemand sentimental? Glaubt jemand, ohne Gefühle zu sein? Genau so weit ist er ohne Gefühl, als der Mensch ohne Leben ist. Das Leben ist selbst ein bloßes Gefühl.

Wo werden wir unser Kind zur Welt bringen?

Preysing rät, wir sollen die Villa Diodati in der Nähe von Genf mieten, die Lord Byron einige Zeit beherbergt hat. Er kennt das Haus. Genf hat ausgezeichnete Ärzte. Man müßte selbst wirtschaften, eine Schwester und Dienstleute engagieren oder aus Deutschland nachkommen lassen. Es ist ein Gedanke, der aus manchen Gründen zu erwägen ist.

 

Genf, am 17. März 1900.

Wir haben mit Entschluß den Weg hierher gemacht. Die Gänge und Türspalten des großen Hotels, in dem wir wohnen, singen, klappern und brechen in stoßweises Greinen aus. Die Bise heult. Die unzähligen Windfänger auf den Dächern der Stadt Genf bewegen sich und schicken hie und da Quietschgeräusche in die sausenden Straßen. Es fehlte nicht viel, und der gewaltige Bergwind hätte uns, als wir aus der Stadt zurückkehrten, mitsamt unserem Droschkenwägelchen von der Brücke in die Rhone geweht.

Frau Trigloff ist heute gekommen. Frau Trigloff ist meine Wirtschafterin. Ich habe sie zunächst zur Dienstleistung bei Anja ausersehen, deren Befinden weibliche Hilfe nötig macht.

Die Gegenwart der immerhin erfahrenen Frau bringt eine gewisse Beruhigung.

Wir hatten das nachgerade notwendig.

Es ist hier nicht wie in Soana. Die große Welt, das große Hotel legt uns allerhand Rücksichten auf. Wir sind nicht als Ehepaar eingeschrieben, dürfen deshalb nicht auffallen, die äußere Form nicht außer acht lassen. Ich muß mit Besuchen in Anjas Zimmer vorsichtig sein, da die Hotelbediensteten Augen haben, und so konnte ich der Geliebten nur wenig Beistand leisten.

So führen wir auch getrennte Rechnungen.

Bei einer Lage wie der unseren ist vielleicht das allerärgste, in der Hand jedes übelwollenden Menschen zu sein. Man kann sich nicht eigentlich wehren, wenn man beleidigt wird. Noch sind wir von niemand beleidigt worden. Aber die Angst, unverschämt und verächtlich behandelt zu werden, ist immer wach. Das Personal jeden Hotels kennt die Verfassung genau, in der solche Paare wie wir sich befinden, und rechnet in solchen Fällen, daß man es mit besonders hohen Trinkgeldern, gewissermaßen Schweigegeldern, abfindet. Jeden Augenblick kann trotzdem ein Kellner oder ein sonstiger Hausbeamter erscheinen, der einem ein Briefchen des Direktors oder des Besitzers bringt, in dem man ersucht wird, das Hotel zu verlassen. Dann hätte man eine Erniedrigung zu quittieren, die nicht so leicht zu verwinden ist, und wäre außerdem obdachlos.

Ich hätte nie gedacht, in welcher banalen Bequemlichkeit des Glücks legitime Hochzeitsreisende sich befinden. Diese Bevorzugten ahnen es nicht.

Wir haben die Byron-Villa besucht: ein Gespensterhaus mit Täfelungen und Wandschränken. Gewiß, man wäre darin geborgen. Wenigstens Anja würde darin geborgen sein, denn ich würde wohl kaum im gleichen Hause mit ihr wohnen dürfen. Aber Anja fürchtet sich vor dem Ticken des Holzwurms und, wie gesagt, vor den Gespenstern einer versunkenen Zeit, denen sie nachts ausgeliefert sein würde. Selbst die Aussicht, dem großen Lord auf diese Weise als Geist zu begegnen, lockt sie nicht.

Es würde eine Glorie um das Kind legen, wenn es hier geboren würde. Manfred Diodatus könnte es heißen, falls es ein Knabe, Allegra, falls es ein Mädchen wäre. Manfred nach dem Drama des großen Dichters, Diodatus nach dem Ort der Geburt oder Allegra nach Byrons Tochter. Aber dieser Gedanke überwindet Anjas Schauder vor dem berühmten Hause nicht.

So wird dieser Plan also fallengelassen, und immer noch wissen wir nicht, wohin.

Unsere Hilflosigkeit ist auf dem Höhepunkt.

Wir erwägen dies, wir erwägen das. Manchmal ist es so weit, daß wir Schritte einleiten, werden aber im letzten Augenblick abgeschreckt. Die Erörterung dieser Frage, wohin mit uns, wird von morgens bis abends kaum ausgesetzt. Und nun, nachdem wir aus Deutschland geflohen, um in den kommenden schweren Zeiten verborgen zu sein, wollen wir plötzlich dahin zurück.

 

Pallanza, 1. Osterfeiertag 1900.

Anja ist mit Frau Trigloff von Genf nach Luzern vorausgegangen. Ich hatte mir meinen nun schon dreizehnjährigen ältesten Sohn in Begleitung eines jungen Verwandten, Lenz, nach Lausanne bestellt, habe die beiden dort in Empfang genommen und bin, ich weiß eigentlich nicht warum, mit ihnen hierher gereist. Malte ist ein verständiger Junge geworden. Trotz des Sorgenzustandes oder auch wohl gerade wegen des Sorgenzustandes, in dem ich bin, war der brennende Wunsch, ihn bei mir zu haben, nicht zu beschwichtigen. Gewisse Dinge unternimmt man aus keinem anderen Grunde, als weil man sie nicht unterlassen kann. So war meine Absicht – und diese ist teilweise durchgeführt –, als ich den Jungen zu mir beschied, ihn in die Sachlage einzuweihen.

Die Spannung, in der ich mich befand, ging – hat sie nun wirklich nachgelassen? – bis zur Unerträglichkeit. Eine Belehrung Maltes, eine Erklärung und Eröffnung meiner Lage sollte sie lindern. Ich wollte ihm eine Art Verständnis vermitteln und sein Vertrauen gewinnen, indem ich ihm das meine, und zwar wie einem erwachsenen Menschen, entgegenbrachte. Gelang es mir, so ist damit einer absichtlich oder unabsichtlich falschen und gehässigen Darstellung vorgebeugt, und ich glaube, es ist mir gelungen.

Hätte ich warten sollen, bis aus dem Knaben ein Jüngling geworden ist, irgendwelcher erziehlicher Gründe wegen? Es bleibt mir vielleicht dazu keine Zeit. Nicht nur, wenn ich zum soundsovielten Male mein Testament revidiere, sondern auch, wenn ich Malte in mein Schicksal einweihe, geschieht es hauptsächlich mit Rücksicht auf den Todesfall.

Ich bin nicht gesund. Ein unangenehmer Husten verläßt mich nicht. Ich vermeide, mich untersuchen zu lassen, obgleich ich öfters in verdächtigen Nachtschweißen liege, in der Furcht, man könnte feststellen, daß meine Lungen nicht in Ordnung sind. Gegen Speisen hege ich Widerwillen. Ich leide an immerwährendem Aufstoßen. Nur das Trinken gibt mir sozusagen eine Lebensmöglichkeit.

Ich kann nicht einsehen, warum man einen dreizehnjährigen Knaben nicht zum Mitwisser schwerer, gewissenhaft durchkämpfter Schicksale machen sollte. Das Wissen vom Schicksal seines Vaters und vom Kampf seines Vaters kann ihm in ähnlichen Fällen Trost bringen und ihn gegen sie stark machen. Freilich ist dies wohl kaum der Grund, weshalb ich auf den sonnenbrennenden Wegen der Gegend das Herz meinem Sohne väterlich ausschütte. Eigentlich weiß ich nicht aus noch ein und suche die Stütze, als welche mir nun mein Junge herhalten muß.

Und wirklich, der dreizehnjährige Bursche ist mein Freund. In einer Art platonischen Frage-und-Antwort-Spiels sind seine Äußerungen warm und leidenschaftslos, wie mir vorkommt, gerecht nach beiden Seiten. Natürlich hat er sich seit der Amerikafahrt und dem Wiedersehen in Hoboken die Jahre hindurch über die Art, wie Vater und Mutter lebten, Gedanken gemacht. Er ist mit ihnen der Wahrheit ziemlich nahegekommen. Es ist üblich, vom Scharfsinn der Kinder, vom Scharfsinn eines Dreizehnjährigen gering zu denken. Unendlich sind aber die Eindrücke und Erfahrungen, die er bis hierher mit frischen Sinnen, frischem Verstande und schnellem Urteil bereits bewältigt hat. Hatte ich ihm etwas Neues zu sagen? Wahrscheinlich habe ich nur im gerechten Vortrag unserer Geschichte Ordnung und Ruhe in das von ihm schon Gewußte gebracht.

Ich war beflissen, gerecht zu sein. Und es ward mir nicht schwer, den Gedanken der Schuld nach beiden, ja nach drei Seiten auszuschalten. Nichts, was ihm Anteil und Liebe an seiner Mutter irgend schmälern konnte, brachte ich vor. Und so darf ich mich wohl im großen und ganzen begründeter Hoffnung hingeben, daß auch nach dem, was bevorsteht, Entfremdung zwischen uns nicht eintreten wird.

Das Fernsein von Anja fällt mir schwer. Andrerseits tritt, wenn auch in schwächerer Form als früher, jene Erleichterung ein, die immer mit dem Fernsein von beiden Frauen verbunden war.

Der Dresdner Bau ist in Angriff genommen. Malte berichtet manches davon. Die Mauern sind bereits einige Fuß hoch über der Erde. Seine Mutter nimmt, wie Malte erzählt, großen Anteil daran. Im Mai aber wird der Bau in Waldbach begonnen, den ich mit Anja gemeinsam zu bewohnen entschlossen bin. Die Pläne dafür sind durchgesprochen, und, seltsam genug, gerade aus meiner allertiefsten Hilflosigkeit heraus habe ich heut den unwiderruflichen Auftrag zum Beginn einem Berliner Architekten erteilt und die erste Bausumme angewiesen.

Wir wohnen in einem großen Hotel, das voller Menschen ist. Malte ist groß und ein schöner Junge. Lenz, der Maler, bleich, bartlos, mit tintenschwarzem Schopf, wird, wie ich erfuhr, für einen Abbate und seinen Erzieher gehalten.

Natürlich gibt es da frohe Momente. Ein dreizehnjähriger Junge kann nicht traurig sein, wenn er zum erstenmal Ostern an den Ufern des Lago Maggiore verlebt, und ebensowenig ein Maler im gleichen Fall. Der Schönheit von Isola Madre und Isola Bella, den beiden Inseljuwelen, widersteht keine Traurigkeit, und wenn man in ihrer Nähe ist, ist man trotz allem und allem belebt vom elysischen Hauch seliger Eilande.

 

Waldbach im Riesengebirge, am 16. Mai 1900.

Es hat lange gedauert und unendlich viel Sorge gekostet, bis ich in diesem einsamen Bauernhäuschen gelandet bin. Es ist das letzte und höchste des Dorfes, wenige Schritte vom Waldrand gelegen. Wenn ich von hier eine kleine Stunde parallel dem Streifen des alten Granitgebirges durch den Wald wandere, treffe ich auf ein ebenso kleines, ebenso verborgenes Bauernhaus, das, wie meines, so ziemlich am äußersten Ende oder Anfang des Nachbardorfes gelegen ist. Von dort hierher und von hier dorthin kann man verkehren, ohne andre Menschen zu treffen als einen Förster, einen Waldarbeiter, ein altes Weibchen mit einer Hucke Holz oder einen mit Rucksack und Stock bewehrten einsamen Wanderer hier und da. So muß es sein, wenn wir ungestört und ungesehen einander besuchen wollen. Anja nämlich ist in jenem anderen Häuschen untergebracht.

Wir haben einige Tage gesucht, ein Verwandter Anjas und ich, bis wir diese Verstecke gefunden hatten.

Von der einen hauptsächlichsten Sorge: werde ich Anja behalten? sind einstweilen alle anderen zurückgedrängt. Jede Trennung, wenn ich tagsüber bei ihr gewesen bin, ist fast so schwer wie eine endgültige. Das Wetter ist schön, und so pflegt sie mich denn meist ein Stück durch den Wald zu begleiten, obgleich ihr das Gehen beschwerlich wird. Aber Anja ist schön im Zustand der Mutterschaft, und ich muß sie betrachten wie eine Heilige. Ein schlichter Ernst, eine Feierlichkeit ist über ihr, eine dienend stille Ergebenheit, die sich selbst mit der Möglichkeit eines nahen Todes abfindet. »Sollte es kommen«, sagt sie, »daß unser Kind lebt, ich aber nicht mehr bin, um meiner Liebe und meines Todes willen versprich mir, Titus, daß du es nie von dir lassen wirst!«

Die Krisis aber rückt näher und näher. Ich verberge mir nicht, daß morgen, übermorgen, in fünf, in sechs, in acht Tagen auch bei mir die letzte aller irdischen Entscheidungen vielleicht gefallen ist.

Nach langer Zeit zum ersten Male habe ich heut wiederum das Buch meiner Aufzeichnungen aus dem Koffer geholt. Diese Eintragung kann recht lang werden. Ich denke heut nacht nicht schlafen zu gehen. Ein Dauerzustand von allertiefsten Spannungen und Erregungen des Gemüts liegt hinter mir, den man vielleicht einen hohen, voll belebten nennen kann, aber ganz gewiß auch einen zerrüttenden. Es steht mit mir so, daß an Schlafen kaum noch zu denken ist.

Mein Sekretär namens Leisegang ist bei mir. Er sorgt in freundlicher Weise für mich. Er hat mir ein kleines Abendbrot auf den Tisch gestellt. Die gute Stube des Bauern ist mir eingeräumt, oben im Giebel liegt mein Schlafzimmer. Ein durch viele Granittrümmer immer wieder gestautes Bergwasser schickt sein Rauschen herein. Hinter ihm erhebt sich ein gewaltiger Block, genannt Tümmelstein, auf dem sich das ärmliche Anwesen eines Gebirgshäuslers festklammert. Hier und da tritt es im bleichen Lichte hervor, wenn schwache Gewölke den Mond freigeben, wo dann auch der breite Bach ein fließendes, schäumendes, stäubendes, gurgelndes Silber wird.

War nicht Heimweh vielleicht der stärkste Grund, weshalb ich hierhergekommen bin?

Anja ist gleichfalls gut versorgt. In der Küche ihres Häuschens schaltet mit einem ländlichen Mädchen meine Wirtschafterin. Eine mir und Anja befreundete Ärztin geht ihr eigentlich nicht von der Seite. Ein weiterer Schutz für sie ist ein naher Verwandter und seine Frau. Der Arzt des Ortes ist verständigt worden, und in Berlin ist ein junger Professor und Freund der Familie, zu dem sie besonderes Vertrauen hat, bereit, sich auf Anruf hierherzubegeben.

Warum ich dies eigentlich niederschreibe? Weil ich überhaupt schreiben, etwas tun, mich ablenken will. Diese Sorgen, diese Belastungen, Ängste und Bangigkeiten, Schicksalsstunden und Gehetztheiten machen müde und stumpfsinnig. Und so findet man nicht einmal mehr den Zugang zu dem, was einen bis zum Rande erfüllt, vermag sich nicht auszusprechen, nicht zu erleichtern.

Das Dorf Waldbach wird von drei Bergbächen in drei Täler zerrissen. Über dem von hier weitest entlegenen wird morgen der Grundstein zu unserm neuen Asyle gelegt. Das Haus, nach den Plänen, ist burgartig. Gebe Gott, daß es, im Sinne seines Zweckes, nach seiner Vollendung nicht überflüssig geworden ist. Man plant und baut, als ob man unsterblich wäre und sein Schicksal fest in der Hand hätte. Aber wer kann auch nur für den Ausgang dessen gutsagen, was vielleicht morgen geschehen wird?!

Schlierke erreicht man von hier in etwa anderthalb Stunden. Aber bei dem, was geschieht, bleiben Mutter, Schwester und Bruder ausgeschaltet. Sie können mit ihren ängstlich schweigenden Mienen und frostig abgewandten Gesichtern mir weder Trost noch Stütze sein.

 

Waldbach, am 18. Mai 1900.

Was ist mir eben begegnet, eben geschehen?

In diesem Augenblick bin ich von drüben zurückgekehrt. Ich war bis in die Nähe ihres Häuschens gelangt, das jetzt ihre Folterkammer ist. Dort hörte ich etwas wie den Schrei eines Tieres unterm Messer, der mich in blindem, feigem Entsetzen aus dem Bereich des Hauses fort in den Wald jagte.

Aber wo ich auch war, ich hörte den Laut, wo ich auch bin, ich höre das arme, gemarterte Tier schreien.

Wir trennten uns gestern abend gegen sieben Uhr. Der Abschied war uns besonders schwer. Wir schieden an einer Stelle des Weges, die etwa in der Mitte zwischen Anjas Wohnort Silberlehne und Waldbach liegt. Auf einer grünen, gestrichenen Bank, die dort steht, saßen und sprachen wir miteinander, bis Anjas Verwandter und seine Frau erschienen, um ihr auf dem Rückweg zur Seite zu sein. Wieder und wieder sah sie sich um und winkte mit ihrem grünen Schleier, ehe sie meinen Blicken entschwand.

Heute untertags mußte ich allerlei Liegengebliebenes aufarbeiten. Das hatte ich ihr schon gestern gesagt. Zwischen fünf und sechs Uhr sollten wir uns auf der bekannten Wald- und Bergstraße entgegenkommen. Im ersten Viertel des Weges traf ich sie nicht. Als im zweiten Viertel ebenfalls nichts von Anja zu sehen war, trotzdem ich mich etwas verspätet hatte, wurde ich unruhig.

Ich hatte die Pausen des Bauplans in der Tasche. Ich wollte ihr zeigen, wie die Lage und Art ihrer eigenen, besonderen Zimmer beschaffen sein würde. Ich dachte, daß sie die Vorstellung dessen, was bei gutem Ausgang hinter der schweren Stunde lag, erfreuen und von dem Gedanken an diese ablenken müßte.

Als ich nun aber bei jeder Wendung des Weges vergeblich nach ihrem Anblick geschmachtet hatte, nestelte sich mehr und mehr die Angst an mich, es könne in Silberlehne nicht alles in Ordnung sein. Ich wußte, wenn Anja mir nicht entgegenkommt, so kann sie nur physischer Zwang davon abhalten. Es gibt keine andere Erklärung bei ihr.

Was ich erlebte und was ich empfinde, auszudrücken, steht in der Macht von Worten, in der Macht einer Sprache nicht.

Auf dem letzten Viertel des Weges zu ihr war ich nicht ein normaler Mensch. Die Natur bekam eine Sprache: die Wand zwischen ihrer Seele und meiner schien niedergerissen. Im Gebirge wurde ein Baum gefällt. Der Gongton des Falles, der über das unendliche Waldgebiet bis zu mir herunterhallte, war das, weshalb er gefällt worden war, nämlich die mir in dieser Weltsekunde zugedachte Mitteilung. Nun war ich von dem, was sich zutrug, unterrichtet. Ein Rauschen, das durch die Fichten ging und ihre Zweige auf unzweideutige Art bewegte, war die allgemeine Teilnahme, die der große Schicksalsaugenblick, in dem Anja und ich und ein drittes Wesen nunmehr standen, im Walde erregte. Es ging ein Erwachen, Sich-Ermannen, ein geistiges Gegenwärtigwerden durch die Reiche des scheinbar Unbeseelten. Ich staunte, ich konnte es nicht begreifen, wie es jemals möglich war, alle diese Geräusche und Bewegungen für etwas anderes als Winke, Anrufe, Ermutigungen, Tröstungen und darüber hinaus für Andeutungen eines wahren, höheren Daseins zu halten. Bethlehem, die Schalmeien und Gesänge der Hirten auf dem Felde, die Erscheinung der Engel mit dem Ruf »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« schienen, noch unsichtbar, nahe zu sein und auf den Augenblick ihrer Betätigung nur zu warten. Schenke ich meinem Fall hierdurch nicht wieder eine allzu große Bedeutsamkeit? Ich meine nicht. Denn auch die traulich erhabene Legende von Bethlehem ist aus dem tiefen Erleben einer einzigen Menschenseele entstanden, und ein Vorgang, der im Allerheiligsten geschieht, verliert, auch wenn er sich täglich und stündlich erneuert, wie das Geborenwerden von Menschen, nur in den Augen des vom Grund aus Unheiligen etwas von seiner Heiligkeit.

Aber ich schweife ab, ich verwirre mich. Ich wollte schildern, in welchen Zustand ich durch die Ahnung der Wahrheit versetzt wurde. Es ist der, in dem ich auch noch im gegenwärtigen Augenblicke bin. Das Rauschen des Baches vor der Tür, der Flug eines Vogels, das Gurren einer Haustaube unterm Fenster, das Blitzen einer Lichtbrechung unter den Porzellan- und Glasschätzen der bäuerlichen Vitrine, die mein Zimmer schmückt, alles ist das Verhalten von Mitwissenden. Unzählige Augenblicke solcher sinnlichen Zeichen lösen sich ab, gleichsam wie immer neue Bulletins, ausgegeben am Bette Anjas, von dem großen Geist der Verantwortlichkeit, von den Myriaden bedienender Hände der Natur übermittelt.

Wer ruft da? Mit lauten Schlägen wird an der Haustür angepocht. Leisegang geht hinaus, um zu öffnen . . .

*

Ein Kärtchen, und ich bin wieder, der ich gewesen bin. Das Kärtchen besagt: Ein gesunder Knabe ist angekommen. Die Mutter befindet sich, den Umständen angemessen, wohl.

Schalmeien, Hirten, Engel: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!

Tutti, himmlische Chöre! Te deum laudamus! Te deum laudamus! Gott! Gott! Amen, Amen, Amen. Te deum laudamus! Te deum laudamus! Lauter, lauter: Bäche, Vögel, Bäume, Gras, Himmel, Erde: Te deum laudamus!

 

Waldbach, am 2. Juni 1900.

Ich habe einen ungeheuren Brummschädel. Im Hause »Zur schönen Aussicht«, wie die Geburtsstätte meines Sohnes Manfred Diodatus heißt, wurde sozusagen ein Tauffest ohne Pastor gefeiert. War es eigentlich im Hinblick auf die Wöchnerin, die oben im Giebelzimmer wohnt, richtig, daß wir in dem darunterliegenden Raum zu ebener Erde bis gegen drei Uhr morgens einen so wüsten Lärm machten? So ungefähr gegen den Schluß zerschmetterte ich noch, nachdem ich es auf das Wohl des Täuflings geleert und weil es nach diesem Akt niemand mehr gebrauchen sollte, mein Glas an der Wand.

Niemals wurde ein Erdenbürger von seiner ersten, geheimnisvollen Anmeldung an bis zu seinem Eintritt in die Welt mit größerer Freude willkommen geheißen.

Wie schön doch Anja in ihrer Schwäche ist! Welche ungeahnte neue Macht gewinnt ihre neue Schönheit über mich! Wie rührend zurückhaltend ist ihre Hilflosigkeit! Dieses der Stille bedürftige, tiefe, zarte Glück behält für den etwas derben, bakchantischen Kreis ihrer Umgebung ein schonendes Verstehen, wogegen sie mir allerdings mitunter eine sorgenvolle Klage, der angeblich lieblosen Betreuung des Kindes wegen, ins Ohr flüstert.

Irgendein plötzlicher Impuls hatte noch spät am Abend meinen Bruder Julius von Grünthal nach dem Hause »Zur schönen Aussicht« geführt. Man wandert von da vier Stunden dorthin. Etwas dergleichen trotz aller Widerstände der Umgebung plötzlich zu tun und so einer guten Regung zu folgen liegt von je in seiner Art. Vielleicht war es nun sogar seine Gegenwart, wodurch meine an sich frohe Laune so gesteigert wurde, daß ich schließlich ganz aus dem Häuschen kam.

In dieser Nacht, in welcher das Schicksalhafte hinter den dünnen Mauern, inmitten der weiten, rauschenden Bergwälder von uns so aufwühlend empfunden wurde, waren wir beide, mein Bruder und ich, wieder die alten begeisterten Jünglinge, und dieser kleine, fauchende Säugling, den die sauber gekleidete weise Frau einen Augenblick herunter an unseren Tisch brachte, wo wir ihn bewunderten, war uns gleichsam der göttliche Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts höheren Menschentums.

Im übrigen ist es erstaunlich, welche Veränderung mein Wesen durch das Dasein des Kindes erfährt: der letzte Rest einer Unsicherheit in der Frage, ob recht oder unrecht, wohl oder übel, vorwärts oder rückwärts, auf mein und Anjas Verhältnis bezogen, ist mit dem Dasein des Kindes aus der Welt geschafft. Es braucht keines Pfarrers, keines Beichtigers, wo der Schöpfer selbst ein Geschöpf nach seinem Ebenbilde hervorgerufen hat. Wer dies nicht fühlt, ist nicht einmal in den äußersten Vorhof wahren Wissens eingetreten.

Nun aber heißt es, dieses Knäblein wie ein neuer Christophorus auf den Nacken nehmen und durch allerlei rauschende Bergwässer rettend hindurchtragen, ähnlich dem, das unter meinen Fenstern zu Tale stürzt. Wird mir das Knäblein einstmals zu schwer werden?

Manfred Diodatus, die Burg – das Kastell, würde Don Quijote sagen – auf dem Hügel zwischen dem zweiten und dritten Bergbach des Dorfes, zu dem die Werkleute eben den Grund legen, wird für dich errichtet! Nicht nur, daß du der Urheber des Gedankens dazu bist, du bist Bauherr, bist Architekt und Nutznießer. Anja und ich sind nur gleichsam die Anhängsel.

 

Waldbach, am 22.Juli 1900.

Das Haus ist gar kein Ding an sich selbst, sondern nur eine Erscheinung, d. i. Vorstellung, deren transzendentaler Gegenstand unbekannt ist.

Immanuel Kant

Wasserwaage und Lot, Lot, Wasserwaage und Bindfaden. Der Bindfaden macht die idealen Linien materiell. Waagrechte Linien, genau nach der Wasserwaage ausgewogen, senkrechte Linien genau nach dem Lot. Die Spinne aber, welche das webt, ist der Maurerpolier, ist ein kleiner, flinker, beweglicher Mann. Er scheint mitten in seine Netze verstrickt. Was er webt, sind die Grund- und Aufrißlinien meines künftigen Hauses. Danach werden die Fundamente gelegt, aus denen Mauern hervorwachsen.

Dieser Eindruck ist überholt. Heute, als ich mit Anja, die wieder leidlich wohlauf ist, den Bauplatz besuchte, ragten bereits kleine und große Werkstücke aus Granit über den Boden hervor. Arbeiter sahen wir nicht, da es Sonntag war. Wir schritten in rechteckigen Feldern, den Grundflächen unserer künftigen Zimmer, umher und konnten bequem von einem zum anderen steigen. Es gelang uns dagegen nicht, uns das künftige Haus auf Grund dieses nüchternen Zirkelwerkes lockend und wohnlich vorzustellen.

Das Gras des Hügels, auf dem die Fundamente sich abzeichnen, war von Tritten zerquetscht, von Hufen zerwühlt und von Räderspuren durchfurcht. Rohe Granitblöcke lagen umher oder Trümmer von solchen, durch Meißel oder Dynamit gesprengt. Hier und da auch fertige Werkstücke. Regelmäßig aufgeschichtete, nach Tausenden zählende Ziegel standen herum. Alles war mit vieler Mühe, vielen Menschen- und Pferdekräften herbeigeschafft worden. Die Fuhrknechte gaben dabei ihre wildesten Schreie, die brabantischen Pferde ihre letzten Kräfte her. Der Bauplatz war ohne Rücksicht auf Zufahrtsstraßen gewählt worden.

Hatte Julius auch wohl dabei ein wenig an sich gedacht, als er mich darin bestärkte, meine neuen Wurzeln hier und nicht in Grünthal einzusenken, oder mir eifrig wegen des Grundstückes mit dem Bauern verhandeln half? Und Schwester Charlotte, die an Julius mehr als an irgendeinem anderen Menschen hing, was war ihr wohl, als sie später mit großer Federgewandtheit den Kauf mit dem Bauern perfekt machte, durch den Kopf geblitzt? Dachte sie nicht am Ende daran, daß Julius dadurch aller Wahrscheinlichkeit nach in Grünthal und in meinem Grünthaler Hause Alleinherrscher wurde? Wie dem auch sei, ich hätte es nie über mich vermocht, dort mit Anja einzuziehen, wo ich einst mit Melitta gehaust hatte.

Genug. Ich stehe und gehe mit Anja auf dem neuen Lebensgrund. Wir wollen etwas von der Zukunft vorwegnehmen, die sich schneckenhausartig schützend um und über Manfred Diodatus wölben soll. Ich sprach Anja, die noch immer weich und ein wenig müde ist, von dem Schnurengewebe des flinken Maurerpoliers, der, ohne es zu ahnen, an unserem künftigen Schicksal wob. Und wer unter allen, die für diesen Bau zusammentragen, ahnt etwas davon!

Der Tag ist schön. Kirchenglocken klingen aus fernen Tälern herauf. Vor uns liegt der Wall des Gebirges mit der Kleinen und Großen Schneegrube, der Großen Sturmhaube und dem Hohen Rad. Gegenüber, durch einen Bergbach getrennt, liegt ein Haus, in dessen Kellerlokal italienische Arbeiter singen: das Feuer und die Schönheit ihres Gesanges sowie ihrer Stimmen ist in diesen Bereichen ein fremder Laut. Es sind jene Leute, die man für den Bau unseres neuen Asyls herangezogen hat.

Italienische Hände also erbauen das deutsche Asyl. An einem gewissen Punkte meines Schicksals sind sie da und greifen ein. Ich war ebenso erstaunt über sie und über ihr Auftauchen wie der ganze kleine Ort. Und überhaupt, was wurde da plötzlich in seiner Mitte ganz ohne alle Vorbereitung, gänzlich überraschend, für ein gewaltiger Bau errichtet?! Er war wohl gewaltig, da man ja nur kleine, geduckte Hütten zum Vergleich hatte. Was stellte er vor? Weshalb wurde er gerade hier errichtet, in einer abgelegenen Welt, die noch nicht einmal durch die Landstraße mit dem allgemeinen Verkehrsnetz verbunden ist? Es mußte den Leuten vorkommen, als sei der Mond vom Himmel und mitten in ihr Dorf gefallen. Um ihn anzufeinden, war er zu groß, aber es mochte doch in Waldbach Leute geben, die das versuchten und Unrat witterten. Anja meinte sogar, wir säßen doch ein wenig zu sehr mitten in dem kleinen dörflerischen Ameisenhaufen drin.

Sofern ich alles dessen gedenke, widerstrebt es einigermaßen meiner Bescheidenheit. Es meldet sich eine Stimme in mir, die in alledem einen unverhältnismäßig großen Aufwand sieht um etwas herum, das eigentlich nur eine schlichte Angelegenheit der Seelen ist. Dieser planende Architektenkopf, dieser Maurermeister und Zimmermeister, dieser Maurerpolier und Zimmerpolier, diese Zimmerleute und Maurer, diese deutschen und italienischen Arbeiter, Handlanger, Tischler, Schlosser, Schmiede, Maler, Elektrotechniker und so fort anderthalb Jahre lang beinahe nur für mich beschäftigt: ich leugne nicht, daß mich neulich in ihrem Getriebe etwas wie böses Gewissen, zum mindesten eine leise Verlegenheit befallen hat. Nun, die Sache ist jetzt im Zug, und es gibt kein Aufhalten.

Bin ich eigentlich, sind wir eigentlich anspruchsvoll?

Wenn ich diese Frage stelle, so meldet sich als Antwort das Nein. Das sehr entschiedene Nein weist auf Manfred Diodatus' sowie unseren hilfsbedürftigen Zustand hin, auf die feindlichen Mächte in Gestalt von giftigen Zungen, vor denen uns eine Burg schützen soll. Und der alte Höhlenbewohner Mensch braucht auch auf höherer Stufe die Höhle, die ihn umgrenzt, sichert und dadurch auf ihre Weise befreit. Vielleicht half sich nicht nur die Sprache auf durch den gleichsam spiegelhaften Widerhall von der Höhlenwand, sondern es wurde auch das erste Schriftzeichen, das erste Bild einer Höhlenwand eingeritzt und anvertraut. Kurz, wir wollen uns ein- und ausleben und dadurch, inmitten der allgemeinen, unsere eigenste, ausschließende Welt gründen. Eitelkeitsgefühle, Fassadengefühle haben wir nicht.

Die gerade Linie gibt es nicht, außer in unserem Kopf, ebensowenig den rechten Winkel. Sie gehören ins Reich der Idee. Und ins Reich der Ideen gehört unser künftiges und jedes menschliche Haus, ins Reich der Ideen, die verwirklicht sind. Ich durfte, mit Anja auf der Grundfläche des unseren stehend, es mit gutem Gewissen und vollem Recht, trotz der harten Hände, die es mühsam erbauen, und des Schweißes, der darum von Mensch und Tier noch fließen wird, eine hohe und reine Idee nennen.

 

Berlin-Grunewald, am 10. Januar 1901.

Ich schreibe im Bett. Auf einer Reise nach Waldbach habe ich mir eine Grippe zugezogen. Es konnte kaum anders sein, wir waren für einen Winter, wie er im Gebirge tobte, nicht vorbereitet. Ein Jugendfreund, ein Musiker, begleitete mich.

Ich war allein, ich hatte ihn nötig.

In der phantastischen Bilder- und Hieroglyphensprache des Traums, wie sie ein Romantiker nennt, tritt bei mir in diesen Tagen eine nächtlich umheulte, in Schneegestöber und stürmender Finsternis fast begrabene Ruine auf, deren Fenster mit Brettern notdürftig verschlagen sind, in deren verfallenen Kaminen Feuer jagen und fieberhaft huschende Lichtflecken über zermorschte Decken und Wände öder Räume ausstreuen.

Diese Ruine ist nichts anderes als das Nachbild meiner Burg, die im Gebirge errichtet wird, nur daß es nicht so schauerlich und so trostlos ist wie der Eindruck, den ich bei unserem Besuch von ihr hatte.

Bei einem Schneesturm, der mit höchster Gewalt von der Sturmhaube und von den Schneegruben herunterfiel, kämpfte sich unser Wagen von Quolsdorf gegen Waldbach hinauf. Wir blieben stehen, die Pferde mußten verschnaufen. Dann ermannten sie sich und krochen wie Schnecken weiter bergan. Der Landauer konnte geschlossen keinen Schutz bieten. Es war Tag, und doch schien es zuweilen Nacht zu sein. Der Luftdruck verhielt einem manchmal den Atem. Höchstens auf meinen Seefahrten hatte ich Ähnliches kennengelernt.

Aber von einem gewissen Gasthof Waldbachs an kamen wir nur noch zu Fuß, mit Aufbietung aller Kräfte bergan. Schließlich erreichten wir so durch einen Graus, gegen den der weiter unten erlebte nichts bedeutet, den schneeverwehten, von Schneewolken umrasten Bau, in dessen Innerem – er ist unter Dach, seine Fensteröffnungen hat man mit Brettern vernagelt – man tatsächlich trotz des Wetters arbeitete.

Ein Durcheinander von lauten Geräuschen begrüßte uns, als wir eintraten. Das Niedersausen von Hämmern auf Nagelköpfe, das lauter und lauter wird, je weiter der Nagel in das Holz getrieben ist, und ehe es abschließt, am lautesten, wenn Nagelkopf und Holz eine Ebene sind, das Fallen von Brettern, das Rauschen und Fegen von Tischlerhobeln, das Schelten des Maurerpoliers: dies alles verbindet sich mit dem bissigen Pfeifen und Greinen des ausgesperrten Sturmwetters, das immer wieder Wolken von Flocken durch alle Ritzen treibt. Leitern, Gerüste tragen uns. In einem Saal, der frei liegt, wird am Kamin Leim gekocht. Das Feuer dazu wird mit Hobelspänen in Gang erhalten. Selten in meinem Leben hat etwas einen so bis zum Erfrieren frostigen, grönländisch öden und, im Höhlenlicht des frühen Winterabends, einen so infernalischen Eindruck gemacht. In dieser Gegend ein Haus zu errichten mutete wie der Gedanke eines Tollhäuslers an, und ich bin mir als solcher vorgekommen. Kurz, jeder Hammerschlag, jeder Hobelzug in dem finsteren, wilden Werdezustand des Neubaus tat mir weh, und es war mir, als müßte ich den Handwerkern in den Arm fallen und Hammer, Säge, Hobel und Maurerkelle aufhalten.

Ich floh, ich suchte so schnell wie möglich wieder ins Tal zu kommen.

Auch in meinen Fieberträumen herrscht dieser unüberwindliche Widerspruch. Mein arbeitender Geist sucht vergeblich über ihn hinwegzugelangen. Ich will etwas, was ich zugleich nicht will. Aber der Versuch, es nicht zu wollen, stößt jedesmal auf ein hartes, unüberwindliches Hindernis.

Auch dieser Traum, der mit einem angstvollen Auffahren endet, hat sich in den Fiebernächten der letzten Woche oft wiederholt: Anja und ich, Manfred Diodatus abwechselnd tragend, schleppen uns mit dem Kinde durch das Schneegestöber zu unserem Asyl hinauf. Wir finden es, wie ich es gefunden habe, ins Furchtbare gesteigert, an eine Bulge des Dante erinnernd. Es ist das Gegenteil eines Asyls, eine Ruine mit offenem Dach, in der nicht ein regen-, schnee- oder sturmsicherer Winkel für uns zu finden ist.

 

Soana, am 25. Februar 1901.

Wiederum sind wir geflohen, Anja und ich, haben uns aus Nebel und Nacht hierhergerettet. Unsere Lage ist nicht mehr die vom vergangenen Jahr, als wir ruhelos mit dem Ungeborenen herumirrten. Wir ließen den kleinen Manfred Diodatus in Anjas Wohnung in der Hut einer zuverlässigen Pflegerin. Täglich wird er von einer Ärztin besucht, wöchentlich mehrmals sehen befreundete Frauen nach ihm.

Das Dresdner Haus ist von Melitta und den Kindern bezogen worden. Ich habe sie wenige Tage später besucht und das neue Asyl mit den Meinen durch ein kleines Fest eingeweiht. Dabei probierten die Kinder den großen Hallenkamin, indem sie ihn dermaßen mit Holz vollstopften, daß die Flamme, wie Nachbarn feststellten, aus dem Schornstein schlug.

Ich unterlasse es, meine innere Lage bei dieser nun vollendeten Neugründung und während der kleinen Feier zu schildern. Ein in Dresden praktizierender Arzt, dessen Frau, eine Ärztin, und ihre beiden Kinder, Knabe und Mädchen, waren da, und die überschäumende Freude der Jugend wirkte ansteckend. Die Tage dieses Besuches sind eigentlich ohne erhebliche Störungen vorübergegangen.

Was Melitta übrigens denkt und was in ihr vorgeht, durchschaue ich nicht. Sie scheint sich der neuen Phase unseres Verhältnisses bewußt zu verschließen. Auch weiß ich nicht, inwieweit sie von den Vorgängen in Silberlehne und Waldbach unterrichtet ist.

Das Wohnen und Hausen in dem neuen, schönen Asyl an der Elbe hatte sehr viel Anheimelndes. Welch ein ausgesuchtes, befriedetes Glück täuschte der Zustand, in dem wir lebten, uns vor! Zimmer und Söller mit Blicken über den belebten Strom, jenseits an steigenden Ufern die Albrechtsschlösser, die schöne, lebenslustige alte Königsstadt ringsumher. Was mußte ich dagegen empfinden, wenn ich an die sturmumraste Höhlung in Waldbach dachte, drin die Dämonen hobelten, sägten und hämmerten?! Das konnte vielleicht eine Burg werden, zu Schutz und Trutz in die kosmischen Ödeneien der Lebenswildnis hinausgerückt, aber niemals konnte sich darin wie hier echtes Bürgerglück und wahres, warmes Bürgerbehagen entwickeln.

In dieses schöne Landhaus am Fluß fiel man wie in ein gemachtes Bett, solange es einem gelingen konnte, den gegebenen Zustand für voll zu nehmen. Dort fand auch die müde Seele ihre volle Bequemlichkeit. Denken und Sprache ruhten in dem lustig-saloppen Verkehrston aus, der sich in Familienkreisen bildet. Nöte und Mühe, diesen Zustand aufrechtzuerhalten, etwa gar zu rechtfertigen, gab es nicht. Alles, was in Waldbach mit vielem Für und Wider erwogen und gegen Widerstände der ganzen Welt durchgesetzt werden mußte, ergab sich in diesem Heimwesen ganz von selbst. Man brauchte die Schlafmütze tagelang nicht von den Ohren zu ziehen, und der ordnungsmäßige, selbstverständliche Gang des bürgerlichen Anwesens erlitt trotzdem keine Einbuße.

Der Bergfried, wie Anja und ich unser Asyl in Waldbach nennen wollen, ist durchaus eine Gründung für sich. Er steht nach Bestimmung und Lage außerhalb des Bürgertums. Er hat einen festen, gedrungenen Turm, der die Dämonen schrecken und einer Welt von Feinden Trotz bieten soll. Er riecht nach Wehrgängen, Bastionen und Schießscharten. Sein Inneres, wenn erst der Bergfried einmal bewohnbar ist, denke ich mir heimlich-unheimlich, eine Stätte bedrohter Sicherheit.

Anja hat nichts dagegen, wie sie sagt, wenn ich nach unserer Rückkehr im Frühjahr einige Wochen in Dresden zubringe. Ich gestehe mir ein, daß mein Zug nach Waldbach augenblicklich ein schwächerer ist. Während mich das eine vertraulich lockt, sendet mir das andere leise Schauder. Die Seele aber, die das helle, freundliche Haus am Elbufer, wie eine Taube ihren Söller, am Tage umkreist, umschwebt den Bergfried des Nachts mit Fledermausaugen, Fledermauszähnen und Fledermausflügeln.

Melitta und ich, wir haben uns viel in dem großen Arbeitsraum aufgehalten, der in dem neuen Hause für mich vorhanden ist. War es nicht, wenigstens was mich betrifft, unsinnig, wenn wir über die beste Art, ihn einzurichten, uns berieten und nachdachten? oder wenn ich mich selber darin am Werk, in friedlich-fruchtbarer Arbeit sah, als ob ich noch Herr meiner selber wäre? Die Kinder, hieß es, durften hier ungerufen nicht hereinkommen, höchstens wenn sie etwa, mir das zweite Frühstück zu bringen, von Melitta beauftragt waren. Aber nur selten würde das sein, da sie es mir wohl immer persönlich darbieten würde. Es ist nicht zu leugnen, daß sie eine sorgliche Hausfrau ist, was man von Anja nicht sagen kann.

Ich freue mich sehr auf die kommende Dresdner Frühlingszeit. Sie, ich möchte sagen, gedankenlos auszukosten soll meine Aufgabe sein.

Gott sei Dank durchleben Anja und ich nun ebenfalls einigermaßen ruhige Zeit. Wir können uns, weniger aufgewühlt, unseren Aufgaben hingeben. Ich arbeite viel, und Anja übt den ganzen Tag.

Uns beglückt eine Ruhe nach dem Sturm. Über Manfred Diodatus, ein wohlgebildetes Kind, kommen täglich gute Nachrichten. Anlaß zu irgendwelchen besonderen Sorgen seines Befindens wegen gibt er nicht. Anders ist es mit dem, was seine Zukunft betrifft. Aber morgen ist auch noch ein Tag.

Soeben erhalte ich einen Brief, in dem Melitta mir mitteilt, sie erwarte mich etwa Mitte März, ich möge nur nicht zu lange ausbleiben. Die Kinder bestürmen sie täglich mit Fragen, wann ich denn endlich heimkehren werde.

 

Dresden, Haus an der Elbe, am 22. März 1901.

Melitta hat mir eine derbe und nicht mißzuverstehende Lehre gegeben. Begreife ich gleich nach ihrem letzten Brief ihre Handlungsweise nicht, so muß ich mir doch bekennen, sie ist willensstark und durchgreifend. Hatte ich mich wieder einmal in törichte Illusionen eingelullt, so bin ich, womit mir recht geschieht, gründlich ernüchtert worden. Der Nachtwandler ist vom Dache gestürzt, von dem unsanften Anruf Melittens geweckt.

Ich schreibe dies im neuen Haus an der Elbe, im Morgendämmer, nach einer durchwachten Nacht. Meine Lage ist ebenso übel wie lächerlich. War diese Sache von Melitta vorbedacht, so bin ich in eine Falle gegangen. Gewann sie im letzten Augenblicke nicht die Kraft, mich wiederzusehen, und verließ aus diesem Grunde das Haus, wie geschehen ist, so wird man sie einer solchen Bosheit nicht beschuldigen. Wie es immer auch sei, im Grunde muß ich ihr für eine so klare Sprache dankbar sein, für den Trennungsschnitt, den sie mit entschiedener Hand nun gezogen hat.

Es scheint festzustehen, daß Melitta bei ihrer Schwester in Leipzig ist. Indem sie mir das Haus allein überließ, hat sie es mir für immer verschlossen. Damit ist meiner viel zu lange getriebenen Pendel- und Zwickmühlenpolitik ein Ziel gesetzt.

Wer der irrigen Meinung ist, eine Stufe abwärts steigen zu müssen, und so vorwärts schreitet, kann sich das Bein brechen. Als mich Melitta auf dem Dresdner Hauptbahnhof nicht erwartete, habe ich keinen Verdacht geschöpft, denn ich war gewiß, sie in unserem Hause anzutreffen. Als mir das Gartentor, das Hausportal geöffnet wurde, war ich dessen immer noch gewiß. Die Begrüßung der Kinder mochte etwas weniger stürmisch als früher sein, ins Bewußtsein kam es mir nicht, da ich in der nächsten Minute ihre Mutter zu sehen erwartete.

In der Halle mit dem großen Kamin war sie nicht. Ich dachte, sie sei in ihrem Zimmer. Ahnungslos stieg ich die Treppe hinauf.

Oben traf ich auf das Hausmädchen. Sie öffnete mir den Raum, in dem man für mich das Nachtlager aufgeschlagen hatte.

Noch immer nichts ahnend, fragte ich nach der gnädigen Frau.

Ihr Gesicht war ein wenig befremdet – oder war es schadenfroh? – bei dem Bericht, die gnädige Frau sei irgendwohin gereist.

Melitta hatte mir damit nicht den Stuhl, wohl aber das neue Haus vor die Tür gesetzt. Sie hatte es mir vor die Füße geworfen. In ihrem Verhalten lag der Gedanke: Genieße dein Recht, genieße dein Haus – aber ohne mich. Lieber, als dies alles mit dir zu teilen, bin ich obdachlos. Hatte sie mir das früher verborgen? oder war es ihr jetzt erst eingefallen?

Eine leichte Bestürzung muß bei dieser Nachricht in meinem Betragen sichtbar geworden sein.

Was mir hier hinunterzuwürgen vorbehalten war, hatte mit dem Streich von Paris eine verzweifelte Ähnlichkeit. Auch die Wirkung, obgleich schließlich weniger stark, war eine ähnliche. War Melitta wirklich nach Leipzig zu ihrer Schwester gereist, so hätte sie mir doch wohl müssen einige ihren Schritt erklärende Zeilen zurücklassen. So aber hatte sie mit der peinlichen Überraschung gerechnet, der sie mich aussetzte. Sie konnte mich überdies noch tiefer treffen, wenn Angst, mich trotz der Hoffnungslosigkeit unserer Umstände wiederzusehen, sie im letzten Augenblick gepackt und einen Zusammenbruch bewirkt hatte. Wer konnte dann wissen, ob sie nicht vielleicht irgend etwas Überspanntes getan hatte! Wenn auch das sogenannte Gift, das unser Freund Dr. Hüttenrauch ihr vor Jahren gegeben, nur gestoßener Zucker war, das Elbufer war ja in der Nähe.

Ich rief sogleich Malte in mein Schlafzimmer. Er beruhigte mich: die Mutter sei gestern schon nach Leipzig zu Tante E. gereist, man habe sie und ihren Koffer an die Droschke gebracht, sie wolle etwa acht Tage fortbleiben.

Ich aß mit den Kindern zusammen ein ziemlich trauriges Abendbrot. Wären sie nicht gewesen, ich hätte mein Quartier in das nächste Hotel verlegt, denn ich konnte es kaum im Hause aushalten. Der böse Blick der gekränkten Frau schien es in eine Ruine, in ein Verlies verwandelt zu haben, in dem die Seele inmitten einer Galgenfinsternis gemartert wurde. Nunmehr war zwischen dem winterlichen Bergfried und diesem Hause kein Unterschied. Melitta selbst hatte die Dämonen herbeigerufen und ihnen durch einen Wink ihrer Laune Einlaß gewährt.

Ich weiß, welcher Wendepunkt heut erreicht worden ist. Mag Melitta auch wirklich, während ich hier wach sitze, in dem behaglichen Heim ihrer Schwester einen traumlosen Schlaf schlafen, mag in mir nicht nur die Angst um ihr Leben, sondern auch meine egoistische Enttäuschung überwunden sein, in dieser Stunde muß ich mir sagen, daß die wirkliche Trennung von Melitta eingetreten ist. Sie aber, die ich zu sehen, zu umarmen hoffte, werde ich nun, wie ich mit einer taghellen Einsicht schmerzhaft erkenne, nicht wiedersehn.

 

Waldbach, am 8. Juli 1901.

Wäre ich nicht so tief ins Leben verstrickt, ich könnte nun wohl mein Waldbuch schreiben, meine Upanishad, nach Art indischer Einsiedler. So aber kann mein augenblicklicher Zustand nur vorübergehend sein.

Seit Wochen lebe ich hier allein in demselben kleinen Bauernhaus am Ende oder Anfang des Dorfes, das ich bei Manfred Diodatus' Geburt innehatte. Der Bach vor der Tür füllt wieder Tag und Nacht meine Wohnung mit seinem Rauschen. Im Dorfwirtshaus nehme ich meine Mittagsmahlzeit ein, im übrigen sorgt Leisegang für mich. In wenigen Wochen wird der Bergfried, im westlichen Teile des Dorfes gelegen, bewohnbar sein.

Meine Beschäftigung ist, im einsamen Wohnen und Wandern dieser Zeit, nach vorwärts und rückwärts ordnen, planen, versenken und denken. Ich denke vor und denke zurück, überdenke mein Leben in der Vergangenheit, verfolge es bis ans mögliche Ende und gehe nach Art meiner mitgeborenen Wesenheit noch darüber hinaus. Ich spreche mit niemand, außer das Notwendigste, aber unablässig vollzieht sich ein schweigender Dialog in mir, der nur endet, wenn ich gleichsam zu den Füßen Platons sitze und seine Gespräche in mich aufnehme.

Mindestens einmal täglich besuche ich das neue Haus. Sein Gesicht ist freundlich geworden, obgleich es einen feierlichen und vielleicht ein wenig zu anspruchsvollen Charakter hat. Immerhin ist es bereits ein Stück von mir, und meine gestaltende Phantasie ist unlöslich damit verbunden. Melittens unvermutet harte Lehre trägt ihre Frucht. Der Zwiespalt meines Innern ist nicht mehr, und nur noch dem Bergfried allein gehört meine ganze, ungeteilte, äußerliche und innere Wirksamkeit. Hic Rhodus, hic salta! ist der kategorische Imperativ, dem ich nun ohne ernsthafte Störung nachlebe.

Aber ich bin wie ein Mann, ein Kapitän, dessen Schiff noch nicht fertig zur Reise ist, und kann mich inzwischen der Muße hingeben.

Ist nicht Vorwärtsdenken das Denken als Illusion und Rückwärtsdenken das wahre Denken? Die Summe meiner Erfahrungen, deren letztes Resultat mein augenblickliches Denken ist, liegt nicht vor, sondern hinter mir. Unter dem Blitz des Gedankens entschleiert sich die Vergangenheit und werden willkürlich zusammengestellte Bilder dieser Vergangenheit in die absolute Leere der Zukunft geworfen, wodurch eine Täuschung von Wirklichkeit in der ewig leeren Zukunft zustande kommt. Zukunft ist immer das, was nicht ist. Daher auch ein Voraussagen der Zukunft immer nur soviel heißt, als mit nichts in das Nichts hineinleuchten. Dagegen blättre und blättre ich immer wieder in den Seiten des Tagebuches meines Lebens herum, aus dem ja dieses nur ein winziger Ausschnitt ist. Solange ich aber in dieser versteckten Hütte bin, sind es die Ereignisse um die Geburt von Manfred Diodatus, mit denen ich hauptsächlich zu tun habe.

Das Lichtbild des kleinen Putto liegt vor mir. Ich muß es immer wieder ansehen. Es kommt mir vor, als ob sich aus diesem so wohlgeborenen Wesen etwas Außergewöhnliches entwickeln müßte. Nun, jedes wahrhafte Elternpaar sieht in seinem Erstling etwas wie den Heiland der Welt. Es sorgt für die Glorie selbst, die das Kind in der Krippe umgeben hat.

Anja wird in Berlin durch ihr Studium festgehalten. Ich denke, daß der Einzug ins neue Haus in etwa vier Wochen geschehen wird. Einstweilen ist sie mit ihrem Astralleib hier. Die Stunden und Tage um das Geburtshaus in Silberlehne, länger als ein Jahr nun zurückliegend, haben sich unverwischbar eingeprägt. Immer noch sind sie mir gegenwärtig. Zwar, die weiten Bergwälder verharren längst nicht mehr in ihrer Verzauberung. Aber ich vergesse es nie, wie sie plötzlich Sprache bekamen und die trennende Wand zwischen ihrer und meiner Seele verschwunden war. Ich vergesse den Gongton nicht, um dessentwillen eine alte Bergfichte fallen mußte. Ich blickte damals durch eine offene Tür, die sich seitdem wieder geschlossen hat, in Gebiete hinein, die uns im allgemeinen nicht zugänglich sind, Gebiete jedoch, die dem Menschen von einst vielleicht offenstanden, wodurch sein Leben möglicherweise in einer verlorengegangenen Naturverbundenheit gestanden hat.

Ich besuche nicht selten die grüne Bank, auf der ich mit Anja saß, bevor sie ihrer Stunde entgegenging. Ist es nicht seltsam, wenn mich dort jedesmal das Abschiedsweh übermannt, das eigentlich erst durch das Ereignis des folgenden Tages seine Vertiefung gefunden hat? daß es mich übermannt, obgleich Anja lebt, gesund und froh ihre Studien treibt, sich des Kindes freut und mir unverloren ist? Und so betrachtet, rückwärts: wieviel unnütze Schmerzen sind erlitten, wieviel zwecklose Ängste ertragen worden, und wie viele Gefühle sind lebendig in uns, deren Gegenstände auf Irrtum beruhen, nie vorhanden waren oder längst entschwunden sind! Gedanken entstehen und verschwinden schnell, Gefühle, einmal geboren, haben ein langes Leben: davon besonders, sooft ich darin blättere, überzeugt mich dies Tagebuch. Ist es nicht immer wieder ein Versuch, gewisser Gefühle Herr zu werden, deren Macht nicht zu brechen ist?

Unter dem billigen Hausrat meines niedrigen Bauernzimmers nimmt sich der Colleoni des Verrocchio, eine große Photographie im Rahmen, die ich an die Wand gehängt habe, seltsam aus. Der Anblick des Bildes hat eine stählende Wirkung auf mich. Ein geharnischter und behelmter Mann, straff und aufrecht im Sitz, wie der Gaul, den er reitet, Bronze durch und durch, blickt geradeaus, den Feldherrnstab in der Hand, in der Richtung, die der erzene Schritt seines Rosses nimmt. Alles an diesem Monument ist gesammelte Kraft, unaufhaltsam vorwärtsdrängender Wille, ist Verkörperung einer Entschlossenheit, die dem Kampfe des Lebens in jeder möglichen Form gewachsen ist. Aber mache ich mich nicht vor mir selbst lächerlich, wenn ich mir in meinen kleinen Seelenkämpfen solche Beispiele vorhalte? Es möchte sein, wenn nicht allzuoft solche Recken, die allen Stürmen der Schlachten zu trotzen wußten und getrotzt haben, sich schwächer als ich in ihrem Verhältnis zum Weibe erwiesen hätten.

 

Waldbach, am 15. August 1901.

Brennbar ist sie, die Seele, und ebenso ist sie verbrennbar,
    und die meine, versengt, stirbt wohl morgen dahin.
Allzulange, mir scheint, hat das glühende Hemd sie getragen:
    ach, der löschende Guß kommt, wie ich fürchte, zu spät!

 

Eine sonderbare Gemütsverfassung gibt mir zu denken. Die Natur im ganzen und einzelnen macht mir jetzt vielfach den Eindruck des Unheimlichen. Unheimlich scheint mir der graue, wandernde Himmel, der die Luft schon um sechs Uhr nachmittags, wie im Winter, verfinstert. Unheimlich scheinen mir die Glut und der glühende Sturm, in dem der Landmann draußen sein Heu mäht. Überhaupt diese heiße, mühselige, unter Donner und Blitz stehende, schweißtriefende Tätigkeit! Man ist gezwungen, sich der Kleider zu entledigen. Man ist hinter heißen Mauern zur Nacktheit gezwungen. Das ist der natürliche Zustand. Man sagt, die heißen Sümpfe des Planeten Venus lägen beinahe in Nacht, unter einer für die Sonne undurchdringlichen Wolkenschicht. In diesen Sümpfen geilen und zeugen nackte Tiere. Das Leben ist dort vielleicht nichts als Geilheit, Geschlechtswut und Angst. Dunkle Zeugung, schwarze Zeugung: das furchtbarste aller Mysterien, schon weil es dem Tode vorarbeitet. Es sind auch Seligkeiten dabei, Ahnungen, aber alles düster, bang und unheimlich. Die heiße brausende Luft riecht nach Eisen! Angst! Steht irgend etwas bevor, was zu fürchten ist? Etwas dergleichen steht immer bevor. Ich bin heiß und naß. Adam und Eva waren nackt. Eva reichte Adam den Apfel, und dann schämten sie sich. Jedes wahre Weib gibt noch heute dem Manne den Apfel, und also steht es an Kühnheit der Eva nicht nach. Wollust: aber auch hier lauert in der nackten Verschlingung die nackte Angst. Ich halte in Grunewald einen Rosella-Papagei, der von Zeit zu Zeit bei Sonnenaufgang furchtbar kreischt. Der neuseeländische Bart-Papagei reißt lebendige Hammel auf und nährt sich vom Talg ihrer Nieren. Wie kommt man auf solche beängstigenden Vorstellungen? Ich weiß es nicht. Man kommt eben darauf. Man wird sie nicht los. Manchmal hört man schon morgens das herzversteinernde Gebrüll eines Schweins, das in einem der Kätneranwesen geschlachtet wird oder glaubt, daß es geschlachtet werden soll. Die Gedanken verfallen auf Blut und Schlächterei. Beinah riecht es danach. Es riecht weniger nach Leichen als nach Mord. Meine Gemütslage, die seltsam fremde Art meiner Vorstellungen gibt mir zu denken, wie gesagt. Die Welt hat ein anderes Gesicht bekommen. Oder ich sehe mittels eines Organes, das sich krankhaft erschlossen hat. Bin ich gesund, oder bin ich krank? Ich neige dazu, mich für gesund zu halten. – Julius mit der ältesten Tochter meines verstorbenen Bruders waren da. Ich hätte sie gern allein gesprochen. Ich sagte, daß sie mich doch in einigen Tagen nochmals besuchen möge. Das ginge nicht, aus den und den Gründen, sagte Julius, und schob sogleich einen Riegel vor.

Nun ist Melitta auf Island! Was tut es mir?! Die Zeit ist vorüber, wo sie mich, wie damals über den Ozean, nach sich zog. Alles verstehen heißt alles verzeihen: also lerne man nur verstehen. Ich will verstehen und also verzeihen bis zur Charakterlosigkeit. Je näher man jemandem steht, je schwerer ist das. Immerhin sollten Versöhnungsfeste regelmäßig gefeiert werden. Wir alle haben uns viel zu verzeihen, alle haben sich viel zu verzeihen.

Nicht anklagen, niemand verklagen! Auch sich nicht anklagen, auch sich nicht verklagen! Überhaupt nicht immer im ewig Gestrigen wühlen, wie in einem beizenden Rauch ausbrodelnden heißen Sumpf!

Verzeih auch dem, der dir nicht verzeiht: ich will auch meinem Bruder verzeihen, was zu verzeihen und was nicht zu verzeihen ist. Ich will keinem unverzeihlichen Ereignis, das mir nach Maßgabe der verursachten Schmerzen bedeutend erscheint, eine solche Bedeutung beimessen. Du sollst lieben, nicht urteilen. Urteilen heißt nichts anderes als richten und meistens zugrunde richten.

Ich fasse Vorsätze. Ich habe viele gute Vorsätze in diesem seltsamen Kampf zwischen meinem Bruder und mir, zwischen mir und aller Welt gefaßt. Vielleicht waren es schlechte, und nur dieser neue ist gut. Ich will sehen, ob irgendein Vorsatz noch wirksam ist.

Ich gehe zu Bett. Bei mir ist Besuchstag jede Nacht, die Säle meiner Träume sind vollgefüllt: Männer, Frauen, Kostüme aller Zeitalter. Irgendwie ist das ein seltsames Wesen, vielleicht klimatisch, ich weiß es nicht.

 

Berlin-Grunewald, am 18. Januar 1902.

Alles stockt. Es ist eine trostlose Zeit. Ich liege zu Bett. Der Wind heult. Um Schutz vor seiner Wucht und seinem Lärm zu finden, habe ich ein Hinterzimmer zu meiner Krankenstube gemacht. Mir ist übel zumute. Ich habe eine traurige Muße, zu lesen und zu schreiben. Beides wird mir schwer. Dagegen sind meine Gedanken und meine Vorstellungen aufgestört.

Meine Schwäche ist groß. Mich plagt ein Darmübel. Wie wird das werden, wenn ich in wenigen Tagen gewisse offizielle Reisen antreten muß?

Die vorige Eintragung stammt, wie ich sehe, vom 15. August vergangenen Jahres. Dazwischen liegt sehr, sehr viel, wovon zu reden, auch nur andeutungsweise zu reden, viel mehr Zeit und viel mehr Papier notwendig wäre, als mir jetzt zur Verfügung steht. Es handelt sich dabei, wie immer, um Neues und Altes: den alten Span, den alten Gram, die alte Freude, die alte Arbeit, den neuen Kampf neben dem alten Kampf.

Bei alledem bin ich krank geworden.

Es wäre ein etwas grausamer Streich der Vorsehung, wenn ich jetzt, nach all diesen Jahren und so nahe dem Ziel, scheitern sollte.

Der letzte Zwist mit Julius fällt mir ein. Mich würgt die Empörung, wenn ich nur daran denke. Nichts in der Welt hinterläßt mir einen so gallebitteren Nachgeschmack, als wenn ich wieder einmal seine Maßlosigkeit zu erdulden hatte. Ich sprach von einem Buche, das er nicht kannte. Er bekämpfte und entwertete es aber trotzdem mit Entschiedenheit. Jeden Versuch, das Werkchen ins richtige Licht zu stellen, erstickte der Schwall seiner Heftigkeit. Da wurde von mir in irgendeinem Zusammenhang der Name Jakob Böhmes genannt. Julius schimpfte ihn einen eingebildeten und törichten Schuster. Ich nannte diesen Ausspruch eine Nichtsnutzigkeit und sagte ihm, wenn ich nicht wüßte, daß er mein Bruder sei, so würde ich glauben, daß er von dem berüchtigten Pastor primarius Richter in Görlitz abstamme, der den erlauchten Schuster mit seinem Haß verfolgt habe. Der Erfolg war, daß nun Böhme von ihm als ein kleines Dreierlichtchen bezeichnet ward.

Der alte Jammer, die alte Not! Geheimes Motiv: die Eigenliebe, die in etwas anderem Guten und Großen eine Schmälerung des eigenen Ansehens findet.

Überall sehe ich Zerwürfnis, Erregung, undurchdringliche Wirrnis des Bösartigen, Hände, die sich beschwörend oder drohend geballt emporstrecken, weil irgend etwas in meinem Geschick ihnen Wut erregt. –

Vor einiger Zeit sind eine Reihe von Totenmasken angekommen, darunter auch die Beethovens. Anja war erschüttert und weinte, als sie sie sah. Auch Beethoven hatte einen Bruder, dazu hatte er einen Neffen, den er liebte. Vielleicht sind Bruderzwiste das Fürchterlichste, was über Menschen verhängt werden kann.

»Durch ihn ist doch am meisten hindurchgegangen«, sagte Anja bei Beethovens Maske. Sie schloß: »Mit diesem Antlitz hat er noch die zehnte Symphonie gehört.«

Meine Mutter war krank, und wir hatten Sorgen. »Titus«, sagte sie, als sie, aus der Bewußtlosigkeit und Wirrnis hoher Fiebergrade entronnen, der Genesung entgegensah, »Titus, ich war so gewiß und so froh, daß es nun mit mir endlich zu Ende ginge, und nun habe ich mich doch wieder getäuscht und muß noch einmal ins Leben zurück.«

Das ist alles sehr arg, und wenn Anja nicht bei mir ist, fällt es mir doppelt bleiern aufs Herz.

Aber: auf einem Schlackenberge sitzend, bauen wir unsern Himmel! Unser Leben ist Himmelsfron: blind, wollen wir sehend werden, taub, wollen wir hören lernen. Allein und einsam, wollen wir mit allem einig werden. Kämpfend, wollen wir den Frieden, und so immer weiter fort.

Das Fieberthermometer zeigt bei mir 38,5. Wer wüßte nicht, wie solche Temperaturen den Geist qualvoll rege machen. Ohnmacht läßt die Sorgen ins Unüberwindliche anwachsen, die sonst gesunder Wille überwältigen kann. Alles, was ich sehe, ist unheimlich: die offene Bodenluke eines Hauses, als ich noch auf den Beinen war, mit der darin verborgenen Finsternis jagte mir Grabesschauer ein.

Ich bat Melitta um eine Anleihe, ich brauche Mittel für fällige Baugelder. Sie schreibt, und ich halte den Brief in der Hand: »Wovon sollen wir leben, wenn Du einmal nicht mehr bist?!« Ihre Ablehnung berührt mich nicht, da ich inzwischen die Sache auf eine andere Weise geregelt habe. Da sie aber nicht weiß, daß ich bettlägerig bin, ist ihre Bemerkung vielleicht kassandrisch.

An der Wand meines Krankenzimmers hängt eine Uhr. Sie ist über hundert Jahre alt und hat vielleicht früher einem Schiffskapitän gehört, der seinen Ruhestand genoß. Ihr Kasten ist etwa meterlang, die handtellergroße, runde Messingscheibe des Perpendikels blitzt unten in einem kleinen Fenster auf, sooft sie hin- und widerschaukelt. Das Zifferblatt gleicht einem alten guten Gesicht mit Großmutterbemalungen. Dort, wo die weißen Scheitellöckchen der alten Dame sein würden, schwanken, zugleich mit dem Perpendikel, sehr geruhig zinnerne Segelschiffchen hin und her, so einen behaglichen Seesturm etwa auf der Höhe von Helgoland ausführend, dessen rote Felsen und Häuser sichtbar sind. Bei diesem Anblick dachte der Hamburger oder Bremer Kapitän, der das Uhrwerk besaß, vom behaglichen Ofen, mit gewärmtem Rücken, im sicheren Häuschen, auf festem Land, der Stürme, die er hinter sich hatte. Auch ich habe die Uhr oft angeschaut, aber nichts von der Seelenruhe ihres ersten Besitzers ist bisher in mich eingezogen.

 

Berlin-Grunewald, am 22. Juli 1902.

Seit dem 18. März, also seit vier Monaten, bin ich, Ausnahmen abgerechnet, nicht auf den Beinen gewesen. In Ospedaletti kam ich zum Liegen. Als mich der Arzt aufstehen ließ, reiste ich nach Lugano. Dort lag ich Monate. Zwei Ärzte und ein Pfleger betreuten mich. Da das Fieber nicht wich, trat ich die Heimreise an, um hier sofort wieder ins Bett gesteckt zu werden. Die Materie oder Substanz meiner Körperlichkeit wog noch ungefähr hundert Pfund.

Heut nun kann ich wieder umhergehen.

Es ist irgendwie schmachvoll, krank zu sein, hauptsächlich wegen der Hilflosigkeit. Man ist auf das Mitleid seiner Umgebung angewiesen. Man ist auf die Verfassung eines Säuglings zurückverwiesen, der ohne unausgesetzte Hilfe anderer notwendig zugrunde gehen muß.

Nun, meine hiesigen Freunde haben sich meiner sogleich mit großer Entschiedenheit angenommen, so daß meine Krankheit erkannt und ihre kunstgerechte Behandlung in die Wege geleitet werden konnte. Von der Hungerkur der Kurpfuscher wurde ich sofort auf kräftige Nahrungszufuhr gesetzt, und seit sechs oder sieben Wochen bin ich ganz einfach gemästet worden.

Noch ist mir nicht wohl in meinem Fett. Es umgibt mich wie Watte, in fremden Schichten. Ich bin sozusagen davon eingehüllt. Ich muß es mir erst durch Bewegung, Gewohnheit, Willensdurchdringung zu eigen machen. Auch hat das lange Liegen meine Fußsohlen taub gemacht. Und so stört mich auch dort beim Schreiten ein unangenehmes Wattegefühl.

Der Sommer ist heiß. Den wolkenlosen Monaten in Lugano, die mich mit ihrem Einerlei des Krankenzimmers peinigten, sind nun zwei ebensolche gefolgt, die mich aber doch vorwärtsgebracht haben.

Daß ich bereits mit einem Fuße im Grabe gestanden habe, ist gewiß.

In Lugano erkannte ich meinen Zustand noch nicht. Ich hätte stutzig werden müssen, als mir mein Pfleger, ein Schweizer, davon sprach, welche Summen dem Begleiter eines in Lugano Verstorbenen beim Transport nach Deutschland für gewöhnlich gezahlt würden. Ich bin überzeugt, er hat die Hoffnung, dieses Honorar auch bei mir einzustreichen, bis zuletzt festgehalten. Und hätte mir Gott den Gedanken der schnellen Flucht nicht eingegeben, ich würde den Armen nicht enttäuscht haben. Immerhin dachte auch ich an die Möglichkeit eines schlimmsten Ausganges. Besonders wurde ich dabei durch die Sorge um Anja und Manfred Diodatus beängstigt: mittellos würden sie dastehen, da mit einer Hilfe von der anderen Seite nicht zu rechnen war. Heut war das Kind in liebevollste Fürsorge eingehüllt durch Anja und die erfahrenste, gütigste Kinderpflegerin. Stürbe ich, so hatten Kind und Mutter kein Asyl, man würde beide selbst aus dem auf Manfred Diodatus wartenden Bergfried hinausweisen.

Gott sei Dank, daß ich nun wenigstens soweit wieder auf den Beinen bin und begründete Hoffnung habe, ganz zu genesen.

Ich spreche die einfachste Wahrheit aus, wenn ich sage, daß meine Krankheit, mein Zusammenbruch eine Revolte des Körpers gegen die endlos fortgesetzten Leiden und Kämpfe meiner Seele war. Nun aber, deutlich spüre ich es, baut sich ein neuer Körper auf, und es wird mit ihm ein neuer Mensch geboren werden, der eine unzerrissene Seele besitzt und ein ganzes, rundes, kräftiges Herz im Brustkasten.

Gewisse Naturen, wie Goethe sagt, durchleben verschiedene Pubertätsperioden. Die Entwicklung meines Körpers scheint in der Tat in eine neue eingetreten zu sein, um sich nun erst in ihr mit dem vierzigsten Lebensjahr zu vollenden. Ich war schmal und flachbrüstig, nun ist mein Brustkorb breit und gewölbt. Ich frage mich, an mir hinunterblickend, ob ich wirklich der Mensch von gestern bin.

Nicht einmal Anja gab sich, solange wir in Lugano waren, von dem Zustand, in dem ich war, Rechenschaft.

Ich hatte Malte hinbestellt, der nun mit ihr in gutem Einvernehmen ist, und die beiden, heiter angelegt, vertrieben sich miteinander die Zeit, ohne an etwas Schlimmes zu denken. Wie es in Wahrheit mit mir stand, das wurde ihnen erst hier deutlich, und von da ab wurde Anja meine strenge, unermüdliche Pflegerin.

Bänglich, kleinlich, ängstlich, aber auch zugleich – vorausgesetzt, daß man weiterlebt – fruchtbar für das Leben der Seele ist eine Zeit, in der die Krankheit herrschend ist. Die bängliche Frage: Wirst du wieder in Besitz der verlorenen Kräfte gelangen, wieder ein Mensch und Mann werden? mit Hartnäckigkeit immer wieder gestellt, bleibt ebenso hartnäckig ohne Antwort. Anja brachte mir vor einigen Tagen von einem Waldspaziergang in einem flachen Kistchen einige Erdschollen mit den darin verwurzelten Moosen und Schachtelhalmen, die wiederzusehen meine quälende Sehnsucht war. Ich habe es immer als eine Seelenwohltat empfunden, das Auge während des langsamen Wanderns über die Vegetation der Waldgräben und Bachränder mit ihren Schachtelhalmen, Gräsern, Vergißmeinnicht-Wolken und phantastisch bemoosten feuchten Steinblöcken hingleiten zu lassen. Diese fremde, schöne, in sich so köstlich genügsame Welt, die mich durch Form und Farbe entzückte, hatte zugleich die Kraft, mich zu beruhigen. Unzählige Male bin ich durch diese wunderreiche Weide der Augen von meinem persönlichen Schicksal abgezogen und also auch gestärkt worden. Noch sind meine Nerven indessen so schwach, daß der Anblick der begrünten Erdstücke mir, in der Art wie ehemals die Totenmaske meines Vaters, hemmungsloses Weinen verursachte, vielleicht weil ich dies erzwungene Wiedersehen, wobei die Waldscholle sich, ganz gegen ihre Natur, in rührender Weise zu mir, statt ich zu ihr, bewegt hatte, doch nur als einen erschwerten Abschied empfinden konnte. – Das Bängliche aber und das Bange kommt daher, daß man sowohl seinem eigenen sterblichen Wesen als dem Abgrund des Todes näher ist. Das Somatische oder sagen wir Körperliche, das beim gesunden Menschen eine nur gelegentlich ins Bewußtsein dringende Allgemein- oder Sonderempfindung ist, nimmt das Bewußtsein des Kranken fast völlig ein und wird von ihm ununterbrochen beobachtet. Fast nur noch im eigenen Körper gibt es für ihn Ereignisse. Allein aus diesem Gebiete steigen für ihn die Sinneseindrücke, Überraschungen, Wünsche, Fragen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Befürchtungen auf: das macht den Kranken für andere so unsympathisch.

Gott sei Dank, indem ich dies niederschreibe, zwar noch immer schwach, aber außer Bett, blicke ich bereits auf diese Zustände wie auf etwas Überwundenes zurück: also fangen sie an, mir fruchtbar zu werden.

Und wie gesagt, neben dem Zwang zum Kleinlichen und Erbärmlichen in Gedanken und Empfindungen gehen andre Erfahrungen im Verlaufe der Krankheit einher, die durchaus nicht beglückend, aber jedenfalls großartig sind. Es würde lohnen, etwas über die Veränderung bekannter Sinneseindrücke in solchen Krankheitszeiten festzuhalten, in denen neue Gerüche, neue Geschmacksempfindungen, neue Tastgefühle, Laute und Gesichte auftauchen. Die Färbung aller dieser Wahrnehmungen geschieht von innen heraus. Trotzdem erscheinen sie neu und fremdartig. Ja, was denen des Gesichtes vor allem anhaftet, ist die Fremdartigkeit. So verändert waren zum Beispiel die Räume meiner Wohnung, daß sie sich eher wie ein Verlies ausnahmen. Sie atmeten, ich möchte sagen, eine katakombenartige Furchtbarkeit.

Damit ist es genug für die seit langer Zeit erste Zwiesprache eines noch immer nicht zu seiner alten Kraft Erstandenen, wenn auch Wiedergeborenen, mit seinem Tagebuch. Immerhin will ich versuchen, die Feder, die ich wieder ergriffen habe, nachdem das Gespenst der Schwäche sie mir aus der Hand genommen, noch ein Stückchen weiterzuführen. Über dieses Gespenst nämlich, das Gespenst der Schwäche, und seine durchweg unheimliche Wesensart würde ich gern etwas aussagen. Ich bin eine Kreatur, die immer noch von dem hämisch grimassierenden Gespenst der Schwäche besessen ist. Es ist eines, das nicht außerhalb des Körpers erscheint, sondern in ihm, und zwar in allen seinen Teilen, Wohnung nimmt. Seine Tätigkeit, die zugleich Bosheit und Tücke ist, beruht darin, sich überall gegen den Willen zu setzen. So nahm es mir eben die Feder aus der Hand, so zwingt es mich, ein Buch, dessen Inhalt ich mir aneignen will, nachdem ich kaum eine halbe Seite gelesen, wegzulegen. Mich hungert und dürstet nach Musik. Ich bitte Anja, mir irgendein Adagio vorzuspielen, während ich vor der Tür auf die Loggia gebettet bin. Das graue Gespenst der Schwäche badet mich in Tränen und Schweiß und zwingt die Spielende aufzuhören, weil mir Musik zu einem unerträglichen Lärme wird. Es macht dagegen auf eigene Faust klingende und rauschende Musik in meinem Gehör oder unterhält sich mit dessen Betäubungen. Ich sitze bei Tisch und muß plötzlich Gabel und Messer weglegen, um mich an ihm festzuhalten, weil das Gespenst der Schwäche ihn und mit ihm das ganze Zimmer wie eine Schiffskabine ins Schwanken bringt. Wellen von Kraft, Wellen von Hoffnung, Wellen glücklicher Voraussichten schwellen auf, und plötzlich deckt das spinnwebgraue Gespenst der Schwäche seinen spinnwebgrauen Mantel darüber, seine grauen, undurchdringlichen Nebel, in denen alles und alles versinkt. Jede Stufe macht es einem zum Feind, wenn man sie besteigen muß, und jegliches Ziel, von denen fast alle schwer- oder unerreichlich sind.

 

Bergfried, am 2. September 1902.

Mein ganzes Wesen ist Dankbarkeit! »Damit du dankbar würdest . . .«, sagt Gott zum Propheten im Koran. Darum also belehrte er ihn. Was hatte ich alles durchzumachen, welche Schule durch ein Jahrzehnt, das vergangen ist! Nun stehe ich hier, auf neuem Grunde, im neuen Haus, durch dessen Tür ich, von unsichtbaren Händen geführt, gestern eingetreten bin. Wer ist es, wer hat dies Haus erbaut? Manfred Diodatus? ich? oder wer? In diesem Augenblick weiß ich es nicht. Es ist entstanden, es ist geworden, die Zeit, die Umstände und wiederum die Zeit schufen dies steinerne Mysterium. Setzte ich nicht meine Hoffnung auf die Macht der Zeit? Nun, so hat sie Erfüllung gefunden.

Die Krankheit, der ich beinahe erlegen wäre, hat mich in einem gewissen Sinne erneuert und rein gebrannt. Eine Art Wiedergeburt wurde eingeleitet und durchgeführt. Meine Sinne haben ihre verlorengegangene Feinheit wiedererlangt, so daß ich in eine neue Welt hineinwachse. Ein nicht mitzuteilendes sublimes Wesen durchzittert mich, eine mit innerem Staunen verbundene stumme Heiterkeit. »Damit du dankbar würdest . . .«, sagt der Koran. Mein ganzes Wesen ist Dankbarkeit, denn wie konnte ich so bewahrt werden!

Die erste Nacht im Bergfried liegt hinter mir. Mein sogenannter Schlaf war ein Traumwachen. Statt daß ich mich unterm Dach des Hauses geborgen gefühlt hätte, war ich in meinem Bewußtsein selbst das Haus. Der Bergfried und ich unterschieden sich nicht, wir waren ein und dasselbe geworden. Das setzte mich dem nächtlich gestirnten Himmel, dem Schicksalsweg der Planeten, der kristallklaren, scharfen Bergluft aus. Ein Körper und nackt waren der Bergfried und ich und so dem offenen Weltraum preisgegeben.

Erst nach dem Erwachen wurde ich wieder die soundso genannte, soundso gestaltete bürgerliche Persönlichkeit. Es war nicht schwer, meinen nächtlichen Zustand zu deuten.

Das Wetter ist gestern umgeschlagen. Die Luft von Norden hat Kälte und Klarheit mitgebracht. Den Wechsel leiteten Blitze und Regen ein. Das Haus überwölbte ein Regenbogen, als ich mich gestern ihm näherte. Es heißt, Gott ließ diesen Farbenhalbkreis entstehen zum Zeichen, daß er mit uns Frieden gemacht habe. So gering ich bin und so groß die Gottheit ist, nahm auch ich ihn für mich als Friedenszeichen. Die Zeit der Versöhnung ist angebrochen.

Es ist gegen Abend, und ich schreibe dies in der Bibliothek, durch deren hohe Fenster Wälder und Berge hereingrüßen. Wann hatte ich je ein solches Lebensgefühl?! Etwa, nachdem ich Melitta geheiratet, in den ersten Tagen, als ich mich plötzlich mit ihr auf dem Boden des gemeinsamen Hauswesens fand? Nein, denn es war etwas Schweres, Wirres, Fremdes, was damals in mir seinen Anspruch erhob. Damals bestand meine Zukunft zwar auch in Verpflichtungen, aber wie und wodurch und mit welchem Erfolg ich sie durchsetzen konnte, wußte ich nicht. Die Aufgaben, die heut vor mir liegen, sind an sich bedeutend schwieriger, nur nicht für meine Kraft, die sich inzwischen gesteigert hat. Sie scheint sich mit den Fundamenten des Bergfried unter, seinem Dach über mir zu vervielfachen. Bei diesem Erlebnis fällt mir der feste Punkt des Archimedes ein, der ermöglichen würde, die Welt aus den Angeln zu heben.

In überraschender Weise offenbaren sich mir Segen und Macht der Seßhaftigkeit. War sie es nicht, die ich am 9. Dezember 1894 einbüßte, dem Tag, an dem meine Irrfahrten anfingen? Also erlebe ich heut die große Stunde, in der sie beendet sind. War sie es nicht, nämlich die Seßhaftigkeit, die neue Verwurzelung, die ich oft mit verzweifelnder Seele gesucht habe und die nun, so Gott will, gefunden ist? Nun flüchte ich nicht mehr vor der Welt, ich stelle mich nun vielmehr der Welt. Mein Haus meine Burg! Ein Weichen, Flüchten, Ducken oder Versteckenspielen gibt es ferner nicht. Mit diesen Mauern werde ich Weib und Kind und mein Recht auf Selbstbestimmung bis zum letzten Tropfen Blutes verteidigen.

So haben Anja und Manfred Diodatus nicht nur eine Heimat, sondern ich habe meine Heimat wiedergefunden: ein Umstand, der für uns alle vielleicht der wichtigste ist. Die Wälder, die uns umgeben, sind meine Wälder, obgleich sie nach dem Gesetz Eigentum eines anderen sind. Diese Berge sind meine Berge, mein Himmel ist der Himmel über mir. Und alles das zusammen hat eine Seele, die meine Seele ist: wie hätte sie sich sonst, wie bei meines Sohnes Geburt, teilnahmsvoll zu offenbaren vermocht? Dies ist die wahre Erde, deren Berührung Antaios unüberwindlich machte, weil sie ihm jeweilen alle verlorene Kraft wiedergab. Ich betrachte sie als die köstlichste Bundesgenossenschaft in den Kämpfen, die ja bei keinem Menschen aufhören.

Alles läßt sich hier anders an. Gewiß, einer der Laren meines verflossenen Hauses muß seine Stätte auch hier haben. Opfer der Erinnerung werden ihm zu seiner Zeit gern und mit Andacht dargebracht. Malte, der hier ist und den Bergfried in diesen Tagen allein mit mir bewohnt, hat gleichsam diesen Lar überführt. Sonst aber stehen die Nischen bereit für neue Hausgötter. Ganz anders als in irgendeinem früheren scheint mir mit dem heutigen Augenblick ein Anfang begründet zu sein. Gleichsam wie Nebel sehe ich die Vergangenheit unter mir um den Felsen des Bergfried wogen, der auf seinem Standort darüber erhaben steht. Aber selbst die Nebel und damit alle Wirklichkeiten meines früheren Daseins schwinden dahin. Und was gedankenlos übernommene Traditionen aller Art betrifft, angehend Verwandtschaft, Freundschaft, Lebenshaltung, Ethik, Kunst, so hat mich davon ein Schnitt getrennt, gleichsam wie durch gespannte Saiten, die höchstens mit einem leisen Aufschrei davonwimmern.

Eine große Last sentimentalen Erbes, weichlicher Familiensüßlichkeiten und kümmerlicher Verbundenheiten ist auf einmal abgestreift. Nur scheinbar frei und losgelöst, schleppte ich mich bisher immer noch mit den Eierschalen des Kleinbürgertums und hatte den Mut zu mir selbst nicht gewonnen. Heute erst ist mein Selbstbewußtsein ganz erwacht. Voll bewußt will ich fortan mein inneres und äußeres Sein aufbauen. Gelingt der Bau, so ist es, dem Bergfried verwandt, ein Werk meiner neuen Gestaltungskraft und wird einen großen, neuen Sinn haben, der allem Schalen, Abgestandenen, Hergebrachten überlegen ist. In diesen erregten Stunden, wo ein Stück Erde als ungeteiltes Eigentum unter mir, der schützende Bergfried um mich ist, fühle ich mich zum ersten Male selbst als mein Eigentum, dessen Verwaltung und Verwendung ganz allein meine Sache ist. Wenn es wahr ist, daß der Mensch im Menschen erst gefunden werden muß, so habe ich jetzt und hier diesen Fund gemacht.

Ich bereite das Haus für den Empfang von Manfred Diodatus und seiner Mutter vor. Sie sollen die ganze Anlage wirtlich und wohnlich finden. Frau Trigloff ist in die halb unterirdische Küche eingezogen und waltet bereits mit einigen Mädchen darin. Einen jungen Glasbläser, den ich kannte, habe ich als Helfer angenommen. Der Zwang, nach dem Rechten zu sehen, Nötiges da und dort anzuordnen, treibt mich in dem neuen, fremden Gebäude treppauf, treppab.

Als ich mit Malte an einem der Fenster stand, ging ein abendliches Gewitter mit mächtigen Schlägen und heiligem Aufleuchten über das Gebirge gegen die Schneekoppe hin. Es war alles so wunderbar großartig. Und dann, als es dunkel geworden war, fielen in Schwärmen die Sternschnuppen. Es war, als könnte der ausgestirnte Himmel seine Sterne nicht mehr festhalten, gelockert und abgelöst fielen sie als ein goldener Regen herab. Alles ist groß, ernst, feierlich und tief bedeutsam in dieser Zeit. Ich nehme es hin zur Weihe des Hauses.

 

Bergfried, am 7. Januar 1903.

Diese Blätter sind nun eigentlich Vigilien oder Nachtwachen. Ich hatte zu leben und zu arbeiten, darum habe ich lange nicht an sie gedacht. Anja, Manfred Diodatus und ich bewohnen nun unseren Bergfried beinahe ein halbes Jahr. In dieser Zeit haben das Leben und wir an seiner Beseelung gearbeitet. Er ist gleichsam der Bauch eines mystischen Instrumentes, das gespielt sein will. Von außen spielt die wild-kapriziöse Laune des leidenschaftlich bewegten Klimas unserer Berge auf ihm, Stürme, Schneetreiben, ungeheure Gewitterböen mit Wasserstürzen, Vereisungen und tausend Düsterkeiten treibender Gewölke und wechselnden Lichts.

Der Kampf und der Trotz dieser Burg gegen die feindlichen Mächte der Natur ist ein Studium. Sie steht auf einem Granitrücken zwischen Gletscherbächen. Die Schneegruben über uns, wo sie entspringen, und das ganze Tal sind altes Gletschergebiet. Im Garten sind alte Granitblöcke von mächtigen Ausmaßen stehengeblieben. Die Arbeit des Wassers zeigt sich in runden Näpfen darin, sogenannten Gletschertöpfen. Hier, wo Eis und Wasser bei der Schmelze seit Millionen von Jahren ihren Weg nehmen, stürzt sich immer wieder der wilde, launische Föhn hinab, nachdem eine langgezogene Wolke, ähnlich einer Watterolle den Kontur des Gebirgskammes deckend, Tage vorher sichtbar gewesen ist.

Im Herbst hat uns ein solcher Föhn das Dach abgedeckt. Vom Asyle des Manfred Diodatus flogen die Ziegel stundenlang in die Schwärze der Nacht und zerschellten krachend auf den Terrassen. Wenn Rhea den jungen Zeus auf dem kretischen Ida birgt und durch die Korybanten Lärm schlagen läßt, damit Saturn des Kindes Geschrei nicht vernimmt, so konnte der Lärm nicht furchtbarer sein.

Das Dach ist gedeckt, die Ziegel sind besser befestigt worden. Das Haus auf seinem vorgeschobenen Posten scheint den Bergdämonen, die es immer wieder berennen, gewachsen zu sein. Was der Bergfried nicht ausschließen kann, was er in einer düsteren Größe zum Ausdruck bringt, ja zu steigern vermag, ist das Kosmische. Ich kenne kein Haus und keinen Ort, wo es so machtvoll gegenwärtig wäre. Mehrere Hausmädchen baten schon nach einigen Tagen um ihre Entlassung, weil sie, wie in einem Gespensterschloß nachts von irrenden Geistern geängstigt, am Tage nicht froh wurden. Wirklich scheint das Gebäude, scheinen seine Räume heute bereits uralt zu sein. Und wir, die wir treu und gern darin aushalten, Frau Trigloff, Leisegang, mein Sekretär, der Bursche Franz, ein Hausmädchen, ein dummes Fräulein, das Manfred Diodatus betreut, Anja und ich, werden aller Augenblicke von unerklärlichen Poch- und Klopfgeräuschen, eigentümlichem Geplärr und Gegrein beunruhigt.

Es ist ein Uhr nachts. Ich habe mein Buch auf ein Stehpult gelegt und schreite zuweilen, während der Sturm auf die hohen Fenster drückt, auf und ab. Dabei frage ich mich, wieso es möglich sei, daß dünne Scheiben einen Luftdruck wie diesen aushalten. Der Bursche Franz, dessen Schlafraum unter der Bibliothek gelegen ist, behauptet jedem gegenüber, der es hören will, daß, auch wenn ich längst schlafen gegangen bin, ununterbrochen bis zum Morgen Tritte eines auf und ab Schreitenden in der Bibliothek gehört werden.

Das Haus ist also schon ziemlich beseelt, aber nicht nur von Kobolden oder Klopfgeistern, sondern auch Gott sei Dank von anderen, die höheren Ranges sind. So zum Beispiel vom Geist der Musik, den Anja mit ihrer Geige entbindet.

Alle guten Geister loben den Herrn in diesem Hause, und so lobe ich alle guten Geister darin. Es sind ihrer genug, und wir freuen uns dieses Larariums. Diese guten Gottheiten überdauern nicht nur alle Unbilden der wild und launisch wechselnden Natur, deren Sturmzeichen beinahe nicht abreißen, sondern sie sind es auch, die bewirken, daß keine ihrer Schönheiten dem Hause verlorengeht.

Nirgend habe ich mit den Großartigkeiten der Natur im Zarten und Rauhen, im Guten und Argen so verbunden gelebt. Mit dem Glanze der Sternschnuppen, der sogenannten August-Schwärme, auch Tränen des heiligen Laurentius, fing es an. Dann im Oktober klangen die Räume von morgens bis abends von dem Geläute der Herden, die draußen in der Herbstsonne weideten. Dann ging über dem ersten, still gefallenen Schnee die Sonne auf. Das Haus stand im Glanze von Diamantfeldern. Wir durchlebten im Innern des durchsonnten Gebäudes und außerhalb eine Jahreszeit, die wir nicht mehr kannten und die man einen Schneefrühling nennen muß. Wenn wir nach Berlin gereist waren, kamen wir gern hierher zurück und wurden schon im Dezember von leuchtender Winterstille empfangen. Arbeitszimmer, die ein schöner Morgen so heiter macht, habe ich bisher nicht gekannt und ebensowenig ihre himmlische, friedliche Stille.

Durch Wochen geht Anja gleichsam mit einem zufriedenen, unbewußten Summen der Seele herum, weil unsere Liebe zum ersten Male auf einem gesicherten Grunde sich selbst genießt.

 

Bergfried, am 13.Januar 1904.

Ich setze mich nieder, um ein Ereignis von gestern festzuhalten, so gut ich kann. Es war ein grauer, grämlicher Tag mit großflockigem Schneetreiben, an dem es nicht eigentlich einmal hell wurde, als mir, ganz wider alles Erwarten bei solchem Wetter, ein Fremder gemeldet wurde.

Die Karte enthielt einen Namen, den ich vor Jahren von meiner Mutter gehört hatte, und obgleich mir der Besuch irgendwie unwillkommen, ja unheimlich war, beschloß ich, ihn anzunehmen. Schließlich hatte sich doch der Mann auch schon mit dem Vordringen bis hier herauf Mühe gemacht.

 

Der Liebesnarr

Ich ließ ihn ins Speisezimmer führen, weil es vom Eingang des Hauses das nächste ist. Beim Lichte der Kerzen eines dreiarmigen Messingleuchters erkannte ich einen starken, bärtigen Mann, der mich mit stechenden, typisch schielenden Augen anblickte. Auch mein Instinkt, wenn nicht mein Kursus in der Psychiatrie, würde mir sofort gezeigt haben, daß ich keinen normalen Menschen vor mir hatte. Bei der Riesenhaftigkeit der Person war ich verloren, wenn er etwa in einem Anfall von Verfolgungswahn sich über mich warf.

So begrüßte ich ihn mit ausgesuchtester Herzlichkeit und bat ihn zugleich, mich, ehe ich ihm zur Verfügung stünde, einen Augenblick zu entschuldigen. Diesen Augenblick benützte ich, um Leisegang, meinen Sekretär, und Franz, den Burschen, hinter der geschlossenen Tür aufzupflanzen. Auf Anruf sollten sie, mit kräftigen Stöcken bewaffnet, an meiner Seite sein.

Dann trat ich entschlossen, wie ein Raubtierbändiger in den Käfig, in das dämmrige Zimmer zurück, wo der bedenkliche Fremde meiner wartete.

Er fing sogleich sehr heftig und leidenschaftlich zu reden an.

Nachdem er mich mehrmals bei Namen genannt hatte, ging es etwa auf folgende Weise fort:

»Ich habe etwas auf dem Herzen, etwas ganz Gewaltiges, wovon ich nur Ihnen gegenüber reden kann. Es gibt keinen Menschen im ganzen Kreise, in der ganzen Provinz außer Ihnen, ja, im ganzen Reiche gibt es keinen, dem ich ein solches Vertrauen, außer Ihnen, entgegenzubringen vermöchte. Ich bin der und der, heiße soundso, bin in guten Verhältnissen, bin verheiratet, bin schon zum zweiten Male verheiratet, wenn Sie wollen, Familienvater, meine Kinder sind wohlerzogen, Töchterschule, Gymnasium. Manche sagen, ich wäre ein Lebemann. Nun, meinethalben ein Lebemann, sagen wir meinethalben, ich bin ein Lebemann. Was ganz Gewaltiges, sage ich Ihnen, es ist was Gewaltiges, was ich Ihnen vortragen will.

Bereits meine erste Frau war schön, meine zweite aber bei weitem schöner. Ich habe die schönsten Frauen im Kreise, in der ganzen Provinz gehabt. Es war anerkannt, sie waren die schönsten. Meine zweite habe ich natürlich noch und lebe in glücklichster Ehe mit ihr.«

Das wäre sehr zu begrüßen, sagte ich, und ein Mann, dem es so gut gehe, könne sich gratulieren. Ich sah diesen funkelnden Augen und diesen geballten Fäusten an oder glaubte es ihnen anzusehen, daß ich verloren sein würde, wenn ich irgendeine seiner Behauptungen bezweifelte. Er fuhr fort: »Die schönsten Frauen im ganzen Kreise!« und verbesserte sich durch: »Die schönsten Frauen der Welt!

Also nehmen wir an, ich bin Lebemann. Ich sitze also mal eines Tages . . . nein, es war oben in Niklasdorf, ich schreite auf einem einsamen Waldwege, passen Sie auf, die Sache ist merkwürdig! Plötzlich, höre ich, schreitet es hinter mir her. Ich höre es deutlich hinter mir herschreiten. Schön! Gut! Ich drehe mich also um, obgleich mir die Sache nicht ganz geheuer ist oder weil sie mir nicht ganz geheuer ist. Was soll ich sagen? Es ist eine Frau, eben auch ein bildschönes Weib, das hinter mir herschreitet.

Ich gehe langsam, bleibe zurück. Schön! Gut! Sie schreitet vorüber. Ich lüfte den Hut, denn schließlich, man weiß ja, was sich gehört, ich sehe sie an, sie sieht mich an, irgendwo biegt sie ab und ist verschwunden.

Ich sah sofort, daß dies nicht eine beliebige Dame war. Schließlich hat man dafür einen Blick. Ich will mich weiter darüber nicht auslassen. Ich kenne Damen aus hohen Kreisen, ich habe Damen allerhöchster Kreise aus nächster Nähe gesehen. Aber lassen wir das, zunächst ist das gleichgültig.«

Ich stimmte ihm höchst beflissen zu und war ganz seiner Meinung, es sei zunächst gleichgültig.

Draußen war es stocknacht, und der Sturm wurde heftiger. Außer einem Dackelhunde von noch nicht einem halben Jahr und den beiden Helden hinter der Tür waren nur weibliche Wesen im Hause. Anjas Energie, die in den oberen Zimmern mit Manfred Diodatus vollauf beschäftigt war, wollte ich zunächst nicht beanspruchen.

»Ich wußte also, woran ich war, und«, fuhr er fort, »habe deshalb auch den Hut fast bis zur Erde gezogen. Ich sage nicht mehr, weil ich mich schließlich nicht ohne Not oder überhaupt nicht – nein, überhaupt nicht! – an der Ehrfurcht, die man gegen allerhöchste Personen untertänigst empfinden muß, vergehen will.

Vierzehn Tage später, denken Sie sich, befinde ich mich in der Gegend von Erdmannsdorf. Im Buchwalder Park, in Richtung auf Schmiedeberg, sehe ich wieder ein schönes Weib vor mir hergehen. Ich gehe vorbei. Diesmal bin ich's, der sie überholt, der Hut fliegt mir gleichsam von selber vom Kopf, und – was glauben Sie? – es ist wieder dieselbe Persönlichkeit.

Sie werden mir hoffentlich nicht sagen wollen, daß dies ein Spiel des Zufalls ist.«

Ganz gewiß nicht, ich wollte das nicht!

»Zufall hin, Zufall her, bei solchen Sachen gibt es bestimmte Anhalte. Warf die Dame ein Auge auf mich? Das ist so schlechthin nicht anzunehmen. Sie würden ganz recht haben, wenn Sie die gegenteilige Ansicht zu vertreten nicht umhin könnten. Schließlich bin ich ja doch nur bürgerlich, es wäre nicht üblich in hohen und höchsten Kreisen. Hölle und Teufel, es gibt aber Ausnahmen! Ausnahmen hier und Ausnahmen dort, und Ehen werden im Himmel geschlossen.«

Der Fremde schlug mit der Faust auf den Tisch, und ich hörte die Lauscher hinter der Tür flüstern.

»Sie werden es nie erfahren, wer die Dame gewesen ist. Sehen Sie meine Muskeln an. Stählerne Arme, stählerne Muskeln. Hier, versuchen Sie mal meine Waden zusammenzudrücken! Nicht auf der Folter könnte man von mir erfahren, wer die Dame gewesen ist. Zwicken Sie mich mit glühenden Zangen: ein Hundsfott, wenn ich auch nur den Anfangsbuchstaben ihres Vornamens von mir gebe.«

Ich sagte, ein Ehrenmann täte das nicht.

»Nein, ein Ehrenmann tut das nicht. Aber erst recht nicht der, der, wie sich allmählich herausstellen wird, noch eine Kleinigkeit mehr ist als ein gewöhnlicher Ehrenmann. Schön! Gut! Ich schweige davon. Aber in meinem Stammbaum stehen immerhin seltsame Dinge.

Wir wissen nicht, wer die Dame ist. Ich betone bei dem, was kommt, ganz besonders: wir wissen nicht, wer die Dame ist.

Ich sitze in einer Konditorei. In unserer Kreisstadt unten, mit Stadträten. Ganz einfach, vierzehn Tage später sitze ich mit befreundeten Bürgern in einer Konditorei. Plötzlich kommt sie herein. Natürlich inkognito. Man schaut sich an, die Stadträte stecken die Köpfe zusammen, die Verkäuferinnen tuscheln hinter dem Ladentisch. Die Fremde bestellt eine Tasse Kaffee.

Ich sah nun sofort, daß ich mich irgendwie getäuscht hatte. Ganz gewiß waren die Stadträte da, aber ob es wirklich Stadträte waren, weiß ich nicht. Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht. Nein, ich weiß es, sie waren es nicht. Unsereins merkt das schon an den Schnuten. Und wenn ich erst solche Manöver erkannt habe, bin ich gewohnt, dies und das in der Stille dagegen zu tun.

Diesmal ging es glatt, und die Stadträte waren im Hui verschwunden.

Sie merken, was hier im Gange ist?«

Natürlich, wie sollte ich das nicht merken!

»So war ich denn mit der Dame allein.

Sehen Sie, ich bin Lebemann. Es kommt in Betracht, daß meine Gewalt über weibliche Wesen eine fast unbegrenzte ist. Ich bin nicht eitel, aber was hilft es: als Mann bin ich schön. Wir haben nur schöne Männer in unserer Familie. Was kann ich dafür, wenn ich auf der Stelle erkannte, was die Dame in die Konditorei führte. Meinen Sie, daß es bei einer so hohen Person der Bliemchenkaffee und der altbackene Kuchen gewesen ist? Schlagt mich tot: ich bin es gewesen!

Meine Kühnheit war geradezu grauenhaft. Die Dame war etwa dreißigjährig. Ich verschweige die Titel, die ich ihr selbstverständlich bei der Anrede gab. Gewiß, es war vielleicht unüberlegt. Die Dame erblaßte und wollte aufstehen. Sie blieb, denn ich sah meinen Fehler ein und wäre bei einem Haar vor ihr niedergestürzt, sie fußfällig um Verzeihung zu bitten. Ich sagte nun laut, um abzulenken und auch vor den Ohren der Verkäuferinnen die Sache ins Banale zu ziehen: ›Sie haben einen beneidenswerten Appetit, gnädige Frau, ich habe Sie geradezu höchlich bewundert.‹

Die Dame verstand mich. Das Wagnis war groß. Es hätte ebensoleicht können anders ausfallen. Sie verzog keine Miene, zahlte und ging. Ich folgte ihr nun bis auf die Straße. Dort hatten wir einen kleinen Wortwechsel mit einem geradezu ungeheuren Resultat, das ich mit mir ins Grab nehmen muß.

Gekrönte Häupter, Herr X., hiermit habe ich vor Ihnen das Wort ›gekrönte Häupter‹ ausgesprochen. Ich sage noch einmal, gekrönte Häupter! Ich würde es aber niemand raten, an anderer Stelle irgendwie laut werden zu lassen, daß ich hier das Wort ›gekrönte Häupter‹ gebraucht habe . . .«

Er kam mir nahe, ich hörte ihn keuchen. In der Einsamkeit des gotischen Zimmers, dessen Winkel das Kerzenlicht nicht aufhellen konnte, unter den heftigen und feindlichen Geräuschen der Schneeböen gegen die Fenster, blitzten mich seine Augen drohend an.

»Gekrönte Häupter«, fuhr er fort, »wer das erlebt, ein Lebemann, der unter den Baldachinen auf Polstern von Scharlach . . . weiter sage ich nichts. Andre werden behaupten, ein Lebemann, eine unbefriedigte Frau, die Bedürfnisse hat, ein Trinkgeld an den Portier, ein Hotelzimmer. Schön! Gut! Es freut mich. Es kommt mir gelegen, es paßt mir sozusagen in den Kram, wenn es so betrachtet wird. Diese Schwätzer sind nicht meine Feinde. Andre, ganz andre Feinde, mächtige Feinde, allmächtige Feinde, Feinde, die unsichtbar in die Ferne wirken können – aber ich bin gewappnet, ich bin auf der Hut! –, solche furchtbaren Feinde habe ich gegen mich aufgebracht.

Sie dürfen es ahnen, wenn auch nicht wissen, zu welchen erhabenen Verbrechen ich hinauf- oder meinethalben hinabgerissen worden bin. Aber sie sagte zu mir, was ja schließlich auch in der Hitze des Liebeskampfes das Gegebene war: ›Georg, du bist schöner als jeder Edelmann!‹ Ich heiße Georg, nämlich Georg ist mein Vorname. Und sie fügte hinzu: ›Nun muß ich dich grafen.‹ Sie meinte damit in den Grafenstand erheben oder wenigstens zum Baron machen. ›Ich muß dich erheben, damit ich keine Gefallene bin.‹

Als wir uns trennten, sagte sie: ›Du erfährst von mir, aber frage mich nicht nach meinem Namen. Es könnte, wenn du ihn wüßtest, von furchtbaren Folgen für dich sein, und es würde mich hindern, für dich zu wirken. Ich rechne damit, daß man dich bald, wie gesagt, zum Grafen und dann vielleicht zum Oberpräsidenten der Provinz – übrigens hast du dann ganz die Wahl –, vielleicht auch zum Gouverneur von Straßburg machen wird. Hohenlohe ist alt, und wir könnten uns dort, auch natürlich inkognito, öfters sehen.‹ Sie hatte mich verpflichtet, im Zimmer zu bleiben, als sie den Gasthof verließ, ich durfte auch nicht aus dem Fenster sehen, aber hier konnte ich doch nicht umhin, die Gardine ein wenig beiseitezuschlagen. Und als es geschehen, wußt' ich genug.

Das war gegen Ostern, vergangenes Jahr. Und nun geben Sie acht, nun kommt das Gewaltige, kommen die dunklen Mächte, denen ich preisgegeben worden bin. Doch ich weiß ihre Schläge zu parieren.

Nachdem ich drei Monate lang die Ungenannte weder gesehen noch etwas von ihr erfahren hatte, lief ein patschuliduftendes anonymes Billet doux bei mir ein.

Nun, ich war ein anderer Mensch, ein anderer Mann geworden in der Zwischenzeit. Meine gute Frau, die ich innig liebe, sagte: ›Du wirst dich noch ruinieren, Georg.‹ Ich gab nämlich drei-, vier-, fünffach soviel Geld als bisher an den Schneider aus. Es war natürlich, daß ich meinen bis dahin gepflegten Verkehr nicht gerade in alter Weise fortsetzte. Die Leute sahen es mir ja schließlich an, daß ich nicht mehr derselbe war. Selbstverständlich fuhr ich nur noch erster Klasse. Ich war immer ein bißchen als der übergeschnappte Georg bekannt, aber nun hatte ich ganz verspielt, da ja die Leute nicht Bescheid wußten. Wichen nun meine Bürgersleutchen und Konsorten mehr und mehr von mir zurück, so konnte ich sehen, konnte erleben, wie sich Reichsgrafen und überhaupt die Majoratsherren Schlesiens, wo sie nur konnten, an mich anvetterten.«

Hier sah mich der Fremde an wie ein Nußknacker und fing mit den Zähnen zu knirschen an.

Ich tat, als wär' ich ganz Ohr, denn ich fürchtete mich. Aber ich war wirklich auch ganz Ohr, weil mich die Erzählung des Fremden gefangennahm. Meine angstvolle Sorge jedoch war das Ende. Was war der Grund, weshalb der Verrückte gekommen war, und was führte er schließlich und endlich im Schilde?

»Richtig, ich sprach von dem Billet doux . . .«

Das Knirschen verstummte, als der immer grimmig blickende Mensch seine Rede fortsetzte.

»Als ich es mehrmals berochen, entziffert – das war nicht ganz leicht – und in den Fingern gedreht hatte, sagte ich ohne Zögern, a tempo, sofort zu meiner Frau: ›Käthe, ich muß auf der Stelle abreisen!‹ Natürlich, Sie wissen, wie Frauen sind. ›Bist du verrückt, Georg?‹ gab sie zur Antwort. ›Du steckst eben die Semmel in den Mund‹ – ich hatte tatsächlich die erste Frühstücksbuttersemmel noch nicht aufgegessen –, ›in diesem Augenblick hast du davon gesprochen, daß wir einen Ausflug nach Görlitz machen wollen, und jetzt schreist du: Abreisen!, ohne daß etwas geschehen ist.‹ Sie müssen wissen, das Blättchen kam nicht durch den Briefträger, ich fand es ganz einfach in der Jackettasche, als ich nach meinem Schnupftuch griff. ›Wohin willst du denn reisen?‹ fragte die Frau. Ich hütete mich natürlich zu sagen, daß mein Ziel Ostende ist. Ostende! woher nimmt man das Geld für Ostende? Mein Geschäft ist solid, mein Geschäft geht gut, aber ich hatte in letzter Zeit eben ein bißchen zu viel herausgenommen. Schließlich, da ich ja wußte, was auf dem Spiele steht, rannte ich von Pontius zu Pilatus, und so konnte ich fünf- oder sechstausend Mark gegen das Pfand meiner Lebensversicherung flüssigmachen.

Nun geben Sie acht, nun fing die geheime Intrige zum erstenmal, und zwar an der Schwelle meines eigenen Hauses an. Sie fing sich an, als ich über die Schwelle ein-, zwei-, drei-, viermal nicht hinauskonnte. Herr X., ich nahm Anlauf, nahm wieder Anlauf, eins, zwei, drei, vier! und konnte nicht über die Schwelle hinaus. Ich wußte sogleich, es war der Feind. Aber passen Sie auf, ich sollte noch viel mehr Feinde bekommen. Sie werden ja sehen, ob ich aufschneide. Es ist da ein Mensch, ich sage nicht wo, ein Hypnotiseur, ein Mensch, gar nicht so dumm, der sich auf Telepathie versteht. Ich werde mich hüten, ihn zu nennen. Das möchte er wohl, es würde seine Kraft verzehnfachen. Schluß damit. Augenblicklich sitzt er in einer Gefängniszelle. Aber das macht nichts: er spielt Klavier, und die Puppen tanzen . . .«

Dem Erzähler trat ein leichter Schaum in die Mundwinkel. Es hing ihm eine schwarze Haarsträhne tief in die Stirn. Diese perlte. Auch roch er nach Schweiß. Sein Düffelpaletot, den er noch anhatte, durchnäßt von dem nun auf ihm zerschmolzenen Schnee, gab ein penetrantes Arom.

»Er spielt Klavier, und die Puppen tanzen. Und was für Puppen!« fährt er fort. »Sie müssen erst einmal wissen, was das für Puppen sind. Die ersten Namen, Sie meinen vielleicht Geheimräte, meinen Gelehrte, meinen Künstler? Immer höher hinauf. Offiziere, Generale, mag sein, auch ein General ist darunter. Im übrigen immer höher hinauf. Ein Fürst? Schon eher! Ein Herzog, ein Prinz? Wir kommen der Wahrheit immer näher. Nun werden Sie denken, Herr X., händeringend werden Sie denken, o bliebe der tolle Mensch doch zu Haus! Schön! Gut! Aber ein Ritter, ein fahrender Ritter bleibt nicht zu Haus, wenn seine Dame ihn ruft, wenn eine hohe Dame ihn ruft, ihm durch unsichtbare Boten und Zeichen verständlich macht, daß sie gefangen sitzt.

Wissen Sie«, unterbrach er sich, »was in Deutschland im Gange ist?« Er wollte sagen: Sie Waisenknabe wissen es nicht.

»Wenn Sie es erfahren wollen«, fährt er fort, »so denken Sie immer das Gegenteil von alledem, was ich jetzt sage. Ganz genau immer das Gegenteil: etwas ganz Geringfügiges, ganz Minimales bereitet sich vor! Etwas, bei dem ein kleiner Mann zum Führer ausersehen ist, mit dem ich als der sogenannte übergeschnappte Schorsch nicht das allergeringste zu tun habe! Eine hohe Dame liebt diesen Mann und ist vom Geschicke ausersehen, ihm den Weg zur Rettung des Landes zu ebnen. Ich schwöre, daß ich der Mann nicht bin! – So ist es, denken Sie nun, was Sie wollen.

Aber glauben Sie nicht, wenn ich zum Beispiel der Mann wäre, daß ich dann der Mann bin, gegen den Ruf des Schicksals taub zu sein! Und wenn die Welt voll Teufel wäre. Gott helfe mir, Amen! Hier stehe ich, und so fort, und so fort. Punktum also. Sie wissen genug.

Ich hatte fünftausend Mark in der Tasche. Ich hätte es eigentlich für die Begleichung eines Wechsels aufheben müssen, der drei Tage später fällig war. Ich schaffte mir aber in Berlin noch einige Kleinigkeiten, einen eleganten Koffer und eine sehr schöne Reisetasche an. Überhaupt, es war eine Sache des Auftretens.

Natürlich Ostende, das erste Hotel. Ich war im Coupé mit einem jungen Herrn ins Gespräch gekommen. Ich hatte sofort erkannt, wer er war. Ich will mich näher darüber nicht auslassen. Es war eben eine in die Augen fallende unverkennbare Ähnlichkeit. Unser Kaiser hat es gesagt. Er muß es wissen. Und ich wiederhole es Ihnen dreimal, nämlich, daß Blut dicker als Wasser ist. Blut ist dicker als Wasser, Herr X. . . .«

Damit griff er mir, wie mit zwei Schraubstöcken, um die Gelenke. Er ließ Gott sei Dank los, als ich ihm lebhaft und herzlich zustimmte.

»Nie werde ich etwa ›Geliebte‹ sagen. Es gibt für die Hoheit, die sich zu mir herabgelassen hatte, gibt für das was nach mir rief und dem ich blindlings folgen mußte, kein Wort. Eine gewisse Beatrice hat sich, glaub' ich, zu einem Dichter, der, glaube ich, Italiener war, aus dem Paradiese herabgelassen. Dichter sind Dichter. Was geht es mich an? Hier, wo diese ungeheure, diese ungeheuer gewaltige, immense Wahrheit, diese geradezu grandiose Tatsache ist.

Da saß der Bruder. Ich starrte ihn an. Ich konnte jegliche Linie ihres hochadligen . . . entschuldigen Sie, ich verspreche mich, und es genügt, wenn ich sage, ich konnte jede Linie nachziehen.

Aber der Bursche kannte mich.

Ich hatte es mit einer allmächtigen Clique zu tun. Wie gesagt, die prinzlichen Blicke waren sprechend. Sie waren vielsagend, peinlich vielsagend. Ich konnte mir hinter die Ohren schreiben: Dein Freund ist der gute Junge nicht. Er weiß, weshalb du gekommen bist, er wird dich umgehend avisieren und seinen Standesgenossen verraten, obgleich er allerhöchst nur verschwindend wenige hat.

Ich entschloß mich, ihn anzureden.

›Wollen Eure Kaiserliche und Königliche Hoher: allerhuldvollst so gnädig und herablassend sein‹, sagte ich, ›einem in Ehrfurcht ersterbenden, allzeit getreuen und dienstwilligst gehorsamsten Untertanen zwei Worte der Rechtfertigung zu gestatten?‹

Was glauben Sie, meine Lippen bewegten sich nicht.

Aber da wölbte sich meine Brust. Da fühlte der tolle Schorsch – sie nennen mich auch den tollen Schorsch – sein Herz pochen. Wen eine solche Schwester ruft, und wem eine solche Flamme im Busen lodert . . . Gott nicht und auch der Teufel nicht, geschweige zehn Brüder konnten mich da zurückhalten. Damit war ich im reinen, und nun nahm ich entschlossen den Kampf auf der ganzen Linie auf.

Ich hatte Geld. Selbstverständlich sofort am Abend französischer Sekt. An runden Tischen saßen die Herrschaften. Ich war unterrichtet. Die Namen von Lords, Großherzögen, Fürstinnen, kaiserlichen Prinzen schwirrten durch die Luft. Vollkommen überflüssig für mich. Ich wußte ja, wen ich hier treffen würde. Die Herrschaften sahen herüber und tuschelten. Aber ich tat, als bemerkte ich nichts. ›Kellner‹, sage ich, ›bringen Sie mir noch zwei Dutzend Austern, und bringen Sie eine andere Flasche Sekt! Die erste ist schlecht, sie schmeckt nach dem Pfropfen.‹ Der Kellner bedauert, probiert und behauptet, er schmecke nichts. Ich schreie: ›Ich habe Sie nicht gefragt, Sie Esel! Fort mit dem miserablen Gesöff! Ich zahle den Sekt!‹

Parbleu, das wirkte wie eine Bombe.

›Weiß man denn hier nicht‹, sagte ich laut, ›wie man mit Männern aus höheren Kreisen umgehen muß?‹

Und nun geben Sie acht! Was war die Folge? Auf meinem Zimmer lag ein Kuvert und in dem Kuvert wiederum ein Billett, auf dem gesagt wurde, daß leider das Zimmer anderweitig vergeben sei und auch leider ein anderes Zimmer für mich nicht frei wäre . . .«

Er blinzte mich an: »Begreifen Sie was?«

Natürlich begriff ich alles sofort und suchte sein geheimnisvoll lauerndes Grinsen und Nicken nachzumachen.

»Also das war der erste Schlag. Ich ließ meine Sachen in einem Wagen fortschaffen und ging zu Fuß den Strand entlang in der Richtung des neuen Hotels, in dem ein Zimmer für mich vorhanden war. Alle Welt war am Strand. Man konnte kaum durchkommen. Komtessen, Grafen, Lords und Herzöge, kurz, doppelt und dreifach die ganze Gesellschaft, der ganze hohe und allerhöchste Klüngel, der eifersüchtig und gegen mich im Harnisch war.

Nun, sehen Sie, ich bin ein Kerl. Mein Exterieur kann es mit jedem Herzog aufnehmen. Wenn ich auf meinem Weg einen Stein traf, und es lagen viele Steine da, sagte ich in dem allerschneidigsten Ton, natürlich ganz von oben herab: ›Ah, Fürst von J., bitte gehen Sie mir aus dem Wege, Fürst!‹ und schleuderte den Stein verächtlich mit dem Fuße fort. Ein neuer Stein Herzog von Toggenburg. ›Lieber Herzog, entfernen Sie sich!‹ und auch er tat es im weiten Bogen. Ein dritter Stein: ›Verzeihung, Prinz, freie Bahn dem Tüchtigen!‹ Ein Esel kriegte den Stein an die Schnauze, als ich ihn mit der Spitze des Fußes wie einen Fußball befördert hatte. Es sammelten sich natürlich Menschen. Der ganze Strand wurde aufmerksam. ›Königliche Hoheit, empfehlen Sie: sich! Ich habe nicht Lust, mir von jedem beliebigen meine Karriere verstellen zu lassen.‹ Ein Rollstein flog wie ein Vogel hinweg. Ich sah, wie gewisse Leute bleich wurden, aber ich habe diesen boshaften Gegencoup durchgeführt und die Sache lange fortgesetzt.

In dem neuen Hotel war ein kluger Hausdiener. Ich sah es ihm an, man konnte ihn ins Vertrauen ziehn. Er war für die Sache Feuer und Flamme, als er mein erstes Goldstück in der Hand hatte und das zweite, falls ich mit ihm zufrieden wäre, in Aussicht sah. Er sollte die Wohnung der Dame ermitteln, die man aus guten Gründen verborgen hielt. Schließlich kam er zurück und nannte mir einen kleinen, etwa eine Meile entfernt gelegenen Ort, an dem sich nur ein Gasthof befände, in den sich die Dame zurückgezogen hatte, um in der Stille auf jemand zu warten, wie man ihm ganz bestimmt versichert hatte.«

Meinen Gedanken, daß man auf diese Art und Weise auch in dem zweiten Hotel den übergeschnappten Schorsch loswerden wollte, verriet ich nicht.

»Als ich diese Gewißheit hatte«, fuhr er fort, »brach ich zunächst mal mehreren Flaschen Champagner die Hälse. Unmöglich zu sagen, wieviel Austern ich geschluckt habe. Der Direktor schlug mir vor, in die Kneipstube des Hotels zu gehen, und bezeichnend für die Gewalt und Erhabenheit meiner Empfindung und meines Selbstbewußtseins war – und nicht zu vergessen der nahen Erfüllungen –, daß die Leute umher mir wie Kutscher vorkamen. Schließlich tranken sie alle mit, wobei der Champagner in Strömen floß. Hochs und Hochs wurden ausgebracht auf das, was die nahe Zukunft für mich im Schoße hatte.

Wieder war mein Gepäck vorausgekutscht, ich zog es vor, ihm per pedes apostolorum zu folgen.

An diesen Weg, es war Nacht, werde ich denken, Herr X.! Stocknacht, man sah nicht die Hand vor den Augen. Dann war so ein Schimmer da vom Meerleuchten. Und schließlich, als sich das Auge gewöhnt hatte und eine hellere Wolke am Himmel die Stelle verriet, wo die Mondsichel sein mochte, sah man etwas entfernt eine in der Richtung des Strandes laufende dunkle Mauer, den Wald. Und da, da merkte ich, was hier, gerade hier Entscheidendes auf mich wartete. Ich spürte fast, wie mich der schwarze Schurke, der Satan in der Gefängniszelle, in seinen verfluchten Klauen hielt. Warum hatte ich keine Droschke genommen oder war mit der Bahn gereist?! Aber nein, das war nur die Falle, in die ich im letzten Augenblick vor Erreichung des Ziels gelockt werden sollte. Nun, Sie können mir glauben, als ich das erst einmal erkannt hatte, war ich entschlossen, durchzubrechen.

›Georg, nicht weiter! Georg, nicht weiter!‹ schrie es aus dem Wald.«

Der Fremde schrie so laut, daß, was der Schreier durchaus nicht bemerkte, die beiden Lauscher die Tür öffneten. Sie zogen sich auf ein Zeichen von mir zurück. Der Mensch fuhr fort: »Auf die Worte ›Georg, nicht weiter! Georg, nicht weiter!‹ gab ich mit Stentorstimme zur Antwort: ›Nun erst recht! dir zum Trotz! nun erst recht!‹

›Ich steche dich ins Gehirn!‹ schrie es aus dem Wald, worauf ich zurückgab: ›Stich, stich, stich!‹

›Hänge dich auf! Hänge dich auf!‹ kam nun wieder die Stimme aus dem Wald, ›denn die Dame, von der du faselst, gibt es nicht. Oder geh ins Wasser, du hast es ja nahe.!‹

›Halt deinen Rachen, Satanas!‹ gab ich brüllend zur Antwort. Bei alledem lief ich wie rasend am Strande fort. – ›Esel, die Dame verachtet dich!‹ – ›Nicht so sehr wie ich dich!‹ gab ich auf diese unverschämte Invektive dieses säuischen Hundes von einem abgerichteten Kielkropf oder was er war, zurück. ›Himmeldonnerwetter nochmal, kann man denn nicht mehr nachts, ohne von diesem Pack belästigt zu werden, einen kleinen Spaziergang machen?‹

Nein, das war es nun freilich nicht. Schließlich handelte er in höherem Auftrage.

Ich habe den Burschen zum Schweigen gebracht.

Wollen Sie wissen, wie? Auf die allergewöhnlichste Weise.

Schreien Sie mal! Schreien Sie mich mal wütend an! Wollen Sie mich mal bitte gefälligst wütend anschrein! Bitte gefälligst, schreien Sie doch!«

Er meinte tatsächlich mich mit dieser Aufforderung, obgleich mir das längere Zeit nicht klarwurde. Schreien, auf Befehl schreien wollte ich nun natürlich nicht. Schließlich hätte das ja im Hause das größte Entsetzen hervorgerufen. Aber der Kerl wurde immer dringlicher: »Schreien Sie doch, zum Teufel nochmal, und stellen Sie sich nicht zimperlich! Ich will Ihnen zeigen, wie man solche Schreier zum Schweigen bringt!«

Er griff in die Tasche, und ich dachte nicht anders, als im nächsten Augenblick einen Revolver zu sehen. Du bist hin, wenn du schreist, war mein erster Gedanke. Und hätte ich geschrien, ich lebte nicht mehr. Ich zwang mich, ganz leise zu sagen: »Sie haben wahrscheinlich ganz lustig und heiter in das Waldversteck des Gesellen hineingeknallt.«

»Das tat ich. Ein Unfug sondergleichen. Ich schlug eine ungeheure Lache auf, weil ich an seinem Schweigen merkte, daß es ihm in die Hosen ging. Aber, das muß ich sagen, er lachte wieder. Er lachte, bevor er endgültig schwieg. Auf eine Weise lachte der Hund, die ich lieber zum zweiten Male nicht hören möchte.

Im selben Augenblick war ich vor meinem erleuchteten Gasthause angelangt.

Ich traf gewöhnliche Leute im Gastzimmer. Notabene, ich habe vergessen, daß ich wieder fünf-, sechs-, siebenmal Anlauf nahm, ehe ich über die Schwelle des Hauses kam. Nämlich ich wurde von Armen und Fäusten, unsichtbaren Armen und Fäusten zurückgehalten. Aber ich merkte, daß ich jemandem alle Zähne aus dem Rachen geschlagen haben mußte, als ich um mich hieb.

Kein Zweifel, ich war am rechten Orte. Nicht nur, weil ich das Haus, das Gastzimmer erst zu erkämpfen hatte, sondern weil ich, hineingelangt, sofort erkannte, wes Geistes Kinder ich hier beisammen fand. Ich ließ natürlich Champagner auffahren.

Das war das reinste Kostümfest, Herr X. Da war ein Förster, ein dicker Wirt, die Wirtin, gekleidet wie eine Innsbruckerin. Sie rauchte Pfeife und lächelte nur, als ich ihr ein Glas Sekt in den Busen schüttete. Ein hübscher Bursche, ein Zitherspieler, war so polizeiwidrig, saumäßig dumm, daß er glaubte, ich erkenne ihn nicht. Wollen Sie wissen, wer er war?« – Der Erzähler drückte den Mund an mein Ohr und hauchte kaum hörbar hinein: »Der Bruder!« Dann trat er zurück, schlug die Hand auf das Herz und bekräftigte mit zwei brüllenden Schwüren: »Auf Ehr und Gewissen, der Bruder! der Prinz!!

Ha! . . .«

Er knöpfte an seinem Überrock, als sei er zu Ende und wolle gehen.

»Es saßen noch andere Leute da. Wie diese Leute mich zu behandeln versuchten, entbindet mich heute der Schweigepflicht. Sie mögen wissen, ich habe Ihre Majestät, die Tirolerin, sans façon geradezu mit dem ihr zukommenden Titel angeredet. Mochten sie ihre Komödie spielen, meinethalben, nur nicht mit mir. ›Ihre kaiserliche Majestät‹, sagte ich, ›haben sich allergütigst herbeigelassen‹, sagte ich, ›höchstselbst in einem untertänigst äußerst gelungenen kleinen Mummenschanz Ihre Teilnahme nicht zu versagen. Ich stelle mich ebenfalls gern zur Verfügung‹, sagte ich. – ›Wie gefällt dir der Herr, lieber Nikolaus?‹ wandte sie sich an den Wirt, bei dem es nicht schwerhielt, zu erkennen, daß sein Umfang nicht von Fleisch und Fett, sondern von einigen Federkissen herrührte. Der Zar war in Frankfurt voriges Jahr. Er war nach Ostende herübergekommen. Einen Irrtum gab es da nicht.

Bis dahin hatte der Zar mich bedient. Nun, sah ich, erschien die Kellnerin, die sofort mit der Wirtin, die sie hinausweisen wollte, einen Wortwechsel hatte. ›Was willst du denn, Trine?‹ sagte Ihre Majestät zu der sogenannten Magd, die ein Tuch unterm Kinn herum und über dem Kopf zusammengebunden hatte. ›Was willst du denn, Trine? Geh schlafen, du kannst doch hier nicht bedienen, wenn du Ziegenpeter hast, du wirst uns noch alle zusammen anstecken.‹

Ein Blitz, ein Blick, mein Plan war gemacht.

Die Verkleidung konnte nicht besser sein. Mit Erlaubnis zu sagen, die richtige Rotznase. Schlumpig, dreckig, mieserig und dazu noch die Backe aufgetrieben wie von einem Kartoffelkloß. Die Gesellschaft schien aber sehr zufrieden damit. Trotzdem wurde sie eigentlich mit einer unverkennbaren Ängstlichkeit von der ganzen Gesellschaft hinausgewiesen und schleunigst aus meinem Gesichtskreis gebracht.

Mein Zweck war in anderthalb Stunden erreicht, die ganze hochmögende Rasselbande lag unter den Tischen. Und wissen Sie was, ich habe das auf ganz einfache Weise zuwege gebracht. Ich forderte sie auf, auf das Wohl unseres Allerhöchsten Herrn einen Ganzen zu trinken, des Zaren einen Ganzen zu trinken, des Kaisers Franz Joseph einen Ganzen zu trinken, des Kronprinzen Friedrich einen Halben zu trinken, auf meine huldvolle Herrin eine ganze Flasche zu trinken, und so fort und so fort, bis alles stockhagelmäßig besoffen war. Dann begab ich mich ganz gelassen, von niemand gehindert und als ob nichts geschehen wäre« – er zwinkerte, wie ich bisher noch niemand im Leben zwinkern sah, er zwinkerte diebisch, er zwinkerte grimmig und lüstern –, »begab ich mich ganz gelassen, sagte ich, begab mich tatsächlich ohne weiteres zu meiner quietschvergnügten Magd in die Koje hinauf.

Unten lag das Gesindel und schnarchte.

Am nächsten Morgen kam Kavallerie, und ich mußte, Hals über Kopf, das Feld räumen. Meinen Spaß freilich hatte ich weg.«

»Haben Sie«, fragte ich, »Ihr Geld wieder mit zurückgebracht?«

»Ich mußte vierter Klasse zurückreisen. Ich habe Ihrer Majestät die letzten zweitausend Mark an einer diskreten Stelle des Nachttischchens deponiert. Ich mußte das tun, es war das mindeste.

Nun also, warum ich gekommen bin. Sagen Sie, was raten Sie mir? Soll ich über die Grenze gehen, oder soll ich ganz einfach nach Berlin und die Leitung des Reiches in die Hand nehmen?«

»Aber, aber«, sagte ich, »natürlich nehmen Sie die Leitung des Reiches sofort in die Hand.«

Er schien befriedigt, nahm seinen Hut und war einen Augenblick später verschwunden.

 

Bergfried, den 19. September 1904.

Eine neue, stille Schönheit erfüllt mein Haus. Eine neue, stille Schönheit erfüllt unser Haus. Mit allen seinen Räumen, mit allen seinen Mauern, vom Fundament bis zum Dachziegel ist eine Veränderung vorgegangen. Das Material des Hauses ist über Nacht ein ganz anderes geworden. Niemals hätte ich eine solche Verwandlung für möglich gehalten.

Seit gestern erst darf ich von diesem Baue sagen, er stehe fest. Seit gestern erst atmen wir darin eine miasmenfreie Luft; Sporen, die sich auf die Organe der Seele legen, sie reizen und entzünden, schweben nicht mehr darin herum. Das Geschwebe, wie der Planktonforscher das Plankton im Wasser nennt, ist fort und trübt ferner die Klarheit des Elementes nicht.

Was ist geschehen? Was hat sich ereignet? Warum ist dieses Haus nun eine feste Burg, eine erst wahrhaft feste geworden in dem Augenblick, wo sie nicht mehr belagert wird? Gerade die Feinde, um derentwillen sie errichtet worden ist, sind nun abgezogen. Das Atmen geschieht mit einer Leichtigkeit, die ich seit einem Jahrzehnt nicht gekannt habe. Dieselbe Leichtigkeit ist in die Bewegungen meines Körpers eingezogen. Ich gehe aufrecht und befreit, wie jemand, der mit einer niederziehenden, bleiernen Last im Wachen und Schlafen behaftet gewesen ist, die er nun abgeworfen hat. Er hat seine Arme, seine Schultern, seinen Nacken freibekommen, Aufgaben zu bewältigen, die er früher mit und trotz der bleiernen Last bewältigen mußte.

Dies niederschreibend, sitze ich in dem runden, braungetäfelten Turmzimmer an meinem Arbeitstisch, auf dem gleichen Lehnstuhl, den gestern der Standesbeamte eingenommen hat. Von diesem Tisch und von dieser Stelle aus bin ich gestern mittag mit Anja getraut worden.

Der Standesbeamte Herr H. hatte angeboten, um jedes Aufsehen zu vermeiden, wie das Gesetz ihm freistelle, die Formalitäten der Trauung im Bergfried selbst vorzunehmen. Und das wird ewig wahr bleiben, daß dies ernste Refugium während dieser Viertelstunde wirklich zu einer Art Kirche wurde.

Es ist vormittags und jene tiefe Stille um mich, die nur diesem Hause zuweilen eigen ist, eine an Verlassenheit grenzende Stille, und, da wir nun einmal in Bildern (τὸ σύμβολον: das Sinnbild) zu denken und zu sprechen gezwungen sind, darf ich sagen, daß man die Anwesenheit eines heiligen Boten, die Kraft seiner Aura, auch nun er geschieden ist, noch überall spüren kann. Sie wird diesem kleinen Steinhaufen nie vor seinem Einsturz ganz verlorengehn.

Dieser Angelus hat die Verwandlung, von der ich sprach, der Räume, der granitnen Fundamente, der Ziegelsteine, der Dachsparren, des Lichtes, das durch die Fenster dringt, der Luft, die ich atme, mit sich gebracht und ein ätherzartes neues Element, reiner als Luft und Licht, zurückgelassen. Auch die Stille, von der ich schrieb, ist von der unaussprechlichen Heiterkeit dieser Gnadengabe erfüllt.

Wie die Scheidung erreicht wurde? Durch kluge Politik meines juristischen Freundes und durch Melittas Sinnesänderung. Sie hielt es nun doch wohl für nutzlos, weiterzukämpfen. Schon ihre Flucht vor meinem letzten Besuch in Dresden deutete darauf hin.

Praktische Rücksichten mochten mitsprechen.

So ist es also den Jahren doch gelungen, ein friedliches Auseinandergehen herbeizuführen. Aber der langsame Lösungsprozeß, den ich um Melittas willen gewählt habe, hätte mich fast das Leben gekostet.

Ich bin bewegt, wenn ich denke, wie ich geführt worden bin. Aber, werden gewisse Philosophen sagen, es gibt keine Führung, es gibt keine Vorsehung, höchstens eine Notwendigkeit. Nun, ich bin hier im Bereich des Persönlichen und Lebendigen, soweit es zu erfüllen und zu erleben ist. Und so bin ich erschüttert davon, daß dieses Haus nun meine und Anjas Hochzeitskapelle und unser steinerner Trauzeuge geworden ist. Es hat damit seinen höchsten Zweck erfüllt, seine letzte Weihe erhalten.

So ist ein nunmehr zehnjähriges bitteres Ringen zum Abschluß gebracht.

In der großen Halle oder Diele vollzog sich das kleine Hochzeitsmahl, dem der Standesbeamte, Anjas Bruder, Justizrat J. und zwei befreundete Ehepaare beiwohnten.

Eine Teilnahme meiner Familie fand nicht statt.

 


 


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