Gerhart Hauptmann
Buch der Leidenschaft
Gerhart Hauptmann

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Erster Teil

Grünthal, am 10. Dezember 1894.

Merkwürdig: die letzten acht Jahre meines Lebens erscheinen mir wie ein Tag, dagegen die Zeit von gestern zu heut durch Jahrzehnte getrennt auseinanderliegt. Mir ist, als wäre mein Reisewagen bei klarem Wetter allmählich hügelan gerollt, so daß die zurückgelegte Strecke von ihrem Ausgangspunkte an immer unter meinen Augen blieb, und plötzlich habe der Weg eine Biegung gemacht auf eine Art chinesischer Mauer zu, die Kutsche sei durch ein Tor gerollt und dieses habe sich, sobald sie hindurch war, für immer geschlossen und alles hinter mir versperrt.

Das hochverschneite Landhaus, darin ich dies schreibe, wird von mir, meiner Frau und den Kindern bewohnt, nicht zu vergessen mein Bruder Julius und seine Frau, die den östlichen Flügel für sich benützen. Gestern um die Dämmerung kam ich auf dem Bahnhof an, der tiefer im Tale liegt. Meine Frau, meine Kinder empfingen mich, und die ausgeruhten vierjährigen Litauer, die ich erst vor sechs Wochen gekauft habe, zogen den Schlitten, darin wir, in Pelzwerk wohl eingemummt, beieinandersaßen, mit Schellengeläute das Gebirge hinan. Weihnachten steht vor der Tür. Die Kinder lachten, forschten mich nach Geschenken aus, neckten und streichelten mich, indes meine Frau, im Gefühle mich wiederzuhaben, ein gesichertes Glück genoß.

Was bist denn du für ein Mensch? sprach ich zu mir. Äußerlich doch derselbe, denn die Gattin und die Kinder erkennen dich ganz für den, der du gewesen bist. Sie sind erfüllt von dem Jubel des Wiedersehens – und dir sitzt der Schmerz des Abschiedes wie ein unbeweglicher Stachel tief in der Brust! Warum erwärmt dich das volle und ahnungslose Vertrauen dieser hingegebenen Herzen nicht, sondern erzeugt einen ratlosen Schrecken in dir, wie etwas Furchtbares? Kannst du nicht, gewaltsam, ganz der Mann, ganz Gatte und Vater von ehedem wieder sein und in die vollkommene Harmonie dieser Seelen einstimmen?

Nein! – Es war, als habe irgendwo gegen die leichentuchartigen Schneeflächen der Talabhänge oder vor dem klaren und funkelnden Nachthimmel ein riesiges Haupt seine schweren Locken verneinend geschüttelt, kurz ehe mein Blick es treffen konnte. Es geht nicht an, du bist für sie tot!

Ich kam aus Berlin. Ich hatte eine berufliche Angelegenheit zu einem überraschend glücklichen Ende geführt. Nun auf einmal waren wir hinsichtlich unseres Durchkommens sorgenfrei. Für mich bedeutet das nicht allzuviel, für meine Frau, die von Natur geneigt ist, sich Sorgen zu machen, desto mehr. Die Freude über den Vermögenszuwachs steigerte ihr für gewöhnlich ernstes Wesen schon während der Fahrt zu einer Art Ausgelassenheit. Sie sagte mir, zu Hause angelangt, unter der freundlichen Lampe im warmen Zimmer, ich solle fortan keinen Anlaß haben, sie wegen Niedergeschlagenheit und Trübsinns zu schelten, denn nun sehe sie meine Zukunft und die der Kinder gesichert nach Menschenmöglichkeit. Plötzlich stutzte sie aber und fragte mich, ob ich unpäßlich sei. Ich verneinte das. Allein soviel ich mir nun auch Mühe gab, wenigstens diesen Abend noch der alte zu scheinen, bemerkte ich doch, daß sie beunruhigt blieb und wie in uneingestandener Angst vor irgendeinem drohenden Unheil ihre häuslichen Obliegenheiten verrichtete.

Ich habe unter anderen Schwächen auch die, nichts Wesentliches verbergen zu können. Außerdem hatten meine Frau und ich uns in dem Versprechen geeinigt, unsere Herzen sollten einander jederzeit und ohne alle Hinterhältigkeit offen sein. Als ich daher, mit der Lüge im Herzen, nach einer ziemlich peinvollen Nacht mich erhoben hatte und meine Frau mit schmerzlicher Dringlichkeit mich geradezu nach der Ursache meines veränderten Wesens fragte, bekannte ich ihr, wie in der Tat ein Ereignis in mein Leben getreten sei, unerwartet und unabweisbar, von dem ich nicht wissen könne, ob es zugunsten unseres gemeinsamen Lebens auszuschalten sein werde oder nicht. Und nun ergriff ich entschlossen und wie unter einem Zwang das Messer des Operateurs und trennte mit einem grausamen Schnitt zum größten Teile die Vernetzungen unserer Seelen, indem ich erzählte, daß ich einer neuen, leidenschaftlichen Liebe verfallen sei.

Sie glaubte mir nicht. Und jetzt, wo die Wunde gerissen war und blutete, verband ich sie, und um die Frau, die ich fast so sehr liebte wie mich selbst, am Leben zu halten, gab ich ihr allerhand Stärkungsmittel und behandelte sie in jeder Beziehung wie ein verantwortungsvoller Arzt. Ich gab mir den Anschein, als nähme ich nun plötzlich die Sache leicht, als habe ich wirklich nur einen Scherz gemacht, schnitt aber doch, mit »wenn« und »vielleicht« das Unheil ins Bereich des Möglichen ziehend, verstohlen weiter Fäden entzwei, bis die arme Patientin im Fieber lag und alsbald mit ihrem Fieber mich ansteckte.

Ich habe ihr nun zum zwanzigstenmal gesagt, es sei, um uns nicht in der ersten Verwirrung unserer Seelen zugrunde zu richten, nötig, den ganzen Konflikt auf einige Stunden wenigstens als nicht vorhanden zu betrachten, und bin dann heraufgeeilt, um schreibend für einige Zeit die Sachen kühl und als fremde zu sehen und so, wenn auch vorübergehend nur, ihrer Herr zu sein.

 

Nachmittags.

Es will ihr nicht in den Kopf. Und wie sollte sie auch nach dem, was wir einander gewesen sind und miteinander durchlebt haben, glauben, daß ich ihr unwiderruflich und unwiederbringlich verloren sei?! Sie wollte den Namen des Mädchens wissen oder der Frau, die es mir angetan habe, und als sie ihn, hin- und herratend, endlich erfuhr, fiel sie erst recht aus allen Himmeln, denn sie begriff es nicht, daß ein so unbedeutendes, oberflächliches Menschenkind mich fesseln könne. Sie meinte, es würde sie nicht gewundert haben, wenn irgendeine reife und bedeutende Frau – sie nannte Namen – mir Eindruck gemacht hätte. Aber dieses unbeschriebene Blatt, dieses halbe Kind ohne jede Erfahrung und ohne Charakter, wie sie es kannte, als Rivalin zu denken, verletzte im Innersten ihren Stolz. Es ist nicht unedel, sondern durchaus nur natürlich, daß sie mit starker Geringschätzung und entrüstet von dem Mädchen sprach und ihr alle erdenklichen Fehler andichtete: Leichtsinn, Verliebtheit, Vergnügungssucht, und daß sie für ganz unmöglich erklärte, ein so nichtssagendes, leeres Ding könne Sinn und Verständnis für meine Art und Bedeutung haben.

Seltsam, mir wird sofort um einige Grade leichter zumut, wenn von der Geliebten, sei's auch im Bösen, überhaupt nur die Rede ist. Ich verteidige sie wenig, denn es liegt mir gar nichts daran, wenn andere sie für etwas Besonderes halten. Im Gegenteil, so habe ich sie desto mehr und ausschließlich für mich.

Ich sehe übrigens ein, daß ich als Mann und Familienvater alles Erdenkliche aufzuwenden schuldig bin, um mich von dieser Raserei zu befreien. Aber die Stärke, mit der sie von meinem Wesen Besitz ergriffen hat, läßt wenig Hoffnung nach dieser Seite. Andre Hoffnungen leuchten in mir auf, erneuern die Welt mit der Kraft eines unerhörten Feuerwerks und entschleiern Gegenden voll unbekannter, himmlischer Lockungen.

Ich bin über dreißig Jahre alt. Von meinen Kindern ist das älteste ein Junge von acht, das zweite ein Junge von sechs, das dritte ein Mädchen von kaum zwei Jahren. Vier Jahre war ich verlobt, woraus hervorgeht, daß ich zu denen gehörte, die warten können, und daß ich jung in die Ehe kam. Ich glaubte bisher durchaus nichts anderes, als daß nun mein ganzes Leben, und zwar bis zum letzten Atemzuge, in dieser Liebe gebunden sei. Außerhalb dieses festgefügten Familienweltsystems, darin meine Gattin für mich die Sonne, die Kinder und ich Planeten darstellten, lag für meine Begriffe nichts, was sein Bewegungsgesetz auch nur von fern zu ändern in der Lage war.

Es ist eigentlich gar nichts Festes in mir. Der entschiedene und gewisse Bau meiner Seele scheint von reißenden Wassern unterwühlt und hinweggespült, so daß ich statt fester Türme, Mauern, Gemächer und Stockwerke nichts als schwimmende Trümmer erblicke. Was soll ich tun? Ich sehe zu. Ich stehe in der Gewalt eines Naturereignisses, das um so furchtbarer ist, weil es äußerlich niemand bemerken kann. Ich sehe zu und hoffe und warte auf ein Wunder.

Mein ganzes Wesen unterliegt einer Umbildung. Worauf soll ich fußen?

Mitunter kommt mir das verwegene Spiel, das ich zu spielen gezwungen bin, in seiner Unerhörtheit zum Bewußtsein, und dann, muß ich sagen, schaudert es mich. Ich frage: wie wird der Ausgang sein? und finde darauf durchaus keine Antwort. Bringt mir den Arzt! Ihr solltet doch wissen, daß der Zustand, dem ich verfallen bin, ganz unabhängig von meinem Willen ist. Wenn ich ein Gift auf die Zunge nehme, so kann ich nicht hindern, daß es mein Blut zersetzt und meine Maschine zum Stillstand bringt. Man flöße mir Wein durch die Gurgel, und ich werde betrunken, mein Wille leiste auch einen noch so entschlossenen Widerstand. Ebenso ist es vergeblich, mit dem Willen gegen den Typhus zu kämpfen, sobald er, und zwar in starker Form, uns einmal ergriffen hat. Wir müssen uns seinem Verlauf unterwerfen und anheimstellen, ob wir davonkommen oder nicht.

 

Grünthal, am 11. Dezember 1894, vormittags.

Soeben sprach mein Bruder Julius mit mir. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß etwas zwischen uns ist, was den Geist, den Frieden, das Glück unseres ganzen Hauses in Frage stellt. Was ich ihm aufklärend sage, nimmt er nicht ernst. Er betont immer wieder, es sei ja vielleicht nicht so unerhört, daß ein Mann in meinen Jahren und Verhältnissen sich nochmals verliebe, aber es gebe doch nur eine ganz bestimmte Art, den daraus erwachsenden Konflikt zu lösen. Ich bin anderer Meinung. Er widerspricht, und wir reden stundenlang hin und her, ohne am Schlusse einig zu sein. Er fragt auch, was ich beginnen wolle, und bezeichnet es als Wahnsinn – wie es mir denn auch beinahe erscheint –, mein gegründetes Hauswesen, Frau und Kinder zu verlassen und planlos davonzuziehen. Allein noch während mir davor graut, vor der Unzuverlässigkeit und Wandelbarkeit der eigenen Natur und ihrer Härte, jubelt es in mir auf, so daß ich plötzlich nicht anders kann und von meinem neuen Glücke zu reden beginne. Ich reiße, selbst hingerissen, den Bruder fort und merke ihm an, daß die trunkenen Schilderungen schon genossener und noch bevorstehender Freuden der jungen Liebe ihn völlig einnehmen, bis er mit mir zu schwärmen beginnt und seine Absicht, mich umzustimmen, vorübergehend gänzlich vergißt.

 

Nachmittags.

Ich habe ein unbestimmtes Gefühl davon, daß ich meiner Umgebung wie ein Kranker erscheinen muß, vor allem meiner geliebten Frau, der ich kaum von der Seite weiche. Das unsichtbare Ereignis bildet ein neues Band zwischen uns, und indem wir darüber reden, verschränken sich unsere Seelen mit einer seit Jahren abhanden gekommenen Innigkeit. Oftmals graust mir vor dem, was ich ausspreche, zeigt es doch meist die Verblendung durch Leidenschaft mit allergrausamster Offenheit, während es gleichzeitig auch verwirrend ist und nach Irrsinn duftet. Es ist ja nur Wahrheit, wenn ich sage, daß gleichsam ein Quell der Liebe, der meine ganze Welt übernetzt, in mir zum Durchbruch gekommen ist. Es ist ja nur wahr, daß in mir das »Seid umschlungen, Millionen!« singt und klingt und dabei meine Frau für Hunderttausende gilt. Es zieht mich zu ihr, ich liebe sie. Wenn das Innerste zweier Seelen sich berührt, so gibt es eine physisch deutlich empfundene letzte Einigkeit, und ich glaube nicht, daß ich während der ganzen Dauer unseres Verhältnisses sie je mit gleicher Stärke empfand. Und doch! wie soll sie es mit der unausbleiblichen Trennung in Übereinstimmung bringen, von der im gleichen Atem die Rede ist? Während ich spreche, raunt es in mir: Gewiß, du liebst sie wie eine Sterbende. Ich erschrecke und hüte mich, diese nüchterne Stimme laut werden zu lassen.

Meine Frau und ich, wir tanzen in diesen Winterstunden einen gefährlichen Tanz. Wir laufen treppauf, treppab hintereinander her, umeinander herum, suchen einander im Reden und umschlingen einander schweigend in qualvoller Innigkeit. Was um uns vorgeht, beachten wir nicht. Es ist kein Winter um uns, kein Sommer um uns. Wir haben kein eigenes Dach über uns, keinen eigenen Grund unter unseren Füßen. Keine Freunde haben wir, keine Geschwister, keine Kinder. Die unerledigten Korrespondenzen häufen sich. Nicht ein Brief wird beantwortet. Wir haben keine Geschäfte, keine Interessen, keine Pflichten. Wir klammern uns nur aneinander wie Menschen, die über Bord gefallen sind und sich retten wollen. Meinethalben, sie wollen einander retten. Aber der eine kann schwimmen, der andre nicht. Und während der Schwimmer den anderen packt, befällt diesen die Todesangst, er klammert sich verzweiflungsvoll um den Retter, und jählings beginnt jener letzte Kampf, der alle Menschen zu Feinden macht.

 

Grünthal, am 12. Dezember 1894, vormittags.

Immer wieder gerate ich in Staunen über die vollkommen veränderte Art und Weise, mit der ich meine nächste Umgebung auffasse. Eines Tages erblickte ich bei einer Gebirgspartie von oben her dieses Tal und dachte, hier wäre gut Hütten bauen. Entzückt und begeistert stieg ich mit diesem Gedanken durch Wälder und über Wiesenpfade hinab und hatte binnen weniger Stunden das Bauernhaus mit dazugehörigen Ländereien, Grasflächen, Buchenhainen und Quellen käuflich an mich gebracht. Noch erinnere ich mich der unendlichen Freude von Frau und Kindern, als wir den schönen Grund unser eigen nannten und angefangen hatten mit dem Umbau der alten, zerfallenen Kate, die dann, aufs beste verwandelt, unser behagliches Heimwesen werden sollte. Ich dachte nicht anders, als daß keine Macht der Welt mich vor meinem Ende von diesem Asyl und Grund trennen sollte. Ich hatte dies ganze Haus Jahre vorher aus wünschlichen Träumereien in meiner Seele liebevoll aufgebaut und, während es, jedermann sichtbar, wirklich erstand, wochen- und monatelang dem Maurer auf seine Kelle, dem Zimmermann auf die Axt, dem Tischler auf seinen Hobel gesehen. Jedes Möbelstück in der freundlichen Zimmerflucht hatte ich selbst gekauft und gestellt, und es hing kein Bild an den Wänden, wozu ich nicht eigenhändig die Fuge für den Nagel gesucht und einige Nägel mit ungeduldigem Hammer gekrümmt hätte. – Wie sieht mir nun alles auf einmal fremd und gespenstisch aus!

Ich habe mein Buch, in das ich dies schreibe, auf ein altes Stehpult am Fenster gelegt. Mich umgibt ringsum meine liebevoll aufgestapelte Bücherei, die den Weg meines suchenden Geistes kennzeichnet. Stiche, Abgüsse griechischer Büsten, Photographien, allerhand Reiseerinnerungen liegen und stehen umher, und alles das bedeutet auf einmal für mich nur Plunder.

 

Grünthal, am 13. Dezember 1894, nachmittags.

Der heutige Tag hat mir den furchtbaren Ernst meiner Lage gezeigt, die ganze Zerrüttung meines bisherigen häuslichen Seins. Der Kampf zwischen mir und meiner Frau, Melitta, nimmt Formen an, die an Wahnsinn streifen. Ich höre von ihr bittere, schiefe und ungerechte Worte, die ich vergebens zu widerlegen suche. Ich stoße selbst bittere und ungerechte Worte aus, die sichtlich eine marternde Wirkung ausüben. Es kommt so weit, daß meine Frau einem hysterischen Anfall unterliegt und in schrecklicher, grotesker Weise zu tanzen beginnt. Das ist die Gefahr! Ein Zug der Schwermut war ihr bereits als Mädchen eigen. Damals erhöhte er ihren Reiz. Hernach kamen Monate, Jahre, wo dieser Gemütsausdruck sich auf mich übertrug und mein an sich heiteres Wesen in steter Abhängigkeit erhielt. Unsere Kinder waren einander schnell gefolgt, und das Abnorme der Zustände vor der Geburt und nach der Geburt hat die Mutter sehr angegriffen und sie gegen allerlei Einwirkungen, die das Gemüt berührten, wehrlos gemacht. Ich bin zu einer Zeit in den sogenannten Stand der heiligen Ehe getreten, wo junge Menschen gewöhnlich ihr Leben in Freiheit zu genießen beginnen. Aber was geht mich das alles in diesem Augenblick an, und was soll es damit? Will ich mich vor mir selbst entschuldigen? Es bedarf dessen nicht. Ich fühle in jedem Augenblick, daß ich einer Macht verfalle, also schuldlos bin. Melitta aber kann sich nicht mitteilen, sie kann ihr Herz nicht durch Schreiben erleichtern. Weshalb soll ich unedel sein und Anklagen in ein Buch setzen, ohne daß die Angegriffene Gelegenheit findet, sich zu verteidigen? Sie litt mehr als ich . . . leidet mehr als ich! – Wer leidet wohl mehr als derjenige, der sein Leiden in sich verschließen muß? Ich sah dieses Leiden, wenn sie in wortloser Grübelei unruhigen Schrittes hin und her lief, von einer Zimmerecke zur anderen, wie eine Gefangene im Kerker, die dem Verhängnis nicht entrinnen kann. Sie sagt, ich hätte nur immer für die Mängel ihrer Natur Sinn gehabt, etwas Gutes in ihr niemals gesehen, ihr Wesen klein gemacht und erdrückt. Vergeblich beweise ich ihr in der Hitze des Streites das Gegenteil. Du hast mich, sage ich ihr, als einen nichtsbedeutenden, armen Jungen mit Entschlossenheit aufgegriffen. Dein Charakter war so, daß du der leidenschaftlichen Einreden deiner Verwandten nicht geachtet hast. Sie hielten mich alle für ein Geschöpf ohne Aussichten. Du glaubtest an mich! Du eröffnetest mir mit deiner Liebe und deiner Freigebigkeit die Welt, trotzdem du deswegen Spott genug zu erdulden hattest. Ich ging einen Weg, der im Sinne der Anschauung unserer Väter keiner war: denn was ist ein Mensch in den Augen eines guten Bürgers, der keinen bürgerlichen Beruf ergreift und sich mit Idealen befaßt, statt nach Rang, Gold und Titeln zu streben?! Wenn ich dieses und Ähnliches zu ihr gesagt hatte, wiederholte sie doch ganz unentwegt, ich wisse das Gute in ihr nicht zu würdigen.

 

Grünthal, am 14. Dezember 1894, vormittags.

Die Nacht war unruhig und zum Teil schlaflos. Ich fürchte, es wird überhaupt mit dem Schlaf des Gerechten auf Jahre hinaus vorüber sein. Der Kopf summt mir von allerhand süßen und zärtlichen Melodien, trotzdem die Wolke des Schicksals in mein Haus hereinlastet und etwas Drohendes überall mich berührt. Ich habe heut eine Aufgabe. Die Aufgabe ist, in das Postamt des nächsten Dorfes zu gehen und nachzufragen, ob ein bestimmter Brief für mich dort lagert. Ich bin sehr unruhig und gespannt. Das frische, geliebte Kind hat sich zwar mit so unzweideutiger Neigung für mich erklärt, daß irgendein Zweifel an seiner Festigkeit vernünftigerweise nicht zulässig ist. Allein wann wäre der Liebende wohl vernünftig! Seine Zweifel steigern sich, selbst wo er sieht, ins Absurde hinein, wieviel mehr, wenn der Gegenstand seiner Leidenschaft seinen Augen entzogen ist. Es kommt ihm in diesem Falle mitunter so vor, als habe er nur geträumt. Die vergangenen glücklichen Augenblicke erscheinen ihm unwirklich, und er wartet krampfhaft auf einen Liebesbrief als feste Bestätigung. So geht es mir. Was kann sich übrigens alles ereignen in einem Falle, wie unserer ist, der sie, wenn etwas ruchbar würde, sogleich in die bittersten Kämpfe mit den Ihren verwickeln müßte: Kämpfe, in denen ihr fester Wille vielleicht unterliegt. Geduld!

Das ganze Haus ist von einem eigentümlichen, schmerzlich-festlichen Licht erfüllt. In einem persönlich tieferen Sinne liegt etwas von Karfreitagszauber darin. Die Fähigkeit, die mir innewohnt, zugleich der Darsteller in der rätselhaften Dichtung des Lebens und der Zuschauer dieses Dramas zu sein, ermöglicht mir, nüchternen Auges eine Art Weihe über uns allen zu erkennen. Ringsum keine Spur von Banalität. Es gibt kein Familienheim, wo nicht Banalität, wie Weinstein das Innere eines Weinfasses, unmerklich die Wände, Dielen und Decken, Möbel und Menschen überzieht, so daß mit der Zeit die Seele darin, wie der Wein im Faß, keinen Platz mehr hat. Nun sind aber unsere Seelen ausgedehnt und lodern wie qualvoll selige Feuer.

Es ist seltsam, wie weit mein Wahnsinn geht. Aller Augenblicke nehme ich den »Westöstlichen Divan« oder den zweiten Teil »Faust« zur Hand und finde überall Worte, die mich in meiner entschlossenen Liebe bestätigen. Das wäre an sich nicht wunderlich, aber ich tue noch mehr. Ich beweise mit diesen Bestätigungen meiner gequälten Frau, die doch nur immer aus allem Totenglocken des eigenen Glückes klingen hört, daß ich auf rechtem Wege bin. Ich spreche von einem Früh-Frühling, der mir wieder beschieden sei, und gehe so weit, ihr anzuraten, auch einem solchen neuen Frühling entgegenzuwarten. Wir weinen dabei zuweilen in seligem Schmerz und küssen uns. Vor unseren Seelen tauchen die ersten Tage, Monate und Jahre unserer Liebe auf. Wir leben in diesen vergangenen Zeiten zärtlich, als stünden wir mitten darin: Weißt du noch, wie du dich über die Gartenmauer herunterlehntest, mit dem schwarzen, seidigen Haar und dem bleichen Gesicht und in jenem Jäckchen, das wir Zebra nannten, weil es weich und gestreift wie das Fell eines Zebras war? Weißt du noch, wie lange ich winkte, sooft ich Abschied nahm? und aus dem Schnellzug heraus, gegen die Talabhänge hin, wo euer Landsitz sich stolz und behäbig erhob? Weißt du noch, wie ich dir an die Gebüsche im Garten allerhand Zettel mit Liebesworten befestigt hatte, die du finden solltest, nachdem ich bereits aus eurem Kreise wiederum in die Fremde entwichen sein würde? Weißt du noch? Erinnerst du dich an den Frühlingsmorgen, den Heidenturm und den ersten Kuß? Weißt du noch? Ja weißt du noch? – Und wir gedachten an tausenderlei entzückende Einzelheiten unseres wahrhaft romantischen Liebesglücks.

 

Nachmittags.

Ich besitze den ersten Brief. Ich glaube, ich war ziemlich unsicher, als ich am Schalter stand, und wie ich aus dem ländlichen Postamt auf die Straße gelangt bin, weiß ich nicht. Die Schriftzüge wirken nüchtern, bestimmt und männlich, durchaus nicht wie von der Hand einer Siebzehnjährigen. Der Inhalt des Briefes dagegen ist von einer entzückenden Frische und hinreißend, wie aus der Pistole geschossen, wenn dieses Bild in Dingen der Liebe erlaubt sein kann. Und was kann süßer und weiblicher sein als die zwei Worte der übrigens namenlosen Unterschrift: Dein Eigentum!

Es ist natürlich, daß ich mit diesem Text im Kopf entzückt, entrückt und beseligt bin. Denn es gibt keinen Fürsten, Kaiser und Gott, der mit einer so geschenkten, so gearteten Gabe durch gleiche Gnaden wetteifern könnte. Ich kann meine Freude nicht verbergen, und da meine Frau nicht weiß, woher meine überschwengliche Laune stammt, sieht sie darin ein Zeichen veränderter Sinnesart, das sie zu ihren Gunsten deutet, und heitert sich, wenn auch allmählich und schüchtern, mit mir auf.

Den Brief in der Brusttasche, schreite ich mit ihr in den Zimmern umher oder sitze zu ihren Füßen am Fenstertritt, auf dem ihr Nähtischchen steht, und bringe nur eitel rosige Hoffnung zum Ausdruck, die mich erfüllt. Die Hindernisse, die Schwierigkeiten, die schweren Gefahren aller Art, mit denen unsere nächste Zukunft auf uns lauert, erkenne ich nicht an, überfliege ich. Ich sage einfach: Es wird alles gut werden! Dabei denke ich immer: Dein Eigentum . . .

Ich habe ein tolles Gefühl in mir: vor Menschen sicherlich närrisch, schwerlich vor Gott. Mein Glück ist so groß, daß ich alles in seinem Gefühl vereinigen möchte. Ich möchte jedermann, aber vor allem denjenigen, die ich lieb habe, davon mitteilen. Ich glaube an arkadische Zustände, wo mein Glück wie eine leichte, bezauberte Luft alles zu ein und derselben göttlichen Trunkenheit in Liebe vereinigen kann. Indem ich dergleichen Ideen ausspreche, blickt meine Frau mich andächtig lauschend an, um schließlich, auf ihre Arbeit gebeugt, immer wieder leise, kaum merklich, den Kopf zu schütteln. – Dein Eigentum! Dein Eigentum!

 

Grünthal, am 15. Dezember 1894.

Besinne dich, komm zu dir selbst! Hat sich nicht eine betäubende Wolke auf dieses verschneite Haus gesenkt, die nicht nur meine Vernunft, sondern mich selbst ersticken will? Melitta schläft. Es ist gegen Mitternacht. Sie hat ein Schlafmittel eingenommen. Ich habe mein Lager oben unter dem Dach. Es ist mir mit vieler Mühe gelungen, mich für die Nacht zu isolieren. Wir dürften durch unsere Unruhe die Wirkung des Schlafmittels nicht in Frage stellen, behauptete ich.

Furchtbar zerrüttende Nächte liegen hinter uns. Mit ruhigem Vorbedacht nenne ich sie Höllen. Die Tage sind schlimm: noch eine kleine Anzahl solcher Nächte aber, das wäre der Tod! – auch dies geschrieben nach ruhigem Vorbedacht.

Wir wüteten heute gegen uns selbst. Ein Grimm, eine Wut gegen uns, gegen unsere Vergangenheit, gegen die ganze Nasführung durch das Schicksal war in uns aufgekommen, eine Zerstörungswut gegen alles, was darin glücklich war. Wir wollten das Gestern nicht mehr wahrhaben, nachdem es uns zum Heute geführt hatte, diesem schrecklichen Heut, das doch wohl auf dem Grunde allen Glückes tückisch gelauert hatte. Der Gedanke, dieses ganze Leben war ein gemeiner Betrug, einigte uns.

Wir verfielen darauf, ein großes Autodafé anzurichten. Stöße von Liebesbriefen mußten her. Es war ein Fieber, wir waren irrsinnig. Alle steckten noch in den Umschlägen. Schübe und Kassetten wurden mit einem sinnlosen Eifer um- und umgekehrt, unsere Hände fuhren wie Wiesel in ihre Schlupflöcher. Alles mußte vernichtet sein. Das kleinste Zettelchen, das von unserer Liebe hätte zeugen können, wurde dem Feuer überliefert.

Gut eine halbe Stunde lang und länger brannte der Papierberg hinterm Haus. Den Schnee zerschmelzend, hatte er sich bis zur nackten Wiesenkrume niedergesenkt. Wir standen dabei, die Kinder schürten das Feuer. So sündigten wir an den seligsten Jahren unseres Lebens, so vernichteten wir alle Wonnen, Sehnsüchte, Liebesbeteuerungen, alle diese heiligen Zeichen, bei denen der Gott der Götter uns die Hand geführt hatte.

Wie grausig doch das Lachen der ahnungslosen Kinder anmutete! Ich habe gesehen, wie sie unter Schmerzen von ihrer Mutter geboren wurden, habe sie gebadet, auf dem Arm getragen, trockengelegt, habe sie betreut, wenn sie krank waren – und morgen will ich mich nun von ihrer Mutter und somit auch von ihnen abwenden! Meiner Wege will ich gehen und sie allein lassen in der Welt! Ist dies eine Sache, die man ausführen, ja, auch nur ein Gedanke, den man denken kann?

Während das Feuer über dem Leichnam unserer Liebe zusammenschlug, der Wind hineinfuhr und die einzelnen papierenen Fetische der Vergangenheit auseinandertrieb, trug ich einen Fetisch verwandter Art heimlich auf der Brust, meinen Anja-Brief mit der Unterschrift »Dein Eigentum«, jenen, den ich verstohlen von der Post einer benachbarten Ortschaft geholt hatte. Und während die Kinder den einzelnen papierenen Flüchtlingen nachliefen und sie der Glut überlieferten, sprang dieser mit meinem Herzen, in dessen nächster Nähe er lag, wie der Reiter mit einem Füllen um. Heiß, heißer als irgendein im Feuer brennender war dieser Brief. Und wenn ich mir dessen bewußt werde, frage ich mich, wie es möglich ist, in einem Raum der Seele neben unendlichem Schmerz unendliches Glück zu beherbergen, wie es von diesem Zettelchen Anjas in jede Fiber meines Wesens schlug. Waren wir eigentlich und war ich eigentlich für das heute Geschehene noch verantwortlich? Ich fürchte nein, da ich nirgend einen Ausweg, nirgend ein Entrinnen sah. Ich hatte schreckliche Visionen. Sie bezogen sich auf mich selbst. Ich war der Henker, höllisch angeglüht, der in dem Feuer, darin er düster stocherte, nicht nur ein abstraktes, gewesenes Glück, sondern Weib, Kinder, Haus und Hof zu Asche werden sah. Und manchmal – es fehlte nicht viel – wollte er selbst in die Flamme hineinspringen.

Ich erschrak, als Melitta ihr Schlafmittel nahm. Mir kam der Gedanke: wenn es Gift wäre?! Wer weiß es, zu welcher Lösung ich einmal greife . . .

 

Grünthal, am 16. Dezember 1894, morgens.

Eines ist ganz unabänderlich: ich muß fort. Mich graust es fast auszusprechen, aber weshalb sollte man sich selbst immer und immer schönfärberisch verfälschen: die Leute, mit denen ich hier zusammenlebe, sind mir ganz fremd. Sie verstehen mich nicht. Sie quälen mich. Sie verlangen Dinge von mir, die darauf hinauslaufen, ich solle eigenhändig meinem Dasein ein Ende machen. Vielleicht wissen sie nicht, was sie von mir verlangen, daß mein Leben ohne mein »Eigentum« so wenig im Bereich des Möglichen liegt wie das Atmen in einer Luft ohne Sauerstoff. Was geht mich das an? Warum sind sie in Dingen des Lebens so töricht und unerfahren? Nein, ich muß fort! Ich halte es nicht mehr aus im Bereiche der flehenden, rotgeweinten Augen meines Weibes. Das glückliche Lachen meiner ahnungslosen Kinder foltert mich. Das endlose Diskutieren mit Gattin und Bruder über das Unabänderliche macht mich mürbe bis zum Umsinken. Und wäre das alles nicht – ich muß zu ihr! Ich bin wie in einem unterirdischen Kerker hier, in den weder Sonne noch Mond dringen kann. Die Tage sind wie riesige Quadern, durch die ich mich mit den bloßen Nägeln ins Freie zu wühlen habe, und ich fühle, wie schon an Stunden, ja an Minuten mein Mut erliegt, meine Kraft versagt. Ich will zu ihr! Was geht mich das alles an: ob meine Frau sich abhärmt, ob meinem Bruder Unbequemlichkeiten und Sorgen erwachsen, ob meine Schwägerin sich mit Haß gegen mich erfüllt, ob meine Verwandten mich für wahnsinnig halten oder verbrecherisch! Ist doch die Frage für mich – und es genügt, wenn nur ich das weiß –: hie Leben, hie Sterben! Ich weiß gewiß, daß ich dem langsamen, martervollen Hinsterben der alten Existenz das schnelle durch einen Schuß unbedingt vorziehen würde. Wären die Meinen dann besser dran? Aber nein: ich will leben! ich will nicht sterben! Und ich habe überhaupt keine Wahl. Es gibt kein Zurück. Ich fühle, daß über mich und über mein ferneres Leben im ewigen Rate entschieden ist. Die Mächte haben für mich die Entscheidung getroffen – ich fühle das. Ich fühle, daß kein Entrinnen ist.

In mir ist keinerlei Leichtsinn, wahrhaftig nicht. Ich kann behaupten, daß ich in einer Art tiefer Entschlossenheit die unentrinnbare Nähe des Schicksals empfinde und daß ich von klaren Befehlen starker Stimmen durch Tage und Nächte begleitet bin. Alle weisen mich vorwärts, keine zurück! Allein indem sie mich vorwärts weisen, versprechen sie nichts, sondern sie senden mich in eine wildzerklüftete, durch Gewölke und Sturm verdüsterte, undurchdringliche Welt hinaus, wo Kämpfe und Mühsale meiner warten.

 

Berlin, am 18. Dezember 1894.

Seit gestern bewohne ich ein möbliertes Zimmer in Berlin. Es ist frostig, wie diese Räumlichkeiten zu sein pflegen. Ich gelange zu meinem Tuskulum durch einen engen, nach Mänteln und Schuhwerk riechenden Korridor, den meistens fettige Dünste schwängern. Auf diese Weise fängt ein besonderes Martyrium für mich an.

Ich bin sehr verwöhnt, und indem ich um diese Jahreszeit ein behagliches Heimwesen aufgebe, wo alles meinen Gewohnheiten, Wünschen und Neigungen schmeichelte, mache ich mich eigentlich obdachlos. Ich weiß nicht, was für einen entsetzlichen Stil diese schwarzlackierten, mit gepreßtem rotbraunem Plüsch überzogenen Möbel darstellen wollen. Ich weiß überhaupt nicht, warum sie da sind und die Öldrucke an den Wänden, in protzigen Goldleisten, die Papierblumen und dickverstaubten Makartbuketts und das schreckliche Bric-à-brac an Nippes, kleinen Vasen, japanischen Fächern, gestickten Deckchen und so fort; denn ich würde lieber in der gut gescheuerten Stube eines Kätners wohnen als in dieser Räumlichkeit.

Nun, was habe ich weiter damit zu schaffen! Wenn ich die Feder absetze, mit der ich in dieses Buch schreibe, nehme ich meinen Mantel um, stülpe den Hut auf den Kopf und begebe mich in die Winternatur, hinaus vor die Stadt, an die weitgedehnten, zugefrorenen Havelseen, und zwar nicht allein. Ich werde dabei die Stimme meiner Geliebten hören, das lustige Geläut ihres Lachens, werde ihren energischen Gang, ihre aufrechte Haltung bewundern und im Bewußtsein ihrer Gegenwart geborgen sein. Am Rande der Seen werde ich Schlittschuhe an ihre kleinen Füße legen, die meinigen auf Schlittschuhe stellen, und wir werden meilenweit über das Eis davonschweben, losgelöst von der ganzen, überflüssigen Welt.

Als ich sie gestern traf, verabredetermaßen auf einem großen, belebten Platz, war ich im ersten Augenblick beinahe enttäuscht. Meine erhitzte Einbildungskraft hat ihr Bild dermaßen ins Außerirdische gesteigert, daß keine Wirklichkeit es erreichen kann. Kaum aber waren wir eine Viertelstunde nebeneinander hingewandelt, so trat ihr ganzer Zauber wieder in Kraft und riß mich hin von einem zum andern überschwenglichen Augenblick.

Sie ist eher groß als klein. Sie beugt das kindliche Haupt nicht nach vorn, wenn sie grüßt, sondern wirft es zurück, so daß ihre großen, trotzigen Augen kühn hervorstrahlen mit einem graden, entschlossenen Blick. Ihr Händedruck ist bieder und fest. Man fühlt den Freund, nicht, wie bei manchen Frauen, nur das Weib in der molluskenhaft weichen Hand. Ein Geist des Vertrauens geht von ihr aus, der von mir als eine neue Schönheit empfunden wird.

Ihr Bruder, wie Anja erzählt, hat sie zuweilen, als sie noch ein Kind war, auf hohe Schränke gestellt und ihr befohlen, herunterzuspringen: sie hat das immer sofort getan. Er fing sie mit den Händen auf, wodurch ihr vertrauender Sinn bestärkt wurde.

Ich weiß nicht, wie ich in meinem Alter plötzlich das Glück einer so wundersamen Verjüngung empfinden kann. Es ist, als befinde sich die ganze Natur um mich her im Stande der Erneuerung. Mit einemmal ist das rastlos Suchende aus meinem Wesen verschwunden, eingenommen und aufgesaugt von einer Erfüllung über Erwarten. Ich lese nichts mehr. Die hypochondrischen Grübeleien sozialistischer, ethischer, religiöser und philosophischer Essayisten erscheinen mir überflüssig oder gar wie häßliche, krankhafte Prozesse zur Vermehrung der Makulatur. Zuzeiten erscheint mir die geistige Produktion dieser Art einem Niagarafalle von Abwässern nicht unähnlich, und ich habe den Wunsch, daß irgendein bodenloser Abgrund sie verschluckt. Dies alles beschäftigt uns viel zu sehr in müßiger Weise und lenkt uns von dem einzigen Sinn des Lebens, von der Liebe, ab. Entzieht euch der Liebe nicht, das heißt: ergreift das Glück und verleugnet dagegen ebensowenig den Schmerz! In diesen Dingen geschieht das Aufblitzen der großen Mächte des Lichts und der Finsternis. Da kommt es vor, daß ein schnelles Leuchten dem Auge nachtbedeckte Paradiese enthüllt und jäher Schmerz die brennenden Höllen der Unterwelt. Ein anderes Dasein ist kein Leben!

 

Berlin, am 19. Dezember 1894.

Ich habe heute einen Brief von daheim. Jedes Wort darin hat Marter aus der Seele gepreßt, jedes ist aus einer unerhörten Bestürzung geboren. Es sind wenige, gleichsam weinende Zeilen einer verlassenen Frau. Ich sehe den Brief, der neben mir liegt, immer wieder an und greife mir nach dem Kopf, als müsse ich mich aus dem Schlafe erwecken.

Wie das doch nur alles gekommen ist!?

Melitta und ich waren gemeinsam hier in Berlin. Eines Tages ergriff sie die Flucht, da ihr der Trubel unerträglich geworden war. Sie reiste heim und ließ mich zurück. Wenn sie das nicht getan hätte, würden wir vielleicht dem Verhängnis entgangen sein.

Denn nun stand sie nicht mehr zwischen Anja und mir. Wir konnten uns sehen, sooft wir wollten, in Konzerten nebeneinandersitzen und in einer Kette von gefährlichen Gelegenheiten unsere Neigung anfachen, bis es schließlich zur entscheidenden Aussprache kam. Als wir eines Abends bei milder Luft das Kronprinzenufer hinuntergingen, erhielten unsere Worte einen verwickelten Sinn, der uns beiden schließlich den Irrtum völlig benahm, wir seien einander gleichgültig.

Melittas Brief verlangt von mir eine Probezeit.

Geh nach der Schweiz, schreibt sie mir. Du brauchst nicht zu mir zu kommen, aber ich muß wissen, daß Du auch nicht bei Anja bist. Nach sechs oder acht Wochen entscheide Dich. Kehrst Du zurück, so wird alles vergeben und vergessen sein. Gehst Du zu Anja, habe ich mich damit abzufinden. – Wenn ich Dir je im Leben etwas gewesen bin, wirst Du mir diese Bitte nicht abschlagen.

Nein, gewiß nicht, das werde ich nicht. Ich werde sogar schon morgen nach Zürich abreisen. Anja freilich weiß es noch nicht.

Ich promenierte heute mit ihr unter den Säulen der Nationalgalerie, nachdem wir vorher Bilder betrachtet hatten. Erfüllt von den Eindrücken großer Kunst, empfanden wir eine beinahe unwiderstehliche Sehnsucht nach dem Lande ihrer herrlichsten Emanationen. In jeder Fiber zuckte uns unbändige Reiselust: »Kennst du das Land . . .? Dahin, dahin möcht' ich mit dir . . .«, und so fort und so fort.

Nun habe ich Anja mitzuteilen, daß ich ohne sie eine Reise antreten werde, daß ich mich von ihr trennen muß.

Es scheint mir ein Ding der Unmöglichkeit. Hierzubleiben jedoch ist ebensowohl ein Ding der Unmöglichkeit, oder ich habe etwas unwiderruflich Schweres im Zustand Melittas zu gewärtigen.

Ich bin in Netze verwickelt, die unzerreißlich sind. Ich bin in eiserne Netze verwickelt. Ich kann nichts tun, wenn es mich morgen in eine öde und leere Ferne reißen wird. Es wird mich von der Geliebten losreißen, was, in einem gewissen Sinne genommen, tödlich für mich ist. Es ist der Tod, den ich auf mich zu nehmen habe in dieser Probezeit. Die Stunden werden wie Grabsteine sein. Ich bin nicht frei, ich werde hart eingeschnürt. Ich bin ein Gefangener.

Und welches Los, daß ich Anja nun auch Schmerz bereiten, ihr wehtun muß!

Und wird sie verstehen, daß ich es muß?

Ja, ja, sie wird es verstehen!

In diesem Augenblick hat Melitta bereits mein Telegramm, das ihr meine Abreise meldet: nun brauche ich wenigstens nicht mehr zu erschrecken, wenn der Depeschenbote kommt.

Morgen also beginnt mein Leidensweg, dessen Ende ich nicht absehe. Das flüchtig blickende Auge, gute Melitta, mag dich in dieser Sache übermäßig und unbarmherzig belastet sehen. Es wird mir genügen müssen, meine sicherlich ebenso große Last stumm zu schleppen.

 

Zürich, am 24. Dezember 1894,
abends 10½ Uhr.

Halte fest diese Stunde, halte fest! Morgen ist sie Vergangenheit. Ein ängstliches Flattern ist in mir, Ausgestoßenheit, eine neue, große Einsamkeit.

Ich bin allein gewesen den ganzen Weihnachtstag. Worte, nur die allernotwendigsten, sind über meine Lippen gekommen im Verkehr mit dem Hotelportier und den Kellnern, die in Restaurants und Cafés mich bedient haben. Draußen ist Schlackerwetter. Es fällt Regen mit Schnee untermischt, man friert in der Nässe, Kälte und grauen Finsternis, so sehr man auch den Mantel um sich zusammenzieht.

Ich bin vormittags durch die Straßen geschlendert, ich bin nachmittags durch die Straßen geschlendert, immer einsam und ruhelos. Der See ist grau, seine Ufer von Nebeln verschlungen. Schon gegen vier sah ich hinter den Fenstern die ersten Christbäume aufleuchten.

Ich schreibe in einem engen, überheizten Hotelzimmer. Drei Wochen früher in meinem Leben und heut – welcher Unterschied! Bedrückt mich der Alp einer Morgenstunde, und werde ich etwa in einigen Augenblicken erwachen, vom Jubel meiner Kinder geweckt? Durchaus nicht, nein, ich bin wirklich wach, in jenem Zustand jedenfalls, den man nach Übereinkunft Wachen nennt.

Als das unwiderrufliche Wort in Berlin zu Anja gesprochen worden war, konnte ich da wohl den heutigen Abend mit seinem schrecklichen Ernst voraussehen? Ahnte ich, was dieser Schritt für Aufgaben, für Entsagungen – und wie bald! – nach sich ziehen würde? Verbannung, Heimat-, ja Obdachlosigkeit. Und als ich mit schmerzenden Beinen immer noch durch den Schlick der Straßen schritt, steigerte sich, je leerer sie von Menschen wurden, in mir das Gefühl von Verlassenheit.

Überall leuchteten nun die Christbäume, huschten hinter den Scheiben die Schatten derer, die sich aus der naßkalten Nacht in ihr Licht und ihre Wärme geflüchtet hatten. Und ich mußte der traurigen Stunde gedenken, die eine Mutter in den fernen schlesischen Bergen unter dem qualvollen Glanz dieser Weihnacht zu bestehen hatte.

Die Zähne knirschten mir aufeinander. Aber ich freute mich, daß ich litt. Es klingt paradox, dennoch ist es wahr: durch den fast unerträglichen Grad meines Leidens wurde mein Leiden gelindert.

Ich wollte das Leiden, ich sah eine Legitimation meines Tuns darin.

Leichten Kaufes werde ich aus diesem Handel ganz gewiß nicht herauskommen. Schon die unmittelbaren ersten Folgen beweisen das. Was daran Gewinn ist, muß sich gegen einen Verlust behaupten, der unübersehbar ist. Es gibt keinen Freund und keinen Verwandten, weder Vater, Mutter noch Bruder, der mich verstehen wird. Sie werden mich aufgeben, weil sie mich für verrückt halten. Um Gewonnenes wahrhaft zu genießen, bedarf es einer glücklich durchgeführten schweren Amputation, einer Art Selbstverstümmelung. Verblendung, zu hoffen, ich könne lebend davonkommen! Tritt das beinahe Unmögliche dennoch ein, was muß die arme kleine Anja zu geben haben, wenn sie mir den Verlust ersetzen soll!

Wie unwahrscheinlich, wie seltsam dies alles ist! Warum habe ich mich eigentlich aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen, statt in Grünthal zu sein?! Vor mir steht das verschneite Haus, stehen verwaiste Kinder, deren Weihnachtsfreude ihrer verlassenen Mutter das Herz brechen muß.

Und doch, und doch: es gibt kein Zurück! Jetzt die Farce in Grünthal mitzumachen würde mir unerträglich sein.

Diese besondere Mischung von Leiden und Liebe, in die ich geworfen bin, erzeugt in mir eine vielleicht gefährliche, aber doch köstliche Illumination. Sollte man glauben, daß ich mit einem Gefühl von Gehobenheit weniger durch die Menschen als über die Menschen hinschreite!? »Lasciate ogni speranza« ging mir durch den Sinn. Waren sie doch von dem Wunder der Wunde, die ich in mir trug, ausgeschlossen. Dieses bürgerliche Dahinleben sah ich als etwas Totes, Apparathaftes an. Ich allein stand in der Wiedergeburt. Mich hatte die harte, aber schöpferische Hand des Gottes berührt. Mein Wesen erklang davon in den Grundfesten. Wenn ich den dicken Rauch eines Cafés durchschritt, war mir, als müßten die Leute aufstehen, als müßten alle Wichtigtuer und Schwätzer ihren Beruf für erbärmlich erklären und ihm abschwören, angesichts der Perle des Erwählten und Erleuchteten, die ich auf der Stirne trug.

Soll ich erschrecken über meine so gesteigerten Zustände? Sind sie nicht eine große, neue, vielleicht die schwerste Gefahr? Und falls es mir nicht gelingt, sie einzudämmen, könnten sie nicht die Meinen oder Anjas Vormund auf den Gedanken bringen, mich mit Hilfe eines Psychiaters zu entmündigen? Diese Sorge ist eine der unzähligen, die meine Nächte schlaflos machen. Beruht sie jedoch auf Verfolgungswahn, so ist dadurch wiederum meine geistige Gesundheit in Frage gestellt.

Nein! Dies sind alles nur lästige Fliegen, die ich hinausjage. Ängste und Einbildungen dieser Art nenne ich jämmerlich und des großen Erlebens, das ich zu bewältigen habe, unwürdig. Ich stehe vielmehr in der Weihe einer tiefen Leidenschaft, der ich mich wert zu machen habe. Das ist ein irrationales Phänomen. Es hat immer die Menschen wie Zauberei, Verhexung oder Krankheit berührt, wo es aufgetreten ist. Junge Anjas sind auf Betreiben bestürzter und empörter Verwandter mit Hilfe törichter Pfaffen und Richter in Menge als Hexen verbrannt worden. Der Glaube an den Liebestrank mußte durch Jahrtausende herhalten, weil man die natürliche Macht einer großen Leidenschaft nicht begriff.

Sie hat mich gepackt. Sie verfährt ohne Rücksicht gegen irgend etwas in mir. Ich bin ihr Gefäß, bin ihr Haus, sie erfüllt mich und waltet in mir, wie der Gott Israels in der Stiftshütte. Ich kann nur staunen und über sie nachgrübeln. Fast kommt es mir unverhältnismäßig vor, in Anja, der kleinen Anja, die Ursache von dem allem zu sehen. Aber schließlich vermag ja ein Kind, dem ein Schwefelholz in die Finger fällt, eine Scheune in Brand zu stecken und Dörfer in Asche zu legen. Anja kann die Ursache, kann aber vielleicht auch nur der Anstoß sein.

Gute Nacht, Melitta! gute Nacht, meine Kinder! Gute Nacht auch, Anja, am Weihnachtsabend des Jahres achtzehnhundertvierundneunzig, der, solange ich Leben habe, nicht aus meinem Gedächtnis schwinden kann.

 

Zürich, am 25. Dezember 1894.

Ich habe heut in der Familie eines Freundes zu Mittag gespeist, der seit seiner Studentenzeit in Zürich lebt. Er ist Arzt und Dozent an der hiesigen Hochschule. Er hat es seit jeher vereinigen können, zugleich ein Frauenrechtler und Frauenverächter zu sein. Vor einigen Jahren hat er geheiratet, und zwar unternahm er den kühnen Schritt ziemlich unvermittelt zu einer Zeit, wo sein Hagestolzentum sich fast überschlug. Jetzt ist er der folgsamste Ehemann und nach wie vor ein rastloser Arbeiter.

Da es mir wohltut, meine einigermaßen kritische Lage einmal vor anderen auszubreiten und durchzusprechen, wie ich denn leider zu denen gehöre, denen ein volles Herz zu tragen, ohne daß der Mund davon überläuft, Mühe macht, habe ich ihn ins Vertrauen gezogen, und auf einsamen Gängen zu zweien am Seeufer oder die Hügel hinauf tauschen wir Rede und Gegenrede. Er hütet sich wohl, zu moralisieren oder mein Tun als verwerflich zu brandmarken. Die Überfülle von Gründen dafür, mit denen ich ihn überschwemme, bewirkt wohl auch, daß er nicht zu Atem kommt.

Er kennt meine Frau. Das Verhältnis, in dem wir zueinander gestanden haben, hat sich ihm als das glücklichste eingeprägt. Er unterdrückt, wie mir vorkommt, ein Kopfschütteln, wenn ich es ihm in anderem Lichte darstelle.

Wir nehmen die Diskussionen unserer Züricher Jugendzeit wieder auf, an denen sich damals noch mein Bruder Julius leidenschaftlich beteiligte. Mich erlöst eine solche Unterhaltung einigermaßen durch ihre unpersönliche Oberflächlichkeit. Die Frage der Polygamie wird durchgesprochen. Ich finde die Einehe unzulänglich, und zwar von jedem Gesichtspunkt aus, dem materiellen sowohl als dem ethischen. Mündige Menschen mit dem Recht auf Persönlichkeit müssen die Freiheit haben, sage ich, zu zweien, zu dreien, zu vieren zusammenzutreten. In dem Bestreben, unerbittlich Geschiedenes zu vereinen, stelle ich Eheformen auf, die dem Wesen höhergearteter Menschen entsprechen sollen. Warum sollte Anja nicht in den Kreis meines Heimwesens als dritte eintreten können, frage ich. Würde nicht Anjas Lachen, Anjas Musik – sie ist Geigerin – das Haus mit neuem, frischem Leben erfüllt haben?! Ihr verständiger, heiterer, oftmals übermütiger Geist würde vielleicht sogar die Wolken des eigentümlichen Tiefsinns zerstreut haben, der Melitta auch in guten Zeiten zuweilen umfängt.

Er habe mit solchen Luftschlössern, sagt mein Freund, ein für allemal aufgeräumt. Mensch sei Mensch, und Weib sei Weib. Mit Engeln – mein Freund ist Atheist – sei weder hier noch im Jenseits zu rechnen.

Ich brause auf, da Anja in meinen Augen weit mehr als ein Engel ist. Ich fange an, sie begeistert zu schildern, ihre Schönheit, Anmut und Festigkeit. Ich schwöre, sie würde mir überallhin nachfolgen. Es bedarf nur des Rufes, sage ich, und sie tritt auf Gedeih und Verderb an meine Seite, würde selbst durch Not und Schmach von mir nicht loszureißen sein.

Ein überlegenes Lächeln des Freundes reizt mich auf das heftigste.

»Du glaubst mir nicht?«

»Nein, ich glaube dir nicht!« – Und er macht den Versuch, das Bild der Geliebten zu zerpflücken. Er tut das derb und rücksichtslos. Und nun ist das überlegene Lächeln auf meiner Seite. – »Ich wette, daß sie nicht kommt, wenn du rufst. Und wenn sie selbst käme, würde das höchstens ein Zeichen kindlicher Dummheit, sträflichen Leichtsinns oder gar von Verderbnis sein.«

Das war eine starke Lektion, die mir freilich gar keinen Eindruck machte.

»Entkleidet man die Welt, wie du«, sagte ich, »jeden Glaubens an eine höhere Menschlichkeit, so mag man ihr gleicherzeit Lebewohl sagen.«

»Julius und du, und du und Julius«, sagte er, »ihr wart leider immer von einer unbegreiflichen Gutgläubigkeit. Illusionisten wie ihr beide gibt es auf dieser Erde nicht mehr. Man könnte euch ausstellen und Entree nehmen!« – So war seine Art, er bewahrte noch die alte, derbe, studentische Offenheit.

Es war wohl zu merken, worauf er hinauswollte. So mußte er sprechen, wenn er jemand, was er verschwieg, seiner Meinung nach vor dem Sturz in den Abgrund retten wollte.

Diese Bemühungen danke ich ihm. Andererseits aber sehe ich, daß er mir ein Fremder geworden ist. Darum besteht zwar die alte Neigung zwischen uns, aber nicht mehr das alte Verstehen. Irgendeinen Zugang zu dem wahren Ereignis meines augenblicklichen Lebens hat er nicht.

 

Zürich, am 27. Dezember 1894.

Und solang du das nicht hast,
dieses: Stirb und werde!
bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde.

Ich habe eben einen Freund in Enge, dem so geheißenen Stadtteil, besucht, dessen Anwesenheit ich erst am heutigen Morgen erfahren hatte. Ich war überrascht, ihn hier zu finden, denn er lebte bisher mit seiner Frau in einem Landhaus bei Berlin am Müggelsee. Ich konnte mir denken und fragte ihn deshalb nicht, warum er diese Gegend verlassen hat, um hier allein mit seinen Naturalien, ausgestopften Paradiesvögeln, Gürteltieren und Schmetterlingskästen, zu leben, darin Exoten in allen Farben schillern.

Also sind die Gerüchte wahr, die besagen, er habe seine Frau an einen seiner nächsten Freunde abtreten müssen. Auch er, dessen Gemütsverfassung, wie mir vorkam, eine heiter gelassene war, konnte sich nicht entschließen, auf diese Sache zurückzukommen, die ihn aus Deutschland vertrieben hatte. Aber die Themen, denen sich unsere Gespräche zuwandten, bewegten sich doch um das Trauma unserer Seelen herum.

Seltsam, er ist in der Lage Melittas und nicht in der meinen. Es wäre begreiflich, wenn er bei mir Halt und Hoffnung gesucht hätte, statt dessen suchte ich beides bei ihm: der Missetäter, der Sünder bei ihm, an dem man gesündigt, den man mißhandelt hatte. Er, der weise, menschenfreundliche, naturnahe Mann, hat mich mit Halt und Hoffnung ausgestattet.

Man empfand es bald, daß er Handlungen wie die seiner Frau und die meine, Geschicke wie das seine und Melittas als naturgegebene, sich immer wiederholende Erscheinungen sah, die man einfach hinnehmen müsse. Das ganze Zeughaus moralischer Waffen, zum Strafvollzuge bereit, von drohenden Paragraphen geschriebener und ungeschriebener Gesetzesvorschriften strotzend, die jederzeit tödlich gehandhabt werden konnten, war für meinen Freund nicht in der Welt. Er wäre nicht hier, wenn ihm die Abtrünnigkeit seiner Frau keinen Schmerz bereitet hätte. Man hat ihn, wie erzählt wurde, als ihm die nackte Wahrheit in Form einer groben Untreue zum Bewußtsein kam, kaum vor einem gewaltsamen Ende durch eigene Hand zu bewahren vermocht. Er unterlag beinah seinem Schmerz. Es war sein Schmerz, den er wie einen Bergsturz, ein Eisenbahnunglück, einen Schiffbruch, eine Verwundung durch Feuersbrunst oder dergleichen zu bewältigen hatte. Er starb daran oder kam davon. Niemandem aber, ich bin überzeugt, und also auch nicht seiner Frau, machte er, weder in Gedanken noch in Worten, Vorwürfe.

Das war es, weshalb einem in seiner Nähe wohl wurde. Wir tauschten anfangs allgemeine Gedanken aus, durch die, wie in manchen früheren Fällen, die Verwandtschaft unserer Denk- und Gefühlsweise klarwurde. Dann legte ich eine umfassende Beichte ab, die ihn in meine Lage einweihte. Er hatte ein schmunzelndes Lächeln wiedergewonnen, das ihm früher eigen war. Sein Auge hat dann gleichsam etwas ewig Lächelndes. Es spricht von gütig stillem, belustigtem Verstehen menschlicher Zustände und von verzeihender Ironie, bis es plötzlich der Ernst überkommt. In solchem Ernst ist es wahrhaft teilnehmend, wenngleich es dann vor sich nieder oder in die Ferne, nicht aber auf den gerichtet ist, dem die Teilnahme gilt. Vor diesem Ernste also habe ich mein ganzes Erlebnis ausgeschüttet.

Mir wäre zumut, als sei ich vorher nie mit Bewußtsein jung gewesen, sagte ich. Wie mich diese neue, so überraschende Lebensphase habe überkommen können, wisse ich nicht. Das Hinwegräumen einer letzten Fremdheit zwischen Anja und mir habe sie eingeleitet. Ein neuer Lebensraum habe sich aufgeschlossen, aus dem ich zwar in den alten zurückblicken, aber nicht zurücktreten könnte. Meinethalben gliche das einer Verzauberung, und ich könne von mir aus die Ratlosigkeit von Außenstehenden wohl begreifen, die sich im Mittelalter durch den Gedanken an Hexerei halfen und in meinem Falle Anja als Hexe verbrannt hätten. Ich könne auch den Gedanken an die Giftmischerei der sogenannten Liebestränke verstehen, erklärte ich.

Das Lächeln meines Freundes belebte sich. Er ließ sich eine Weile herzlich belustigt, wie mir schien, über Hexenwesen und Liebestränke des Mittelalters aus, Gebiete, auf denen er Bescheid wußte. Später kamen wir dann überein, daß man über das Wesen der Liebe im allgemeinen noch wenig wisse. In der Menge habe man davon eine rohe, im Bürgertum eine enge, in der Welt wissenschaftlicher Psychologie eine platte Vorstellung. Das Phänomen in seiner wahren und höchsten Entfaltung aber sei eine Seltenheit. Die großen Liebesgedichte der Weltgeschichte könne man an den Fingern herzählen. Aber – und nun kamen wir auf die vier Verse, die ich an die Spitze dieses Tagebuchblattes gesetzt habe:

Und solang du das nicht hast,
dieses: Stirb und werde!
bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde.

Mein lächelnd wissender Freund zitierte sie.

Seitdem bin ich damit beschenkt. Sie sind die Bestätigung dessen, was mir als Erlebnis beschieden ist. Sie gehen mir immer durch den Sinn und werden mir fortan immer durch den Sinn gehen, mir, in dessen Dasein nun zum ersten Male dieses »Stirb und werde!« getreten ist. Kein Zweifel, ich fühlte mich, eh dies neue Sterben und Werden über mich gekommen war, als ein trüber Gast auf der dunklen Erde: nein, ich fühlte mich kaum als das, aber ich war es, wie ich nun im Rückblick erkenne.

Freilich, ein solcher Umsturz, ein solches Sterben und ein solches Neu-Werden ist nicht nur eine große und heilige, sondern auch eine gefahrvolle Aufgabe. Sie auf sich zu nehmen erfordert eine harte Entschlossenheit. Dennoch darf man sie nicht abweisen. »Merke auf den Sabbat deines Herzens, daß du ihn feierst«, sagt Schleiermacher, »und wenn sie dich halten, so mache dich frei oder gehe zugrunde!«

Das Sterben kann schnell oder langsam vor sich gehen. Langsames Sterben bedeutet einen langen, qualvollen Todeskampf. Wenn nicht irgendein Wunder geschieht, ist das, was in mir zum Tode verurteilt ist, in einem kurzen Kampfe nicht abzutun. Da ist Melitta, da sind die Kinder, mit tausend Fasern verwurzelt in mir, verwurzelt in meiner ganzen Familie. Denn die vater- und mutterlose Melitta hat mit einer rührend kindlichen Hingabe sich an meinen Vater und meine Mutter, als wären es ihre leiblichen Eltern, angeschlossen. Eine solche alles durchsetzende, tausendfältige Verschlungenheit und Verbundenheit spottet jeder Operation: wenn man sie trotzdem versucht, wie ich, so heißt das soviel, als die eigenen Lebensfundamente angreifen, an ihnen rütteln, auf die Gefahr hin, daß der ganze Bau über einem zusammenstürzt.

Alles dieses kam zwischen mir und meinem Freunde zur Erörterung. Der mögliche schlimme, der mögliche gute Ausgang meiner Sache wurde erwogen, wobei ich natürlich nur diesen im Auge hatte. In dem Bestreben, ihn als gesichert erscheinen zu lassen, ging ich schließlich dazu über, auf sophistische Weise für den Fall der Scheidung einen Vorteil für die Meinen herauszurechnen. Ich sei für die Erziehung von Kindern nicht geeignet, sagte ich. Meine Heftigkeit würde wahrscheinlich auf die Dauer eine Entfremdung zwischen mir und meinen Kindern hervorbringen. Mein Einfluß würde schädlich für sie sein. Sähe ich sie aber nur gelegentlich, so würde das eine Bewachung ohne Reibung ermöglichen, und unser Verhältnis könne sich bei einiger Umsicht und Vorsicht zu einer wahren und dauernden Freundschaft entwickeln. Auch die Beziehung zu Melitta könne recht wohl in eine solche Freundschaft übergehen. Der Versuch dagegen, ein Leben in enger Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, müsse nervenzerrüttend und binnen kurzem zerstörend für uns beide sein.

Lächelnd gab mein Freund mir recht und folgte mir bis zuletzt in die Höhen meiner Verstiegenheit. Anja war jung, sie wußte nichts von der Welt. Was für Gebiete des Geistes, was für reiche Lebensgenüsse, was für Schönheiten in Kunst und Natur konnte man ihr aufschließen und dadurch doppelt und dreifach sich selbst, denn es ist ja, wie ich weiß, in dem, wozu es uns drängt, was wir suchen und lieben, wonach wir hungern und dürsten und was wir begehren, keine Verschiedenheit. Sie ist arm, oder sagen wir mittellos. Zwar bin ich nicht reich, aber bemittelt genug, um ihr die Wunder Europas, die Wunder der Erde aufzuschließen. Nein, nein, es gibt kein Zurück.

Mein lieber philosophischer Freund, ich danke dir! Danke dir auch für dein Geleitwort, das mich fortan auf meiner gefährlichen Straße nicht mehr verlassen wird:

Und solang du das nicht hast,
dieses: Stirb und werde!
bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde.

 

Berlin, am 30. Dezember 1894, nachts.

Ich bin wieder hier. Ein Vorfall, zugleich schrecklich und lächerlich, hat mich nach Berlin zurückgeführt. Am 27. abends war ich mit einem beinahe entscheidenden Abschiedsbrief an meine Frau drei- oder viermal an den Bahnhofsbriefkasten in Zürich getreten und hatte ihn endlich mit Entschluß, unter gewaltigem Herzklopfen, in seiner Öffnung verschwinden lassen. Es war darin gesagt, wie ich mich zunächst außerstande fühle, von Anja zu lassen und zurückzukehren. Unmittelbar darauf wurde mir im Hotel ein Brief Anjas überreicht, für den ich Strafporto zahlen mußte. Ich öffnete ihn, ich las und las, und die Wirkung war eine verheerende.

Sie, die Geliebte, teilte Erwägungen ihres jungen Vormunds mit, die sie sich, wie mir vorkam, zu eigen machte. Der Vormund, in berechtigter Sorge um sie, hatte gefragt, was aus unserer Verbindung werden solle. Es gäbe nur zwei Möglichkeiten ihrer Entwicklung, Konkubinat oder Ehe nämlich, von denen nur die zweite gangbar sei. Anja wäre nicht majorenn, und er, der Vormund, dürfe Dinge nicht zulassen, die ihren Ruf vernichten könnten. Übrigens müsse Duldung von seiner Seite auch den seinen aufs schwerste schädigen.

Ich sah in diesem Brief eine Absage. Wenn er jedoch keine Absage war und Anja durch ihn die Heirat erzwingen wollte, so war die Wirkung nicht minder fürchterlich. Damit hätte mein zynischer Freund, der an die volle und reine Hingabe eines Weibes nicht glauben wollte und hinter allem, was danach aussah, Berechnung witterte, einen Triumph zu verzeichnen gehabt. So war denn, wie mir schien, auf eine am allerwenigsten vorauszusehende Art die Katastrophe vorzeitig eingetreten.

Das Bild der Geliebten war gestürzt. Heut, wenn ich den Züricher Brief in Ruhe durchlese, sehe ich, Gott sei Dank, als Grund dafür nur noch krankhafte Kopflosigkeit. Die Erwägungen über Ehe und Konkubinat trafen mich in einem wehrlosen Augenblick. Übrigens waren wir ja nur erst etwas wie korrekte Brautleute. Eben hatte ich lange und schwer gekämpft und mir den beinahe grausamen Brief an Melitta abgerungen. Mit einem ehrlichen Willensakt, der mir fast einen physischen Schwindel erregte, hatte ich mich, indem ich ihn dem Postkasten übergab, davon losgemacht. Ich wußte, was für ein Opfer es war, das ich meiner neuen Liebe gebracht hatte, welche ernste, verhängnisvolle, ja, welche an Wahnsinn grenzende Handlung damit unter voller Verantwortung geschehen war. Da kamen diese Blätter, die, wie es sich mir nun einmal darstellte, von einem vulgären Mißtrauen imprägniert waren und durch Banalität der Gesinnung beleidigten. Sie rissen eine unüberbrückbare Ferne zwischen mir und Anja auf, ließen mich aber trotzdem erkennen, daß ich auf diese Weise zwar ernüchtert, nicht aber geheilt, sondern höchstens tiefer verwundet war.

Ich habe das Vorstehende wieder und wieder durchgelesen. Was ist geschehen, seit mir im Hotel der verhängnisvolle Brief überreicht wurde? Ich habe die ganze furchtbar verblendende Macht und Gefahr der Liebe kennengelernt. Das Bild der Geliebten war gestürzt, aber ich mußte es ja wieder aufrichten, falls ich mich wieder aufrichten wollte nach einem lebensgefährlichen Schlag.

Kaum fünfzehn Minuten, nachdem ich den Brief erbrochen hatte, saß ich im ersten besten Bummelzug, der nach Deutschland führte. Wenn zwei oder drei Stunden später ein Schnellzug abgegangen wäre, der mich einen halben Tag früher nach Berlin gebracht hätte: auf ihn zu warten würde ich nicht fähig gewesen sein.

Die qualvolle Spannung meiner Brust wurde erträglicher, als mein Zug ins Rollen kam. Es war ein gewöhnlicher Zug, wie gesagt, er hielt überall. Aber gerade darum hatte ich ein Coupé für mich allein.

Es sah einen Menschen, der nicht bei Sinnen war. Er unterhielt sich durchaus mit weiter nichts, als Fragen an das Schicksal zu stellen.

Er zählte auf Ja und Nein die Knöpfe seiner Weste ab. Er zählte die Plüschknöpfe auf den Sitzen. Er nahm Geldstücke aufs Geratewohl in die Hand und zählte sie ab. Er zählte eine Schachtel Streichhölzer ab. Er zählte ab und zählte ab und hörte nicht auf, sich an diesen Stumpfsinn wie an die letzte Planke eines Schiffbruchs anzuklammern. Die hauptsächlichste Frage aber war: Wird Anja auf dem Bahnhof sein?

Er fuhr die Nacht, er fuhr den Tag, ohne ein Auge zuzutun und in oftmals hörbarem Selbstgespräch. Sein Zustand während der zweiten Nachtfahrt verschlimmerte sich, und dann wieder, je mehr der Morgen und somit das Ziel sich annäherten.

Nun, ich begriff sehr wohl, daß die Krise, in der ich stand, keine gewöhnliche war. Mein kleiner Revolver, den mir vor Jahren seltsamerweise Melitta geschenkt hatte, war geladen. Ich wußte, sollte Anja mich nicht auf dem Lehrter Bahnhof erwarten – ich hatte ihr die Zeit meiner Ankunft telegraphisch mitgeteilt –, so war das eine deutliche Absage, und dann hätte ich den Lauf meiner Waffe nicht von meiner Schläfe, den Finger nicht von ihrem Drücker zurückzuhalten vermocht. Nie hatte die Stunde so unzweideutig mit mir gesprochen.

Nun, Anja erwartete mich.

Anja bringt den ganzen Tag und Abend bis in die Nacht hinein mit mir zu. Alle meine Befürchtungen sind von ihrem ersten Händedruck und Kuß in alle Winde geweht worden. Kein Wort von Ehe, kein Wort von Heiraten, kein Wort von einer Bedingung irgendwelcher Art. Sie gehört mir wieder bedingungslos als mein Eigentum, alles andre ist Diktat ihres Vormunds gewesen.

 

Berlin, am 5. Januar 1895.

Ich bin also wieder in Berlin, und meine Frau, an die ich fast jeden Tag schreibe, von der ich fast jeden Tag einen Brief erhalte, weiß, daß ich wieder mit Anja vereinigt bin. Wieviel Wochen, Monate, Jahre wird nun jeder Tag die zwei überaus schweren, finsteren Stunden haben: die eine, in der ich den neuen Brief der Verlassenen empfange, und die, in der ich ihn beantworte.

Aber es steigen große, kühne Pläne in mir auf. Warum soll es denn nicht wirklich möglich sein, statt zu trennen, zu vereinen? Oh, ich ahne, wie schwer dergleichen Versuche sind und wieviel moralischen Mut sie erfordern. Aber ich habe moralischen Mut. Warum soll ich nicht an die alles versöhnende, alles einende Kraft der Liebe glauben? »Das nußbraune Mädchen« von Herder fällt mir ein, jenes Volkslied »vom Mädchen braun, die fest und traun! liebt, wie man lieben kann«. Der Geliebte setzt sie den schwersten Prüfungen aus. Er spricht ihr schließlich von seiner »Buhle«. Ohne Bedenken ist sie bereit, sowohl ihm als seiner Buhle zu dienen. Ohne Zweifel war so etwas einmal Wirklichkeit. Ich hörte, als wir jung verlobt waren, gemeinsam mit Melitta in Hamburg eine Geigerin. Das hübsche Kind hatte mich bezaubert. »Was würdest du tun«, fragte ich meine Braut, »wenn ich ohne dieses Mädchen nicht mehr sein könnte?« – »Ich würde sie um deinetwillen ebenso lieben wie du«, sagte sie. – War das nicht gesprochen wie »vom Mädchen braun, die fest und traun! liebt, wie man lieben kann«?

Ich habe nie in meinem Leben tiefer als damals und mit größerem Staunen, mit größerer Ergriffenheit in das Wunder der Liebe hineingeschaut.

War es also nicht möglich, eine Ehe zu dreien aufzubauen?

Die jüdisch-christlichen Erzväter hatten viele Frauen. Streng gesinnte Prediger im Zeitalter der Reformation vermochten in der Heiligen Schrift keinen Ausspruch zu finden, durch welchen die Ehegatten auf einen Mann und eine Frau beschränkt wurden.

Die Moslemin leben noch heut in Polygamie. Ich denke daran, ein Moslem zu werden. Es wäre ja nicht zum erstenmal, daß ein Mann in meinem Falle diesen Ausweg beschritten hat.

Auch Goethe hat sich mit dem Problem des Grafen von Gleichen beschäftigen müssen. Dieser kam aus dem Orient. Als er auf seine deutsche Stammburg zurückkehrte, brachte er seine orientalische Geliebte mit, der er Freiheit, Leben und Heimkehr zu verdanken hatte.

Was hätte mit dieser Frau, nach den Moralvorschriften der Kirche in Ehedingen, geschehen müssen? Die Auskunft des Scheiterhaufens war wohl die nächstliegende.

Nein! das Leben ist nie mit dem starren Schema, und zwar in keinem seiner unzähligen Zweige, ausgekommen.

 

Charlottenburg, am 7. Januar 1895.

Sind wir am Ende doch Geächtete? Unsere Wirtin bedient Anja und mich mit Freundlichkeit. Sie ist eine hübsche, sympathische Frau, die zurückgezogen in einem Raume der kleinen Wohnung lebt. Ihr Mann mag Oberkellner, Portier oder etwas dergleichen sein. Die Frau besorgt mir das Frühstück, besorgt uns gelegentlich das Abendbrot. Man merkt ihr an, daß sie für unsere Lage Verständnis hat und sie nach Kräften berücksichtigt.

Anja und ich sind viel unterwegs. Ich leide dabei unter einer Art Verfolgungswahn. Die Furcht, Bekannten zu begegnen oder auch nur gesehen zu werden, treibt uns in die dunklen Hinterzimmer entlegener Konditoreien und in kleine, versteckte Weinstuben. Manchmal sitzen wir in solchen Lokalen viele Stunden lang, ganz unserer Liebe, unseren Plänen, unseren Sorgen hingegeben, und hüten uns wohl, den außer uns einzig Gegenwärtigen, nämlich den Kellner, aufzuwecken, wenn er entschlummert ist.

Leidenschaftlich Liebende sind meist ruhelos. Eigentlich wären wir ja in meinem möblierten Zimmer am ungestörtesten und am sichersten. Es tritt aber, wenn man eine Weile darin vereinigt ist, eine unerträgliche, maukige Schwüle ein. Um ihr zu entgehen, muß man durchaus und bei jedem Wetter ins Freie.

Es gibt noch anderes, dem man entgehen will. Jene endlosen, unfruchtbaren Erörterungen nämlich, welche die beste Lösung des schicksalsschweren Konfliktes zum Zwecke haben. Sie drehen sich bis zur letzten seelischen Ermattung endlos im Kreise herum, so daß man im Augenblick, wo man das Ziel erreicht zu haben glaubt, von vorne beginnen muß. Ein solcher Konflikt kann nur durch Zeit, Geduld und wieder Geduld gelöst werden.

 

Charlottenburg, am 8. Januar 1895.

Es ist Mitternacht. Ich habe soeben Anja nach Hause gebracht. Der heutige Tag war ein überaus köstlicher. Er führte uns schon am frühen Morgen nach Spandau hinaus, wo wir die Schlittschuhe anlegten, um bei klarem Sonnenschein eine Fahrt über die weite Fläche des Tegeler Sees anzutreten. Die Bahn war gut, wir sind sichere Läufer, und so durchlebten wir wieder Stunden einer befreiten Zeit.

»Sorgen können nicht Schlittschuh laufen«, sagte ich. Wir hatten in der Tat alle unsere Sorgen und Kümmernisse, hatten das Einstige und Künftige zurückgelassen und genossen ausschließlich die Gegenwart.

Der Glanz der See- und Schneefläche war so groß, daß Anja plötzlich von einem wütenden Kopfschmerz befallen wurde. Sie trug an ihrem schlanken Körper ein graues, mit grauem Krimmer besetztes Winterkleid, wozu ein Krimmerbarett gehörte. Der Kopfschmerz ließ nach, als ich es ihr vom Scheitel nahm.

Nie haben uns Pfannkuchen, haben uns große Tassen heißen Kaffees so gelabt wie heut in der überheizten Tegeler Gaststube, in die wir nach langer Fahrt eintraten.

Ich lege mich nieder. Ich werde den Brief meiner Frau, der geschlossen vor mir liegt, nicht mehr aufmachen.

 

Charlottenburg, am 11. Januar 1895.

Es ist wiederum Mitternacht. Es ist nach Mitternacht. Ich habe heut mit Anjas Mutter gesprochen. Sie ist eine wundervolle Frau. Aber meine Lage ihr gegenüber war nicht gerade angenehm. Verwitwet, lebt sie mit ihren Töchtern von einer sehr geringen Hinterlassenschaft, nachdem ihr Mann in den letzten Lebensjahren ein großes Vermögen verloren hatte.

Das heutige Zusammensein mit ihr und Anja war im großen und ganzen eine Peinlichkeit. Es mußte stattfinden, weil wir die Mutter als Bundesgenossin zu gewinnen hoffen. Auch wünschte die Mutter, um dem Fall mit vollem Verständnis gerecht werden zu können, von mir eingeweiht zu sein. Sich alledem zu verschließen, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Wie aber verlief die Zusammenkunft?

Ihr Ort war die Nische in einem altertümlichen Restaurant. Anjas Mutter saß schwarz gekleidet vor einer roten Damastdraperie. Ich hatte ihr zur Linken, Anja ihr zur Rechten Platz genommen. Die ruhiggütige, in ihrem weißen Wellenscheitel immer noch schöne Frau stand Anja nicht gut, die überdies in Gegenwart der Mutter befangen war. Ihr Wesen schrumpfte gleichsam zusammen. Auch wurde sie durch die Art, mit der die Mutter sie bevormundete, klein gemacht.

Frau Lydia gilt als vorurteilslose Frau. In jungen Jahren Sängerin, sind ihr Leidenschaften vertraut, ist ihr Liebe etwas Heiliges. Trotzdem kamen wir beide im großen und ganzen aus dem Gebiete hölzerner und verlegener Phrasen nicht heraus.

Was für Unsinn habe ich nicht über meine Ehe zum besten gegeben! Ich würde es ruchloses Zeug nennen, wenn es nicht zu albern wäre. Danach hätte ich von Anfang an mit meiner Frau unglücklich gelebt. Sie habe kein Vertrauen zu mir gehabt. Sie habe weder an meine Tüchtigkeit noch an meine Talente geglaubt, bevor ich ihr beides bewiesen hätte. Das war ein Gemengsel in dem wohl auch ein Körnchen Wahrheit ist, aber sein Wesensgehalt ist Lüge. Melitta hätte können ein Engel Gottes sein, ohne das Aufflammen einer Leidenschaft im Herzen eines Mannes verhüten zu können.

Es gab einen ernsten Augenblick. Frau Lydia unterlag einer tiefen Erschütterung: sie galt nicht etwa der Tochter, auch nicht den Gefahren, die jene lief, sondern Melitta, deren Bekanntschaft sie einmal gemacht hatte. Mit der ganzen Herzenssympathie einer Frau schien sie plötzlich die übermenschliche Aufgabe zu erfassen, die das Schicksal Melitta zuwälzte. Und die Dame ersparte mir nichts. Es war ihr bekannt, unter welchen Umständen Melitta mich mit ihrer Liebe beschenkt, gegen welche Widerstände sie die Ehe mit mir durchgesetzt hatte. Sie wies darauf hin, auf die Kinder hin, sie gedachte des Aufstiegs, den ich genommen, der Freude, mit welcher Melitta ihn begleitet hatte, und so fort.

Ich konnte ihr nur in allem recht geben. Gerade darum: was sollte ich antworten? Ich hätte ihr sagen müssen, was sie schon wußte und schließlich doch widerlegt haben wollte: Anlaß zu einer Verlobungstorte oder zu einem Familienfest ist diese bitter ernste Sache nicht. Hier handelt es sich um ein Etwas, das, stark wie der Tod, unterjocht und dabei nicht fragt, ob der Unterjochte oder wer sonst mit dem Leben davonkomme.

Nun, selbst wenn ich es gewollt hätte, in diesem Augenblick hätte ich es ihr nicht einmal zu sagen vermocht. Bei völligem Schweigen meiner neuen Leidenschaft weckte das so zu reinem Ausdruck gebrachte Mitgefühl die alte, heiße Neigung zu Melitta in mir, und es war, als ob sich die Geschichte unserer Liebe und Ehe mit allem, was sie an Glück und Weh enthielt, in einen Schrei sieghafter Reue verwandeln wollte.

Es war mir danach minutenlang, als ob ich ohne die geringste Überwindung mich verabschieden, für immer von Anja trennen und zu den Meinen heimreisen könnte. Ich stellte mir vor, während ich allerlei leere, erkünstelte Dinge sprach, wie ich vor meinem verschneiten Gutshause ankommen und dort von den jubelnden Kindern, der noch immer fragend und düster blickenden Mutter empfangen würde. Liebste, sagte ich etwa zu meiner Frau, ich habe da irgendwelche tollen Kapriolen ausgeführt, verzeih mir, wir wollen weiter nicht daran denken. Alles ist wieder, wie es war.

Und wirklich, es liegt vor mir ein an meine Frau gerichteter Brief, der sie hoffnungsvoll stimmen muß. Es ist der erste Brief dieser Art, und ich glaube sogar, hierin etwas weitgehend. Hätte Anja diese Wirkung vorausgeahnt, sie hätte sich der Begegnung mit ihrer Mutter vielleicht widersetzt.

 

Köln, am 20. Januar 1895.

Ich bin auf dem Wege nach Paris. Ich habe dort einer Konferenz beizuwohnen. Ich hätte sie zwar hinausschieben können, aber ich ergriff die Gelegenheit, um die erneute Bitte meiner Frau um Innehaltung der Probezeit nicht unerfüllt zu lassen.

Das Alleinsein ist überdies ein Ausruhen. Es erleichtert mein Gewissen, den Wunsch meiner Frau befolgt zu haben, und da ich nicht mit Anja zusammen bin, belastet mich auch nicht das immerwährende Bewußtsein, an Melitta zu sündigen.

Ein Gefühl von Befreitsein ist in mir. Ich spreche mit niemand, hüte mich, Bindungen einzugehen, ich beobachte, lenke mich ab und kann mich allgemeinerem Denken hingeben.

Ich bin am Morgen, am Nachmittag und am Abend durch die belebten Gassen flaniert und habe natürlich den Dom besucht, unter dessen Masse sich mein Hotel zu ducken scheint. Ich hatte Stunden, in denen ich mich von keiner Sorge belastet fühlte. Allgemeines der Kunst, der Politik, die deutsche Kultur, die deutsche Vergangenheit überhaupt beschäftigten mich. Ich saß mit Behagen an der Wirtstafel. Ein Gang bestand in Würstchen und Sauerkraut, wozu ein Glas Bier gereicht wurde. Ich trank es aus. Ich trank auch eine oder anderthalb Flaschen Wein, einen ausgezeichneten Ingelheimer. Man muß Zeit gewinnen, sagte ich mir, es kann am Ende noch alles gut werden.

Ich habe nach Tisch Zigaretten für Anja gekauft. Der Sendung ist dieses Verschen beigegeben:

Opfer der Liebe sollt ihr mir ziehn,
an Ihrem Munde dürft ihr verglühn.
Selig vor allen werdet ihr sein,
Liebe entzündet euch, äschert euch ein.

Ich bin sehr gespannt auf Paris, das ich zum erstenmal sehen werde. Vor einem Jahre freilich würde die Spannung eine freudigere gewesen sein, weil eben doch die heutige irgendwie mit dem Gedanken einer Verbannung verbunden ist. Trotzdem aber, ich freue mich. Es sollen in einer Unternehmung entscheidende Schritte getan werden. Und meine äußeren Angelegenheiten, die mir seit einiger Zeit keinerlei Interesse mehr einflößten, fangen mich wieder zu beschäftigen an.

 

Paris, am 23. Januar 1895.

Ich wohne im Grand Hôtel St-Lazare. Mein Freund, ein französischer Schriftsteller, der mich an der Gare St-Lazare empfing, hat mich hier untergebracht. Wir waren heute den ganzen Tag vereint und werden morgen und übermorgen wieder den ganzen Tag zusammen sein.

Nun merke ich doch, daß ich hier nicht, wie ich es wünschen würde, aufnahmefähig bin. Seltsam genug: mein inneres Schicksal meldet sich doppelt stark unter der betäubenden Menge äußerer Eindrücke. Ich wehre mich gegen diese Riesenstadt. Sie kann durchaus nicht in mich eindringen.

Ist sie schön oder häßlich, ich weiß es nicht. Warum vergeude ich hier meine Zeit? Warum lasse ich mich durch meinen guten Freund von Pontius zu Pilatus schleppen, von Restaurant zu Restaurant? Wenn die wimmelnden Menschen um mich her Ameisen wären, könnten sie mir nicht fremder, nicht störender sein.

Zuweilen ist mir unter dem Eindruck des Lärms um mich her, als seien ich und die Meinen schiffbrüchig und wir würden von den Fluten hinabgerissen oder hinweggespült.

Mein französischer Freund hat bemerkt, daß irgend etwas in mir nicht im Lote sein könne. Er hat gespürt, daß meine Seele nur selten wirklich gegenwärtig ist. Verstohlenen Blickes will er mich ausforschen. Dabei gibt er sich Mühe, mich aufzuheitern, was ja auch, nachdem wir eine Flasche Champagner auf mehrere Flaschen Bordeaux gesetzt haben, einige Male leidlich gelingt.

 

Paris, am 24. Januar 1895.

Mein Freund erzählt mir, es liege ein rekommandierter Brief für mich auf der Post. Die Nachricht interessiert mich nicht. Briefe von meiner Frau und von Anja sind meistens einfache. Übrigens habe ich beiden meine genaue Adresse mitgeteilt.

Ich bin tatsächlich nicht in Paris. Meine Seele ist abwechselnd in dem fernen, verschneiten Landhaus bei Weib und Kind und bei Anja, die ich mir mit der Geige am liebsten vorstelle.

Ich leide natürlich an Eifersucht. Ich gönne es eigentlich keinem Menschen, daß er auch nur mit Anja spricht. Quälende Vorstellungen solcher und ähnlicher Art verfolgen mich. Aller Augenblicke muß mich mein Freund gleichsam aufwecken. Fern von Anja bin ich eigentlich lebensunfähig: der Hauptstoff aus der Luftmischung, die meine Lunge braucht, fällt fort. Nie habe ich das Automatische, das Maschinelle meines somatischen Wesens so deutlich empfunden. Mein Körper erscheint mir seelenlos. Die Seele ist aber irgendwie noch daran befestigt, was sie immer wieder mit Bestürzung merkt.

Wir saßen in dem Restaurant, wo General Boulanger den Augenblick verpaßte, der ihn zum Diktator Frankreichs, ja vielleicht zu einem zweiten Napoleon machen konnte. Er tafelte mit seinen Freunden hier in einem oberen, abgeschlossenen Raum und wartete der Dinge, als der Fanatismus der Straße seine deutlichste Sprache redete. Die Stunde schlug und fand ihn schwach.

Vor einiger Zeit hat er sich nun auf dem Grabe seiner Geliebten eine Kugel durch den Kopf gejagt.

Es müssen ungeheure Leidenschaften in ihm gewogt haben. Zu viel für einen Mann, der ja gerade die allgemeinen Leidenschaften beherrschen und meistern sollte.

Die ganze europäische Presse brachte verachtungsvolle Nekrologe. Die letzte Tat des Generals wurde als erbärmliche Feigheit ausgelegt.

Ich kann diesen Kommentaren nicht beistimmen.

Wer eine solche Tat für Feigheit nimmt, hat nie wahrhaft gelebt.

Ich habe heute mein Geheimnis nicht mehr gewahrt. Mein Zustand war so befremdlich für meinen Freund, daß ich ihm eine Erklärung zu geben schließlich nicht mehr vermeiden konnte. Er hatte mich und meine Frau gemeinsam in Deutschland kennengelernt. Ihm war es vorgekommen und mußte es vorkommen, unser Verhältnis sei wolkenlos. Wir schienen ihm in einer glücklichen Jugend stehend, schienen heiter erwartungsvoll der Glücksvollendung unseres Daseins entgegenzuleben. Natürlich, daß er von meiner Eröffnung erschreckt, daß er bekümmert, ja in eine Art von Bestürzung versetzt wurde.

Aber ich war nun wenigstens in der Lage, mit ihm von allem zu sprechen, was mich bis dahin geheim ausschließlich beschäftigte. Unsere gemeinsamen Stunden waren nun auch nicht mehr jener quälenden Leere verfallen, unter der sie bisher gelitten hatten.

 

Paris, am 25. Januar 1895.

Ich merke es meinem Freunde an, daß er mich als einen Kranken betrachtet. Die Monomanie, mit der ich ihn jetzt in meinen Konflikt gleichsam hineindrehe, zeigt ihm wohl, wie ernst mein Zustand ist.

Er nahm mich heute mit sich in den Vorort Saint-Mandé, um mich seiner alten, verwitweten Mutter vorzustellen. Sie bewohnt mit ihren beiden Söhnen ein winziges Landhäuschen: ich schien, solange ich darin weilte, ihr dritter Sohn zu sein.

Ich lernte dort auch den jüngeren Bruder meines Freundes kennen, der Priester ist.

In dieser schönen, sanften alten Frau vereinigen sich Würde und zarteste Herzlichkeit. Ob ihr wohl mein Freund etwas von meiner Gemütslage und meinem Schicksal angedeutet hatte? Und dieser junge Bruder und Geistliche, dessen Jünglingskopf der Soutane zu spotten schien, hatte er nicht ein wenig zu viel Wärme, feine Schonung, Rücksicht und behutsam vorgebrachte Tröstungen für mich? Es mochte am Ende auch hier eine kleine Indiskretion des Bruders mit untergelaufen sein.

 

An Bord der »Möwe«, 4. Februar 1895

Es stieg ein Morgen herauf zu mir
in der großen Stadt Paris,
ein Morgen, trüb wie der trübe Gram,
und der neblichte Ostwind blies:

der brachte ein Blatt, ein kleines Blatt
von einem jungen Reis,
hereingeschaukelt auf meinen Tisch
aus des Ostens Winter und Eis.

Wo kommst du her, du grünes Blatt,
so zart und unversehrt?
Von welchem Bäumchen nahm dich der Wind?
Wer hat dich mir beschert?

»Kennst du denn nicht den jungen Baum,
der mich gesendet hierher?
Stolz trägt er die Krone, sein Stämmchen ist
so grad wie des Jägers Speer.«

Ich kannte das Bäumchen, ich kannt' es wohl,
seiner Blätter und Blüten Duft.
Es stieg aus dem einen verwehten Blatt
der Frühling und füllte die Luft.

Ein Licht wie Gold, ein Hauch wie Gras
und grüner Maienschein
brach in mein ödes, fremdes Gemach
mit Klingen und Läuten herein.

Da flog ein Rabe herein zu mir,
schwarzflüglig, ins goldene Licht,
der brachte ein Blatt, ein rotes Blatt,
wie der sterbende Herbst sie bricht.

Wo bringst du her das rote Blatt,
du schwarzer Bote du?
Mir schlug das Herz so bang und weh,
und der Rabe krächzte mir zu:

»Kennst du denn nicht den edlen Baum,
der dir gegrünet hat?
der alle seine Früchte dir gab?
Es ist sein letztes Blatt!«

Ein leiser Schrei wie ein Todesruf
durchdrang die Frühlingsglut:
da weinte das Blatt, das rote Blatt,
einen roten Tropfen Blut.

Der Tropfen hing, und der Rabe flog
hin über das grüne Reis.
Der Tropfen fiel, und das grüne Blatt,
es ward wie Schnee so weiß.

Soweit ich blicke, kein Land um mich. Das Erlebnis, welches mich an Bord dieses Dampfers geführt, wird hoffentlich durch kein zweites ähnlicher Art künftig in Schatten gestellt werden.

Ich sitze an Deck, und diese Zeilen werden von mir nach meiner Gewohnheit mit Bleistift notiert, in ein Buch, das auf meinen Knien liegt.

Mein Ziel ist New York. Ich habe niemals daran gedacht, nach New York zu reisen. Und noch am 31. Januar hätte ich jeden ausgelacht, der mir gesagt haben würde, ich befände mich am 3. Februar bereits auf dem Atlantischen Ozean.

Ich trage einen mit Seide gesteppten Paletot. In meiner Kabine liegt ein kleines Köfferchen. Weder mit Geld noch Effekten, geschweige innerlich bin ich auf diese Reise vorbereitet. Ich kann nur denken, daß ich durch einen brutalen Griff des Schicksals an Bord dieses Schiffes geschleudert worden bin.

Es wird sicher gesteuert, dieses Schiff. Ich aber habe das Steuer verloren.

Warum soll ich nicht schreiben, wenn auch diese Zeilen vielleicht nie von einem anderen Menschen gelesen werden?! Warum soll ich nicht schreiben, wenn diese Tätigkeit mich erleichtert! Es ist mir, der ich hier keinen Menschen habe, mit dem ich reden kann, wohltätig, einen Teil der Last meines Erlebnisses auf fremde, imaginierte Schultern abzuwälzen. Aber ich rede ja mit mir selbst. Meine Schreiberei ist ja nur Selbstgespräch. In diesem Falle ist es so, als wenn jemand die bleierne Bürde, die seine rechte Achsel zu zerquetschen droht, auf seine beiden Schultern verteilt.

Das äußerliche Erlebnis, welches ich hinter mir habe und das etwa festzuhalten wäre, ist ein überaus einfaches.

Ich hatte mit meinem Freunde auf gewohnte Art in Paris weitergelebt, als er mich eines Nachmittags für einige Stunden im Hotel absetzte. Abends wollten wir, glaube ich, in die Oper gehen.

Im Postbüro des Hotels wurden mir zwei Briefe überreicht: wiederum gleichsam feindliche Brüder, die sich in meiner Brusttasche zu vertragen hatten, bis ich auf meinem Zimmer war.

Ich las zuerst Anjas Brief, da ich mich gleichsam durch einen frischen Trunk stärken wollte, bevor ich mich der schweren und schmerzlichen Aufgabe unterzog, einen Brief meiner Frau auf mich wirken zu lassen.

Noch hatte ich nicht die geringste Ahnung, welche eiserne Faust aus diesem Briefe emporfahren und gegen meine Stirn schmettern würde.

Ich öffnete also, ich las nun auch diesen Brief, worauf es mir vor den Augen buchstäblich schwarz wurde. Während der ersten Sekunden wußte ich nicht, ob ich das Opfer eines Attentats geworden oder ob die Decke des Raumes über mir zusammengebrochen war. Ich kämpfte um meine Besinnung, um meinen Verstand, um mein Leben wie ein Rasender. Mit Aufbietung einer verzweifelten Energie schwamm ich blind unter den Trümmern eines nächtlichen Schiffbruchs herum.

Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob man diesen Zustand, wenn man seine Ursache erfährt, als einen unmännlichen bezeichnen will. Es gibt keinen Mann, keinen echten Mann, den er nicht überkommen könnte.

Als das erste schwache Verstandeslicht über dem Geschehenen schwebte, war mein Gefühl: nein, dies durfte nicht geschehen, eine solche furchtbare Grausamkeit habe ich um niemand, aber auch um niemand verdient! Nein: wer dieses mir zufügen konnte, der kannte entweder die Tragweite seines mörderischen Verfahrens nicht, oder aber er mußte mit der Möglichkeit eines tödlichen Ausganges für mich rechnen.

Und so richtete sich denn das dunkle Haupt meiner verlassenen Frau als das der Gorgo auf, deren Anblick den Menschen versteint.

Was stand nun eigentlich in dem Brief? Nur ein Kenner der Höhen und Tiefen der Menschennatur wird begreifen, wie ein so einfacher Inhalt solche Wirkungen haben konnte.

Also, was sagt der Brief meiner Frau?

Du hast, so schreibt sie ungefähr, durch Dein Verhalten gezeigt, daß ich auf eine Zukunft an Deiner Seite nicht mehr sicher rechnen kann. Ich vermag den Zustand der Ungewißheit nicht länger zu ertragen. Ich habe darum beschlossen, mein und meiner drei Kinder Leben auf eine neue Grundlage zu stellen. Unser Schiff verläßt, wenn alles gut geht, Hamburg am 31. Januar. Am 1. Februar wird es auf der Höhe von Southampton sein und dort Passagiere an Bord nehmen. Wir sollen bei glücklicher Fahrt am 8. oder 9. Februar in New York eintreffen. Was dort geschehen wird, weiß ich noch nicht. Ich habe eine Jugendfreundin verständigt, die dort verheiratet ist. Ich nehme an, sie wird mir die ersten Schritte auf fremdem Boden erleichtern. Ich konnte nicht anders handeln. Lebe wohl.

 

An Bord der »Möwe«, 5. Februar 1895.

Ich verließ mich sozusagen gestern in einem Zimmer des Hotels St-Lazare. Da ich ohne alle Beschönigung wahr zu sein entschlossen bin, will ich in der Schilderung jener Zustände fortfahren, in die ich durch den Brief meiner Frau geworfen wurde.

Der Schlag, welcher mich gänzlich unerwartet, gänzlich unvorbereitet und also gänzlich widerstandslos getroffen hat, war so stark, daß es eine Zeitlang zweifelhaft blieb, ob ich ihn lebend und, wenn lebend, mit gesundem Verstand überstehen würde. Die schrecklichste Angst, die mich inmitten der vollständigen Bestürzung und Verwirrung, in die ich geraten war, ergriff, war die Angst vor dem Irrenhaus. Im Begriff, mich umzuziehen, hatte ich meinen Hemdkragen abgeknöpft, meine Stiefel ausgezogen und einige Kleidungsstücke abgelegt. Da ich nun zwar nicht nach Hilfe schrie, aber doch irgendeine menschliche Hilfe suchte, wäre es notwendig gewesen, mich wieder salonfähig herzurichten. Dies aber war bei dem Zustand meines Gehirns in der ersten Viertelstunde ein Ding der Unmöglichkeit. Weder sah ich, noch fand ich einen Gegenstand, noch konnte ich, von dem Geschehnis hingenommen, irgendeinen der Handgriffe ausführen, die zum Anziehen von Schuhen und Kleidern notwendig sind.

Ich konnte tobsüchtig, ich konnte durch einen Schlagfluß verblödet werden. Ich stürzte also ans Waschbecken und goß mir Wasser und immer wieder Wasser über den Kopf. Ich hatte dann das Gefühl, ich müßte etwas schnell Wirkendes, Stärkendes zu mir nehmen. Ich fand die Klingel, ich ließ mir drei rohe Eier aufs Zimmer bringen und goß sie in aller Eile hinab.

Nachdem eine halbe Stunde vergangen war, wurde ich einigermaßen Herr über mich und konnte ein wenig gesammelter nachdenken. Ich las den Brief zum zweiten, zum dritten Male. Richtig, da stand es: der Dampfer sollte am 1. Februar in Southampton Passagiere an Bord nehmen.

Southampton, Southampton, wo war ich denn eigentlich? Wo lag Southampton, und welches Datum hatten wir heut?

Es stand im Augenblick bei mir fest, ich mußte versuchen nach Southampton zu kommen, die Flüchtlinge in Southampton abzufangen.

Aber wie kam man nach Southampton, und welches Datum hatten wir heut?

Ich drückte den Knopf der elektrischen Klingel. Der Kellner erschien. Er wußte es nicht oder war wenigstens seiner Sache nicht sicher.

Wenn nur mein Freund erscheinen möchte, wenn ich nur irgend jemandem mich anvertrauen könnte! Wenn mir nur irgendeine helfende Seele, eine helfende Hand zur Seite wäre! Wenn ich nur wenigstens die ungeheure Aufgabe, mich straßenmäßig anzukleiden, erst erledigt hätte!

Nach einiger Zeit stand ich nun wenigstens unten in der Hotelhalle und sprach mit einem deutschen Angestellten des Empfangsbüros. Es war wirklich der 1. Februar. Aber es war nicht möglich, Southampton noch am gleichen Tage zu erreichen. Man hatte drei Stunden Schnellzugfahrt bis Le Havre. Die Nacht verging mit der Überfahrt. Das Dampfboot konnte bei ruhiger See morgens in Southampton eintreffen.

Aber es war heut ja schon der 1. Februar, wo der große Überseedampfer Passagiere in Southampton aufnehmen sollte. Warum traf dieser Brief denn nicht vierundzwanzig Stunden früher ein? Ich wäre rechtzeitig an Bord des Dampfers erschienen, hätte meine Frau umarmt, ihr aufs neue meine ganze, ungeteilte, unendliche Liebe dargebracht, hätte die Kinder ans Herz gedrückt, und wir wären an Land gegangen.

In Southampton, oder wo es nun gerade war, würden wir geblieben sein und hätten das unausdenkbare Glück unserer Wiedervereinigung gefeiert. Es wäre gewesen wie nach einem Gewittersturm, wenn die Sonne das Gewölk zerteilt, Not und Angst aus den Herzen flieht und der Regenbogen am Himmel steht. So finster, so trostlos mußte es werden, hätte ich dann zu meiner Frau gesagt, damit wir fähig wurden, ein so unaussprechliches Glück zu genießen, wie es uns jetzt beschieden ist. Wir hatten einen furchtbaren Traum. Wir sind erwacht, der Morgen ist da, verzehnfacht unsere Glückseligkeit!

Denn daß ich, wenn es überhaupt noch möglich war, zu den Meinen zurückkehren, daß ich von jetzt ab meiner armen, gemarterten, geliebten Frau ausschließlich gehören würde, daß mein weiteres Leben darin bestehen würde, nach Kräften wiedergutzumachen, was ich an ihr gesündigt, an ihr verbrochen hatte, darüber konnte in jenen Augenblicken kein Zweifel sein.

War es denn aber auch wirklich der 1. Februar? Fast hielt ich es für unmöglich, eine so furchtbare Härte des Schicksals vorauszusetzen. Und es war dennoch der 1. Februar. Der Dampfer konnte indes verspätet sein. Ich klammerte mich an diesen Gedanken wie ein zum Tode Verurteilter an den Gedanken der Begnadigung. Und in der Tat: der Herr im Empfangsbüro mußte zugeben, daß infolge schlechten Wetters, wenn auch sehr selten, von Cuxhaven bis Southampton Verspätungen bis zu vierundzwanzig Stunden vorkamen. Er nannte mir ein Verkehrsbüro, wo ich Genaues erfahren könne. Ich wurde von einem Hotelboy dorthin geführt.

Es war nicht zu ändern, ich hatte vor dem deutschen Angestellten eine ziemlich klägliche Rolle gespielt. Meine Zerrüttung konnte ihm nicht verborgen geblieben sein. Ich redete wirres Zeug durcheinander. Mir tanzte ja Nebel vor der Stirn, aus dem ich nur hin und wieder Gesichter, Köpfe, einzelne Glieder von Menschen, Teile von allerlei fremden Gegenständen auftauchen sah. Man hatte endlich den eingeschriebenen Brief, von dem mein Freund gesprochen hatte, im Hotelbüro deponiert, nachdem er acht Tage auf der Post gelagert hatte. Ich mußte wieder und wieder ansetzen, bevor ich meinen Namen unter die Empfangsbescheinigung setzen konnte, so tanzte der Federhalter in meiner Hand.

Wir standen in der Schiffsagentur. Kein Zweifel: nochmals wurde bestätigt, es war heut der 1. Februar. Die »Auguste Viktoria« sollte heut auf der Höhe von Southampton Passagiere aufnehmen. Ich wollte wissen, ob man wohl noch den Anschluß erreichen könnte. Wie ich das meine, fragte man mich. Ein Dampfer könne doch gelegentlich bei schlechtem Wetter verspätet sein. Die Herren hinter der Barre sahen mich und sahen einander befremdet an. Dann zuckte der eine ungläubig die Achseln. »Die ›Auguste Viktoria‹«, sagte er, »ist ein Doppelschrauber und ein nagelneues Schiff. Eine Verspätung von vierundzwanzig Stunden auf einer so kurzen Strecke ist ausgeschlossen, oder es müßte etwas ganz Außergewöhnliches . . .« Aber er unterbrach sich und sagte dann: »Ich kann ja nachsehen.«

Er verschwand in den inneren Büros, kam wieder und sagte etwas, das ungefähr so auf mich wirkte, als ob man irgendeinen Giftstoff in meinen Blutkreislauf eingeführt hätte. Ich grüßte und tappte mich, ohne ein Wort zu sagen, davon.

»Die ›Auguste Viktoria‹ ist heute vormittag sechs Uhr dreißig auf der Höhe von Southampton eingetroffen und hat ihre Fahrt um sieben Uhr dreißig fortgesetzt.«

Ich traf in der Hotelhalle, Gott sei Dank, meinen Freund. Er erschrak, als er mich sah, und fragte sogleich, was geschehen sei. Es folgte nun eine halbe Stunde, in der wir die Lage von allen Seiten betrachteten, welche durch die unerhörte Tatsache geschaffen war, mit der ich ihn bekannt gemacht hatte.

Ohne diesen Freund würde ich, wie ich fest überzeugt bin, der Geistesumnachtung verfallen sein.

 

An Bord der »Möwe«, 6. Februar 1895.

Die Meinen, Frau und Kinder – um den Faden von gestern wieder aufzunehmen –, schwammen also, während ich in der Halle des Hotels mit meinem Freunde sprach, bereits auf dem Atlantischen Ozean. Keine Macht der Welt vermochte sie dort mehr zu erreichen noch gar zurückzubringen. Eine solche Art Trennung war eine ganz andere als jene, die ich bis dahin ertragen hatte. Diese war ein Weh, mit dem ich zu leben vermochte, die neue Trennung riß mir das Herz aus der Brust.

Ich glich jedenfalls einem schwer Verwundeten, der, wenn es nicht gelingt, das Blut zu stillen, verbluten muß. Unaufhaltsam schien es, unter stechenden Schmerzen, im Bewußtsein der unabwendbaren Tatsache hinzuschwinden, daß ein Schiff die Meinen mit jeder Minute weiter und weiter von mir entfernte, in die gefahrvollen Ödeneien des Ozeans und dann einer völlig fremden Welt.

So waren sie also mindestens für Wochen von mir losgerissen. Was auch immer da draußen mit ihnen geschehen mochte, ich konnte ihr Schicksal weder lindern noch teilen. Sie waren für mich lebendig tot und hinwiederum ich lebendig tot für sie.

Ich konnte nicht zu meiner armen Frau hineilen, konnte nicht vor ihr niederfallen und Abbitte tun. Ich konnte ihre furchtbaren Seelenqualen nicht durch das Bekenntnis meiner Reue und meiner neu erwachten, heißen, grenzenlosen Liebe in Freude verwandeln. Vielleicht unterlag sie ihren Qualen auf dieser Fahrt. Ein naher Verwandter von ihr hatte in ihrem Alter den Tod gesucht. Ging schließlich, was sie auf sich genommen hatte, nicht über Menschenkraft? Ich sah Gespenster, schreckliche Bilder drängten sich. Eine tote Frau wurde, auf ein Brett gebunden, ins Meer versenkt, drei Waisenkinder erreichten New York und mußten, wenn sie nicht etwa Verbrechern in die Hände gerieten, der Armenpflege zur Last fallen.

Dies war die peinvollste meiner Befürchtungen: meine Frau könnte dahingehen in der finsteren Trostlosigkeit ihres verlassenen und verratenen Herzens, ohne von meiner Sinneswandlung etwas erfahren zu haben, ohne von meiner Reue, meiner Rückkehr, meiner wiedergeborenen Liebe zu wissen, meiner ausschließlichen, leidenschaftlichen, ewigen Liebe zu ihr.

Aber wenn meine arme Frau mich liebte, wie konnte sie diesen furchtbaren Schlag führen?! dachte ich dann. Wenn sie mich einigermaßen kannte, wie konnte sie mir das tun? Wie konnte mein Bruder Julius das zulassen? Er war all die Zeit hindurch in nächster Nähe meiner Frau. Warum bin ich nicht von der drohenden Gefahr unterrichtet worden, als ich sie abzuwenden noch in der Lage war? Und warum hat meine Frau den folgenschweren Entschluß in einer Zeit gefaßt und durchgeführt, wo ich ihrem Wunsche gemäß von Anja getrennt lebte? Ich war ja eigentlich nur verreist, wie es auch früher oft geschehen ist. Sie lebte allein, ich lebte allein, der gesamte Konflikt war suspendiert.

Ich weiß nicht, wie weit ich meinen Freund in dies alles einweihte. Sein Bemühen ging darauf aus, mich zu beruhigen. »Du mußt dich fassen. Die Dinge sind schmerzlich, naturgemäß«, sagte er. »Aber sie sind weder trostlos noch hoffnungslos. Eine Fahrt nach Amerika auf einem modernen Ozeandampfer ist heute kein Wagnis mehr. Das viele Neue, was deine Frau zu sehen bekommt, wird sie in Anspruch nehmen und von ihrem Schmerz ablenken. Deine Schreckbilder haben eine minimale Wahrscheinlichkeit. Dagegen unterliegt es gar keinem Zweifel, ihr werdet euch binnen kurzem wiedersehen. Du siehst nur die Nachtseite deiner Angelegenheit. Aber sie hat auch eine Lichtseite: mit einem Schlage bist du über deinen Konflikt hinweg. Es ist vielleicht eine furchtbare, ist vielleicht eine Pferdekur, aber sie hat die Krise herbeigeführt, und eigentlich bist du bereits genesen.«

Mein Freund veranlaßte mich, zu essen, zu trinken, er verließ mich fortan keinen Augenblick. Wir gingen zusammen abermals nach der Schiffsagentur, um uns zu erkundigen, wann der nächste deutsche Amerikafahrer Southampton passiere. Der Schnelldampfer »Möwe«, ein älteres Schiff, passierte vermutlich am 3. Februar. Er konnte noch Passagiere aufnehmen, und so verließ ich die Agentur mit den Karten zur Überfahrt. Denn daß ich den Meinen nachreisen würde, war nicht einen Augenblick zweifelhaft.

Der Fahrschein in meiner Tasche brachte mir eine Erleichterung. Es war, als sei dadurch eine Art Verbindung zwischen mir und den Meinen hergestellt und als sei nun beinah die Wiedervereinigung sichergestellt. Trotzdem grauste mir bei dem Gedanken, noch etwa vierundzwanzig Stunden in Paris festgehalten zu sein. Ich fürchtete mich vor der kommenden Nacht, in der zu schlafen ich bei dem Zustande meines Hirns nicht die allergeringste Aussicht hatte. Noch immer war ich nicht sicher, ob es dem hereingebrochenen Ansturm standhalten konnte und ob ich nicht doch noch mit einer Gehirnentzündung abschließen würde. Mich erwartete außerdem jene entsetzliche Ungeduld, die jemand empfindet, der verstiegen, an einen bröckelnden Felsen geklammert, über dem Abgrund hängend, auf Rettung harrt. Ich lechzte mit allen Organen des Leibes und der Seele nach den Gefahren des Meeres, dem Ozean. Ich würde, den Fuß an Bord meines Dampfers, wie ich fühlte, zur Hälfte genesen sein. Von diesem Augenblick an schwamm ich ja mit den Meinen auf ein und demselben Meere, hatte das Element und seine Gefahren mit ihnen gemein. Je mehr es dann stürmte, je mehr ich geschüttelt wurde, um so besser für mich, Dann brauchte ich wenigstens nichts vor ihnen vorauszuhaben. Solange sie schwammen, haßte ich festes Land, weil es unbeweglich und sicherer war, und es schien mir, als ob ich es nie geliebt hätte.

Wir saßen bei Tisch, mein Freund und ich, und da zog ich zufällig mit dem Taschentuch jenen Brief aus der Tasche, den ich acht Tage nicht abgeholt hatte. Es war unterblieben, weil man mir sagte, daß er aus Bremen sei, wo mein ältester Bruder, Marcus, seinen Geschäftsbetrieb hat. Wir waren entzweit, hatten im letzten Vierteljahr öfters heftige Briefe gewechselt, und ich war nun eben nicht ungeduldig, wie ich meinte, das neuste Dokument dieser Art in Empfang zu nehmen.

Nun aber, endlich, erbrach ich den Brief und mußte zu meinem Schmerz erkennen, wie unrecht ich in diesem Falle getan, denn gerade dieser geringgeschätzte und zurückgestellte Brief war dazu bestimmt, mich über die Absichten meiner Frau rechtzeitig aufzuklären. Mein Bruder schrieb: »Es geht nicht an, was Du mit Deiner Frau auch für Differenzen gehabt haben magst, daß sie ohne Deinen Willen ins Ausland geht, vor allem aber, daß sie Deine drei Kinder ins Ausland verschleppt. Dazu hat sie kein Recht, und noch bist Du der Vater, und Ihr seid nicht geschieden, die Verfügung über Deine drei Kinder hast Du allein. Zwar sollte mir das Versprechen abgenommen werden, Dir gegenüber von der Sache zu schweigen, aber da ich dies als ein Verbrechen gegen Dich und Deine Kinder betrachten muß, schweige ich nicht . . .«, und so ging es fort.

Ich würde also, rechtzeitig in Besitz des Briefes gelangt, schon in den ersten Pariser Tagen von der drohenden Gefahr unterrichtet gewesen sein und hätte die Katastrophe verhindern können. Die Vorsehung hat es anders bestimmt und mir, indem sie mein Ahnungsvermögen mit Blindheit schlug, den Brief meines Bruders unterschlagen.

Es kam nun doch die gefürchtete Nacht, vor der ich mich gern gerettet hätte, indem ich mit meinem Freund bis zum Morgen beisammenblieb. Aber wie es nun einmal ist bei Menschen, die an einem Unglück nur mittelbar teilnehmen, es kommt der Augenblick, wo sie ihre Pflicht nach Kräften getan zu haben glauben, wo sie an sich selbst denken, wo die Natur ihr Recht fordert und sie ermüdet in ihre gewohnte Bequemlichkeit zurücksinken. In solchen Augenblicken muß der Verlaßne erkennen, daß im großen ganzen die empfundene Anteilnahme, genau besehen, nur Grimasse, nur eine Maske war und daß er durchaus nur auf sich selber gestellt, auf sich selbst angewiesen bleibt. Dieser Augenblick ist ein furchtbarer, denn nun stürzen sich die Dämonen von allen Seiten wütend wie auf ein wehrloses Opfer herein, und es gilt einen Kampf ohne Beistand auf Tod und Leben.

So ist denn auch diese schrecklichste aller meiner bisherigen Nächte mir nicht erspart geblieben, und diese »noche triste« ist nun für immer mit der großen Stadt Paris verknüpft.

Es war ein giftiges, ein unsäglich peinvolles Licht, das in meinem Hirn brannte. Ich hatte das Gefühl, ohne Stirn zu sein. Ich irrte durch eine zerstörte Stadt. Natürlich suchte ich meine Frau. Ich hatte ihrer Seele etwas Schreckliches angetan, und sie war, wie ich glaubte, mit dem letzten Entschluß der Verzweiflung ins Dunkel davongerannt. Ich lief mit dem nutzlosen, bettelnden Schrei des Herzens an Kanälen und Brückengeländern hin, die Schwärze der Nacht anflehend, sie möge mich meine geliebte Frau finden lassen, ehe sie Zeit hätte, den letzten Schritt der Verzweiflung zu tun. Verzweiflung, Verzweiflung und immer wieder Verzweiflung ist es gewesen, durch die ich in dieser Nacht gejagt, gehetzt und im Traume gepeitscht wurde. Ich sah den Vater, die Mutter im Traum. Ich sah meinen Vater mich streng, gläsern und vorwurfsvoll anblicken. Ich hörte meine Mutter weinen und Gott auf eine rührend einfache Weise bitten, er möge sie endlich von der Welt nehmen.

Meine Augen, wenn ich erwachte, schienen zwei brennende Höhlen zu sein. Wenn ich danach etwa wieder einschlummerte, war es, um sofort wieder aufzufahren. Wer kennt nicht diese schreckhaften Unterbrechungen des Schlafs, die uns jedesmal den letzten bewußten Augenblick vor einem schweren Unglück vorgaukeln. Ich wollte lieber alle Gewalt anwenden, um wach zu bleiben, als noch einmal auf solche Weise geweckt werden. Aber schon träumte ich wieder, in der Meinung, ich wache noch. Eine Stimme sagte: Es wird Blut geben, es wird Blut geben! Eine andere: Du bist charakterlos und bist würdelos. Kein Teufel konnte grausamer, kein Vandale roher und wilder im Zerstören sein. Du hast gewütet wie ein Mordbrenner gegen dich selbst, dein ganzes Haus, unter dessen Trümmern dein Weib, deine Kinder, deine Eltern, deine Ehre, deine Treue, deine Liebe, deine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begraben liegen!

Ja, es war wirklich Heulen und Zähneklappern in dieser Nacht. Herr, sende Lazarum, daß er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge, betete ich. Aber die Bitte war vergebens. Ich war der Mörder meiner Frau. Zwar fragte ich immer wieder: Warum hast du mir das getan? Und ich fragte mich selbst, warum sie mir das angetan habe, warum sie mich in diese Höllen, die meine Seele mit brennenden Zungen aufzehrten, hinabgestoßen habe. Damit konnte ich meine Schuld nicht abwaschen, und schließlich lag ich nicht darum in diesen Höllen, weil ich Weib und Kinder auf hoher See wußte, sondern weil in den wüsten Bildern dieser Nacht meine Frau bereits ein Opfer meiner Schuld geworden schien und ihrem Leben ein Ende gemacht hatte. Es war jenes fürchterliche »Zu spät, zu spät!«, das mich folterte und mir nur den Ausweg zu lassen schien, mit dem ein Judas Ischariot sein erbärmliches Dasein austilgte.

Auch diese Nacht ist vorübergegangen, und siehe da, ich lebe noch. Ich erhob mich vom Bett, als ein klarer Morgen über Paris heraufdämmerte. Ich fühlte mich leer, fühlte mich ebenso ausgebrannt wie ausgeweint. Die Höllen der Nacht verloschen, und mit dem wachsenden Tageslicht fühlte ich den Wunsch zu leben, die leise Hoffnung auf Begnadung in mir aufsteigen. Vielleicht mußte ich diese Prüfung erleben, wie Saulus sein Damaskus erlebte. Seltsam, mein Schicksal, die Schrecken und Martern dieser Nacht ließen mir wiederum jene Empfindung zurück, die mich über den gemeinen Alltag und Alltagsmenschen weit erhob. Beinahe kam es mir nun vor, als seien mir diese Dinge nicht von einem gehässigen Strafrichter zudiktiert, sondern als sei ich, als der Auserwählte einer Gottheit, gewürdigt worden, höchstem Dasein entgegenzuwachsen.

Nachdem ich ein Bad genommen, ging eine Verjüngungswelle durch mich hin. Mein Lebenswille war aufgewacht. Ich vermochte den Entschluß zu fassen, mein Schicksal mutig auf mich zu nehmen und ihm mit Aufbietung aller meiner Kräfte standzuhalten. Ich nahm ein reichliches Frühstück ein, das ich mir gleichsam zudiktierte, weil ich, von der psychophysischen Einheit des menschlichen Organismus überzeugt, der Seele durch den Körper neue Kräfte zuführen wollte. Auch fing ich an – die furchtbare Bilderflucht der Nacht war, Gott sei Dank, verdrängt durch das Tageslicht –, meine Lage mit kühlem Verstande zu untersuchen. Ich prüfte aufs neue den Brief meiner Frau und glaubte zwischen den Zeilen zu lesen, daß der getane Schritt keineswegs die Trennung, sondern die Wiedervereinigung zum Zwecke habe. Wenn das so war, brauchte ich eine Verzweiflungstat meiner Frau gegen sich selbst nicht mehr zu fürchten. Die andere Furcht, dem Schiff könne auf dem Ozean ein Unglück zustoßen, war ja vielleicht insoweit provinziell, als sie nicht über die Sorge hinaus berechtigt war, die sich meldet, wenn man einen geliebten Menschen mit dem Wunsche »Glückliche Reise!« der Eisenbahn anvertraut. Und so hatte ja meine Lage vielleicht gar nicht das Tragische, das ich ihr in der ersten Bestürzung andichtete.

Gleich nach dem Frühstück kam mein Freund. Er hatte aus irgendeinem Grunde seinen Bruder, den jungen Geistlichen, mitgebracht. Die beiden nahmen mich zwischen sich und halfen mir bei Abwicklung meiner Geschäfte, wozu noch der ganze Tag bis zum Abend verfügbar war. Der Zug nach Le Havre verließ gegen sechs Uhr abends Paris.

Schon heute weiß ich nicht mehr, wie wir den Tag verbracht haben. Meine beiden Freunde verließen mich jedenfalls nicht. Nach dem Mittagessen im Café trafen wir einen mir bekannten Theaterdirektor aus Berlin, der von hier Stücke, Pariser Ware, in der Reichshauptstadt einführt. Er beeilte sich, meinen Freunden zu versichern, daß weder er noch seine Frau Preußen oder Deutsche seien, mußte aber erleben, daß seine Frau, wahrheitsliebender als er, seine Behauptung mutig bestritt.

Sie sei Preußin, sagte sie, denn sie sei Oberschlesierin. Der Mann bemühte sich dann vergeblich, sie von ihrer Behauptung abzubringen und ihr einzureden, daß sie über ihr Geburtsland nicht genügend unterrichtet sei.

Meine Freunde sagten beim Herausgehen, daß diese Würdelosigkeit, die man leider vielfach bei Deutschen beobachte, die nach Paris kämen, die Abneigung gegen die Sieger von 70/71 zu verstärken geeignet sei.

Mein Gemüt war inzwischen ruhiger und freier geworden, da ich der Aussicht enthoben war, die kommende Nacht in einem stillstehenden Bette, preisgegeben der Wut meiner Einbildungen, zubringen zu müssen. Um neun oder zehn Uhr sollte ich in Le Havre sein, dort erwartete uns bereits das Boot, mit dem die Überfahrt nach Southampton ohne Verzug angetreten werden konnte. Das gab zielstrebige Bewegung, körperliche Beschäftigung. Jeder Schritt, jede Minute führte mich den Meinen näher und somit der Wiedervereinigung.

Meine Freunde standen auf dem Perron, wohin sie mich treulich begleitet hatten, bis endlich der Zug in Bewegung geriet. Es wurde mit Taschentüchern gewinkt, bis wir uns aus dem Gesicht schwanden.

Mit dem Anrollen und Fortrollen der Räder kam über mich ein befreites, tiefes, zuversichtliches Aufatmen.

Doch nun, gleichsam sicher verstaut und gewiß, dem rechten Ziele entgegenzueilen, ohne daß ich deshalb mich weiter zu sorgen oder etwas zu tun brauchte, nun fühlte ich eine Stelle in mir, die schmerzhafter wurde, je weiter die Reise in der neuen, gesicherten Richtung ging. Langsam, langsam, nicht lange danach, als der Zug mit sechzig Kilometer Geschwindigkeit durch die mondbeglänzte Winterebene rauschte, stieg ein kleines, unterdrücktes, vergessenes und verratenes Bildchen in mir auf, das Köpfchen Anjas, das sich auf seinem feinen Hälschen neigte. Mit diesem Augenblick fing das seltsame Schaukeln in mir an, das auch hier auf dem Schiff nicht nachlassen will und das ich vielleicht am besten so schildere: Zwischen zwei Brunnen ist ein Pfahl aufgestellt. Quer auf dem Pfahl ist eine Stange angebracht, an deren beiden Enden je ein Eimer in jeden der Brunnen hängt. Irgendeine unsichtbare Kraft bewegt nach gewissen längeren Zwischenräumen die Querstange. Sie drückt das rechte Ende herab, worauf der rechte Eimer im rechten Brunnen versinkt und der linke Eimer sich über den linken erhebt und, mit Wasser gefüllt, sichtbar wird – sie drückt das linke Ende der Stange herab, der linke Eimer versinkt alsdann, und der rechte steigt über seinen Brunnen ans Tageslicht. Solche Brunnen mußten in mir sein und die Vorrichtung über den Brunnen, die bald Weib und Kind aus dem Dunkel in die Helle des Bewußtseins hob und Anja ins Dunkel versenkte, bald wieder diese zur Beherrscherin der bewußten Seele machte und Weib und Kind in der Nacht des Unbewußten verschwinden ließ. Seltsam, in hohem Grade beunruhigend, wie ich diesem Wechselspiel, das ganz ohne mein Zutun sich vollzieht, gleichsam unbeteiligt zuschauen kann.

Es war etwa nach der ersten halben Stunde Fahrt, als Anjas Bild zum ersten Male wieder meine Blicke auf sich und rückwärts zog und als meine Seele, vor diesem Bild neuerdings hinschmelzend, ihre Härte abstreifte. Hatte ich denn nicht diese Macht, dieses Bild für endgültig überwunden angesehen? Und nun schien es mit einem stummen, traurig bitteren Lächeln seine Herrschaft wiederum anzutreten. Zwei seltsame Augen richteten sich auf mich, die dunkel, groß, schweigend und feucht waren, gleich darauf von der Wimper fast ganz verdeckt, darunter ein kindlicher Mund, dessen wehe Süße ein kaum merklicher Anflug von Spott noch betörender machte. Ich war bestürzt, ich war fassungslos. Ein kurzer Brief mit der sachlichen Nachricht von dem Geschehenen und meiner Amerikafahrt war von Paris aus an Anja abgegangen. Ich hätte an meinen Hausverwalter nicht anteilloser schreiben können. Jetzt mußte ich mit Schrecken bemerken, welcher Täuschung ich unterlegen war. Hatte nicht meine Reue dieses furchtbare Bild im Wasser ihrer Tränen aufgelöst? Hatten es nicht die brennenden Zungen der durchlebten höllischen Nacht aufgeleckt und verdunstet? Hatte ich es nicht beinahe verflucht, es gleichsam wie eine Pestleiche mit dem ungelöschten, fressenden Kalk meines Hasses überschüttet und eingesargt? Jetzt schlug ich mir mit der Faust vor den Kopf, daß mein Nachbar im Seitengange des Wagens, der durchs Nebenfenster in die Nacht blickte, mich befremdet anglotzte. Nein, dies Bildnis war nicht in Salzwasser aufgelöst, in der Hölle verdunstet oder für immer eingesargt. Es war da und belehrte mich durch einen glühendkalten Fieberschauer über seine gnadenlose Unsterblichkeit. Ich wollte mich gegen den Dämon auflehnen. Bald schmolz aber aller Trotz dahin, und mir wurde klar, daß ich über ein neues Trennungsweh und über eine neue, schwere Abschiedsstunde nicht in diebischer Weise hinwegkommen konnte. Mehr und mehr, mit weicher, süßer und sanfter Gewalt, zog Anja in meine Seele ein und bemächtigte sich des verlorenen Reichs. Und nach und nach stieg alles und alles, was ich mit ihr erlebt hatte, in mir auf. Ich sah ihren Unglauben, ihren leisen Schreck, ihr tiefes Befremden, ihr kurzes, peinvolles Nachdenken im Augenblick, nachdem sie den Abschiedsbrief gelesen haben würde. Die Verzweiflung jedoch blieb aus. Ich hatte von ihr nicht Verzweiflung, das glaubte ich genau zu wissen, sondern Verachtung zu gewärtigen. Ich sah sie nur kurz und resolut den Kopf in den Nacken werfen, vielleicht ein paar Schluckbewegungen machen und wortlos, ohne sich irgend jemandem mitzuteilen, etwas Nützliches tun.

Ich glaubte, ich hätte Anja entsagt. Allein sofern ich ihr nicht entsagt hätte, war sie doch nun verloren für mich. Nicht allein mußte sie sich nach Empfang meines Briefes als frei betrachten, sondern es war nur natürlich, Schmerz und Gram, wenn beides bestand, im Rausch der Berliner Wintervergnügungen zu betäuben. Und ich biß mir die Lippen bei dem Gedanken wund, der Mund eines anderen könnte entweihen, was der meine genossen, und womöglich Früchte pflücken, die zu rauben ich mir versagt hatte.

Bei solchen Betrachtungen war es mir, als wenn ich aus dem Zuge hinausspringen müßte. Plötzlich fühlte ich mich gebunden wie ein Tier, das man gegen seinen Willen da- oder dorthin schleppt. Mich schleppte man also über den Ozean nach Amerika. Ich bin kein Tier, ich bin ein Mensch. Und wenn die Vorwärtsbewegung des Zuges vorher befreiend auf mich gewirkt hatte, so schien sie jetzt der brutale Ausdruck meiner Gefangenschaft. Man riß mich von Europa los. Man riß mich von meiner Liebe los. Man riß mich von meinem Glücke los. Man riß mich von meiner Zukunft los, man riß mich von meinem Leben los, man riß mich von mir selber los. Es gibt in der alten Kriminaljustiz eine furchtbare Todesart: zwei auseinanderstehende junge Bäume werden gegeneinander herangebogen und an die Spitze eines jeden ein Arm des Delinquenten mit unzerreißlichen Tauen gebunden. Dann läßt man beide Bäume zurückschnellen. Der Zustand des Delinquenten nun, ins Seelische übertragen, trat bei mir ein.

Gott sei Dank, er war kein bleibender. Nach einiger Zeit verblaßten das Bild und die beherrschende Kraft Anjas wiederum: der eine Eimer der seltsamen Schaukel, die ich geschildert habe, verschwand, und der andere allein schien im Dasein zu schweben. Nun gehörte ich wieder meiner Frau, meinen Kindern an. Es beglückte mich – ich hätte die eilenden Räder dafür streicheln mögen –, daß ich gleichsam auf der Jagd nach ihnen begriffen war. Ich war auf der Jagd nach dem Glücke begriffen, und ich würde es sicher einholen.

Ich sah das Sternbild des Großen Bären am Nachthimmel. Durch dieses Sternbild bin ich drei- oder viermal in Augenblicken meines Lebens, über die ich nicht hinwegzukommen fürchtete, auf eine seltsame Weise getröstet worden. Ich werde dich wiedersehen, sagte ich mir, und mich bei deinem Anblick an die schwere Krisis dieses Augenblicks nur noch erinnern. Ungeheuer zwar scheint mir jetzt der Berg, scheint mir die Arbeit, die ich zu überwinden habe, aber ich werde dich, du Sternbild, wiedersehen und mich nur noch an ein Längstvollbrachtes erinnern.

Ich begab mich in den Speisewagen, aß und trank. Das Diner war vorüber. An einigen Tischen in dem verqualmten Raum lärmten kartenspielende Kaufleute. Es ist mir bei meiner Gemüts- und Nervenlage schwerer als sonst, ohne peinlichen Widerwillen solchen brutalen Vorgängen beizuwohnen. Aber bald gewann der Wein, dem ich zusprach, seine Macht über mich: es gelang mir, eine Arbeitspause in der Schicksalsfron, die mich unterjocht hatte, durchzusetzen.

Ich trank also, und am Himmel der Große Bär begleitete mich. Ich hing mich mit den Augen an ihn, nachdem ich immer wieder durch Hauch und Hand das Fenster von Eiskristallen befreit hatte. Sei getrost, klang es nun wieder in mir, was du jetzt durchzukämpfen hast, wird deinen Gesichtskreis erweitern, dich auf unverwelkliche Weise bereichern. Und es war, als ob die Orchestermusik, die bei nächtlichen Bahnfahrten nicht selten unsrem inneren Ohr auf fast übersinnlich-sinnliche Weise hörbar wird, geradezu in freudig triumphalen Rhythmen zustimmte.

Le Havre. Im gemeinsamen Schlafraum des Dampfbootes beherrschte mich wieder besonders stark das Gefühl, gefesselt zu sein. Unter all diesen fremden Menschen, die nach und nach hinter die Vorhänge der Kojen krochen, konnte man sich wie auf ein Sklavenschiff verfrachtet vorkommen. Man war nur noch Masse, nicht der Einzelne. Aber zugleich fühlte man sich, mehr als in Einsamkeit, verlassen. Die nackte Selbstsucht des Einzelnen, zutage tretend in unbedingter Brutalität, mit der jeder dem anderen kleine Reisevorteile abzugewinnen suchte, ließ deutlich werden, was Menschenbruder von Menschenbruder im Ernstfalle zu erwarten hat.

Ich stand auf, als die Luke über mir, grau wie ein starblindes Auge, sichtbar ward. Auf Deck war es windig, unbehaglich und kalt. Der Schatten, der ferne gedehnt über die Wasseröde stieg, war die englische Küste. Hatte ich je geahnt, welche Umstände, welcher Zwang, welches Schicksal mich veranlassen würden, meinen Fuß auf diese Küste zu setzen?

Ich beeile mich, über die Eindrücke unserer Landung im Morgengrauen und meines Aufenthaltes in Southampton hinwegzukommen. Abschieds- und Ermunterungsbriefe meiner Eltern und meines Bruders Julius erreichten mich. In dem des Bruders stand:

Heinrich, der Wagen bricht! –
Nein, Herr, der Wagen nicht,
es ist ein Band von meinem Herzen,
das da lag in großen Schmerzen,
als Ihr in dem Brunnen saßt,
als Ihr eine Fretsche wast.

Gewiß, ein Band mochte gesprungen sein, aber das Zitat meines Bruders Julius – es stammt aus einem Grimmschen Märchen – erregte mir höchstens Bitterkeit. Meine Seele verzieh ihm nicht, daß er mich über den Schlag, der gegen mich geführt werden sollte, nicht aufgeklärt, daß er in diese furchtbare Kur, durch die mein Leben aufs Spiel gesetzt wurde, einwilligte. Ich kann mir noch jetzt keinen Begriff machen, welche Geistesverfassung, welche Gründe ihm eine solche Handlung ermöglichten. »Heinrich, der Wagen bricht!« Gut, aber hatte er nicht bewußt darauf hingewirkt, daß die Achsen meines Wagens, daß mein Wagen brechen mußte? Der Gedanke an eine solche Absicht empörte mich. Wie konnte mein Bruder sich erlauben, meinen Wagen zu zerbrechen oder nicht zu verhindern, daß es geschah? Wie konnte er, der heimtückisch diesen schweren Unglücksfall hatte herbeiführen helfen, den trösten wollen, der mit zerbrochenen Gliedern auf der Straße lag?

Heinrich, der Wagen bricht! –
Nein, Herr, der Wagen nicht.

Dies empfand ich wie Hohn, über einen besiegten Gegner ausgegossen.

Es ist ein Band von meinem Herzen,
das da lag in großen Schmerzen.

Schön. Eigentlich hatte ich ja aber gar kein Band um mein Herz gehabt. Vielmehr war mein Herz über seine Grenzen getreten, übergeflossen. Und wie konnte er wissen, tausend Kilometer und mehr in Luftlinie von hier entfernt, ob mich sein Brief nicht in einer englischen Irrenzelle erreichte. Nein, nein! wenn etwas zerbrach, mein lieber Bruder, so war es vielmehr das Band zwischen mir und dir. So wie du handeltest, handelt nicht Bruderliebe, sondern höchstens trauriges Ungeschick. So einfach, wie es dir scheinen will, sind Schicksale nicht zu unterbinden, hinwegzudekretieren oder auszuradieren. Indem ich dies schreibe, trage ich in mir wiederum den Beweis davon.

Und nun gar:

Als Ihr in dem Brunnen saßt,
als Ihr eine Fretsche wast.

Weder habe ich in einem Brunnen gesessen, noch bin ich je ein Frosch gewesen. Aber der Prosaschluß dieses Bruderbriefes war das Ärgste an Ahnungslosigkeit und der Gipfel der ganzen gutgemeinten Unwissenheit. »Das Band ist also vom Herzen«, hieß es da, »wir sind tief glücklich, sehen mit innigem Behagen in Gedanken . . .« Nun genug! schon allein das Wort »Behagen« in diesem Augenblick mußte mir den Magen umwenden.

Ich hatte in einem kleinen Gasthaus am Hafen ein Zimmer genommen. Ein großes Doppelbett stand darin. Das Wasser gefror in der Waschschüssel. Hier wollte ich die Abfahrtsstunde des kleinen Salondampfers abwarten, der uns an den großen Ozeanfahrer bringen sollte. Nun, in diesem Zimmer hatte ich wiederum schwere Stunden. Jenes Schwanken, von dem ich bereits gesprochen habe – es wurde durch die zwei Brunnen und die beiden Eimer verbildlicht –, also jenes Schwanken fing wieder an, in welchem abwechselnd das Haupt meiner Frau und das Bild Anjas auftauchten. Mit dem Antlitz meiner Frau erschienen jedesmal nicht nur meine Kinder, es erschien unser Landhaus, erschien das gemeinsame Leben, das wir geführt hatten, von der ersten Begegnung an. An die Verlobung dachte ich, an die ganze zum Teil unsagbar glückliche Zeit, die zwischen Verlobung und Hochzeit lag, kurz, alles und alles tauchte auf und machte sich auf rätselhafte Weise in einem Augenblick gegenwärtig, was mit unserer Liebe und Ehe zusammenhing. Alle Beteuerungen, Versicherungen, Schwüre, die unser Band fester geschlungen hatten, traten anklagend vor mich hin, alle Wohltaten, die ich empfangen, alle gemeinsamen Freuden und Hoffnungen, auch die qualvollen Schmerzen, die meine Frau in den Geburtsstunden unserer Kinder hatte erleiden müssen. – Aber mit dem Antlitz Anjas tauchte dann eine neue, eine ganz andere Welt empor. Die Melancholien, die Ängste, die Sorgen, der Kleinmut, die Selbstquälerei, die Verfinsterungen, unter denen meine Frau so bitter litt und die alle mitzuleiden ich durch unser Zusammenleben verurteilt war, waren nicht mehr. Anjas Seele war heitere Zuversicht, Gegenwartsfreude und ganz ohne jenen Sorgenapparat, ohne den ich – auch von meinen Eltern her kannte ich ihn – eine Ehe für unmöglich gehalten hatte. Anja scheint ohne jedes Lebensprogramm, ohne alle bürgerlichen, materiellen Ansprüche, durch und durch Glaube und Zuversicht. Sie fragt nicht, sie fordert nicht, sie befürchtet nicht. Ob ich arm oder reich werde, geht sie und ihre Liebe nichts an. Jeder Augenblick unserer Gemeinsamkeit erschien uns beiden als Vollkommenheit.

Ich sah das große Doppelbett, und leidenschaftliche Illusionen marterten mich. Die gefährliche Frage tauchte wirklich auf: Warum läßt du dich eigentlich über den Ozean nachziehen? Hat sie es, die gegen dich solche rücksichtslosen Schläge führt, um dich verdient? Du würdest gewiß nicht deinen Fuß auf das große Schiff setzen, wenn Anja jetzt hier wäre und du in ihrem vollen Besitz.

In der Gegend des Herzens, am Hemd mit einer Nadel befestigt, trug ich ein kleines, seidenes Taschentuch. Ich habe es wieder dort angeheftet, nachdem ich es in Paris, im ersten Wirbel der Ereignisse, mit Abscheu von mir getan hatte. Das öde Zimmer in Southampton hat die Raserei meiner Küsse, die Raserei meiner Tränen, meiner Sehnsucht gesehen. Ich schrieb der Geliebten, ich fühle ihr Tuch auf meinem Herzen wie ihre warme, treue Hand, und sie begleite mich über den Ozean. Er war nicht mehr kalt und lapidar, dieser Brief, und Anja konnte vielleicht aus ihm ersehen, daß für sie nicht alles verloren war.

Und wiederum stieg das Bild meiner Frau empor, und es gab ein furchtbares, immer schneller werdendes Schaukeln, einen Wechsel, ganz unabhängig von mir, der mir, wie einem unbeteiligten Zuschauer, die alte Angst, ich könne den Verstand verlieren, wiederum nahebrachte.

Habe ich nun einigermaßen die Ereignisse nachgeholt, die in ihrer Aufeinanderfolge zu hastend und in ihren Wirkungen zu stark waren, um sie sogleich festzuhalten? Ich denke nein. Höchstens zum geringeren Teil. Aber Hauptsache ist, ich lebe, habe das Schlimmste einigermaßen überwunden.

Heinrich, der Wagen bricht! –
Nein, Herr, der Wagen nicht.

Soweit wenigstens hast du, mein Bruder, wahr geredet.

 

An Bord der »Möwe«, 7. Februar 1895.

Es ist noch nicht Tag. Schon beginne ich meine Bleistiftnotizen. Ich sitze an Deck in meinem seidengesteppten Luxuspaletot. Eigentlich ist es tragikomisch, sich vorzustellen, in welchem inneren und äußeren Zustand ich auf das Schiff gespült worden bin. Meine Reiseeffekten sind für Hotels, Theater, Salons bestimmt. Und nun sitze ich hier beim Morgengrauen, den Rücken an eine lackierte Metallwand gelehnt, im Aufruhr einer kosmischen Wüste.

Der Dampfer rollt, als müsse sich das Schiff, wie eine Spule, um seine Längsachse ganz herumdrehen. Es wäre allerdings fraglich, ob ich dann auf der anderen Seite wiederum mit heraufkäme. Was läßt sich von solchen äußeren Umständen sagen, als daß sie einigermaßen großartig, aber im Grunde trostlos sind. Der Himmel ist grau und hängt sehr tief. Die mächtig bewegte und doch so monotone Hügellandschaft des Ozeans kommt mir vor wie eine gleichmäßig in Gang gehaltene Maschinerie. Eine ziemlich furchtbare, menschenfeindliche Maschinerie. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Von dem Geist Gottes über diesen Urgewässern spüre ich nichts. Jedenfalls nicht, soweit irgendeine Beziehung zu Mensch, Menschenschicksal und Menschengeist in Frage kommt. Ganz ungeheuer scheint darum immer wieder die Kühnheit, die den Menschen dazu geführt hat, sich in die fürchterliche Gottlosigkeit der Urgewässer hineinzuwagen, in die nackte Verlassenheit. Nein, die Tatsache wird auch nicht erklärt durch eine einzige psychische Eigenschaft. Kühnheit setzt ein Ziel voraus. Ein Ziel aber setzt eine Lockung voraus. Eine Lockung setzt Not und Leiden voraus. Der Weg zwischen Not und Lockung setzt den Glauben, den Glauben an ein Ziel voraus. Der Glaube aber gibt den Beweis, daß Ziel von Illusion kaum verschieden ist. Nicht also Vernunft, Verstand und Mut haben das menschenfremde Meer der Menschheit dienstbar gemacht: der Wahnsinn, der menschliche Fieberwahnsinn, die menschliche Tollheit und Blindheit haben es der Menschheit dienstbar gemacht.

Mein Steward bringt mir einen gewaltigen Tassenkopf voll heißen, ungezuckerten Tees herauf, eine Menge Zwieback füllt meine Hand und verschwindet in meiner Paletottasche, die ein unangenehmes samtenes Futter hat.

Die Menschen wurden also, wie ich aus dem vorher Geschriebenen folgere, ungefähr auf dieselbe Weise wie ich, gleichsam willenlos rollend, zu Entdeckern und Überwindern des Weltmeers gemacht, wie ich in den Faden oder das Gewebe der Schicksalsschwestern verwickelt. Ich gehe weiter und sage: Überall und immer hat den Menschen, wie mich, Eros über Länder und Meere geführt. Die Netze der Parzen sind von Fäden gewebt, die Fäden aus Fäden zusammengesponnen. Die aus den Locken des Eros gesponnenen sind auch in diesem Gewebe die stärksten. Meine Seele ist bis zum Zerreißen von ihnen gespannt. Weniger, weil ich Furcht vor dem Tode habe, als weil ich in dieser Weise gebunden bin, möchte ich nicht auf dem Meere Schiffbruch erleiden und untergehen. Deshalb werde ich zum Feigling, zum Jämmerling, wenn ich mir diese Möglichkeit ausmale.

 

An Bord der »Möwe«, 7. Februar 1895, nachmittags.

Wir laufen höchstens noch die halbe Geschwindigkeit. Ich bin außer den Matrosen und überhaupt Seeleuten der einzige Mensch an Deck. Ich glaube, man sieht mich für mutig an, aber es erfordert für mich einen viel größeren Mut, in die dumpfen Kabinen hinabzukriechen. Hier oben ist zwar ein ziemlich wüster Wassergraus, aber die Luft ist erfrischend und stählern.

Es waren nur wenige Leute bei Tisch. Vielleicht wird es mir einmal möglich sein, wenn das Versprechen des Großen Bären wahr werden sollte und ich vom sichern Port einst auf diese Reise zurückblicke, die Menschen zu schildern, die mit mir an Bord der »Möwe« sind, voran den Kapitän und die ausgezeichneten Offiziere. Es lohnt sich wohl, einen solchen Ozeanüberwinder auf seiner Fahrt, seine Leistung und menschliche Fracht und den Geist festzuhalten, der die erzwungene Menschengemeinschaft an Bord durchdringt.

Aber von meiner Seelenverfassung abgesehen, gibt es nun seit zwei oder drei Tagen für mich auch keine physischen Ruhepunkte. Mein Stuhl, ja ich selbst werde angebunden, oder ich muß mich irgendwo anklammern, wenn ich nicht Hals und Beine brechen soll. Es ist nicht anders, ob ich nun esse, trinke, in der Koje liege, schreibe oder irgendwelches Bedürfnis verrichte. Das so in dauernder Vibration erhaltene Nervensystem wirkt natürlich auf mein Bewußtsein, bedingt die Vorstellungen, die Gedanken, die Ideen, die Erinnerungen und Assoziationen, die in meinem Geiste auftauchen. Ich kann bemerken, daß ich, wie in meinem äußeren Leben, so auch innerlich die Zügel verloren habe. In mir sind völlig freie Mächte, die sich kaleidoskopisch darstellen. Das innere Auge zwar beobachtet kühl, aber sonst wird allmählich die Macht der Vernunft, die Macht des Verstandes ausgeschaltet. Zum Beispiel nimmt ein wachsender Aberglaube in mir geradezu köhlerhafte Formen an. Ich mache das Ja oder Nein, das Glück oder Unglück meiner Zukunft fortwährend und immer wieder von Kleinigkeiten abhängig: ob ein Streichholz brennt, ob sich meine Zigarette entzündet oder nicht, ob die Zahnstocher in einem Gefäß, die Knöpfe, die Buchstaben einer Zeile, die Zeilen einer Seite, die Glieder meiner Uhrkette eine gerade Zahl ergeben oder nicht, ob eine Spritzwelle, die entstehen wird, wenn das Vorderteil des Schiffes sich in den nächsten Wogenberg vergräbt, das viertel, das halbe, das ganze Schiff überfliegen wird oder nicht. In alledem und unzähligen andern Dingen möchte ich Zeichen des Himmels sehen, Zeichen einer göttlichen Macht, die mir im voraus den Gang meines Schicksals mit einem ungeheuren Anteil an meiner Wenigkeit mitteilen will.

 

An Bord der »Möwe«, 8. Februar 1895.

Das schlechte Wetter und die See gehen mit einer unverkennbaren Hartnäckigkeit gegen uns an. Wir haben von den dreitausend Seemeilen, die zurückzulegen sind, erst einen kleinen Teil hinter uns.

Ich stelle allerlei Betrachtungen über die Psyche des Seefahrers an. Die See ist ihm eine feindliche Macht, das Schiff eine lebendige, befreundete Persönlichkeit. Je zäher der Kampf zwischen diesem und der See sich gestaltet und je länger er dauert, um so zermürbter wird die Seele des Seefahrers. Allmählich erleidet sie eine Umlagerung. Die Verstandeskräfte, deren er auf dem Lande sicher zu sein glaubte, verflüchtigen sich. Er personifiziert die See, personifiziert das Schiff, fängt an, die eine Person mit Haß, die andre mit zärtlicher Liebe zu betrachten. Er streichelt das Schiff. Er belobt das Schiff. Er sagt, indem er Tränen der Rührung verschluckt: Du braves, braves Schiff!, wenn es wieder und wieder den gewaltigen Widerstand eines Wellenberges gebrochen hat. Allein es sind deren Legionen, die feindlichen Heere in ungeheurer Übermacht. Wohin man den Blick wendet, nichts als Feinde. Unten der Feind, ringsum auf allen Seiten der Feind, oben der Feind, der rasende Böen über das knackende und ächzende Fahrzeug herabsendet. Auch der Sturm wird personifiziert. Er läßt schwarze Mächte, dunkles Gewölk von überallher das Schiff angreifen. Sie suchen es zum Kentern zu bringen, zu zerbrechen, in die Tiefe zu drücken, die Schraube, das Steuerruder abzuschlagen, es um jeden Preis aufzuhalten. Hunderte von Dämonen scheinen sich zusammenzutun und führen ein Stück aus, wonach es scheint, als sei das Schiff wider einen Felsen gelaufen. Man hört die Menschen im Innern aufkreischen.

Ich habe diese Seereise unvorbereitet angetreten: nicht von einem freien Entschluß, von einem starken, frohen Willen getragen, sondern zwangsmäßig und willenlos. Darum ist es vielleicht nicht richtig, wenn ich meine Zustände verallgemeinere. Meine Seele war bereits krank, verwundet, zerrissen, als ich das Schiff betrat, was Wunder, wenn sie mich jetzt, mehr und mehr geschwächt und zugleich fieberhaft aufgeregt, mit allerlei Wahngebilden ängstet. Es ist eben immer noch nicht ausgemacht, ob mir nach alledem mein gesunder Verstand erhalten bleiben kann. Ich stelle mir vor, die Schraube bricht. Wir würden steuerlos in der aufgeregten See umhergetrieben. Und mit Grauen wird mir bewußt, daß ich Gleichmut, Passivität, Geduld, Mut, Vertrauen, wie sie ein solcher Zustand verlangen würde, nicht aufbringen könnte. Entweder man bindet mich, sperrt mich ein, sage ich mir, oder ich stürze mich ohne Besinnen vom Bord hinunter. Sollte ich aber gar in ein Rettungsboot, und wäre die Rettung flugs gewiß, aus der Unerträglichkeit eines solchen Seelenzustandes gäbe es für mich nur eine Rettung: in die Bewußtlosigkeit. Dies wäre unmännlich, wäre feig. Gewiß, ich bin feig, gewiß, ich bin unmännlich. Die Frage ist, warum ich es bin. Weil ich mir den Tod, den Untergang in diesem Augenblick nicht vorstellen kann. Ich darf nicht sterben, ohne den Ausgleich in meinem Konflikt gefunden und mein Weib, meine Kinder wiedergesehen zu haben. Und wäre ich nicht verflucht und verdammt in alle Ewigkeit, wenn ich Anja in der Welt zurückließe, wenn ich sie hergeben, einem anderen Manne überlassen müßte? Ist nicht mein ganzes Wesen durchsetzt von einer unerträglichen, übermenschlichen Ungeduld? Kann man sterben mit solcher Ungeduld? Kann man Ruhe finden mit solcher marternden Ungeduld? Vor dieser alles fressenden, alles verschlingenden Ungeduld wird alles um mich, Schiff, Menschen, See, zu einem einzigen, häßlichen Hindernis, die himmlische Stunde des Ausgleichs zu erleben, die Stunde des Wiedersehens, Wiedertastens, Wiedervereinens mit Weib und Kind, und dann die Stunde des Durstlöschens jenes leidenschaftlichen, höllisch-folternden Durstes nach Ihr, jenes Durstlöschens . . . jenes Durstlöschens . . . Stürbe ich mit diesem qualvollen, ungelöschten Durst, den der Tod nicht stillen kann, was sollte mich dann im Jenseits erwarten? Solche und ähnliche Ängste lodern mit einer so stechenden Glut in mir, daß mich lähmender Schrecken packt und feige Angst des Soldaten, der aus Furcht vor der Kugel sich selbst eine Kugel durch die Schläfe jagt.

 

An Bord der »Möwe«, 9. Februar 1895.

Das Wetter ist ärger und ärger geworden. Die Passagiere des Schiffes, mit denen ich sprechen mußte, weil ich sie nicht umgehen konnte, bieten Bilder der Angst und der Vertrauenslosigkeit. Rettungsboote sind abgeschlagen. Einer von den beiden Notmasten des Dampfers ist über Bord. Der Gedanke, einmal wieder Land zu sehen, in den Hudson einzulaufen, womöglich am Kai zu liegen, erscheint fast als eine Absurdität. Das Chaos von Sturm, Eis, Schnee, Regen und Sturzseen, von Windgepfeif und Sirenengeheul hat augenblicklich, Gott sei Dank, etwas nachgelassen.

Ich habe mich wieder an Deck heraufgemacht. Ich bin samt meinem Stuhl an einer Rückwand befestigt. Wenn ich sage, der Sturm habe nachgelassen, so schaukelt trotzdem die gigantische Schaukel, auf der ich sitze, noch toll genug. Dies aber mag schließlich sein, wie es will. Nicht deshalb halte ich meinen Bleistift in der Hand und habe mein Tagebuch auf den Knien. Ich will, ohne Erbarmen gegen mich, schriftlich festhalten, wie und warum ich vor mir selber verächtlich geworden bin. Ich werde es um so viel weniger sein, als Wahrhaftigkeit gegen mich diese Zeilen auszeichnet.

Wirklich habe ich kaum etwas Eigenes oder Achtungswertes übrigbehalten außer meiner Wahrhaftigkeit. Sie wird getragen von einem Überbleibsel meiner Willenskraft. Vielleicht kann sich der Gestürzte eines Tages daran wiederaufrichten. Das Verächtliche trug sich in meiner Kabine zu. Es war wieder die Zeit, wo meine Vorstellungswelt sich ausschließlich mit Weib und Kindern beschäftigte. Tausend selige Augenblicke aus dem Liebesleben mit meinem Weibe, aus dem häuslichen Leben mit ihr und den Kindern umgaukelten mich. Dies Eden hatte ich preisgegeben. Um nicht herausgeschleudert zu werden, auf mein Bett gezwängt, verwünschte ich einmal wieder, was ich getan hatte. Es drang Wasser in meine Kabine ein. Die Bewegungen meines Käfigs schienen fort und fort zuzunehmen. Steigende Not, steigende Angst, schwindende Hoffnung erhöhten mein Bewußtsein von Strafwürdigkeit. Was ich getan hatte, schien mir eine unverzeihliche Schlechtigkeit, und ich glaubte, daß Gott es ebenso ansähe. Mit einem Male verfiel ich, und zwar mit einer Gewalt ohnegleichen, jenem Schifferaberglauben, wonach es bei solchen fortgesetzten Stürmen, bei solcher dämonischen Hartnäckigkeit der See weniger auf das Schiff als auf irgendeinen Schuldigen im Schiff abgesehen ist. Da ist kein Zweifel, ich bin der Schuldige, dachte ich. Dieses gute Schiff ist gefährdet, solange ich darauf bin, und es wäre gerettet, wenn man mich über Bord würfe. Der Angstschweiß perlt mir bereits auf der Stirn. Ich höre Stimmen im Korridor. Ich glaube Worte zu verstehen, wonach man bereits auf der Suche nach dem Schuldigen sei. Die Photographie Anjas, durch glühende Küsse ramponiert, liegt, vom Bett zu erreichen, im Netz über mir. Daneben ein kleiner Bleistift, ein Notizbuch: Geschenke von ihr, die mir Fetische sind. Scheu wie ein Dieb in der Nacht erhebe ich mich und raffe diese Dinge zusammen. Ich schleiche mich wie ein Verbrecher an Deck. Aber nicht etwa, um mich für das Schiff zu opfern – ich weiß nicht, um welche Nachtstunde es sein mußte –, sondern um Anja zu opfern. Ich zerriß ihr Bild und ließ die Schnitzel von einer Bö über Bord jagen. Bleistift und Notizbuch flogen hinterdrein. Aus erbärmlicher Feigheit habe ich Anja in effigie hingemeuchelt. Mag es ein Akt nervöser Zerrüttung, mag es die Handlungsweise eines Unzurechnungsfähigen sein, der Ekel vor ihr liegt mir doch auf der Zunge. Es scheint mir, mit diesem Verrat erreichte ich den Tiefpunkt der Erbärmlichkeit.

Und schließlich, wen betrog ich damit? Jene Erinnye, die mich zu suchen schien, um mich in den Ozean zu versenken, mir ein furchtbares, unausdenkbares Los zu bereiten, indem sie meinen Leichnam verlassen, vergessen umhertrieb zwischen den taumelnden Bergen der See? Ist nicht meine Sünde, meine Schuld, ist nicht Anjas Bild noch immer mit mir verwachsen?

 

An Bord der »Möwe«, 10. Februar 1895.

Mein Sein ist gebrochen, mein Haupt ist leer –
Sonne, du klagende Flamme!
Es trifft mich dein Blick zwischen Wolken und Meer,
Sonne, du klagende Flamme!
Schwer rollet das Schiff, und es wälzt sich dahin,
ich habe vergessen, wer ich bin –
Sonne, du klagende Flamme!

Du weinst nur verblassend, verdammest mich nicht,
Sonne, du klagende Flamme!
Meinen Gram zu durchdringen gilt dir Pflicht,
Sonne, du grausame Flamme!
Du beklagst meine Welt, du beklagst ihre Not,
lassest fließen dein Blut, so heiß, so rot,
Sonne, du leidende Flamme!

Du verscheuchst meinen Schlaf in der schwärzesten Nacht,
Sonne, du stechende Flamme!
entblößest die Wunde, die du mir gemacht,
Sonne, du schreckliche Flamme!
Erweitere nicht ihren blutenden Rand,
nimm weg, nimm weg deine brennende Hand,
Sonne, du fressende Flamme!

Du lohst mir im Haupt, dort erblindest du nie,
Sonne, du rasende Flamme!
Wie ertrag' ich dich dort oder lösche dich, wie?
Sonne, du tosende Flamme!
Laß ab, du allmächtig wütendes Licht,
sonst zerbricht dein Gefäß, deine Wohnung zerbricht,
Sonne, du heilige Flamme!

Versink in die gläsernen Berge der See,
Sonne, du ewige Flamme!
Laß ruhn meine Schuld, mein verzweifeltes Weh,
Sonne, du rastlose Flamme!
Gewähre der Nacht, zu ersticken mein Leid:
nimm von mir, nimm von mir dein flammendes Kleid,
Sonne, barmherzige Flamme!

Laß ruhen den Mann, seine Qual, seine Last,
Sonne, barmherzige Flamme!
Schlummernd umarmt er des Schiffes Mast –
Sonne, barmherzige Flamme!
Mag er träumen, so gut er's vermag,
und morgen erschaff ihm den neuen Tag,
Sonne, du herrliche Flamme!

Dann mache ihn stark, daß er seiner sich freut,
Sonne, du jubelnde Flamme!
und laß ihn rufen, befreit und erneut:
Sonne, du jubelnde Flamme!
Ich höre es raunen in mir: Es sei!
und lasse erschallen mein Jubelgeschrei:
Sonne, du jauchzende Flamme!

 

Grand Union Hotel, New York, am 15. Februar 1895.

Ich habe den Fuß auf festem Lande. Es ist früher Morgen. Gestern mittag gegen zwölf Uhr hat die »Möwe« am Kai in Hoboken festgemacht. Etwas Unglaubliches scheint wahr geworden: der Graus dieser Seefahrt liegt wie ein Spuk hinter mir.

Seit dem 10. habe ich nichts mehr aufgezeichnet. Ich hatte dazu in dem Tohuwabohu der letzten Tage weder die Fähigkeit noch die Möglichkeit. Ich war zu einem Frachtstück geworden.

Zehn oder zwanzig Seemeilen vor der herrlichen Einfahrt in den Hudson klarte das Wetter auf. Die See ward ruhig, Möwen und andere Seevögel tummelten sich, Segel und Dampfer belebten die Fläche, alles erhielt den Charakter des Heiteren, Festlichen. Die Musik kam an Deck. Unter frohen und mutigen Klängen lief unser Schiff, fast ohne zu schaukeln, dahin.

Vielleicht wird die Zeit kommen, wo ich das Überwältigende dieser Hafeneinfahrt schildern kann. Heut vermag ich es nicht, da ich allzusehr an mein eigenstes Schicksal gefesselt und mit ihm beschäftigt bin.

Wir passierten die Freiheitsstatue, das Gewimmel der gewaltigen Fähren im Hafen. Wir sahen die ersten Wolkenkratzer. Es ging eine Welle von Energie, eine Art Eroberungslust durch mich hin, ein Kolumbus-Gefühl sozusagen. Dann aber wurde mein Auge von dem sich immer mehr nähernden, immer größer werdenden Kai angezogen, wo, Kopf an Kopf, eine Menschenmenge das viele Tage überfällige Schiff erwartete. Ich wußte, unter den Wartenden an der Schwelle des neuen Erdteils stand mein Weib. Mit diesem Augenblick war die Seefahrt vergessen, Anja vergessen, Paris vergessen und was man mir angetan, und alles, was mich umgab, inbegriffen New York und Amerika, war zur bloßen Staffage geworden. Erwartung, eine mein ganzes Wesen erschütternde Vorfreude überwältigten mich. Ich hätte aufjauchzen mögen, in einer nie gefühlten, tränenüberströmten Wonne und Dankbarkeit. Nun mußte ein neues Leben anfangen. Schüchtern sah ich mich um und machte mich nach Kräften unscheinbar, um die Menschen von dem, was in mir vorging, nichts merken zu lassen. Aber ich fürchtete, daß es unmöglich sei, das zitternde Glück, den rasenden Jubel, das weinende Dankgebet meines Innern geheimzuhalten. Nie fühlte ich je etwas annähernd Ähnliches. Ohne die Schuld, das Elend, die Not, die Gefahr, die ich hinter mir hatte, würde ich diese Möglichkeit meines Wesens, diesen hymnisch-überirdischen Ausbruch von letzter Glückseligkeit niemals kennengelernt, nie entdeckt haben.

Kurze Zeit danach, das Schiff hatte am Kai festgemacht, hing mir mein gelbgelockter, achtjähriger Sohn Malte an der Brust, aber nicht Melitta, die, so sehr ich mich umblickte, nirgend auftauchte.

Dr. Hüttenrauch hatte den Jungen von Springfield, wohin meine Frau zunächst gegangen war, nach New York gebracht.

Ob Melitta, wenn sie mir diese Enttäuschung bereitete, mich strafen wollte, weiß ich nicht. Es wäre dann keinesfalls die Art, wie der verlorene Sohn im Alten Testament bei seiner Heimkehr und im Neuen der Sünder, welcher Buße tut, behandelt werden. Ich hatte Not, vor Hüttenrauch meiner Betretenheit Herr zu werden. Es gelang mir durch Maltes Gegenwart.

Melitta hat einen Fehler gemacht. Sie hat einen folgenschweren Fehler gemacht, hat böse Gedanken in mir aufgerufen. Eine frostige Welle der Entfremdung stieg in mir auf. Die erste Nacht in Amerika hatte ich mir als möglicherweise schlaflos gedacht, aber gewiß nicht so, wie ich sie durchwacht habe. War eine Frau, der es möglich ist, in einem solchen Augenblick die Beleidigte zu spielen, sich berechnend und geizig zurückzuhalten, statt mir beim ersten Schritt auf fremden Boden wortlos um den Hals zu fallen, der Martyrien wert, die ich um ihretwillen erlitten, des Opfers, das ich ihr gebracht habe? Wenn es so stand, waren dann nicht meine Bangnisse, meine marternden Sorgen, meine unerträglichen Ängste um sie lächerlich? Lag nicht in einem solchen Verhalten eben die Lieblosigkeit, die Melitta den beinahe tückischen Streich ihrer Flucht möglich gemacht hatte zu einer Zeit, als ich auf ihren Wunsch von Anja getrennt lebte? Zum Teufel, glaubte man etwa jetzt das Heft in Händen zu halten, hielt mich für besiegt und wollte mich diesen Zustand fühlen lassen? Habe ich noch nicht genug gelitten, und ist mir eine Art Canossa zugedacht? Um Himmels willen, ich mag das nicht ausdenken. Aber wenn etwas Ähnliches in der Luft läge, ich wäre von meinen Gefühlsduseleien sofort geheilt.

»Deine Frau ist noch sehr erschöpft«, sagte mein Freund, »ich riet ihr ab, nach New York mitzukommen.« – Immerhin, immerhin! es waren seit ihrer Ankunft fünf Tage vergangen, und die Bahn von Springfield fährt kaum ein paar Stunden bis New York: bin ich Melitta nicht ohne Besinnen, wie von einer mir unbewußten Macht hingerissen, nachgefolgt? über dreitausend Seemeilen nachgereist? und die entsprechende Kraft bei ihr reicht nicht hin, sie mir auch nur auf Steinwurfsweite entgegenzubringen? Hat sie mir noch nicht genug Bitteres angetan? Und mußte sie denn nicht zittern bei der Frage, wie ich den Schlag überstehen würde, und nun, da er überstanden war, befreit von Ängsten, erlöst und glücklich sein? Und wenn sie erlöst und glücklich war, wie konnte sie in kalter Geduld ausharren, statt mir gleichsam im Flug ihre Verzeihung entgegenzutragen und meine Verzeihung zu erhalten?

Ich habe in dieser Nacht auch darüber gesonnen, wie Anja im gleichen Falle gehandelt hätte. Es heißt, daß Ratten Stahl zernagen. Anja würde Stahl zernagt haben, um rechtzeitig am Landungsplatze zu sein.

 

Springfield, am 17. Februar 1895.

Indes ich dies schreibe, sind meine Frau und ich wieder vereint, die Höllen, die ich durchschritten habe, Vergangenheit. Wir sind im ersten Stock eines kleinen Holzhauses untergebracht. Ich kann die Decke des einzigen Raumes, den wir bewohnen, mit der Hand erreichen. Er wird durch einen Anthrazitofen, dessen Kohle ich glühen sehe, mit einer tropischen Wärme erfüllt. Fünf Feldbettstellen sind quer zur Länge des Raumes aufgestellt. Hinter einem Vorhang ist fließendes Wasser und ein Gaskocher. Draußen zählt man fünfzehn Grad unter Null, es schneit, und Schneemassen häufen sich, wie ich es in Europa nicht erlebt habe.

Sie benutzen hier eine neue Art von elektrischer Bahn. Auf dem Wagen ist eine Stange und auf dieser eine Rolle angebracht. Die Rolle läuft zischend und fortwährend blaue Blitze erzeugend eine Drahtschnur entlang, die durch ein Netzsystem zwischen Masten über der Straße festgehalten wird. Doch genug, ich bin ja kein Techniker.

Es war immerhin ein seltsamer Augenblick, als ich meine Frau in dieser Umgebung wiedersah. Die Tür war verschlossen. Ich mußte anklopfen. Erst als ich es mehrmals getan hatte, öffnete sie, beinahe, als ob sie mich nicht erwarte. Als wir aber einander sahen, gab es kein Halten mehr.

Mein Freund hatte mich bis zur Haustür geführt und die Kinder dann mit sich genommen. Melitta und ich waren also allein. Die Straßenbeleuchtung brannte schon, das Zimmer empfing sein Licht von dort und von der Glut des Anthrazitofens. Die Versöhnung war eine wortlose.

Hinter dem Vorhang ist meine Frau bei dem Licht einer Kerze und dem bläulichen Schimmer des Gaskochers mit der Bereitung des Abendessens beschäftigt. Es muß hier alles aufs einfachste hergerichtet werden, denn wir, in Europa immerhin wohlhabend, sind im Dollarlande beinahe arm. Hier erhält man für einen Dollar das, was drüben höchstens eine Mark kostet.

Es ist mir zumut, als seien wir Auswanderer, eine in eiserner Liebe verbundene Kolonistenfamilie, die in der Neuen Welt ein neues Leben beginnen will.

Mich durchdringt eine tiefe Ruhe, eine tiefe Befriedigung. Mag es bei uns nun auch ärmlich zugehen, wir sind wieder vereint, und das ist die Hauptsache. Ich ruhe aus in einem Gefühl der Geborgenheit. Wie herrlich ist das, wie himmlisch beglückend ist das: jede Empfindung hat ihre konfliktlose Einheit wiedererhalten. Da ist die Frau, die mich zu meinem Glücke für sich und die Kinder wiedererobert hat. Ihr Mittel war ein bedenkliches, aber die Liebe gab es ihr ein, der Erfolg hat ihr recht gegeben.

Wie gesagt, die Kinder sind, ich glaube, um etwas einzukaufen, noch einmal, behütet von meinem Freunde, fortgestürmt. Nicht mit einem Wort hat ihre Mutter ihnen die wahre Ursache ihrer Reise verraten. Und so ist sie ihnen eine Naturgegebenheit, über die sie sich keine Gedanken machen. Jedenfalls ist der Papa wieder da, das erzeugt einen endlosen Wirbel von Fröhlichkeit.

Ich höre die Kinder auf der Treppe.

Ich danke dir, Gott! Ich danke dir, Gott!

 

Springfield, am 18. Februar 1895.

Das Land gefällt mir. Alles berührt mich heimatlich. Auf jedem Abhang rodeln die Schulbuben. Die unvorhergesehene Entwicklung meiner Lebensverhältnisse hat mich hierhergeführt und meine Familie und mich gleichsam auf eine neue Basis gestellt. »Amerika, du hast es besser«, sagt Goethe, »als Europa, das alte, hast keine verfallene Schlösser und keine Basalte.« Sollte man nicht in dem unbeabsichtigt Erreichten einen Wink sehen, auf diesem Boden ein neues Leben vollbewußt zu beginnen und aufzubauen? Liegt darin nicht etwas unendlich Lockendes und ebenso Spannendes? Den alten Müllhaufen der Jahrtausende, mit dessen Aufräumung Europa nicht fertig werden kann, dessen Miasmenluft die klarsten Gehirne schwächt und vergiftet, hätte man, nicht anders als einen Eimer Kehricht, über Bord geworfen. Mein Name wird in Europa genannt, ich stehe in der Öffentlichkeit. Erfolge und Mißerfolge haben mich abwechselnd erhoben oder gedemütigt. Ich würde alle diese Fäden zerreißen, zerschneiden und die leere Hülse meines Namens als gelegentlichen Spielball zurücklassen. Ich hätte, wie Hans im Glück, meinen Mühlstein in den Brunnen geworfen, wäre frei von jeder Last, die mich knechten will. In Europa war ich gleichsam Raupe, in Amerika bin ich Puppe, binnem kurzem bin ich vielleicht Schmetterling. Man ist jünger hier, ich bin jünger hier. Ich möchte das Bild ausstreichen, das ich gemalt habe, das Haus abtragen, das ich baute, meine Baupläne ins Feuer werfen, womöglich meinen Namen ändern, meiner Religion absagen, und so fort. Vergeßt mich, vergeßt mich, ihr, meine Europäer! Ihr lieben Deutschen, vergeßt mich, vergeßt mich! Und möge ich auch euch nie ins Bewußtsein dringen, ihr Amerikaner! Meine Tat, mein Glück: ungesehen, ungekannt, ungenannt sollen sie sein. Und nun muß ich noch einmal, zum letzten Male, deiner gedenken, du arme, kleine, enttäuschte Europäerin. Ich hab' dich geliebt, Anja, das ist gewiß. Aber ich habe dich nur enttäuscht und nicht betrogen. Du bist jung, jung. Ich weiß, die Erfahrung, die du gemacht hast, überwindest du schnell. Die Trennung kommt noch zur rechten Zeit. Später würde sie dir vielleicht unheilbare Wunden zurücklassen.

Es ist eine unabänderliche Tatsache: ich habe Anja wie Schneewittchen in meiner Seele aufgebahrt. Der Vorgang hatte eine geradezu beunruhigende Anschaulichkeit. Sie lag mit Myrte und Brautschleier in einen Glassarg gebettet da. In diesem Augenblick aber wußte ich, daß sie für mich gestorben war. Schneewittchen ist wieder auferstanden, einerlei: dies ist eine wirklich Tote, sie wird nimmermehr auferstehen. Und so habe ich ihr Lebewohl gesagt.

Niemals wird dein Andenken in mir verlöschen, Anja, nie, nie! Nie wird dein Glassarg, du süße, heilige Braut meiner Seele, in ein anderes Grab gelegt werden als das meiner Brust. Niemand braucht davon zu wissen, daß ich bis ans Ende meiner Tage an deinem Sarge beten werde. Nur allein das wird mir die Kraft geben, mein neues Leben aufzubauen, daß ich es auf Entsagung gründe. Auf Entsagung gründe ich mein Leben, du meine süße, tote, hingeopferte Braut. Und indem ich täglich meine Andachten an deinem Sarge, im Anblick deiner Schönheit halte, werde ich diesen Grundsatz erneuern. Ich werde mein Dasein zu einem Rausch der Entsagung machen.

Lebe denn ewig, ewig wohl!

 

Springfield, am 21. Februar 1895.

Zwischen meiner Frau und mir ist eine stille Harmonie. Eigentlich ist dies ein Zustand, den wir nur aus den Jahren kennen, in denen wir verlobt waren. Nach der Hochzeit, der nur acht oder zehn Gäste beiwohnten, setzten die üblichen Meinungsverschiedenheiten ein. Die Frau will den Haushalt so, der Mann will ihn anders geführt wissen. In den ersten Tagen wird ungenießbares Essen auf den Tisch gebracht. Man hat eine Wohnung im vierten Stock eines Hauses, an dem in jeder Minute ein Stadtbahnzug oder Fernzug vorüberdonnert. Das Lebensniveau verändert sich. Die Frau ist nun nicht mehr das verwöhnte, reiche Mädchen, sondern ganz einfach die Ehefrau. Die Ehefrau eines Mannes etwa, der den Kampf um Dasein und Geltung erst antreten muß. Die Umstände sind eng, der Lärm und die Flitterwochen machen nervös. Dem Taumel der Nächte folgt Ermüdung und Reizbarkeit. Die Frau will sparen. Der Mann ist nicht engherzig. Wie wird es gehen, wie werden wir auskommen? Du wirst ja einst Geld verdienen, aber heut verdienst du noch nichts. Und übrigens bist du ein Idealist. Was soll werden, wenn meine Mittel zu Ende sind? Es kündigt sich an, was der Sinn der Ehe ist: Ängste, Besorgnisse, Unbehagen. Man sorgt, man grübelt, wie man alles einrichtet, und schon ist, bevor man zu irgendeinem Schlusse gekommen ist, das erste große Ereignis im Anzuge. Das geht alles zu schnell, wer will da zu Atem kommen?! Die nahen Leiden der Frau werfen Schatten voraus. Mit dem Frühling ist es nichts mehr, der drückende, brütende Sommer ist da. Gewitterwolken belasten den Himmel. Eine schöne, liebe, junge Frau geht in Tränen umher. Sie hat sich alles ganz anders gedacht, ist ihr anzumerken. Noch hält der Mann die Beziehungen aufrecht zu den Freunden seiner ledigen Zeit. Sie finden die Form nicht, welche der jungen Frau nicht verletzend sein würde. Sie wendet den Blick voller Sehnsucht auf ihr Mädchendasein zurück, der Mann auf die einstigen Männerfreundschaften. Es kostet lange Kämpfe, bevor diese Kinderkrankheiten der Ehe überwunden sind.

Völlig anders geworden ist unsere Beziehung seit der Wiedervereinigung. Das abgeklungene Gewitter hat, scheint es, meiner Frau gezeigt, wie töricht es war, wesentlich glückliche Zeiten mit Sorgenqualm zu beladen, statt für jeden Atemzug dankbar zu sein. Die Luft ist also gereinigt worden. Wir leben schweigsam und einig hin, keine Meinungsverschiedenheit ist mehr auszufechten.

Ich vermeide es, Anklagen auszusprechen, wie immer auch Melittas hinterhältige Flucht mich noch zuweilen wurmen mag. Und wozu soll es schließlich führen, ihrem harmonischen Wesen das Bewußtsein eines Vergehens einzuhämmern?! Sie würde höchstens in ihren alten Kleinheitswahn, ihren Selbstverkleinerungstrieb zurückfallen und mir sagen: Du weißt ja, ein wie überflüssiger, unbedeutender, wertloser Mensch ich bin.

Nein, wir leben in Harmonie. Wir haben eine Mauser, eine Katharsis durchgemacht. In unseren Gesprächen wurde bisher Anjas kaum gedacht. Dagegen beschäftigt uns die Frage, ob wir nicht in Amerika unser Glück versuchen, uns hierher verpflanzen sollen. Wir spüren, daß damit die an sich nicht große Gefahr eines Rückfalls in meine Verfehlung ausgeschlossen sein würde.

Ich habe den Abschiedsbrief an Anja geschrieben unter ausdrücklicher Billigung meiner Frau. Es geht natürlich nicht an, dem armen Kinde den Trennungsschritt und -schnitt in seiner eisernen Notwendigkeit unerklärt zu lassen. Meine Frau begreift, ich möchte von dem enttäuschten Mädchen nicht verachtet, sondern verstanden sein.

Ich habe ein kleines Tischchen an eines der beiden Fenster gerückt. Als ich daran Platz genommen und, vor mir Tintenfaß und Papier, den Federhalter ergriffen hatte – seltsam, da glaubte ich in Anjas Nähe zu sein. Dies ist eine Überraschung für mich, von der ich natürlich schweigen werde.

Zwischen mir und Anja liegt ja der ganze Atlantische Ozean. Und doch, die Berührung des Tisches, der Tischplatte, des Papiers, welches alles das Medium meiner Seele ist und an Anja gerichtete Worte trägt, hebt auf eine fast wunderbare Weise die unendlichen Fernen auf, und ich ertappe mich oft dabei, wenn ich kopfschüttelnd dieses ganze Gerät untersuche, um sein Geheimnis zu erforschen.

Morgen wird mir ein Raum im Dachgeschoß zur Verfügung gestellt, wo ich arbeiten will. Ich werde mir einen großen Tisch und einige hier sehr billige leichte amerikanische Möbel kaufen und ihn einigermaßen einrichten. Ich freue mich schon darauf, dort mehrere Stunden des Tages, nach alter Gewohnheit, mit meinen Gedanken allein zu sein.

 

Springfield, am 23. Februar 1895.

Mein Arbeitszimmer ist gerichtet. Ein langer Tisch ziert es wie einen Beratungsraum. Als einziger Ratsherr aber sitze ich selbst daran und berate mich mit mir selber. Ich bin allein und nicht allein. Unnötig zu sagen, daß man unter lebhaften Menschen einsamer ist. Unter lebhaften Menschen ist man einsamer. Will man ihnen nahebleiben, wahrhaft in ihrer Gesellschaft sein, muß man sich von ihnen gelegentlich absondern. Diese Erfahrung hat für das häusliche Leben erhöhte Wichtigkeit.

Nein, ich berate mich nicht nur mit mir selbst. Es ist gradezu ein Zudrang von Seelen nach meinem Tisch. Eltern, Brüder, Freunde, Berufsgenossen gehen aus und ein, ebenso Frau und Kinder, obgleich körperlich von mir getrennt und meine Klausur peinlich respektierend.

Arbeite ich? Was arbeite ich? Oder habe ich Arbeit nur vorgeschützt, um mir dies Refugium zu erobern?

Es hat mich nach dieser Zelle gezogen, wie es den Hirsch nach frischem Wasser verlangt. Wie hinterhältig kann Eros sein! Mit welcher verborgenen Tücke legt er uns und anderen seine Schlingen! Mir ward sein Streich bald deutlich genug.

Ich hatte bereits kein gutes Gewissen mehr, als ich Melitta mit Eifer und Liebe alle Zurüstungen treffen sah, um mir den stillen Aufenthalt so behaglich wie möglich zu machen. Sie ahnte nicht, welcher gefährlichen Schwäche sie dadurch Vorschub leistete und welcher scheinbar überwundenen Macht sie mich auslieferte.

Laßt uns nicht gleich die Büchse ins Korn werfen!

Melitta hat Rosen auf den Tisch gestellt. Es sind solche Rosen, wie ich sie in Europa bisher nicht gesehen habe. Der lange Stengel, auf dem das Köpfchen sitzt, ist von einem fast giftigen Grün, die Rose selbst klein und rot wie Blut.

Und was wurden mir diese Rosen, kaum daß ich sie sah, kaum daß Melitta gegangen war und ich die Tür hinter ihr verriegelt hatte!

Ich blickte sie an, als ob ich eine Erscheinung sähe, und ich möchte vermuten, ich sei bis unter die Nägel weiß geworden. Dann nahm ich Platz, blätterte Manuskripte und Bücher durch, schob sie geräuschvoll hin und her, kurz, markierte Harmlosigkeit. Nach einer Weile erhob ich mich und trat an die Türe, um zu lauschen.

Es ist hier oben kein zweiter Raum, der Flur war still, einen Kommenden hätte das Knarren der Holztreppe anzeigen müssen.

Warum war ich eigentlich aufgeregt? Warum pochte mein Herz auf angstvolle Weise? So muß es etwa einem Priester ergehen, dessen Triebe auf dem Punkt sind, ihn und sein Keuschheitsgelübde nach langer Gegenwehr zu überwältigen, und der sich im sicheren Verstecke dem geliebten Gegenstand und der Sünde ausgeliefert sieht.

Die Wahrheit ist, ich konnte von der Idee nicht loskommen, daß sich Anjas Schönheit dieser Rosen bedient habe, um sich mir so zu offenbaren.

Scheu, zitternd und mit schlechtem Gewissen, Melitta unzählige Male um Verzeihung bittend, hob ich eine der Rosen aus dem Glas und verwühlte die Lippen in ihrem Schoß.

Laßt uns nicht gleich die Büchse ins Korn werfen!

Die ewige Stadt der Liebe wird zwar mitunter in einem Tage erbaut, aber sie kann nicht in einem Tage zerstört werden. Gewiß, die Tote ist auferstanden. Der Sarg aus Glas in meinem Innern ist leer. Das glühende Leben der Liebe hat mir den heißen, purpurnen Mund gereicht. Ihn zerwühle ich nun mit wütenden Küssen. Mein Entschluß ist hinweggefegt, der Entsagungsgedanke zerflattert. In dieser stillen Kammer schwelge ich in der verbotenen Frucht, fröne ich mit Inbrunst der Sünde, verrate zum zweiten, zum dritten, zum hundertsten Male mein Weib.

Soeben bin ich wieder die knarrende Treppe heraufgestiegen. Ich wundre mich, daß meine Frau von dem Kultus, den ich treibe, von dem Verrat, den ich übe, von der Hörigkeit, in die ich wieder verfallen bin, keine Ahnung hat. Ich bin zerstreut, abwesend in ihrer Gegenwart. Mich beherrscht nur der eine Gedanke: wie kommst du nur immer wieder in die Kammer hinauf, an den Mund deiner Rose, deiner Geliebten?

Aber laßt uns die Büchse nicht ins Korn werfen!

 

Springfield, am 25. Februar 1895.

Wiederum sitze ich in meinem Refugium, teils in der Fron meiner Leidenschaft, teils im Kampf mit ihr. Da ich hier getreulich Buch führe, will ich jetzt einen Umstand nachholen, der von ihrer Macht Zeugnis gibt. Noch kann ich mich nämlich nicht entschließen, eine Idolatrie aufzugeben, der ich verfallen bin. Während ich dies mit der Rechten schreibe, fühle ich mit der Linken nach meiner linken Brusttasche, wo, unter dem Hemd, immer noch jenes seidene Tüchelchen befestigt ist, das mir Anja bei der Abreise von Berlin gegeben hat.

Ohne es auf dem Herzen zu spüren, hätte ich am Ende den Entschluß, den Boden Europas zu verlassen, nicht zu fassen vermocht. Ohne es auf dem Herzen zu spüren, es von Zeit zu Zeit mit der Hand sanft und innig dawiderzudrücken, hätte ich während der Seereise meine äußere, meine innere Haltung kaum bewahrt. Ich behandle mein Idol natürlich mit allergrößter Heimlichkeit, was besonders am Abend, beim Auskleiden, da wir in engem Raume wie die Eskimos hausen, eine recht peinliche Schlauheit erfordert. Eines Tages, ich gebe die Hoffnung nicht auf, ich halte zähe an dem Glauben fest, werde ich auch dieses Fetisches ledig sein.

Immerhin, da zu jener Zeit auch die Empfindungen entschwunden sein werden, die mich mit ihm verbinden, der Zauber erloschen sein wird, der ihm innewohnt, darf ich es mich nicht verdrießen lassen, etwas davon festzuhalten, solange die seltsame Beziehung noch in Blüte ist. Ich gestehe mir demnach, das Tüchelchen auf meiner Brust wird nicht als Tuch empfunden. Es ist also kein toter Gegenstand. Es pulsiert Blut, es zuckt gleichsam weiches und zärtliches Leben in ihm. Die Verwandlung des Tuches ist eine vollkommene, denn ob ich es an die Stirn oder an den Mund bringe, überall und immer gehen Ströme des Lebens von ihm aus. Es kommt kein Augenblick, wo es versagt und also das Tüchlein zum bloßen Tuche wird. Etwas Objektives rechtfertigt diese für mich doch so vollkommen wirkliche Tatsache nicht. Also schafft Wahnsinn Wirklichkeit. Der Pfeil des Eros, das Gift des Eros schafft diese Wirklichkeit durch den Wahnsinn, mit dem er sein Opfer umnachtet.

Ich glaube, man bucht dergleichen Dinge unter die Verirrungen eines Triebes, dem alles und jedwedes Leben auf Erden und wo immer sein Dasein verdankt. Seine Verirrungen sind sehr vielfältige, und freilich ist es nicht ausgemacht, ob man sie mit Recht oder nur aus menschlicher Beschränktheit Verirrungen nennt. Stellt man sich die Macht, Dauer, die unendlichen, universellen Inhalte des Lebens vor, so wird man nur mit einer gewissen Überheblichkeit hoffen können, den Trieb, der sie schuf, zu schulmeistern.

Das Feuer vermag die Erde in nichts aufzulösen und dich mit ihr, ohne daß dich deshalb eine Schuld träfe. Beherbergst du aber den dir angemessenen Teil, so hast du in ihm das Schaffende, das dich Gestaltende. Ähnlich ist es mit dem Feuer der Leidenschaft. Es kann dich erbauen und beseligen, es kann dich beseligen und zerstören: zugegeben, daß ich in dieser Beziehung noch immer gefährdet bin.

Unterliege ich nicht zugleich wiederum einer Art von Verfolgungswahn? Man hat mir als Kind einen übertriebenen Respekt, eine sklavische Angst vor Obrigkeit, Gesetz, Moralgeboten und dergleichen beigebracht. Der Zustand, in dem ich bin, macht es mir stündlich deutlich, daß er mich außerhalb alles Normalen stellt. Daraus erwächst mir die Vorstellung von Bedrohungen, Bedrohungen durch Gesetz und Gesetzesgewalt. Ich habe Psychiatrie gehört. Nicht nur bei dieser Gelegenheit habe ich die Not und das Elend von Menschen gesehen, die man gegen ihren Willen in Irrenanstalten hält. Etwas in mir beständig Nagendes wollte mich, wie mir schien, wiederum darauf aufmerksam machen, ich könne auch wohl einem ähnlichen Schicksal anheimfallen, wenn nicht das Feuer in mir gelöscht würde. In meinem abgeschlossenen Raume, den ich vielleicht nicht hätte beziehen sollen, ertappe ich mich auf Vorstellungen, die ich bei jedem anderen als unumstößliche Zeichen von Geisteskrankheit ansehen würde.

Sollte die ganze Krisis etwa in jeder Beziehung über meine Kräfte gehen? Sachte, sachte, brenne meinethalben mein Herz, den Kopf aber wollen wir kühl behalten. Jeder Mensch hat Stunden, in welchen seine Meinungen, seine Empfindungen, seine Wünsche und Handlungen von denen eines Irrenhäuslers nicht zu unterscheiden sind. Noch habe ich das Steuer in der Hand, noch kann ich der festen Hoffnung sein, den sicheren Hafen zu gewinnen. –

Ob Anja mir wohl auf meinen Brief antworten wird? Ich habe Grund, das zu wünschen, weil ich mit Hilfe ihres Briefes und weiterer Briefe von ihr meine Heilung um so schneller und sicherer bewerkstelligen kann. Wie man eine Trennung auf Zeit von einem geliebten Menschen leicht erträgt und eine Trennung durch den Tod viel schwerer erträgt, so kann man sich leichter damit abfinden, eine Leidenschaft in den Stand einer Freundschaft herabzudrücken, als die Aufgabe zu unternehmen, sie mit Stumpf und Stiel auszurotten. Der geliebte Gegenstand stirbt damit nicht, denn er stirbt der Freundschaft nicht. Ist er aber der Leidenschaft gestorben, so ist er nur diesem Teil der Leidenschaft gestorben, der nicht in der Freundschaft lebendig ist.

Irgendwo wird gesagt, eine Wunde sei durch die Berührung mit dem gleichen Speere zu heilen, der sie gerissen habe. Nach diesem Grundsatz soll mir der Brief Anjas, sollen mir selbst weitere Briefe Anjas gleichsam als heilende Berührungen willkommen sein. Auch Melitta ist dieses Verfahren einleuchtend. Mit einer Zartheit, einem Verständnis ohnegleichen geht sie auf meine Gedanken ein. Sie sagte gestern, das Bekenntnis meiner noch nicht ganz gewichenen Neigung flöße ihr viel mehr Vertrauen ein, als wenn ich diese ganz ableugnete. Wie ich aber die ganze Angelegenheit abwickeln wolle, solle mir ganz und gar überlassen bleiben.

Ich mache mit Melitta zuweilen Spaziergänge. Ein junges Liebespaar könnte bei einem solchen Anlaß nicht zärtlicher sein. Gestern hatte sie plötzlich Tränen im Auge. Wir hatten allerlei Pläne gemacht, unser Landhaus im Geiste umgebaut, den Beschluß gefaßt, eine Wohnung in Dresden oder auch etwa in Weimar zu mieten. – »Was rührt dich so plötzlich?« fragte ich. – »Anja!« gab sie mir zuckenden Mundes zur Antwort. »Nun, ich habe auch Qualen ausgestanden«, fuhr sie fort, »nochmals könnte ich sie nicht durchmachen. Und ich habe das ältere Anrecht auf dich. Und wäre ich nicht, dann sind doch die Kinder da.«

 

Springfield, am 26. Februar 1895.

Ich finde, daß die Zeit hier ein bißchen langsam vergeht. Allerlei gibt es zwar zu erwägen, zu planen und zu beschließen, aber irgendwie bleibt in mir eine nagende Ungeduld. Dabei darf ich mit mir zufrieden sein. Deutlich fühle ich von Tag zu Tag den Gesundungsprozeß fortschreiten. Noch immer zwar warte ich auf den Brief und zähle die Tage, nach deren Verlauf ich ihn frühestens erhalten kann. Es würde mir eben lieber sein, wenn ich die Lösung von der Geliebten nach und nach durchführen könnte, nicht überstürzt, um ihr weniger weh zu tun. Schreibt sie nicht, und es wäre ja möglich, daß sie in meiner Amerikafahrt den endgültigen Bruch gesehen hat, so ist es mir recht, und ich werde dann ganz gewiß der Kraft nicht ermangeln, dieser Wendung zu begegnen. Beinahe setze ich sie voraus.

Wir erwägen weiter, ob wir in Amerika bleiben und hier unser Leben neu aufbauen sollen. Ich sehe die Deutschen hier als eine Herde ohne Hirten an. Ein Mensch wie ich hätte unter ihnen vielleicht eine Aufgabe. Im kaiserlichen und militaristischen Deutschland habe ich sie nicht. So glanzvoll es auch nach außen ist, so wenig kann dieser Glanz erwärmen, und besonders nach innen kann er einem schlichten, menschlich denkenden Manne nur Augenschmerzen verursachen. Warum soll ich lügen? Ich hasse diese eitle, dünkelhafte, herausfordernde, ganz und gar schwachköpfige, säbelrasselnde Militärdiktatur mit der Kotillonpracht ihrer Uniformen und Orden, die dem eigenen Staatsbürger täglich und stündlich, als wäre er eine wilde Bestie, mit dem aufgepflanzten Bajonette droht. Ich möchte immer diese finster gereizten Grimmböcke von Militärs fragen: Wer tut euch denn was? Man kann in Deutschland augenblicklich nur mittels eines wohlbegründeten philosophischen Gleichmuts Menschenwürde aufrechterhalten, da eben diese Menschenwürde in dem herrschenden System die seinen Bestand am meisten gefährdende Sache ist.

Meine Jungens haben sich inzwischen auf amerikanischem Boden heimisch gemacht. Heute gegen die Mittagszeit sah ich eine Wolke von Gassenbuben im Gewirr der Hauptstraße hinter einem Gefährt herlärmen, dessen Kutscher sich gegen das kleine Gelichter in irgendeiner Weise vergangen hatte. Ich sah näher zu und erkannte zu meinem nicht geringen Erstaunen meine Sprößlinge unter den Hauptschreiern.

So in ganz neue Verhältnisse hineinzuwachsen hat im Grunde den größten Reiz. Meine Frau ist der gleichen Meinung. Ich habe mir ein Reißbrett, Schiene, Zwecken etc. gekauft und fange an, allerlei zu entwerfen, damit ich gelegentlich etwas zeigen und, wenn ich geschäftliche Verbindungen anknüpfen sollte, vorlegen kann. Im allgemeinen sollen die nichtdeutschen amerikanischen Kreise gegen den Deutschen ablehnend sein. Ich bin aber optimistisch genug zu glauben, man könne mit etwas Tüchtigem – selbst wenn dies wahr sein sollte – durchdringen, und übrigens würde ich ja meine Hauptaufgabe in der Verbindung mit dem amerikanischen Deutschtum sehen. Dieses Deutschtum zu zentralisieren, zu stärken, es seiner selbst bewußt zu machen, ihm einen Begriff von seiner Macht zu geben, diese Macht in kulturelle Tat umzusetzen, kulturelle Tat für Amerika, freilich auch darüber hinaus für die ganze Erde, wäre das nicht eine große Aufgabe?

So weit bin ich nun übrigens auch schon amerikanisch, daß mich der praktische Erfolg, daß mich der Dollar nicht gleichgültig läßt. Ich baue täglich und stündlich Luftschlösser! Richtig ist, ich habe in Europa von den zahllosen Bauten dieser Art wirklich schon einen und den anderen auf den festen Erdboden heruntergezogen, aber grade jetzt befinde ich mich wieder einmal in einer Geistesverfassung, wo solche Luftschlösser in krankhafter Menge und ungeheuersten Dimensionen um mich emporwuchern. Oft zwinge ich mich nur mit dem Aufwand größter Willenskraft auf den Boden der Wirklichkeit zurück.

Zum Beispiel, auf dem Reißbrett neben mir zeigt sich im Entwurf ein mit dorischen Säulenhallen ausgestatteter Bau, den ich allen Ernstes, unbeschadet meiner amerikanischen Pläne, auf einer Insel in der Ostsee errichten möchte, die nur mir und den Meinen gehören soll. Einen solchen Plan zu verwirklichen liegt nicht außerhalb jeder Möglichkeit. Dagegen liegt außerhalb jeder Möglichkeit, was ich unter dem Begriff »die Meinen« verstehe. Unter »die Meinen« denke ich mir einen Freundeskreis, den ich noch immer, vielleicht mit zweifelhafter Berechtigung, in meine Träume möglicher Glückseligkeiten einbeziehe. Er wird von Jugendfreunden gebildet. Es sind jene jungen Menschen, denen ich mich auf der Schule, der Universität, der polytechnischen Hochschule innig, in gleicher Gesinnung verband, wie sie sich mir verbunden fühlten. Aber ich will nicht abschweifen. Übrigens gehört mein älterer Bruder, nicht so mein ältester, in den Kreis.

Was uns verbindet und verband, ist eine gemeinsame Utopie. Hier ließe sich manches über das Wesen der Utopie sagen, die keineswegs nur eine müßige Spielerei für Phantasten ist. Jeder, er sei, wer er wolle, arbeitet täglich an seiner Utopie. Die Belege zu finden dürfte nicht schwerfallen. Und ebenso arbeitet die Masse, die Nation, die Menschheit an ihrer Utopie, wofür nicht nur Religionen den Beweis liefern. Über jedem Dorf, wieviel mehr über jeder Stadt, schwebt millionenfältig die Utopie. Wir waren jung, wir waren glückselig. Auf Grund dieses Umstandes, auf Grund der Neigung, die uns zusammenschloß, erstrebten wir eine noch höhere, ja die höchste Glückseligkeit. Bei unserem Lebensgefühl und leidenschaftlichen Anspruch auf nahe Erfüllungen war ihre Verlegung in ein Jenseits nicht angängig. Es bewegte uns Ungeduld. Es konnte nicht anders sein zu einer Zeit, wo wir das andre Geschlecht nur erst als Traumgebilde umarmt hatten. Der Jünglingsbund, den wir bildeten, mußte, durch Sympathie geschaffen, naturgemäß kommunistisch sein. Da gab es nichts, materiell oder ideell, was wir uns gegenseitig nicht mitteilten. Auch von außen wurde am Ende die Idee des Kommunismus, wie sie zur gangbaren Geistesmünze geworden ist, in unseren Bund gebracht. Wir faßten sie leidenschaftlich auf, um sie in unserem Sinne zu erfüllen und auszubauen. Das Chaos, das uns umgab, schien uns seelenlos und überlebt zu sein. Wir wollten fliehen, wollten ein neues Leben anfangen, am liebsten auf einer entlegenen Insel im Ozean. Bei dem, was wir planten, wären wir im Bereiche der christlichen Zivilisation gestört, ja verfemt worden. Ich erinnere mich, daß wir die Ehe nicht dulden wollten, ebenso, daß wir die Weltverneinung des Christentums mit ihrer Verachtung des Leibes und der natürlichen Triebe als verderblichen Wahnsinn bekämpften.

Unter »die Meinen« also verstand ich Freunde, verstand ich schöne junge Frauen, die, einem Liebes- und Schönheitskultus hingegeben, meine Insel bevölkern sollten. Marmorstufen führten von meinem tempelartigen Wohngebäude ins Meer. Nachts wurden auf den Treppenpfeilern gewaltige Feuerbecken in Brand gehalten. Der Wohntempel hatte ein säulenumgebenes, weites und herrliches Atrium, das mystischen Bädern dienen sollte. Weshalb plane ich gerade jetzt eine solche Wunderlichkeit? Und warum vertiefe ich mich mit Eifer und Fleiß in die Lösung der architektonischen Aufgaben, als ob sie ein Rockefeller bei mir bestellt hätte? Weil ich, solange ich diesen Ernst und Eifer aufwende, die Utopie zum Teil verwirkliche. Darin liegt ein Quietiv, denn: natürlich ist auf jener Insel, in jenem göttlichen Tempelheim und Kult auch die Unvereinbarkeit meiner Liebe zu Melitta und zu Anja ausgeglichen. Dagegen kommt die Vertiefung in meine Aufgabe einer Betäubung gleich, sie tötet Zeit und schaltet quälende Unruhen aus, die ja schließlich noch immer ihr Wesen treiben.

 

Springfield, am 1. März 1895.

Ja, sie treiben noch immer ihr Wesen, ich meine die quälenden Unruhen, von denen ich auf dem letzten Tagebuchblatt gesprochen habe, trotzdem, wie ebensowenig zu verkennen ist, die Klärung der Atmosphäre fortschreitet. Mit dem Briefe, den ich noch immer erwarte, wie auch sein Inhalt beschaffen sei, wird endgültig Klarheit eintreten. Es würde freilich bedauerlich sein, wenn ein Brief überhaupt nicht einträfe. Das könnte den Abschluß, die endliche Klärung, den endlichen Frieden beträchtlich hinausschieben. Ich würde den Gedanken nicht loswerden, von Anja als Schwächling verworfen zu sein. Sie ist vielleicht zu gesund, um sich von dem inneren Kampf, den ich kämpfen mußte, von den Mächten, die dabei im Spiele sind, den rechten Begriff zu machen.

Wäre es zu ertragen, von ihr verachtet, von ihr verworfen zu sein? Schwerlich, wenn ich je nach Europa zurückkehre. Eine Entfremdung, eine Gleichgültigkeit, eine Erkältung, wie sie vorher eingetreten sein müßte, vermag ich mir einstweilen nicht vorzustellen nach dem, was nun einmal zwischen uns gewesen ist. Die Blutsverwandtschaft von Geschwistern verleugnet sich nicht, und wenn sie sich noch so feindlich begegnen. Der körperlichen Verwandtschaft und Ähnlichkeit entspricht eine seelische, eine Gemeinsamkeit, die man beinahe Einheit nennen kann, wiederum unbeschadet aller Schicksale, die eine feindliche Trennung bewirkt haben. Welche Umstände außer der Gleichheit des Blutes diese Einheit bewirkten, ist hier gleichgültig: genug, daß sie durch nichts wiederaufzuheben ist. Es ist das gleiche mit einem echten Liebespaar. Die einmal gewonnene Einheit ist durch nichts wiederaufzuheben. Wie immer sich mein äußeres Schicksal gestalten mag, irgendwie werden Anja und ich stets verbunden sein.

Der Bruder, die Mutter, die Schwester können sich gegen Anja vereinigt und ihr Schweigen erzwungen haben. Vielleicht ist auch der Vormund wieder ins Mittel getreten. Es gibt noch diese und jene andre Möglichkeit, die Anja am Schreiben verhindern könnte. Sie könnte infolge der Katastrophe nervenkrank geworden sein. Mußte ihr nicht der jähe Bruch, dessen innere Gründe ihr verborgen waren, als eine Brutalität erscheinen, die alle ihre Begriffe von Liebe, Treue und Manneswürde über den Haufen warf? Eine furchtbare Angst erfaßt mich bei dieser Möglichkeit. Es gäbe kein Weiterleben für mich, wäre sie Wirklichkeit geworden. Dies ist so wahr, daß ich innerlich schaudere. Und wenn ich sehe, wie meine Frau die Gefahr nicht ahnt, die im Augenblick all unsere neuen Hoffnungen und Entwürfe zunichte machen kann, so gerate ich manchmal in einen Zustand, der sie veranlaßt, besorgte Fragen an mich zu richten. Dann zuckt es in mir. Ich möchte aufschreien, weil die Vision der mehr als fünftausend Kilometer breiten Wasserfläche, die mich von der Geliebten trennt, mich gleichsam erschlägt und die Unmöglichkeit, hilfreich an der Seite Anjas zu stehen, furchtbar an meinen Nerven reißt.

 

Springfield, am 10. März 1895.

Noch immer habe ich keinen Brief. Ich lasse mir, meiner Frau gegenüber, nichts merken von der Pein, die mir das Warten verursacht. Wer weiß, wie lange ich das noch durchsetzen kann. Mein Brief mag verlorengegangen sein. Anjas Brief kann verlorengegangen sein. Auch sind die Schiffe meist überfällig bei dem üblen Wetter, das in dieser Jahreszeit das gewöhnliche ist. Doch Erwägungen dieser Art bringen nur vorübergehend Beruhigung. Dadurch wird meine Seele von ihrem Marterpfahle nicht losgelöst. Wirklich steht sie am Marterpfahl, den Blick auf den Ozean gerichtet. Was meiner Seele widerfährt, was sie empfindet, was sie tut, sieht mir äußerlich niemand an. In Wirklichkeit ist für mich außer dem feindlichen Kosmos nur noch ihr Schicksal vorhanden. Manchmal ist es, als ob sie auch diesen, den Kosmos, sprengen und auflösen wollte, nachdem sie längst den unzulänglichen kleinen Körper, in dem sie lebt, verflüchtigt hat. Mehr und mehr aber ist ihr Schicksal Verdüsterung. Ich lache, ich rede albernes Zeug, suche mich, meine Frau, meine Kinder, das ärztliche Ehepaar Hüttenrauch zu belustigen, und innen spüre ich die kosmische Nacht und das Grauen der Abgründe, in die wir hineingeboren sind. Wie kann man, frage ich mich, von dem Erscheinen oder Nichterscheinen eines albernen Blättchens Papier so abhängen? Hätte ich zu wählen, ob es erscheinen oder nicht erscheinen sollte, selbst wenn es mein Todesurteil enthielte, ich würde es leidenschaftlich herbeirufen. Und wenn es erschiene, würde ich zum ersten Male den ungeheuren weißen Fittich eines fast allmächtigen, schöpferischen Engels zu sehen glauben, mit dem Zauberwort Licht auf der Zunge.

Sollte mir vorbehalten sein, nach Jahren einmal diese Zeilen zu lesen, ich fürchte, ich werde sie kaum verstehen. Schon heute sehe ich ihren Gehalt als krankhaft an.

 

Springfield, am 15. März 1895.

Gestern kam der erwartete Brief. Es war gegen zehn Uhr am Vormittag. Es ist jetzt beinahe ebendieselbe Tageszeit. Trotzdem bin ich noch weit entfernt davon, etwas Geordnetes über das Ereignis denken oder sagen zu können.

Welche brutale Kraft in einem Briefe verborgen sein kann, darüber habe ich in Paris meine erste große Erfahrung gemacht. Gestern machte ich meine zweite. Anjas Brief versetzte mich, und tatsächlich auch meine Frau, in einen wahren Taumel von Glück.

Mit einem Schlage waren alle beklemmenden Dünste, zusammenschnürenden Ängste, alle düster lastenden Gewölke vom Himmel genommen.

Ich habe den Brief, nur wenige Stellen ausgenommen, meiner Frau gezeigt. Woran liegt es nur, daß wir beide gleichermaßen durch seinen Inhalt erlöst wurden? Ganz einfach: dieser Inhalt ist kerngesund und vollständig unsentimental.

Der ganze Vorfall, der ganze Abfall, die fluchtartige Reise und ihre Tragik: sie werden mit keinem Worte berührt. Und was man überhaupt nicht erwähnt, daran läßt sich auch keine Erörterung knüpfen. Man ist ganz einfach über den großen Teich gereist, worin durchaus nichts Tragisches liegt, nicht einmal etwas Außergewöhnliches. So wird auch, nachdem das Psychische ausgeschaltet ist, vom Physischen kaum Notiz genommen. Das Schreiben atmet eine so erfrischende Unbefangenheit, ja Nüchternheit, als ob es einem ganz gewöhnlichen Briefwechsel etwa zwischen Berlin und Dresden sein Dasein verdankte.

Der Umstand hat geradezu etwas Erheiterndes, außer daß er etwas Verblüffendes hat, besonders wenn ich mir vorstelle, welche finsteren Sorgen ich mir um Anjas willen gemacht habe. Da ich an ihrer Liebe zu mir nicht zweifelte, wie hätte ich an den bitteren Wirkungen einer Enttäuschung zweifeln können, die ihr meine Flucht machen mußte. Ich klagte mich an, ich verurteilte mich, mich marterte der Gedanke, daß ich das junge Geschöpf durch meinen Vertrauensbruch vielleicht tödlich verwundet hätte. Aber der heitere, lebensvolle Ton des Briefes widersprach alledem oder verriet jedenfalls nichts davon.

Wie ich eben wiederum feststelle, enthält er allerdings auch nichts, was ihn über den Ton einer braven und fröhlichen Gemeinschaft erhebt. Über den Händedruck geht er nicht hinaus, von Küssen ist diesmal abgesehen. Aber auch diese besonderen Umstände lassen sich als Ausdruck einer widerfahrenen Kränkung beim besten Willen nicht auslegen. Dazu atmet der Brief zu viel lustige Kameradschaftlichkeit.

Dies schreibe ich natürlicherweise in meinem Refugium, meiner Dachkammer. Sie ist ganz und gar von dem Geist des Briefes, von der gesunden Frische Anjas erfüllt. Wie sollte es anders sein, als daß ich mit den Blättern, welche die energischen Zeichen ihrer Hand aufweisen, Idolatrie treibe. Der Liebende neigt zur Selbstquälerei. So ist mir der Gedanke gekommen, ob ich auch wirklich mit meiner Freude über die Art des Briefes nicht der Betrogene bin. Kann da wirklich Liebe sein, wo ein so großes Unvermögen vorhanden scheint, ein solches Ereignis wie das obwaltende in seiner Schwere zu begreifen? wo ein solches Ereignis nicht den geringsten Eindruck gemacht zu haben scheint? Ja, sage ich mir und bin dessen gewiß: da kann wohl wirkliche Liebe sein. Ich kenne Anja hinreichend. Ich kenne ihren klugen Instinkt, der ihr diesmal alles Lamentieren verboten hat, ja, aus Rücksicht auf mich verboten hat, auf irgendein Für und Wider, Recht oder Unrecht, ja, auch nur auf irgendeine Erörterung der neugeschaffenen Sachlage einzugehen. Ich sage ausdrücklich, in Rücksicht auf mich. Hat sie mir doch mehr als einmal gesagt, daß meine Gemütsanlage mich, verglichen mit jedem anderen, bei jedem irgend gegebenen Seelenkonflikt zu hundertfachem Leiden verurteile. So will sie eben nichts anderes als: Da bin ich, ich bin ganz einfach zur Stelle! gesagt haben. Wenn du mich brauchst, ich bin zur Stelle. Brauchst du mich nicht, so macht es nichts. Wenigstens ist das nicht deine Sache, ob es mir etwas macht oder nicht. Und dafür, daß es sich so zu mir stellt, möchte ich dem tapferen Mädchen den Fuß küssen.

Schließlich gibt mir freilich ein ganz winzig kleines getrocknetes Veilchen mit einer ebenso winzigen Haarsträhne zwischen Seidenpapier, Dinge, die ich beiseite geschafft und in meiner Brieftasche versteckt habe, in dieser Sache eine gewisse Sicherheit. Und die beiden Schlußworte: »Dein Eigentum.«

 

Springfield, am 16. März 1895.

Unsere befreite, erlöste Stimmung hält an. Die Spannung, der ich enthoben bin und die sich auf meine Frau übertrug, hat sich zugleich auch von ihr gelöst. Dem ganzen Konflikt ist jedenfalls für den Augenblick wieder seine Schwere genommen. Wo man vor wenigen Tagen im Grunde eigentlich keinen Ausweg sah, ist plötzlich eine breite Straße freigelegt. Und wo eine unberechenbare Bindung dunkel empfunden wurde, ist nun das volle Gefühl der Freiheit da. Denn das bittere Schuldgefühl Anja gegenüber hat sich als gegenstandslos erwiesen. Wir sehen beide, Melitta und ich, daß die Verlassene und Betrogene sich weder verlassen noch betrogen fühlt und irgendeine Forderung, irgendein Anspruch von ihr keinesfalls zu befürchten ist. Meine Frau, so scheint mir, faßt die neue Lage dahin auf, als sei ich nunmehr in aller Form und endgültig freigegeben.

Ich wiege mich mit ihr in dem heiteren Zustand neugewonnener Ruhe und Sicherheit. Es ist mir zeitweilig so zumut, als ob ich einen alpdruckartigen Traum und nichts anderes überwunden und hinter mir hätte. An alpdruckartigen Träumen leide ich. In wie manchen Nächten, wenn ich davon befallen war und, in qualvoller Lähmung ächzend, nicht aufwachen konnte, hat meine Frau mich durch Anruf und Rütteln zum Bewußtsein gebracht. Etwas Ähnliches ist es auch jetzt mit mir. Nur daß die Erweckung diesmal von jemand anderem ausgegangen ist.

Eigentlich ist es unbegreiflich, wie ich dieses bißchen Liebschaft so aufbauschen und die Besuchsreise meiner Frau nach Amerika auf einem der komfortabelsten, hochmodernen Doppelschrauber so tragisch nehmen konnte. Hätte mich nicht in Paris die Nachricht davon bei einem Haar um den Verstand gebracht? Ist das nicht geradezu lächerlich? Wie kann man um Gottes willen so unmännlich sein und, kaum daß die Gäule des Schicksals ein bißchen in schnellere Gangart geraten, die Zügel sogleich verlieren und schleifen lassen? Dies grenzt wahrhaftig an Jämmerlichkeit. Da seht euch dies tapfere Mädchen an. Und mag sich jeder ein Beispiel nehmen, wie man einer Schicksalswendung, meinethalben von ernsterer Art, begegnen soll: aufrechten Kopfes, mit freier Stirne. Oh, ich sehe dich vor mir mit deiner aufrechten Haltung und deinem schnellen Stakkatoschritt, mein liebes Kind, dem freien und kühnen Blick, der nicht daran denkt, sich vor irgendwem oder irgend etwas beiseitezuwenden oder gar in den Staub zu senken. Ich will bei dir in die Lehre gehn. War nicht Gefühlsduselei das Wort, das mein Vater uns Jünglingen immer wieder entgegenschleuderte, um eine gewisse Familienanlage, die er kannte, zu bekämpfen? Ich weiß nicht, ob mein Vater den Begriff Gefühlsduselei auf eine Eigenschaft seiner oder der Familie meiner Mutter anwandte. Sicher ist, daß ich meine Mutter schon als kleiner Junge viel seufzen und klagen, viel Vergangenes betrauern, Zukünftiges fürchten hörte und vor allem viel Tränen vergießen sah. Die Jähzornsausbrüche meines Vaters – er neigte wie jeder Mann und vielleicht etwas mehr als jeder dazu –, die, mit Fug oder nicht, sich oft durch eine gewisse Schmerzensseligkeit meiner Mutter entfesselten, verschlimmerten diesen Zustand bei ihr, und somit verschlimmerten sie sich selber. Wie gerne wäre er von seinen Zornesausbrüchen durch eine Anja erlöst worden. Die Eigenschaften, die sie besitzt, würden meinen Vater von seinem Erbübel geheilt haben. Er bohrte sich gern mit wachsender Heftigkeit, düster-prophetisch drohend, in die tragische Seite des Lebens hinein, eine Sucht, die, wie Feuer durch Wasser, gelöscht worden wäre, wenn er ein Wesen wie Anja zur Seite gehabt hätte.

 

Springfield, am 17. März 1895.

Noch haben wir klaren Winterfrost. Der Schnee liegt hoch, er blendet und glitzert. Die Räder der Lastwagen auf der Straße knirschen und klimpern wie über Scherben darüber hin. Über diesen Wintertagen liegt Heiterkeit. Der Frühling ist schon darin enthalten. In unseren Seelen spiegelt sich jedenfalls ein solches gläubig-hoffnungsgewisses Mysterium. Irgendwie wird sich alles verjüngen, erneuern, ausgleichen.

Wir gehen nach Europa zurück. Aufgegeben ist der Gedanke, hier in Amerika unser Leben fortzusetzen. Die Heimat lockt. Sie taucht mit ihren Strömen, Ebenen, Wäldern, Hügelungen und Gebirgszügen stündlich vor unserem inneren Auge auf. Zu unsrer Heimat gehört aber nicht nur Deutschland, sondern der ganze unvergleichlich reiche und liebliche Kontinent mit seinem Kranz von alten Kulturländern und ihrer wurzelhaften Gegenwart und Vergangenheit. Wenn ich mit meiner Frau oder meinem Freund, dem Arzt, durch den Schnee stapfe, so ist ein enthusiastisches Blühen in mir, ein Zustand, der sich auf meine Begleiter meist überträgt. Meine Wachträume sind dann nicht nur architektonisch, sondern auch plastisch-bildnerisch. Nicht nur, daß ich den Wolkenkuckucksbau meiner griechisch-römischen Villa fortsetze, sondern ich entwerfe auch allerhand plastischen Bildschmuck, der sie schmücken soll. Der Bildhauer wacht wieder in mir auf. Eine allgemein bildnerisch-produktive Welle läßt die Fülle aller Neigungen, denen ich jemals unterlag, in mir aufstehen. Vollebendig steigt der Grieche, steigt der Römer, steigt der Florentiner in mir empor und nimmt sein altes Dasein wieder auf. Im Grunde, glaube ich, neigen alle Begabungen zur Universalität. Ich weiß davon ein Lied zu singen, selbst in meinen geringen Verhältnissen. Die Synthese oder, wenn es erlaubt ist, das Amalgam der Innenwelt dieser Tage ist wiederum Zeugnis davon. Indem sich Menschenschicksale romanhaft oder in dramatischen Szenen vor meinem inneren Blick entwickeln und darstellen, bin ich dichterisch, und mich überkommt eine Leidenschaft, sie gestaltend festzuhalten. Unter solchen Gesichten sehe ich mich, zugleich den Mann im Bildhauerkittel, sein vollendetes Werk in Ton und sein Leben atmendes Modell im Atelier stehen, und es liegt bei mir, ob ich in der Situation im Bildhauer oder in seinem klassizistischen Werk aufgehen will. Klassizistisch, was ist denn das? Es ist ein Wort, und es wirkt herabsetzend. Mir fällt zum Beispiel das göttliche Werk von Schadow, ein Grabmal zu Berlin in der Dorotheenstädtischen Kirche, ein. Es ist von überirdischem Adel, von außerirdischer Herrlichkeit, von fast beispielloser Meisterschaft und dem schönsten griechischen ebenbürtig. Man wird ihm in keiner Weise gerecht, wenn man es mit der Marke klassizistisch bedruckt und im Kellergewölbe der Kunst magaziniert.

Aber ich sprach von der Synthese der Künste in mir, dem Amalgam. Meine Bronzen, meine marmornen Bildsäulen nehmen Leben an. Ich kann sie in der Erstarrung nicht festhalten. Sie schreiten, springen, tanzen, begegnen, bekämpfen sich, unterliegen der Lebensnot und Liebesleidenschaft, verwandeln sich in Fleisch und Blut, kurz, haben Schicksale.

Mitten im Schnee, wie gesagt, ist das Drängen, Quellen und Glucksen eines überall aufdringenden Frühlings in mir. Ich brauche, so stark ist das Drängen, oft viele Stunden lang nicht an meine besondere Verwickelung, also weder an Anja noch an Melitta zu denken. Ich selbst bin mir wieder mein Ein und Alles, bin mir in wahrem und gesundem Egotismus zum einzigen Wunder des Lebens geworden.

 

Washington, am 28. März 1895.

Die befreite Stimmung hält an. Ich habe gewissermaßen die Arme wieder freibekommen. Eine große Anzahl gleichsam in das Nichts verflüchtigter Interessen ist wieder da. Ich nehme wiederum teil an vielerlei Dingen, die mich nicht unmittelbar anlangen, Dingen der Kunst und Wissenschaft, Dingen des öffentlichen Lebens.

Es ist alles wieder fast ganz wie sonst geworden. Wir suchen Eindrücke, Melitta und ich, und finden Eindrücke. Die Seele mit ihrer Alleinherrschaft und ihrem Schicksal tritt zurück. Trotzdem habe ich nicht Lust, New York, Philadelphia, Washington, kurz, meine Reiseeindrücke zu schildern. Sie finden schließlich doch keinen neuen Spiegel in mir. Natur bleibt Natur. Ich habe fast immer das gleiche gute Verhältnis zu ihr. Die Verknäulung der Zivilisation von New York, wo sich unter den Hieben einer unsichtbaren Peitsche, unter der Lockung des Dollar-Zuckerbrots der Mensch um den Menschen dreht, ist mir schreckenerregend.

Und nun die Frauen. Man sagt, die Amerikanerinnen seien schön. Die Leidenschaft für Anja, mag sie im Schwinden sein oder nicht, hat mir jedoch keinen Blick, keinen Sinn, keinen Nerv für irgendein anderes, neues Weibwesen übriggelassen.

Washington, das Kapitol, der höchste Gerichtshof, der Senat, das Unterhaus, ernste, eindrucksvolle Dinge. Die große Bank der Vereinigten Staaten, ein Keller, in dem mir, gedeckt von Revolverläufen, eine Note von einer Million Dollar in die Hand gegeben wurde. Das Weiße Haus, die schlichte Villa des Präsidenten, unser kleines Hotel, ein behagliches, anheimelndes, deutsches Provinzialhotel, von einem deutschen Wirte geleitet, das Washington-Denkmal, alles da und dort isoliert im Stadtbereich, ohne Zusammenhang. Schließlich die Nigger, die südliche, weiche Luft. Gott sei Dank, übermorgen werden wir abreisen. Im Grunde ist mir das alles ja gleichgültig. Denn schließlich, ich möchte lieber heut als morgen nach Europa zurück.

 

Washington, am 29. März 1895.

Mein Freund Hüttenrauch, durch und durch Demokrat, schwelgt hier im Zentrum der Demokratie. Es ist wohl ihr Weltzentrum. Der zweite Tag, an welchem wir hier verweilen, hat mir die bürgerlich-demokratische Wärme des Ortes fühlbar gemacht. Gott weiß, womit es zusammenhängt, daß es mich immer reizt, mein Leben auf einem neuen Boden ganz neu anzufangen: ich glaube, mit irgend etwas in meinem Zustand, dessen ich überdrüssig bin. Wäre mein Leben ein Brief oder ein angefangenes Bild, ich könnte es einfach zerreißen und ein neues anfangen. Der Bildhauer zerschlägt, wenn es ihm nicht behagt, sein Tonmodell. Eine Rechnung, die nicht aufgeht, wird durchgestrichen. Zu alledem neigt meine Natur. In jedem Neubeginn liegt ein großer Reiz. In der Luft liegen dann noch alle Hoffnungen und alle Möglichkeiten, und sie sind unbeschränkt, sind grenzenlos. Ein begonnener Bau, ein begonnenes Werk zwingen selbst den Meister unter ihr Gesetz. Alles abschütteln, vergessen, was man war und was man ist, und da scheint gerade Washington für einen Neubeginn und eine Natur wie die meine der Ort.

Und warum das? Weil etwas Schlichtes, Kontemplatives diese Stadt beherrscht, weil ihre quietistische Atmosphäre etwas so Produktives in sich zu schließen scheint und weil diese Verbindung meinem Wesen so angenehm ist. Das Weiße Haus: das Oberhaupt eines Weltteils residiert in ihm. Dieser hohe Bewohner, das Haus, seine Umgebung: schlichte, phrasenlose Bürgerlichkeit, edle, wesenhafte Einfachheit. In dieser beinahe ländlichen Stadt werden die Geschicke eines Weltteils entschieden, und wenn ein denkender Kopf lange genug an diesem Orte ist, so muß es dahin kommen, daß er beteiligt wird an den hier getroffenen Entscheidungen.

Ich seufze auf. Ich möchte den gordischen Knoten lieber zerhauen, zu dem sich der Faden meines Lebens verwickelt hat. Ich möchte den Kopf aus der Schlinge ziehen, ich möchte meinem Schicksal entlaufen. Ich möchte den Kopf in den Sand stecken wie ein Vogel Strauß. Das sind die Ursachen, warum ich mit einem Neubeginn und mit den Alleen, Plätzen, Parkanlagen und Villen dieser Stadt liebäugele.

 

Springfield, am 7. April 1895.

Wir sind wieder in S. Ein Brief von Anja hat mich einigermaßen aufgestört.

Sie hat auf einer großen Gesellschaft Sarasate kennengelernt. Sie hat eine große Hochzeit mitgemacht und sich wundervoll amüsiert. Ein junger Professor, Arzt an der Charité, hat ihr besonders den Hof gemacht. Ich habe sie selbst in Gesellschaft gesehen und weiß, wie leicht sie Männern den Kopf zu verdrehen vermag. Der junge Professor hat bei der Mutter Besuch gemacht: am meisten Ängste erzeugt mir der dritte Bericht.

Aber das Ärgste kommt zum Schluß: sie ist nämlich beim Tanzen ausgeglitten, ist mit dem Kopfe gegen eine Klavierkante geschlagen, und man hat sie nach einer tiefen Ohnmacht nach Hause gebracht. Sie liegt zu Bett, und da sie sich in der kritischen Zeit mehrmals übergab, schloß der Arzt auf Gehirnerschütterung. Es hat sich Gott sei Dank nicht bewahrheitet, denn sie schreibt acht Tage später, nachdem die Gefahr vorüber ist. Wer ist ihr Arzt? Der junge Professor von der Charité, der ihr auf der Hochzeit den Hof machte.

Wir haben auf dem Doppelschrauber »Auguste Viktoria«, der am 21. April Hoboken verläßt, Plätze belegt.

Es ist mir nicht möglich, den Zustand der Unklarheit länger auszuhalten und immer aufs neue mit Gespenstern kämpfen zu müssen, die selbst am hellen Tage, aber besonders des Nachts um mich aus dem Nichts hervorwachsen.

 

An Bord der »Auguste Viktoria«, 23. April 1895.

Es ist nicht die stärkste Phase der Leidenschaft, viel eher eine abklingende, eine versöhnende, wenn die Seele lyrisch wird. »Kleiner Elfen Geistergröße eilet, wo sie helfen kann«, liest man bei Goethe. Nun, mein Wesen hat sich in den letzten Wochen auf dem amerikanischen Kontinent recht viel in lyrischen Schwebungen hin und her bewegt. Sie bedeuten eine Art Kultus meiner selbst, eine Art Selbstgenuß. Diese Schwebungen sind musikalisch, auch ohne Musik. Aber die Musik kommt ihnen entgegen. Mein Bruder Julius, den ich jetzt in meinen Heimatbergen weiß und wohl bald wiedersehen werde, unterliegt diesem Entgegenkommen, sooft er auch nur einen Musikautomaten hört. Er stützt sogleich den Kopf in die Hand und kann nicht umhin, lyrisch zu zerfließen. Wie gesagt: auch mich beherrschte vielfach in den letzten Wochen lyrische Zerflossenheit. Nicht nur, daß ich Volkslieder dudelte, innerlich oder im Traume hörte, sondern ich konnte auch selbst nicht umhin, gefühlsduselige Gedichte, wie mein Vater sagen würde, niederzuschreiben und sehnsuchtssüße Klänge in mir zu gebären. Ich weiß nicht, wie ich mich dazu stellen soll. Etwa dies alles als Weichlichkeit ablehnen? Aber wenn es ein Leben gibt, gibt es auch Erlebnisse. Und solche sind zugleich innerlich und äußerlich. Ohne Innerlichkeit sind es keine Erlebnisse. Und es müssen innerliche Entdeckungen mittels innerlicher Offenbarungen sein. Ohne neu zu sein, sind es ebensowenig Erlebnisse. Nein, es liegt mir ganz fern, die lyrischen Schwingungen der letzten Wochen zu entwerten und geringschätzig abzutun. Es sind eben wahre Erlebnisse. Es sind Entdeckungen, Offenbarungen. Einerlei, ob dieses Tagebuch einmal in die Hände eines Unberufenen gerät oder nicht und ob er dann von Hysterie oder ähnlichen schönen Dingen sprechen wird oder nicht, wenn ich mir hier eine sehr tränenreiche Zerflossenheit eingestehe und dennoch diese Zerflossenheit auch an sich für reich halte. Das, was man Persönlichkeit nennen mag, war dabei fast gänzlich in mir aufgelöst. Der Begriff Weltschmerz hat niemals für einen echten Gemütszustand dieser Art ausgereicht, auch nicht, bevor er, wie heut, zur Banalität erniedrigt wurde. Immerhin erstreckte sich mein lyrisches Wehgefühl wirklich über das Wesen der Welt. Es war Entsagung darin, Trennung, Verlust, Abschied, Erkenntnis von alledem als dem Wesen des Lebens, und als ob das Wesen des Lebens sich auch so noch als Leben erweisen wollte, es war Wollust und Wonne darin.

Damit ist nicht genug gesagt. Die Stärke, die Neuartigkeit der Anwendung der Affekte war das Merkwürdige. Ich darf wohl sagen: im Lichte dieser Gefühle stand die Welt durch einen neuen schöpferischen Akt erschlossen da. Die sogenannten fünf Sinne, die ja meistens die empfangenen Reize dem Verstande überantworten, schienen in den Dienst eines anderen Erkenntnisorganes gestellt. Wie mir vorkommt, eines Organes, dem, noch mehr als dem Verstande, Übersinnliches aus den Sinnen zu ziehen gegeben ist. Die Verbindung von Seele und Welt ist nicht nur unendlich wunderbar, sondern auch inniger. Irgend etwas ist da, was in gleichsam brünstiger Verschmelzung zu Einem mit Allem wird. Durchstoße ich noch eine dünne Wand, so erkenne ich vielleicht, daß eine Art Vermählung meiner mit der Welt im Gange gewesen ist, und dann war das neue Erkenntnisorgan vielleicht eben nichts anderes als die Liebe.

Es war die Liebe, es ist gewiß.

Kein Wort vermag die Größe, die Ergriffenheit meines Zustandes auszudrücken. Im Dom zu Padua sah ich ein kniendes Weib, eine prächtige Bäuerin. Der Priester schob ihr die Hostie in den Mund. In diesem Augenblick ward sie verwandelt. Sie war nicht verzückt, sie war nicht vertieft, einem betenden Mohammedaner gleich. Aber sie erlebte etwas, dies war zu erkennen, wofür keine Sprache Worte hatte. Irgendein elementarer Grundquell in Abgrundtiefen war aufgebrochen. Sie war entrückt, ertrunken darin.

So bin ich denn wieder meinem besonderen Schicksal ganz nahegerückt. Ein ähnlicher Grundquell hatte ja auch in mir den Weg zum Licht gesucht. Auch die Bäuerin sah ich ja nach kurzer Zeit wieder in nüchternem Gespräch vor der Kirche stehen. Der sterbliche Leib kann, ohne in Asche verwandelt zu werden, den unenthüllten Eros nicht lange beherbergen. Und so ist es mir wiederum gegeben, vom Aufbrechen und Ineinanderfließen der Liebesströme Anja und Melitta bis zur lyrischen Überschwemmung nüchtern zu reden. Der Strom der Heimatliebe, des Heimwehs trat hinzu, in der Fremde aufgebrochen, ein Geriesel von zahllosen Quellen, Liebe zu Vater, Mutter, Geschwistern, Freunden, zur eigenen entschwundenen Jugend, und schon wiederum das Gefühl des Ebbens aller dieser Ströme und Quellen über kurz oder lang.

 

An Bord der »Auguste Viktoria«, 26. April 1895.

Unter gleichmäßig schönem Wetter vollzieht sich unsere Fahrt. So finster, stürmisch und gefahrvoll die Reise nach New York in jeder Beziehung war, so heiter, glanzvoll und ruhig ist diese, die uns dem alten Kontinent wieder entgegenträgt. Sind ihr Glanz, ihre Heiterkeit, ihr Friede trügerisch?

Was sehe ich in den lieben, dunklen, schwer zu ergründenden Augen meiner Frau? Ohne Zweifel, in ihrem Wesen liegt eine weiche Ausgeglichenheit. Ihre Erscheinung erregt auf dem großen Dampfer einiges Aufsehen. Sie ist von südlicher Üppigkeit. Die tiefe Schwärze des Haares sticht von dem vollen, bleichen Oval des Gesichtes ab. Man verfolgt sie mit den Augen, wo sie mit einem gleichsam schwebenden Gange vorüberwandelt. Melitta liebt Schmuck. Sie trägt an den Ohrläppchen goldene Ringe, die in der Größe zwischen Fingerringen und kleinen Armbändern die Mitte halten. Man zerbricht sich die Köpfe, von welcher Nationalität sie wohl sein könnte. Nein, keine Italienerin, eher noch eine Spanierin. Aber auch keine europäische Spanierin, eine Kreolin möglicherweise. Der Nasenrücken, von dem Treffpunkt der tiefschwarzen Brauen bis zur Spitze, ist breit und kurz, die reine Stirn eher niedrig als hoch, rund und edel das Kinn, das Kinn einer Berenike. Melittas Handgelenke sind breit, das rechte von einem es ganz verbergenden, schweren und mattgoldenen Armband umzirkt. Goldene Ringe mit breiten Steinen schmücken die fraulich weiche, gepflegte Hand.

Ganz gewiß, Melittas Erscheinung ist anziehend. Dabei hat sie eine verbindliche Art, Freundlichkeiten zu quittieren, die man ihr von allen Seiten zu erweisen sucht. Ich werde bei alledem übersehen, wie mir scheint. Ich verhehle mir nicht, daß ich Grund habe, auf eine Frau wie sie stolz zu sein.

Die Kinder sind überall wohlgelitten auf dem schönen und großen deutschen Schiff. Sie teilen den Schlafraum mit ihrer Mutter. Beim Aufstehen und beim Schlafengehen herrscht die größte Behaglichkeit. Es wird viel gelacht und mit Betten geworfen. Alledem sieht Melitta zu mit einer weichen, schweigsam . . . soll ich sagen: schweigsam-resignierten Freundlichkeit? Ihr Wesen hat etwas geduldvoll Wartendes.

Frau Hüttenrauch ist in der Neuen Welt geblieben, aber nur, um die Zelte endgültig abzubrechen, während Hüttenrauch mit uns nach Europa reist. Das Zusammensein mit ihm während der köstlichen Fahrt ist wie immer höchst anregend. Oft, wenn wir Melitta aus der Ferne beobachten, nimmt er Gelegenheit, mir gründlich den Kopf zu waschen, daß ich je daran gedacht hätte, eine so schöne und liebreizende Frau gegen irgendein dunkles X oder Y auszutauschen. Er sagt: Siehst du nicht, wie du von allen Seiten beneidet wirst?

Wirklich, ich hätte es nie geglaubt: Anjas Bild ist nur noch sehr schwach in mir. Nie habe ich so wie während dieser sorglos-glanzvollen Seereise erkannt, wie blind ich meinem eigenen Reichtum gegenüber bisher gewesen bin. Fast wünsche ich, diese Reise möchte sich über so viel Monate, als sie Tage dauert, ausdehnen. Bin ich nicht stolz auf Weib und Kind? Auf den Ältesten, meinen schönen Knaben mit dem blonden Pagenhaar, dem sie alle huldigen? Ein so ausgeglichenes, stilles Wohlbehagen wie in diesen zweiten und besseren Flitterwochen empfand ich nie. Und bis zur Verliebtheit, gestehe ich mir ein, geht das neuerstandene, mit einer schweren Wonne gesättigte, neuartig süße Gefühl, womit mich Melittas Anblick beschenkt.

Sollte eine Genesung, eine volle Genesung möglich sein? Müßte nicht, wenn ich das Opfer zu bringen imstande bin, die Innigkeit unserer Verbindung sich steigern? Diese neue Phase der Liebe aber, würde sie nicht mit einem neuen, zweiten, früher nicht gekannten Blühen durch uns hinfluten? Wir waren Kinder. Jetzt hätte uns nicht Standesbeamter noch Geistlicher, sondern die Schmerzenserfahrung, der Schmerz verbunden und nach peinvoller Trennung durch reinere Gluten wieder geeint. Auch hier wieder etwas von der Wollust der zehnfachen Freude im Herzen der verzeihenden Frau über den Sünder, der Buße tut, verbunden mit der ewig zitternden Dankbarkeit für den Verzicht, der, um ihretwillen geschehen, ein ihr immer dargebrachtes Opfer ist. Im Mann dagegen, in mir, der große Selbsterweis der Kraft, der höchsten Kraft im Menschen, mit der er sich selbst zu überwinden vermag. Mit diesem Beweise, gefestigt und stolz, würde ich jetzt erst Melitta einen wahren und ganzen Mann darbringen, und damit würde neben den äußerlichen Weihen die echte, höchste, innerliche Weihe über uns gekommen sein.

Ich hatte das Buch bereits zugeklappt. Nun will ich für irgendeine künftige Zeit, wann ich diese Seiten vielleicht wiedersehe, auch einen Zweifel noch aufzeichnen, der mir soeben gekommen ist: haben meine Empfindungen vielleicht nur deshalb diesen Grad von Wärme wieder erreicht, weil unter der Schwelle meines Bewußtseins doch die sichere Erwartung ruht, Anja bald wiederzusehen?

 

Berlin, am 2. Mai 1895.

Wären wir immer so fortgereist, ich hätte nichts dagegen gehabt. Meine Bahn wäre die Bahn des Schiffes gewesen, meine Grenzen der Schiffsbord. Niemandem hätte ich wehgetan, meinem Weibe und meinen Kindern angehört, einen Freund hatte ich an der Seite.

Nun also, heute sitze ich in Berlin in einem Hotelzimmer des dritten Stocks: Mullgardinen, Waschtisch, Wasserkrüge und Wasserflasche, knarrende Bettstelle. Das Gasthaus ist alt, am Karlsplatz gelegen, der Tag war heiß, die Nacht ist heiß, in den Straßen der Trubel des Nachtlebens.

Nun also: heut sitze ich in Berlin und habe Anja wiedergesehen, bin etwa von mittags an, wo ich ihrer überschlanken, ziemlich eckigen Formen auf dem Lehrter Bahnhof ansichtig wurde, bis Mitternacht mit ihr zusammengewesen. Meine Frau mit den Kindern ist nach Grünthal vorausgereist.

Ich müßte lügen, wenn ich sagen sollte, daß in den jüngst verlebten Stunden etwas gewesen wäre, was die Seelenkrisen des letzten halben Jahres mir selbst nachträglich rechtfertigen könnte. Die Seele zaudert, es hinzuschreiben: »Tant de bruit pour une omelette«, und es ist auch natürlich ein Wort, das sich in meinem Falle nicht rechtfertigt. Aber ein solcher Maitag, eigentlich ist es ein Junitag, mit einer verbotenen Liebe in und um Berlin ist eigentlich dann am schönsten, wenn er überstanden ist. Was sind das für eigentümliche Wendungen, die ich hier zu Papier bringe? Es sind die Äußerungen einer tiefen Traurigkeit, wie sie mich manchmal in dieser Riesenstadt überfällt. Sie ist vielleicht eine Folge der Müdigkeit. Allein sie nimmt einen gefährlichen Umfang an, diese Müdigkeit. Es ist eine Lebensmüdigkeit. Es ist jene tiefe Ernüchterung, die, wenn nicht neue Illusionen sie ablösen, ein langes Fortvegetieren unmöglich macht. Die alte Leier, möchte man sagen, wenn man sich den Kreislauf des Tages auf seine nackten, nüchternen Tatsachen reduziert. Immer das gleiche, immer das gleiche. Man steigt aus dem Bett, man zieht sich an – um sich auszuziehen und wieder ins Bett zu steigen. Lohnt es, daß sich der Körper, daß sich die Seele in der Zwischenzeit Lasten aufbürden, die so schwer sind, daß man sogar am Tage schlafen möchte, was einem nicht einmal nachts mehr möglich ist?

Anja ist eben noch sehr jung, von Reflexionen nicht angefressen. Ich war ganz erstaunt, zu erkennen, wie ahnungslos-oberflächlich, wie lustig sie mir entgegentrat. Ich verzichtete augenblicklich auf den Versuch, ihr einen Begriff von dem zu geben, was ich durchgemacht hatte.

Ich nahm eine Droschke, und wir fuhren nach Pankow hinaus. Der schöne Park und die Einsamkeit waren es, die mich anlockten. Mit Anja gesehen zu werden ist mir unangenehm. Was aber in solchen Fällen geschieht, geschah auch in unserem Falle. Die verschwiegensten Gänge wurden aufgesucht, die verschwiegensten Bänke eingenommen. Da aber in öffentlichen Parkanlagen kein Weg und keine Bank sich als hinreichend geborgen erweisen, so wird damit gewechselt bis zur inneren und äußeren Abgeschlagenheit. Hat die Müdigkeit ihren höchsten Grad erreicht, so begibt man sich auf die Restaurantsuche. Man sieht sich erst das eine, das zweite, dann das dritte von außen an. Ist man beim dritten angelangt, hält man das erste für das richtige. Hat man das erste wieder erreicht, denkt man, das dritte wird wohl doch das richtige sein. Endlich ist man dann doch in irgendeinem Gastzimmerwinkel untergebracht.

Ein solcher Zustand entbehrt nicht des Typischen. So sahen wir denn auch Pärchen genug, die in unserem Falle waren und da und dort, besonders im Restaurant, nicht gerade mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein auftraten. Anja war hierin eine Ausnahme. Ich dagegen gehörte, gleichsam von mir selber losgelöst, in die Schar der schlechten Gewissen mitten hinein.

Ich darf nicht behaupten, ich hätte diesem tristen Gastspiel unter den Deklassierten der Liebe irgendeinen Geschmack abgewonnen. Schon die Blicke sind kein Vergnügen, mit denen man von allerlei Leuten und Ständen gemustert wird. Sitzt man nebeneinander, durchaus wie sich's gehört, auf einer Bank, so schreitet meistens besonders langsamen Schrittes ein Schutzmann vorüber, in dessen durchbohrendem Auge unschwer die Worte »Ich werde Sie aufschreiben!« oder gar »Ich sollte Sie arretieren!« zu lesen sind. Möchte er einen doch arretieren! Anders ist, was einem jungen Mädchen aus guter Familie damit angetan werden kann.

Höchst peinlich ist dieses Gefühl der Obdachlosigkeit, der Rechtlosigkeit. Man würde dieses Gefühl nicht haben, wenn man mit einem Mädchen spazierenginge, mit dem man durch keinerlei leidenschaftliche Neigung verbunden wäre.

Wo stehe ich eigentlich in diesem Augenblick?

Die unterbrochene Beziehung ist wieder angeknüpft. Es ist nichts geschehen oder besprochen worden, was über das hinausgeht, was jedes gewöhnliche Liebespärchen tut oder bespricht. Man küßt sich, man hat die Hände ineinandergelegt, man genießt die Gemeinsamkeit und versichert sich seines Besitzes, soweit dies bei Versprochenen gestattet ist. Tant de bruit pour une omelette: warum hat sich eigentlich um diesen Tatbestand eine so gefährliche Tragik zusammengezogen?

Bin ich nicht eigentlich etwas enttäuscht, daß Anja von dieser ganzen Tragik und ihren Leiden keine Ahnung zu haben scheint und überhaupt keinerlei Neugier äußert, das zu erfahren, was in der Zeit der Trennung vor sich gegangen ist? Wie tief, wie bedeutend, dagegen gehalten, steht Melitta vor meiner Seele in diesem Augenblick! Geadelt durch eine Kette unendlicher Leiden, fast tödlich verwundet und verzeihend zugleich. Was hat mir Hüttenrauch nicht alles von ihrer körperlichen Erschöpfung bei Ankunft in Springfield mitgeteilt. Frau Hüttenrauch mußte ihr die Kleider ausziehen, als sie mit den Kindern das Ziel erreicht hatte. Kaum eingetreten, war sie unausgekleidet wie tot auf das nächste Bett gesunken und erst nach vierundzwanzig Stunden wieder aufgewacht.

Wie gesagt: nicht die geringste Notiz nimmt Anja von alledem. Damit ist es mir selbst in Frage gestellt. Es nimmt sich merkwürdig unnütz aus, gewissermaßen höchst überflüssig.

Sie ist zu jung. Der Seelenraum reicht noch nicht hin, um ein so voluminöses Leidensschicksal zu begreifen oder gar in sich aufzunehmen.

Habe ich eigentlich in der Blindheit meines ersten Rausches gesehen, daß sie noch ganz ein Backfisch ist? Ohne sie zu erkennen, hatte mein Blick sie mehrmals gestreift, als ich aus dem Coupéfenster sah. Gott weiß es, was für ein überirdisches Glanzphänomen ich erwartet hatte. Schließlich gestand ich mir ein, daß wirklich das und das kleine Mädchen unter den vielen, die den Bahnsteig bevölkerten, eben doch die Ersehnte war.

So bohnenstangenmäßig unproportioniert hatte ich sie nicht in Erinnerung. Der kleine Kopf, die eckigen Schultern, die Hüften vielleicht zu breit, die Füße zu lang, ein solches Ensemble hatte mir keineswegs vorgeschwebt. Das graue Wollkleidchen, ein ebenfalls graues Barettchen machten beinahe den Eindruck von Dürftigkeit. Aber mir fallen die Augen zu. Ich bin übermüdet und ungerecht, ich denke, wir wollen den Morgen abwarten.

 

Grünthal, am 9. Mai 1895.

Als wenn nichts vorgefallen wäre, wohne ich wieder in meinem Haus und verbringe die Tage mit meiner Familie. Ich habe in diesem Buche geblättert und kaum für wahr halten können, was seit dem Tage der Wintersonnenwende, also seit nicht viel mehr als vier Monaten geschehen ist. Alles geht wiederum seinen Gang, als wäre er nie unterbrochen worden.

Es ist damit eigentlich alles gesagt, und ich könnte das Tagebuch wieder zuklappen. Über das Wesen der Zeit zu philosophieren, was naheläge, bin ich nicht aufgelegt. Auch darüber wäre manches zu sagen, wie es mit der Realität von etwas Vergangenem beschaffen ist.

Der Mai ist diesmal ein wirklicher Mai. Zwar auf den Gebirgskämmen liegt noch Schnee, aber:

Unter der Berge Schnee und Eis
schluchzen die Vögel frühlingsheiß.

Überall gurgeln und glucksen die Schmelzwasser, das Grün der unendlichen Wiesen ist neu und darüber die duftenden Wolken der Obstblüte. Andere Wolken gibt es nicht.

Die Macht der Heimat, die Macht der Laren ist groß: erwärmende und beglückende Mächte, die in Behagen und stilles Genügen einlullen.

Hiermit ist freilich die Wirkung dieser Mächte nur obenhin berührt. Es strömt ein unendlicher Segen von ihnen aus. Was mich betrifft, ich bin ganz einfach glückselig, zu Hause zu sein, und auch Melitten ist ein ähnlicher Zustand anzumerken.

Von dem Schicksal, mit dem wir den Winter über gerungen haben, sprechen wir nicht.

Wir hoffen auf die Wirkung der Zeit. Im übrigen ist dies eine gewiß: das Haus, das mir in den kritischen Tagen des Dezember fremd und feindlich geworden war, zeigt uns wieder das alte Gesicht, und wir genießen in ihm den erwärmenden Geist familiärer Geborgenheit.

Kann dieser Zustand dauernd sein, oder genießen wir ihn nach unseren stürmischen Fahrten auf zwei Meeren als wohlverdiente Rast, um, komme was wolle, uns zu stärken? Unterliegen wir ohne unser Zutun einem wohlbegründeten Rhythmus der Natur, der ein erhaltungsgemäßer ist und diese Kampfpause uns aufnötigt?

Über meinem Verkehr mit Melitta und den Kindern liegt jedenfalls wieder der Geist der Häuslichkeit, der Familie, der Liebe und in dem, was man nicht gern mit dem Worte Ehe bezeichnen will, eine rührend-süße Erneuerung. Wir haben verlernt zu diskutieren. Es ist, als hielte uns die gleiche, geheime Angst davon ab, etwas Verborgenes aufzudecken, was unser friedliches Glück am Ende gar Lügen strafen könnte.

Als ob nichts geschehen wäre, haben mich meine Freunde in Berlin wieder aufgenommen. Keiner beging eine Taktlosigkeit, indem er auch nur nach dem Grunde meiner Amerikareise gefragt hätte. Von vielen Seiten trat man mit neuen Unternehmungen an mich heran, bei denen man sich meiner Mitwirkung zu versichern wünschte.

Ich habe in Bremen meinen ältesten Bruder, Marcus, wiedergesehen, dessen warnender Brief leider von mir nicht rechtzeitig eröffnet wurde. Marcus allein hat das Herz auf dem rechten Fleck gehabt. Der Dienst, den er mir leisten wollte und im moralischen Sinne, wenn auch ohne Erfolg, geleistet hat, wird ihm von mir nicht vergessen werden und hat uns einander nähergebracht. Er hat schwer zu kämpfen, sein Vermögen ist nicht groß genug, um starke Fehlschläge auszuhalten. Die Erschütterung scheint eingetreten zu sein. Er klagte mir sehr, allein er hat Hoffnungen. So führte er mich in ein kleines, abgelegenes Gäßchen der alten Stadt, wir traten durch Schlosserwerkstätten bei einem ungeheuer dicken Manne ein, der an einem Schraubstock arbeitete. Die Wände seiner dämmerigen Werkstatt, einer kleinen Stube, waren von oben bis unten mit Instrumenten behängt. Dieser Erfinder, von bleierner Haut, massig bis zur Unbeweglichkeit, ist an sich eine Monstrosität. Seine Versuche, an die mein Bruder glaubt, haben bereits dessen halbes Vermögen verschlungen. Er hat in der Tat schon zum dritten oder vierten Male einen kleinen Motor konstruiert, dessen ungeheure Kraftentwicklung aus einer ununterbrochenen Explosion kleiner Benzinmengen herrühren soll, die, auf glühendes Metall tropfend, schnell verdunsten. Man hat den letzten der konstruierten Motoren in einen Straßenbahnwagen eingebaut, der tatsächlich bei dem Versuche mit Leichtigkeit eine ziemliche Strecke bewegt wurde, bis leider der Motor in Stücke ging. »Es handelt sich nur noch darum«, sagte mein Bruder, als wir das erfinderische Monstrum verlassen hatten, »für den Motor ein Metall oder eine Legierung zu finden, die dem inneren Druck dauernd widersteht.

Wenn wir dann einmal so weit sind«, fuhr er fort, »dann dürften wir bald auf ein Patent zu pochen haben, das seine Besitzer zu Milliardären macht. Die Eisenbahn wird überflüssig, der Motor wird in alle Gefährte eingebaut, und noch zwei technische Probleme sind damit gelöst, woran sich die Menschheit bisher vergeblich versuchte: nicht nur die Lenkbarkeit des Luftschiffes wird erreicht, sondern wir werden auch ohne Ballon mittels des Motors endlich fliegen.«

Alles dieses mag richtig sein, aber ich fürchte, daß der bekannte enthusiastische Optimismus meines ältesten Bruders die Verwirklichung solcher Wunder in einer zu nahen Frist ins Auge faßt. Darüber wird noch mancher Erfinder und mancher Unternehmer zugrunde gehen.

Ich habe in Bremen auch meinen Vater und meine Mutter gesehen. Mein Vater ist im Begriff, sich von Marcus loszulösen, in dessen Geschäft er arbeitet, und in eine Kleinstadt überzusiedeln. Wie immer: Unstimmigkeiten zwischen Vater und Sohn sind schuld daran.

Auch bei diesem Wiedersehen bin ich ähnlich wie bei dem mit Anja einigermaßen befremdet worden, weil ich auch hier erkennen mußte, daß meine Eheschicksale nicht so grundstürzend gewirkt hatten, als ich vermutete. Hätte ich mich in meinen Gedanken hier nicht einer Übertreibung schuldig gemacht, so hätte dies meine Lage erheblich erleichtert.

Meinen Bruder Julius habe ich wegen seines Verhaltens in dem hoffentlich überwundenen schweren Konflikt mehrmals auf Wanderungen zur Rede gestellt und ihm besonders sein »Heinrich, der Wagen bricht . . .«, womit er mich in einem Brief nach Southampton beglückt hatte, vorgehalten. Aber meine Entrüstung begriff er nicht. Mag sein, ich schritt gesund und frisch neben ihm. Er dachte: Du lebst, und das ist wohl die Hauptsache! und sah keinen Grund, sogenannten Verfehlungen nachzugehen, die weit zurücklagen und überdies das günstige Endergebnis nicht verhindert hatten.

Konnte und mochte mein ewig grüblerischer Bruder sich in Vergangenes so wenig hineinversetzen, mit welchem Recht war ich ein wenig enttäuscht und gereizt, als es mir nicht gelang, Anja, die doch eigentlich noch ein Backfisch war, von dem Leiden einen Begriff zu geben, das ich fern von ihr durchgemacht habe?!

 

Grünthal, am 2. Juni 1895.

Mein Freund Jean Morel aus Paris ist hier. Derselbe, der mir, verbunden mit seinem Bruder, in Paris so liebevoll beigestanden hat. Der Franzose gefällt sich sehr in unserem ländlichen Aufenthalt. Er ist sehr befriedigt, zu sehen, wie sich alles zwischen mir und Melitta ausgeglichen hat. Dies, wie er mir offen gesteht, ist schon in den kritischen Pariser Tagen sein Wunsch gewesen. Weder er noch sein Bruder haben das natürlich zu äußern gewagt, weil mein Zustand damals allzu bedenklicher Art gewesen sei. Er versichert mich, sie hätten beide ernste Sorge um mich gehabt.

Sollte ich etwa nicht wissen, daß es berechtigt war?

Wie gesagt, Jean Morel gefällt sich hier. Weite Wiesen und Wälder, wie er sie zu sehen bekommt, kannte er nicht. Ausflüge führen uns bis über die Waldgrenze, und er genießt die leichte, stählerne Luft, den weiten Ausblick auf Berge und Ebenen nach Böhmen, nach der Lausitz hinein und in die Gebiete von Preußisch-Schlesien. Auch das mit Flechten patinierte wilde Trümmergestein, das Knieholz und die Sumpfwiesen des alten Granitrückens ziehen ihn an. Auf unseren Gängen wird mancherlei durchgesprochen. Er behauptet, ich sähe trotz der angenehmen Umstände, in denen ich lebe, und der kräftigen Luft dieser Berge immer noch etwas kränklich aus. Und in der Tat – wir haben uns bei einem der Photographen, die man meist bei den Berggasthäusern findet, photographieren lassen – nach meinem Bilde muß ich es zugeben. Ein Gefühl von überschüssiger Lebenskraft habe ich nicht.

Trotzdem: ich arbeite fieberhaft. Ich wälze zur Tages- und Nachtzeit Entwürfe. Und man kann mich sogar in heiterster, übersprudelnder Laune antreffen.

Von Anja erhalte ich jetzt nur selten einen Brief. Sie hat eine Reise zu Verwandten angetreten, die im Osten Deutschlands begütert sind. Es steht in den Briefen etwa dies: Wir haben im Pastorhause zu Stablau einen Geburtstag gefeiert. Es ist bis morgens um fünf getanzt worden. Der junge Vikar X. hat mich nach Hause gebracht. – Es heißt: Ich reite mit Onkel Heinrich aus. Er ist fünfzehn Jahre jünger als seine Frau, er ist mit Tante Berta sehr unglücklich. Er sagt, seit ich da sei, lebe er auf. – Es wird berichtet: Ich bin drei Tage lang mit den Söhnen des Pastors, zwei Vettern, die Studenten sind, mit Dr. Soundso und mit Gott weiß wem teils zu Wagen, teils zu Fuß über Land gewesen. Wir haben den und den und den und den Onkel und die und die Tante besucht, und überall ist es hoch hergegangen. – Es heißt auch: Wenn ich immer in der Gegend wäre, würde es nicht so langweilig sein.

Nun, solche Berichte sind mir nicht gleichgültig. Sie erzeugen ein nicht gerade immer gegenwärtiges nagendes Gefühl und stören mitunter meine Ruhe. Schließlich bleibe ich aber Herr der Umstände. Was sollte ich denn auch anderes tun? Kann ich von Anja verlangen, das Leben einer Nonne zu führen, sich womöglich einmauern zu lassen, solange ich mich im Schoße meiner Familie, als wäre sie gar nicht da, einem sommerlichen Wohlleben hingebe? Und wenn ich auf solche Gedanken verfiele, es wäre das letzte, worauf eine heiter freie Natur wie die ihre einginge.

Die Art, wie ich mit Melitta von Anja rede, hat wieder jene Unbefangenheit wie damals, als sie für uns noch das kleine, unbedeutende Mädchen war, dem wir ein bißchen in der Gesellschaft forthelfen wollten. Freilich bewegen wir uns dabei mit einer gewissen Vorsicht wie über einer Eisdecke, deren Tragfähigkeit noch nicht ganz sicher ist. »Nun Gott«, sagt Melitta, »sie wird einen Pastor oder den jungen Arzt heiraten, vielleicht einen Gutsbesitzerssohn, lange ledig bleiben wird sie nicht.« Ich hatte die Kühnheit – oder dachte ich wirklich so? – ein »Je eher, je besser!« hinzuzusetzen. Und wirklich, ein solcher Abschluß der ganzen Krise würde mir, wenn er auch immer noch einer nicht ganz leichten Operation gleichkäme, beinah willkommen sein.

Einmal, nur noch einmal vor der Trennung möchte ich sie aber doch wiedersehen. Mag sie dann ihren Pastor heiraten. Soll ich und muß ich von ihr los, dann möchte ich wenigstens ganz und mit voller Genugtuung von ihr loskommen. Ich brauche es mir selbst nicht zu sagen, was mit diesen Worten gesagt und verborgen ist.

Völlige Ruhe, völlige Erlösung von ihr halte ich nur für möglich, wenn diese Genugtuung vorausginge. Sie zu nehmen, bedeutet etwas Ähnliches wie der sabinische Frauenraub, unverblümt jedoch: eine Niederträchtigkeit. Ist das so? Ich habe das Wort gleichsam gegen meinen Willen hingeschrieben. Ich wäre also ein Mann, der, was ich bisher für völlig ausgeschlossen gehalten habe, einer bewußten Niedertracht fähig ist.

Ja! ja! ich bin dieser Mann! Ich würde, wenn mir heut die gefürchtete Verlobungsanzeige ins Haus flöge, mit den abgefeimtesten Mitteln vorgehen und versuchen, mein Ziel zu erreichen. Für Gewissensskrupel und Gewissensqualen wäre ja nachher Zeit genug. Den Raub, wie er seiner Natur nach einmal ist, könnte mir jedenfalls niemand mehr abjagen.

Immerhin würde meine Tat in den Augen der meisten eine verbrecherische Handlung sein, die, würde sie bekannt, mich moralisch vernichten könnte. Ein junges Mädchen, noch unter Vormundschaft, einem Ehrenmanne verlobt, womöglich einem Seelsorger, würde dann von einem Schurken zu Fall gebracht. Dennoch, zu ändern wäre nichts, wenn das, was wir an die Wand malen, einträte. Dann wäre ich eben ganz einfach nicht mehr Herr über mich.

In der Stille meines Zimmers, über dem Blatt meines Tagebuchs, manifestiert sich mir ganz deutlich jene neue Wesenheit, über die ich in einem gegebenen Fall nicht Herr werden könnte. Sie ist blind, taub, hart und gebieterisch. Sie will nichts wissen von alledem, was ich sonst bin und darstelle. Keine Verpflichtung, die ich Menschen und Dingen gegenüber eingegangen bin, erkennt sie an. Komme, was wolle, aber es geschieht, was geschehen muß! ist der einzige Leitspruch ihres unbeugsamen Willens.

Ich schreibe und denke Torheiten – still!

 

Bromberg, am 22. Juni 1895, abends 8 Uhr.

Ich bin Knall und Fall abgereist. Und jetzt bin ich hier. Mein Freund Morel hat seltsame Augen gemacht, als ich Abschied nahm und ihn bei den Meinen sitzenließ. Auch meine Frau hat seltsame Augen gemacht. Ich weiß nicht, mit welchem Lügengewebe ich beide abspeiste.

Aber in mir war eine finstere Entschlossenheit. Sie war plötzlich da, diese Entschlossenheit. Es war etwas Hartes, Unbeugsames, etwas ganz ohne Lyrik über mich gekommen. Um meinen Willen durchzusetzen, würde ich über Leichen gegangen sein. Bedenklichkeiten jedweder Art waren hinweggefegt. Keinerlei Reflexionen trieben mehr ihr Wesen oder Unwesen in meinem Seelenraum. Die Atmosphäre darin war gnadenlos leer, kalt und rein. Irgendwo tief in meinem Innern lag, der Vereisung verfallen, meine Gefühls- und Vorstellungswelt und damit auch die Frage, um deren Lösung ich mich all die Zeit her nutzlos abmühte. Eine eisige, harte Trockenheit hatte alles in sich aufgenommen.

Und da ich schon einmal diese frostige, eisklare Winterwildnis heraufbeschworen habe, so will ich auch noch den ausgehungerten Wolf hineinsetzen. Es war in mir ein einziger Trieb, und noch diesen Augenblick ist er der einzige. Er ist so beherrschend und stark, wie es der Hunger des Raubtieres ist.

Es ist nicht nötig, zu sagen, worum es sich handelt. Ich selber weiß es, und damit genug. Dieser ausgehungerte Wolf ist da und spricht seine Sprache. Wir wissen, daß dies keine eigentliche Sprache ist, aber sie ist mehr als Sprache. Der hungerkranke Wolf ist da. Sein Opfer muß fallen, Mensch oder Tier. Oder aber, es gibt keine andre Wahl, ich selbst muß zugrunde gehen.

Ich hätte Mutter, Bruder und vor allem Vormund zu berücksichtigen. Ich hätte die Gebote der Sitte und Sittlichkeit zu berücksichtigen, die im großen und ganzen anzuerkennen und zu halten mir bisher selbstverständliche Pflicht gewesen ist. Aber die Furcht vor Menschen und Geboten besteht in dieser Sache nicht mehr. Ein hungernder Wolf hat gleichsam in einer kahlen Wüste mit gierig schillernden Lichtern sein Opfer unabirrbar ins Auge gefaßt.

Anja schrieb, sie werde vom Lande hereinkommen. Das soll morgen vormittag sein. Ihr neuester Brief ist beinah noch flüchtiger als die meisten in letzter Zeit. Es ist zu ersehen, es würde ihr kaum viel ausgemacht haben, wenn sich mein Kommen noch über Wochen verzögert hätte. Wenigstens drängt sich der Eindruck mir auf.

Die Frage entsteht: Ist Anja gegen dich abgekühlt? Die Antwort sagt: Vielleicht ist Anja gegen dich abgekühlt. Aber in der nächsten Sekunde schon erfährt diese Antwort eine jähe und schreckliche Steigerung: Ja, Anja ist gegen dich abgekühlt. Nur ein urteilsloser Narr wie du konnte sich darüber hinwegtäuschen. In Wahrheit sind ihre Briefe nichts weiter als die Vertuschung dieser Tatsache, als der Versuch, den jähen Bruch zu vermeiden, um unvermerkt gleichsam die Sache im Sande verlaufen zu lassen. Anja ist nicht nur abgekühlt, sie gehört in Wahrheit schon einem anderen. Und nun tritt vor den inneren Blick Gesicht auf Gesicht, von denen eines Anja beim Verlobungsfest im Pastorhause, das andre bei einem ebensolchen Fest im Gutshause zeigt, ein Pastor ist hier, dort ein Gutsbesitzer der Auserwählte. Ein drittes Gesicht zeigt Anja im Wagen des jungen Kreisarztes, der sie mit auf die Praxis genommen hat und eben das Jawort von ihr erhält. Solche Vorstellungen bekommen sogleich den Rang von Tatsachen, obgleich ja höchstens eine davon ihn behaupten könnte. Und so wirken sie auch mit der niederschmetternden Kraft einer Tatsache herzerstarrend in mich zurück.

Der objektive Betrachter in mir, der beinahe den Dienst versagt, neigt zur Kapitulation. Der Verstand will wissen: der Glaube, ein junges, lebenshungriges Mädchen von Anjas Art und Unerschrockenheit werde sich, umworben von heiteren, hübschen, gesunden und wohlsituierten Landmenschen, mir bewahren, sei geradezu eine Lächerlichkeit. Muß ihr nicht jeder freie, kraftvolle Mann, der, ohne schwere Konflikte zu gewärtigen, sein Leben mit dem ihren verbinden kann, genehmer sein als ich, der ihr bisher nur ein eigentlich unerreichliches Ziel weisen kann? Darf ich außerdem sagen, daß ich ihr einen anderen Beweis als den meines Wankelmutes gegeben habe? Und muß es mir überdies nicht mehr als verständlich erscheinen, bei der Macht, die das hübsche junge Kind über mich gewonnen hat, die Männer, die sich ihr nähern, von der gleichen Macht unterjocht zu sehen? Kurz und gut, wenn ich morgen auf dem Bahnhof den Zug erwarte, mit dem sie, meinem Vorschlag gemäß, eintreffen soll, so geht es wieder einmal auf Leben und Tod. Bleibt sie aus – nun, so darf ich vielleicht noch nicht alles aufgeben, aber ich werde einige Kraft brauchen, um dem Augenblick gewachsen zu sein.

Was geschieht in Wahrheit, wenn sie nicht aus dem Zuge steigt?

Ich habe dann die Wahl zwischen Tollheit und Erbärmlichkeit. Ich hätte sogar beides bestimmt zu gewärtigen. Das tollste Beginnen, das sich denken läßt und zu dem ich mich ohne Besinnen entschließen müßte, würde unfehlbar in Ohnmacht enden und also mit Erbärmlichkeit. Oder wie sollten sich die Zustände anders entwickeln, wenn ich im Kreise ihrer derben Gutsbesitzer, Ärzte und vierschrötigen Pastorensöhne auftauchte? wenn ich vielleicht verwildert und zerstört, was sicher wäre, falls ich sie aufstöbern könnte, bei ihrer Verlobungsfeier auftauchte? wenn ich unvermittelt vor ihr selbst auftauchte, etwa in einem Augenblick, wo sie Hand in Hand mit dem Bräutigam steht und gerade ein Toast auf sie mit erhobenen Gläsern ausgebracht worden ist? Ich würde nichts weiter tun als sie anstarren. Anfänglich könnte ich sie nur anstarren. Es müßte sich dann ja zeigen, ob sie mir noch gehört oder mir ewig verloren ist. Ein furchtbares Wort, dies »ewig verloren«! Was tue ich aber, wenn sie erschrickt und an die gewölbte Brust ihres Pfarrersohnes flüchtet? Dann zöge ich etwa den Revolver heraus, den Melitta als Braut mir gegeben hat. Nicht um irgend jemandes Glück, sondern nur um mein eigenes Leiden abzutun. Ich würde sagen: Anja, komm mit! Du kannst keinem andern, nur mir gehören. Anja, du weißt es, also betrüge doch dich und andere nicht! Anja, komm mit! komm mit auf die Landstraße! Durch Feuer und Wasser, durch Rosen und Kot, durch Flüsse und Meere, durch Täler und Berge, durch Himmel und Höllen will ich fortan nicht von deiner Seite gehn. Nicht einmal der Tod soll mich von dir scheiden!

Was würde geschehen, wenn Anja auch jetzt noch schwiege? oder wenn sie mit einem Lachen antwortete? Die breiten Luthermänner, die vierschrötigen Pastoren von Westpreußen mit ihren Enakskindern von Söhnen, die breitschultrigen Gutsbesitzer, Gutsinspektoren und jovialen Landärzte würden über mich herfallen. Man hätte mir wahrscheinlich bereits am Beginn die Waffe von rückwärts aus der Hand gedreht, ich flöge hinaus, hinaus vor die Tür. Der Lärm wäre groß, Hundegeheul des ganzen Dorfes empfinge mich. Aber ich müßte wiederum gegen den Eingang anrennen. Wetterharte Fäuste würden mich wieder und wieder zurückstoßen: einen Betrunkenen, einen Irren, einen entsprungenen Zuchthäusler. Inzwischen wäre vielleicht die Nacht hereingebrochen. Ich würde mich schließlich noch einmal flüchten wollen und es bewerkstelligen, und dann schliche ich mich ganz gewiß, von Hunden verfolgt, selbst wie ein Hund um den Wohnort Anjas herum. Ich hörte vielleicht die betrunkenen und grölenden Gäste heimgehen . . . genug! Bis zu welchen schrecklichen Phantasmagorien steigert sich Eifersucht!

 

Berlin, am 30. Juni 1895.

Was habe ich von mir selbst gewußt, und was weiß der Mensch überhaupt von sich selbst? Ebensogut könnte ich sagen: Was weiß der Mensch von Haß und von Liebe, was kann er Erschöpfendes wissen von den unendlichen Möglichkeiten der Pein und der Lust? Haben mir die Wochen vor meiner Reise die Liebesleidenschaft als eine schleichende Krankheit offenbart, so hat sich mir nun ihre Erfüllung gezeigt.

Ich übergehe das Warten, bei dem sich jene schon erwähnten Ausschweifungen der Phantasie erneuerten.

Als Anja, äußerst einfach gekleidet, in der herben Frische ihrer Jahre, mit einem schlecht verschnürten Pappkarton, ihrem überhaupt einzigen Reisegepäck, in Bromberg aus dem Lokalzuge stieg, wurden alle Gespenster ins Nichts gefegt. Es fiel während der ersten Stunde kein Wort, aus dem man auf eine Entscheidung hätte schließen können, die unausgesprochen zwischen uns lag. Natürlich dachten wir nicht in Bromberg zu bleiben. Ein möglichst versteckter, stiller, ländlicher Ort schwebte uns vor. Aber schon mit dem ersten Schritt von der Bahnhofstraße in die Stadt beschlich uns wiederum das schlechte Gewissen von Geächteten. Kurz darauf hatten wir uns glücklich in mein Hotel hineingewagt, den Pappkarton dem Portier übergeben und saßen im verstecktesten Winkel des Restaurants, wo gerade das Mittagessen serviert wurde.

Anja erzählte lustig und viel von ihren Erlebnissen. Dieser Ohm und jener Ohm wurde geschildert, diese oder jene Großtante oder Tante mit ihrer Eigenart; aber so, wie wir uns unterhielten, ohne daß der leiseste zärtliche Blick oder die leiseste Berührung stattgefunden hätte, würde man höchstens einen legitimen Onkel mit seiner legitimen Nichte in uns haben vermuten können. Nach Tisch begaben wir uns in die Stadt, nahmen den Kaffee in einer Konditorei, es wurde mir dies und jenes Haus einer wohlsituierten Verwandten gezeigt, und ein gewisses inneres Zögern, eine gewisse Unschlüssigkeit brachte es mit sich, daß wir zum Abendbrot noch in einem Bromberger Restaurant saßen und die Abreise auf den kommenden Morgen verschoben hatten. Anja nächtigte im Hotel. Ich verlangte für sie, es war Gott sei Dank schon spät, beim Portier ein Zimmer, nicht ohne lächerliche Verlegenheit. Der Pappkarton wurde ihr nachgetragen, wir nahmen kurz und hölzern Abschied auf dem Korridor, und ich fand mich gleich darauf in meinem Zimmer. Hier atmete ich mit einem deutlichen Gefühl der Entspannung mehrmals auf.

Der Mensch ist eigentlich immer allein. Trotzdem: jeder zweite Mensch hat die Macht, seine Seele wie einen Wocken Flachs aus sich heraus und auf eine Spule zu spinnen. Dann bleibt nicht mehr allzuviel übrig von ihr. Darum muß sich der Mensch unbedingt zuzeiten von seinen Mitmenschen und gegen seine Mitmenschen absperren dürfen. Und am wichtigsten ist diese Absperrungsmöglichkeit, wenn der Körper ermüdet ist, mit dem vollen Recht, den Schlaf zu suchen. Liebesnächte bilden die Ausnahme.

Mit Anja bin ich nun sechs Tage lang, außer im Schlaf, vereinigt gewesen. Diese Notiz, wie alle auf dem heutigen Blatt, mache ich in Berlin. Erst auf der Fahrt hierher – Anja ist wieder zu Verwandten gegangen – bin ich zu mir selbst gekommen. Ich habe Zeit, denn ich bleibe einige Tage hier, um zwischen Bromberg und Grünthal eine gewisse Entfernung zu legen. Der Gegensatz ist zu groß und die Veränderung, die mein ganzes Wesen erlitten hat: es bedarf einer neutralen Sphäre, um sich allmählich rückbilden und das frühere Sein wenigstens einigermaßen glaubhaft spielen zu können.

Wir zogen, Anja und ich, in der Bromberger Gegend zu Fuß herum. Da man das Geld in meiner Tasche nicht sehen konnte, hätte man uns, ich trug den Pappkarton grau vom Staube der heißen Landstraße, für Vagabunden nehmen können. In einer Beziehung waren wir es, denn was uns versklavte und zugleich bedrückte, ist etwas wesentlich Lichtscheues. Es sucht den Versteck, es lechzt nach Verborgenheit. Je mehr sich der Staub auf den Schuhen häuft, die Fußschmerzen zunehmen, Schweiß den Rücken herunterläuft, um so stärker wird das Paria-, wird das Vagabundengefühl.

Wo kamen wir mit unserem Pappkarton nicht überall hin auf unserer Wanderung, immer weitergetrieben, durch Dörfer und Marktflecken, wahrhaft ausgestoßen, ziellos und obdachlos! Denn wir wagten es nicht, jemand um Quartier anzugehen vor der Dunkelheit, und Ende Juni wird es spät dunkel.

Beinahe vergessen hätte ich, daß Anja ihre Geige im Kasten mit sich trug, wodurch wir an fahrende Bettelmusikanten erinnerten. Wir lachten viel, wenn wir uns vorstellten, auf welche Weise wir leicht einer Ebbe in unserer Kasse aufhelfen könnten: Anja hätte vor den Häusern und in Höfen aufgespielt, und ich würde dazu gesungen haben, schlecht und recht, ungefähr so klangvoll, wie es auf der Studentenkneipe geschieht. Eines Abends waren wir wieder einmal, verstaubt und wegmüde, aber glücklich, in einem Dorfgasthaus angelangt. Wir nahmen im leeren Tanzsaal des Hauses unser Abendbrot. Im Gastzimmer, durch eine Türe von uns getrennt, saßen die Honoratioren. Der freundliche Wirt hatte Verständnis für uns. Der Himmel weiß es, wieso ich meinen Wunsch, Anjas Geige zu hören, nicht unterdrücken konnte, da wir doch alle Ursache hatten, uns still zu verhalten.

Aber o Schrecken! Als sie geendet hatte, stürzten der Arzt und der junge Pastor des Ortes herein. Es war ein Rausch der Begeisterung. Man stellte sich vor, man wollte mehr hören. Der Lehrer war zugleich Organist und begann Anja von Bach und Händel zu schwärmen. Ich legte ihr und mir ein und denselben Namen bei, den ich mir in New York gemerkt hatte, und überließ es den Herren, als wir uns gleich darauf zurückzogen, über die Frage nachzudenken, ob wir Onkel und Nichte seien oder ein junges Ehepaar.

Morgens, kaum war es Tag geworden, mußten wir wieder in den brennenden Staub der Straße hinaus. Scheu und innerlich gehetzt, wie wir immer waren, fühlten wir uns am sichersten zwischen den Ortschaften, außer wenn ein berittener, uns mit den Augen scharf aufs Ziel nehmender Gendarm vorüberkam. Er hätte uns leicht sistieren können, wenn er geruhte, uns für verdächtig zu nehmen. Dann hätten wir an der Seite des Pferdes Schritt halten müssen, und man hätte möglicherweise, falls man unsere Personalien – wir hatten keine Papiere – nicht einwandfrei feststellen konnte, uns bis zur Klärung der Sache in Polizeigewahrsam gebracht. Es genügt, sich einer Schuld bewußt zu sein, bestünde sie auch nur in einem Verstoß gegen das Herkommen, um sich von aller Welt für verfolgt zu halten. Besonders wenn man, wie in unserem Falle, in einem immerwährenden Zustand hohen Fiebers ist. So grenzten wir überall an das Häßliche mit dem Schönheitsdurst in der Brust, mit der Überempfindlichkeit unserer Seelen an das Alltäglich-Rohe und schließlich mit der Reinheit unserer Empfindungen an Abschaum und Schmutz.

Anja und ich hatten uns irgendwo in der Heide wie andere Ausflügler niedergelassen, als ein Gymnasiast vorüberkam, es mochte ein Quartaner sein, der mich, ohne daß ihn jemand gereizt hätte, mit einem gemeinen Ausdruck belegte. Es war ein Wort, durch das die tiefe Verderbtheit seiner dreizehnjährigen Seele sich kundmachte. Ich würde meiner Art gemäß den Jungen sofort durchgebleut haben. Aber die Zweideutigkeit der Situation, in der ich war, band meine rächende Hand.

»Ich bin einen Tyrannen losgeworden«, hat Platon im Alter gesagt, als ihn jene Kraft verließ, durch die allein sich das Leben der Gattung erhalten kann. Mir ist, als sei ein bleierner Mantel von meinen Schultern gefallen, der sie eine glühende Woche lang belastet hat. Es war eine Fron, womit ich mich abzufinden hatte. Hat jemand diese Macht nie erlebt, so ist er nur in den kindlichen Eros von Eleusis, aber nicht in die ganzen Mysterien eingeweiht.

Ich atme auf, bin ihnen entronnen, aus dem Reich der Deklassierten Gott sei Dank wieder aufgetaucht. Den Fuß auf der Erde, spüre ich außerdem wieder den Boden des Rechts und damit die alte Kraft und Sicherheit.

Von den Paradiesen, deren Tore unter der unabwendbaren Tyrannei und furchtbaren Hörigkeit solcher Tage erschlossen werden, rede ich nicht. Nur ihr Endergebnis berühre ich noch. Wie durch ein läuterndes Feuer ist mein Wesen von allen giftigen Dünsten, dem Nagen und Zerren unerfüllter Wünsche, dem Reißen verzweifelnder Begierden gereinigt und befreit worden. Es herrscht ein anderer Geist in mir, dessen innerster Kern fortan unangreifbar ist. Denn nicht einmal Götter vermögen es ungeschehen zu machen, wenn man die Frucht vom Baume des Lebens genossen hat.

 

Grünthal, am 3. Juli 1895.

Eben habe ich eine recht häßliche Szene erlebt. Benommen von der Erinnerung schicksalsschwerer Erfüllungen, war sie mir auf eine unausdrückbare Weise abstoßend. Melitta nämlich suchte irgend etwas in den Taschen meines Sommerpaletots, und statt dessen, was sie suchte, war es ein Paar zartduftender Damenglacés, das sie ans Licht brachte. Natürlich sind es Anjas Handschuhe. Ich weiß nicht, wie sie dorthin gekommen und dort geblieben sind. Das sagte ich auch mit gutem Recht. Natürlich hatten wir anderes zu tun auf unseren Irrfahrten, als uns um den Verbleib von Handschuhen zu bekümmern. Andrerseits mußte Melitta meine Behauptung, ich wisse nicht, wie diese Glacés den Weg in meine Taschen gefunden hätten, wie das freche Leugnen eines Ertappten vorkommen. Kurz, dieser Fund machte ihr klar, wo ich in der Zeit meines Fernseins gewesen bin.

So ist denn das Kartenhaus unseres neubegründeten Familiendaseins jäh zerstört worden.

 

Grünthal, am 28. September 1895.

Soeben ist eine Epoche meines Lebens schmerzlich abgeschlossen. Der Haushalt in Grünthal ist aufgelöst. Ich schreibe dies in der verödeten Wohnung, die jahrelang ein so still geborgenes, warmes Familienleben beherbergte.

Ich bin soeben von Hirschberg zurück, wohin ich Frau und Kinder zur Bahn begleitet hatte. Sie sind nach Dresden in ihr neues Domizil abgereist.

Der Wind von den Bergen klagt ums Haus, der Abend dämmert. Ich habe, ohne eine Störung fürchten zu müssen, Zeit, die Räume und Wände des lieben Hauses noch einmal abzuhorchen und abzuklopfen. Einst ließ ich hier Melitta auf den Trümmern unseres Glückes zurück. Diesmal muß ich, von ihr verlassen, noch den Abend über und durch die Nacht hier aushalten.

Ich denke an Melittas schönes dunkles Haupt, wie es, umgeben von den blonden Scheiteln unserer Kinder, aus dem Coupéfenster sah. Die Augen aller, nicht nur die meinen, wurden von diesem Bilde angezogen. Und dann, als der Zug in Bewegung kam und das Abschiedswinken einsetzte, gewann da nicht jedermann den Eindruck innigsten Familienglücks? Aber man verstand den Sinn dieses Winkens nicht, der sich mir um so marternder mitteilte. Denn die Frau am Fenster winkte nicht so, wie man es bei Abschieden tut, sondern sie winkte und hatte ihre Kinder angewiesen, das gleiche zu tun, wie man winkt, wenn man jemand zu sich und nach sich ziehen will. Das, was zwischen Melitta und mir unausgesprochen geblieben war, ob nämlich ihr neues Dresdner Heim als Witwensitz zu verstehen wäre, war von diesem für mich qualvollen Winken die Ursache. Sie hatte alles, alles verziehen und wollte mich trotz allem und allem wiedergewinnen für die alte Gemeinsamkeit. So viel Liebe, so viel Verzeihen! – und auf meiner Seite ein schreckliches Hellsehen, wie nutzlos dieser Aufwand einer großen Seele an mich verschwendet wurde. Wo sie hoffte, war für mich Hoffnungslosigkeit, verzweifelndes Wissen, wo sie glaubte.

Warum bin ich Melitta über den Atlantischen Ozean nachgereist? Ihre Leiden sind dadurch verlängert, ihre Widerstandskraft vermindert, ihr Stolz gedemütigt worden. Die Absicht, daß es so sein sollte, hatte ich natürlich nicht, denn ich hielt den Konflikt durch die Reise für abgeschlossen. Für Melittas und der Kinder Verbleiben in Amerika bestand sowieso keine Möglichkeit. Sie wären bei unseren für jenes Land geringen Mitteln bald dem Mangel verfallen. Melittas Amerikafahrt war ein Verzweiflungsschritt, der in keinem Falle gut ausschlagen konnte.

Seit den Tagen um Bromberg kommt für mich eine Trennung von Anja nicht mehr in Betracht. Aber vorläufig auch die Scheidung von Melitta nicht. Jetzt kämpft sie bewußt und würde, auch wenn ich es dringend wünschte, mich nicht freigeben. Man muß auf Zeit und Zukunft vertrauen, wenn man an einer Lösung dieser Verknotungen nicht verzweifeln will.

 

Berlin, am 10. Oktober 1895.

Anja ist nun Schauspielerin. Sie glaubt Talent für diesen Beruf zu besitzen, und nachdem sie bei einem hiesigen Bühnenleiter vorgesprochen, wurde sie engagiert.

Unter dieser Wendung der Dinge leide ich.

Es ist so gekommen aus vielen Ursachen. Eine von ihnen, die hauptsächlichste, besteht wohl darin, daß die Ehe eben zwischen Anja und mir nicht erörtert wird.

Ich habe mir eine kleine Hinterhauswohnung gemietet und notdürftig eingerichtet, nicht weit vom Joachimsthalschen Gymnasium. Die Frau des Portiers besorgt das Aufräumen, den Morgenkaffee koche ich selbst. Manchmal ist Anja schon zum Frühstück da, und dann besorgen wir das gemeinsam.

Ich kann hier arbeiten, arbeite viel, Anja studiert ihre Rollen hier und bleibt tagsüber an meiner Seite. Dann kommt das Theater, kommt der Dienst. Nachher bringe ich sie bis an die Tür der Wohnung ihrer Mutter zurück.

In einer kleinen Weinstube am Kurfürstendamm essen wir unser Mittagbrot, abends werden wir da- und dorthin verschlagen oder kaufen uns etwas ein, womit wir uns in unser Hinterhausversteck zurückziehen.

Wir leben also in engster Kameradschaftlichkeit.

Nicht leicht ist es für mich, wenn ich sie abends ins Theater ziehen lassen muß. Wer wüßte nicht, was das Theater ist, besonders hinter der Bühne ist, was für Gefahren dort auf ein junges Mädchen warten. Ich hole sie vom Theater ab. Es kommt vor, daß ich nicht in die Stadt hineinfahre, sondern sie am Bahnhof Bellevue oder am Bahnhof Zoologischer Garten erwarte. Wenn sie sich dann gelegentlich verspätet, ein Zug nach dem andern in die Halle tobt, hält und weiterrollt, ohne daß sie vom Trittbrett herunterspringt, wird der Zustand, in den ich gerate, ein krankhafter. Ich kann so wenig dagegen aufkommen, daß ich die sich überstürzenden Einbildungen, trotzdem ich sie selbst für unsinnig halte, in ihrer Wirkung als Tatsachen fühle. Ich stelle mir einen bestimmten, dann einen zweiten, dann einen dritten wohlbekannten Schauspieler, ihren Kollegen, vor, talentvolle, witzige, reizvolle Menschen, die Routiniers im Umgang mit Frauen sind, und gestehe mir ein, es sei eines Dümmlings würdig, anzunehmen, ein frisches Mädchen, wie Anja ist, werde ihren Zudringlichkeiten gegenüber standhalten. Was tat, um die Fremdheit auszuschalten und andere Hindernisse hinwegzuräumen, nicht allein der im Theater übliche Duz-Jargon? Unter den Schauspielern herrscht, solange sie auf den Brettern sind, eine sehr begreifliche Kameradschaftlichkeit. Durch ihre jeweilige Rolle werden sie vor dem Auftritt, während des Auftritts und nach dem Auftritt in einem Erregungszustand erhalten. Jene Verbindung aber, die unter den Mitspielern eines Stückes naturgemäß während der über Wochen dauernden, täglichen Proben sich herausbilden muß und die das gemeinsame öffentliche Auftreten dann noch festigt, kommt hinzu und schafft eine Atmosphäre, die gegenseitige Annäherungen zu einer fast selbstverständlichen Erscheinung macht. Hat man sich auf der Bühne umarmt und geküßt, warum soll man es nicht in ganzem und halbem Scherz, in halbem und ganzem Ernst hinter der Bühne tun?! Witz und Scherz feiern ja hinter der Bühne Orgien, und man würde begründeterweise eine Schauspielerin kameradschaftlich fallenlassen, die einen gewagten Scherz krummnehmen oder anders als durch Humor parieren wollte.

Witz und Scherz feiern hinter der Bühne Orgien: ist diese Behauptung zu stark oder nicht? Sie ist nicht zu stark, wie ich glaube. Der Kulissenhumor wird durch vielerlei Gründe bedingt, worunter natürlich die witzigen Köpfe der Schauspieler obenan stehen. Diese Köpfe haben sich in eine tragische oder komische Rolle hineingelebt, und wenn ihre Träger von der Bühne abtreten, so suchen sie den Kontrast, und es ist oft ein derbes Witzwort, das den Tragiker wieder zum natürlichen Menschen macht. Wer wüßte nicht überdies, wie bei erregten Nerven tieftragische Gelegenheiten durch unaufhaltsames krampfhaftes Gelächter Unterbrechung erleiden. Der tragische Schauspieler tobt sich nicht selten hinter der Bühne, besonders nach dem Auftritt, in allen erdenklichen Humoren aus, wogegen vor dem Auftritt der Galgenhumor allein das Seine tut. Dagegen ist ein tiefer Seufzer, wie man mir sagt, das erste, was man hört, wenn ein gewisser Komiker, während das Publikum noch gleichsam wiehernd unter den Bänken liegt, von der Bühne in die Kulisse getreten ist.

Ich merke, ich bin etwas abgekommen. Ich wollte den Versuch machen, einen Zustand zu schildern und womöglich loszuwerden, indem ich seine Absurdität mir klarmache. Ich sehe Anja nach jedem Stadtbahnzuge, dem sie nicht entsteigt, in einer ärgeren Situation. Erst ist es ein Kuß, dann ist es eine Umarmung, was ich deutlich im Geiste vor mir sehe. Der schöne junge Schauspieler X., der sich in seiner Wohnung vor dem Zudrang der Berliner Backfische kaum retten kann, hat Anja nach dem Theater eingeladen, und sie sitzen bei Dressel oder in einem anderen Restaurant. Was danach geschieht, das mag Gott wissen. Das Schlimmste ist: wie soll ich sie finden? Ist es menschenmöglich, alle Restaurants, alle Chambres séparées von Berlin heute noch abzusuchen? Und ich gerate über Anja in maßlose Wut. Meine Wut gegen den Schauspieler, übrigens mein Freund, ist noch viel maßloser. Ich werde noch einen Zug abwarten, dann eine Droschke nehmen, nach Hause eilen, meinen Revolver zu mir stecken, nach der Stadt fahren, die Lieblingswinkel meines Freundes absuchen und – hol' mich der Teufel! –, sollte ich eine unliebsame Überraschung erleben, in das Chambre séparée, in die Box hineinknallen . . .

Aber da steigt meistens Anja ahnungslos aus dem Abteil auf den Bahnsteig herunter.

 

Dresden, am 18. Oktober 1895.

Melitta hat mit den Kindern eine hübsche Etage bezogen. Ich besitze zum erstenmal mein eignes Schlafzimmer. Seit gestern abend bin ich hier. Ich weiß, daß es nur auf wenige Tage ist, und doch habe ich ein Gefühl der Geborgenheit.

Meine Kinder scherzen und lachen mit ihrem Vater ahnungslos. Meine Frau erkennt, daß ich mich bei ihr, in der neuen Umgebung, wohlfühle. Ihr Wesen ist von einer stillen, warmen Gleichmäßigkeit. Sie hat, wie es scheint, den Gedanken an Anja und unseren Konflikt ausgeschaltet und ist sich schlüssig geworden, mit dem, was für sie übriggeblieben ist, zunächst zufrieden zu sein.

Welche Beruhigung kann ein umfriedetes Hauswesen mitteilen! Bevor ich das unter den jetzigen, lebenserschwerenden Umständen erfuhr, wußte ich es nicht. Einen Mann wie mich kann nur der Grund und Geist der Familie stark machen.

Jetzt, da ich, wenn auch nach eigenem Willen ausgestoßen, in dieser Welt nur zu Gaste bin, spüre ich wie nie ihren Wert und den ganzen Verlust, den ich auf mich nehme.

Wie kommt es, daß diese Zimmerflucht in einem Mietskasten, die Melitta mit den Kindern vor wenigen Wochen bezogen hat, mich so warm und altvertraut anmutet? Trat ich nicht, von einem fremden Dienstmädchen im Entree begrüßt, trotzdem wie in den Raum meiner eigenen Seele ein? Nein, meine eigene Seele ist es nicht. Wenn es im Seelischen etwas dem Mutterschoß Entsprechendes geben könnte, so ließe sich hiermit ein Vergleich wagen. Oder man würde auf eine Art Nestbrutgefühl zurückgehen, das ein gemeinsames Erzeugnis von Vater, Mutter und Kindern im Neste ist. Ich schreibe dies alles hin und berühre damit nur leicht das Mysterium. Die Flurtür hinter mir zudrückend, begriff ich mit allem, was ich bin und darstelle, daß ich der Fremde entronnen war.

»My house is my Castle«, sagt der Engländer. Mit vollem Auf- und Ausatmen genieße ich wieder einmal dies Gefühl. Der Friede, die Ruhe, die Sicherheit, die mich umgeben und alle schmerzhaften Anspannungen zunächst einmal auflösen, zeigen mir deutlich, zu welcher Kraftverschwendung ich in meinem entwurzelten Dasein sonst gezwungen bin.

Die fruchtbare Wärme der Häuslichkeit, die umfriedete Legitimität in ihrer nicht einmal beachtenswerten Selbstverständlichkeit würden fast die Gesamtheit meiner Kräfte für die Aufgaben meines Berufes frei machen. Denn diese Aufgaben, dieser Beruf, deren Eigenart und Bedingungen ich in die Buchführung dieser Blätter nicht verwickeln will, stellen an mich die härtesten Ansprüche. Es gibt auf dieser Bahn kein Zurück. Gäbe es übrigens ein Zurück, so würde es für mich keines sein.

Meine Bahn, mein Ziel und die dazugehörigen Aufgaben angehend, wächst mir hier Zwölfmännerkraft: Melitta selbst hat ein großes Verdienst daran. Sie ist in meine Arbeit hineingewachsen. Es ist, als ob die Aura ihres Heimwesens, die unsere leiblichen Kinder hervorbrachte, auch das beste Klima für meine geistigen Ernten wäre.

Wir haben heut einen Freund aus Norwegen zu Tisch gehabt. Es ist ein verehrungswürdiger Mann, dessen Gegenwart meiner Frau und mir ein Fest bedeutet. Bei einem angenehmen Moselwein saßen wir so ziemlich den ganzen Nachmittag und haben auch das Problem der Polygamie durchgesprochen.

Melitta sagt, wenn eine Frau wirklich liebe, sei sie mit irgendeiner anderen zu teilen unfähig. Ich hüte mich wohl, ihr zu antworten, die Tatsache sei in ihrem Fall schon vorhanden, und sie schicke sich an, ihr mehr und mehr gewachsen zu sein. Gerade Frauen, sage ich, die von einer leidenschaftlichen Liebe befallen sind, suchen den Genuß des Gegenstandes ihrer Liebe um jeden Preis. Ich nenne ihr Namen von Männern, die sie kennt und die gerade deshalb, weil sie nicht gewillt sind, irgendeiner Frau treu zu sein, von vielen mit leidenschaftlicher Inbrunst geliebt werden. Ich weise auf die Gepflogenheiten der Mohammedaner, ja der Mormonen hin wo polygame Einrichtungen keine anderen Mängel als die eben immer vorhandenen, allgemein menschlichen aufweisen. Liebe ist übrigens Liebe, sage ich. Ebenso wie jedes unter fünf Kindern die ganze und nicht den fünften Teil der Liebe einer Mutter erhält, so kann es recht wohl mit zwei Frauen gegenüber einem Manne sein.

Melitta scheint ihrer Liebe zu mir eine tiefe Duldung abgewonnen zu haben. Gespräche wie diese werden zwar in den Kreisen von Künstlern und Gelehrten oft und immer geführt. Aber Melitta weiß recht wohl, wie es sich hier um mehr als bloße Gespräche handelt. Ich spüre es, wie sie leidet und ernsthaft nachgrübelt und ihre Kraft in Erwägung zieht, wenn sie sich einer Ehe zu dreien anpassen sollte. Irgendwie scheint ihr im ganzen die neue Lage doch hoffnungsvoller zu sein, ist es doch so, als wolle ich an ihr und den Kindern festhalten. Und wenn sie sich gewissenhaft mit dem Gedanken einer Gemeinschaft zu dreien beschäftigt, tut sie es möglicherweise nur deshalb, weil sie der Zeit vertraut und der Meinung ist, ein solcher Versuch würde gerade den Sieg des Altgewohnten beschleunigen. So zählen wir beide in entgegengesetzter Richtung auf die Wirkung der Zeit. Mich soll sie nach Melittas Erwartung leise, leise von Anja loslösen, nach meiner Erwartung Melitta von mir.

 

Dresden, am 20. Oktober 1895.

Ich liebe diese Stadt. Nicht nur liebe ich sie, weil ich sie an der Seite meines Vaters in frühester Jugend sah, sondern aus vielen anderen Gründen. Sooft ich die kurze Bahnfahrt von Berlin hierher hinter mir habe, unterliegt mein Wesen einer Veränderung. Ich bin jünger als in Berlin, ich bin deutscher als in Berlin, ich fühle Boden unter den Füßen. Irgendwie geht meine Seele in die Stadt und Landschaft über und wiederum diese in meine Seele.

Habe ich gut daran getan, meine Frau gerade hierher zu verpflanzen, wenn ich meine Loslösung von ihr und ihre von mir betreiben wollte? Habe ich nicht immer eine Art Heimweh, wenn ich, fern von dieser Stadt, an sie denke? Und nun Melitta mit den Kindern hier wohnt, tritt es nicht verstärkend zu dem natürlichen Heimweh nach meiner Familie?

Melitta hat in einem der schönsten alten Herrensitze der Lößnitz, der ihrem Vater gehörte, einen Teil ihrer Jugend verlebt. In den Gärten und Weinbergen, die ihn umgaben, habe ich sie kennengelernt. Das Besitztum ist leider verkauft. Wir haben aber gestern einen Ausflug dahin unternommen, an der Parkmauer zu klingeln gewagt, und da die Herrschaft abwesend ist, hat der Gärtner uns und die Kinder eingelassen.

Die Phylloxera hat den Weinberg zerstört, Parkwege und Rasen lagen unter gelben Polstern und Teppichen gefallener Blätter, ein herbstlicher Sonnenblick fiel hie und da in dies melancholische Reich der Vergangenheit, was mit der Grundstimmung unserer Gemüter – ich denke dabei nicht an die Kinder – recht wohl übereinkommen wollte. Aber natürlich gibt es dabei doch, aus Edelmoder und Herbstfäden hervor, ein fremdartig wunderliches Neublühen: ein schwermütig süßer Zauber, dem Melitta und ich denn auch, Hand in Hand schreitend, verfallen sind.

Mich selbst zu belügen, kann der Zweck dieser Aufzeichnungen nicht sein. Deshalb muß ich mir bekennen, daß ich heute wieder zu der Ansicht neige, es wäre vielleicht für mich besser, wenn ich Anja niemals gesehen hätte. Wie rein, wie klar, wie in sich einig und wie gelassen, ja mühelos hätte sich dann mein Leben aufgebaut. Und wenn ich nur einmal solchen Erwägungen mich anheimgebe, so ist es ein kleiner Schritt, mich zu fragen: Gibt es für die Loslösung von Anja noch eine Möglichkeit?

Nein, es gibt keine Möglichkeit.

Die Mutter, der Bruder Anjas würden es ganz gewiß begreifen, es wahrscheinlich sogar begrüßen, wenn ich mich loslöste und an meiner Familie festhielte. Ein solcher Entschluß fände am Ende nach meinem ganzen Verhalten ihre Billigung. Welche Bedeutung aber hätte im Verhältnis zwischen Anja und mir ein solcher Entschluß? Wir könnten das Wort Loslösung ohne weiteres aus unserem Sprachschatz hinauswerfen, da es für uns eine inhaltlose Hülse ist. Eifersucht auf meine Frau und Familie kennt Anja nicht. Den Anspruch, ich müsse mich von ihr losreißen, stellt sie nicht. Anja sagt, selbst wenn sie gezwungen würde, sich anderweitig zu verheiraten, es könnte an unsrer Beziehung nichts ändern. Nichts, was es auch sei, würde sie hindern, auf meinen leisesten Wink hin mein eigen zu sein.

Die Einheit, in der wir uns verbunden fühlen, ist in der Tat irgendwie eine natürliche. Verstandesoperationen und Willensakte, wie immer geartet, wenn sie sich gegen diese Einheit richten wollen, haben alle dasselbe Schicksal, nämlich sich aufzulösen ins Nichts. Als Mittel gegen diese Macht sind sie untauglich.

Trotzdem nehme ich hier ein Betragen an, als ob kein Abschied von Dresden und von den Meinen nahe wäre. Und wie schon gesagt, ich grüble darüber nach, wie Unzuvereinbarendes am Ende doch zu vereinen sei.

Jeden Morgen vor dem ersten Frühstück führt mich mein Weg durch die sogenannte Bürgerwiese in die Alleen des Großen Gartens, der in seiner herbstlichen Schönheit unvergleichlich ist. Es war in der Bürgerwiese, wo ich vor mehr als einem Jahrzehnt Melitta meine Liebe gestand. Die schöne Erbin war so erschrocken, daß sie sich unwillkürlich auf dem Absatz herumdrehte und den Weg in entgegengesetzter Richtung fortsetzte, eine Wendung, die ich natürlich mitmachte. Bald aber kamen wir in die alte Richtung zurück und endeten im sogenannten Japanischen Palais, wo Abgüsse von Monumentalwerken des Bildhauers Rietschel, insbesondere seines Luther, zu sehen sind. Im Gips- und Staubgeruch des Museumsraumes konnte ich fühlen, wie ein Etwas in der Seele des jungen Mädchens an der Zerstreuung aller Bedenken arbeitete und endlich, wortlos, in der Duldung zarter Annäherung das Ja zum Ausdruck kam.

Damals war ich ein junger Fant. Es kam mir bei, ich mochte es wohl von irgendeinem Roman her im Gedächtnis haben, ein düsteres Bild von mir zu entwerfen und mich damit interessant zu machen. Ohne es selber zu glauben, sagte ich ihr, daß ich ruhelos, unberechenbar, ja gefährlich und gefährdet sei und daß eine Frau, die sich mir verbände, sich auf Leiden und Schmerzen gefaßt machen müsse. Oder sprach vielleicht doch, ohne daß ich es wollte und wußte, damals der Geist der Wahrheit aus mir?

Heute haben jedenfalls Prophezeiung und Warnung sich gründlich bewahrheitet.

Vor einigen Stunden sind Melitta und ich den uns so bekannten Schicksalsweg gemeinsam gewandert. Wir haben die Stelle wiederzufinden gesucht, wo es zu der folgenschweren Kehrtwendung kam, wir haben die Schelle des Rietschel-Museums gezogen und sind zu bewußter Erinnerungsfeier unter die Gipskolosse getreten, deren Staubdecke erheblich dicker geworden ist.

Ganz gewiß ist der Frühling schön. Aber das schwermütig-süße Herbstliche dieser Stunde hat uns doch wiederum rätselhaft innig die Hände ineinandergefügt.

Später auf der Wanderung kreuz und quer durch den Großen Garten erwogen wir wieder und wieder das Gleichen-Problem. Sollte es ganz unmöglich sein, in schöner, stiller Landschaft irgendwo hier in der Umgegend ein gemeinsames Leben zu dreien auf eine edle und harmonische Weise zu verwirklichen? Man fände gewiß einen ähnlich verschwiegenen, durch weite Mauern abgeschlossenen alten Herrensitz wie den, in welchem Melitta groß geworden ist. Und warum sollte man sich denn nicht durch ernstes Arbeiten an sich selbst zu dieser zweifellos edlen Form der Lösung eines Konfliktes durchringen, einer edleren und humaneren Form, als der brutale und blutige Trennungsriß sein würde?! Oder steht Zerreißen, Trennen, Vernichten höher als Heilen, Versöhnen, Vereinen und Aufbauen?

 

Bußbek, am 2. März 1896.

Wie ich sehe, habe ich den Winter vorübergehen lassen, ohne etwas zu notieren. Ich befinde mich augenblicklich in einem Orte bei Bremen, Bußbek, im Hause meines ältesten Bruders, unter Verhältnissen, die nicht erquicklich sind. Gerade das Unerquickliche aber drückt mir meist die Feder in die Hand. Man blättert in den noch unbeschriebenen Seiten des Buches, faßt ihrer ein Dutzend zwischen die Finger und sagt sich, wenn diese erst beschrieben sind, liegen die augenblicklichen Übelstände schon wieder in der Vergangenheit.

Also, mein Bruder Marcus hat seine Zahlungen einstellen müssen. Verschiedene resultatlose Unternehmungen haben sein Vermögen geschluckt. Eine kleine Bankfirma und zwei seiner Kompagnons, die, weil sie kein Geld besaßen, auch keines verlieren konnten, einigen sich, indem sie meinen ausgesogenen Bruder hinauswerfen und seinem Schicksal überlassen.

Er hat sich hier eine hübsche Villa gebaut, in der aber nun kein Ziegelstein mehr sein eigen ist. Der Maurermeister, der Zimmermeister, der Tischler, der Ofensetzer wollen Geld, die Klingel geht alle Augenblicke. Meine Schwägerin hat die größte Not, das Eindringen der Lieferanten zu verhindern, die Lüge aufrechtzuerhalten, daß mein Bruder nach Bremen gefahren, also nicht zu Hause sei. Er und ich aber stehen während dieser Zeit in seinem höchst behaglich eingerichteten Arbeits- und Rauchzimmer und beschäftigen uns, indem wir mit einer Gummipistole nach dem Spiegel schießen. Was sollen wir schließlich anderes tun?

Mein Bruder, aber vor allem die kleine Bankfirma hat mich hergerufen. Ihre Chefs versuchten, bei einer Konferenz gestern in den Büros, mich einzuschüchtern. Nun sollte ich bluten, weil von meinem Bruder nichts mehr zu holen war. Ich denke mir aber, daß ich besser tue, keinen nutzlosen Versuch zu machen, den Sturz ins Leere aufzuhalten, sondern die fraglichen Summen für die spätere Unterstützung meines Bruders und seiner Familie aufzuheben.

Oder schießen wir nach dem Spiegel, weil die bittere Lage uns eine Art Galgenhumor aufnötigt? Gewiß, ich hätte sie mit einem Schlage verändern können, wenn ich mein halbes oder ganzes Vermögen zu ihrer Sanierung verwandt oder aber eine Bürgschaft in ähnlicher Höhe übernommen hätte. Davon konnte jedoch schon im Hinblick auf Melitta und die Kinder nicht die Rede sein. Während des Schießens wurden von Marcus die Verhältnisse sprunghaft dargelegt. Industrielle Unternehmungen, die im Aufblühen begriffen sind, litten an Kapitalmangel. »Es ist kein Zweifel«, sagte Marcus, »daß meine Kompagnons, nachdem sie mich glücklich hinausgeworfen, die nötigen Gelder beschaffen und binnen kurzem große Gewinne einstecken werden. Hundertfünfzigtausend Mark würden mich nicht nur retten, sie würden meine Stellung im Konzern unantastbar machen und den in hohem Grade lukrativen Fortgang des Ganzen gewährleisten.« Schließlich legte mein Bruder dar, was für Chancen man aus Kapitalmangel hatte aus der Hand geben müssen.

Es ist recht merkwürdig, zu wissen, daß man die Macht in Händen hat, einen vom Unglück erdrückten Menschen durch ein Wort in einen glücklichen umzuwandeln, einen ohnmächtigen und besiegten in einen aufrechten und tatkräftigen. Ich könnte die von bitterem Kummer niedergedrückte, von schwerer Enttäuschung zermalmte Frau meines Bruders mit zwei Worten aus der Nacht ihres Unglücks zu neuem Leben aufwecken. Ich könnte der Familie, welche im Augenblick im Orte bereits allgemein gemieden wird, im Handumdrehen die verlorene Achtung wieder verschaffen. Es gab mehr als einen Augenblick, wo es mir schwer war, dieser Verlockung nicht nachzugeben. Würde auch alles, dachte ich, über Jahr und Tag wieder auf dem jetzigen Standpunkt anlangen, und würde damit mein Vermögen verloren sein: einmal sich als Retter gefühlt, einmal eine solche Macht ausgeübt zu haben, Dank und Glück der Geretteten erlebt zu haben, wäre vielleicht nicht zu teuer bezahlt.

Statt dessen wird morgen wieder von früh bis abends die Hausklingel in Bewegung sein. Der Schlächter wird kommen, der Bäcker, der Milchmann, die Gemüsefrau, aber nicht um Waren ins Haus zu bringen, sondern um Rechnungsbeträge einzufordern, die über Jahr und Tag aufgelaufen sind. Dann wird man meinen Bruder mit Weib und Kind aus dem ihm so lieb gewordenen Heimwesen hinauswerfen. Mein Bruder ist Pilzkenner: Pilze zu suchen, um seine Kinder damit satt zu machen, das höchstens bleibt ihm dann.

Dies alles ist bitter, aber es muß sich zwangsmäßig abwickeln.

Es kommt hinzu, daß mein Bruder in seinem Wesen irgendwie verändert, irgendwie nicht mehr der alte ist. Ich sehe mich einem etwas aufgeschwemmten Manne gegenüber, der nicht mehr ganz leicht atmet, dessen Humore mehr resignieren als vorwärtsdrängen. Manchmal kommt es mir vor, als ob mitten in der peinlichen Katastrophe eine Art befreienden Aufatmens an ihm festzustellen sei.

Man konnte die Sache kommen sehen. Je unklarer seine Verhältnisse wurden, um so mehr wurde Marcus in einen Zustand krampfhafter Selbsttäuschung hineingehetzt, der sich in einer peinlich berührenden Großsprecherei äußerte. Einige Jahre war er mit seinem Anhang eine hier beinahe populäre Figur. Man kann nicht sagen, daß dieser Anhang einen besonders vertrauenerweckenden Eindruck machte. Ich habe den Bruder öfters unter seinen Leuten das große Wort führen hören, und mir war recht unwohl dabei. Er pflegte dann wieder und wieder mit lauter Stimme Bilanzen zu ziehen, alle seine Kreditposten aufzuzählen, sein Haus und sein Mobiliar abzuschätzen, unsichere Zukunftsaussichten als sichere Tatsachen zu buchen, und so fort.

Ich war, bevor ich heute morgen hier ankam, in den Bremer Geschäftsbüros. Von manchem altbekannten Gesicht wurde ich mit mattem Lächeln empfangen, von anderen recht seltsam angeblickt. Der kleine Bankier, der nun dort als unumschränkter Gebieter waltet, zog mich in sein Privatbüro, wo er und die Kompagnons mich bearbeiteten. Der Bankier, der, entweder um kein Geld zu verlieren oder um welches zu gewinnen, offensichtlich den ganzen Betrieb in seine Hand bekommen will, suchte mich zu größeren Einlagen zu bewegen. Als er damit nicht weiterkam, ging er dazu über, mir verblümt mit der Möglichkeit eines gerichtlichen Nachspiels zu drohen, das für meinen Bruder bedenklich ausgehen könnte. Ich sollte an meinen guten Namen denken und an dem Flecken, der eben doch in diesem Falle auf der ganzen Familie haften würde. Aber da kam er bei mir nicht an. Nicht nur, um ihm die Lust zu einem ähnlichen Erpressungsversuch für immer zu nehmen, sondern weil ich wirklich so denke, sagte ich ihm: »Hat mein Bruder Dinge getan, wie es ja gelegentlich im Geschäftsleben vorkommen soll, die ihn mit dem Strafrecht in Konflikt bringen können, so mag er die Folgen auf sich nehmen. Stellt man ihn also unter Anklage und erweist sich seine Schuld, die übrigens nicht besteht, so bleibt er trotzdem mein Bruder, und ich werde, sobald er seine Buße, wie immer sie ausfallen möge, hinter sich hat, ihm meine Hilfe in jeder nur möglichen Weise zuwenden. Er wird dann, durch Erfahrung gewitzigt und vermöge der hohen Intelligenz, die ihm eigen ist, den Lebenskampf mit entschlossenem Mut wiederaufnehmen.« – Von der Sache war nicht weiter die Rede. Das Ganze bleibt immerhin eine unerfreuliche Zugabe.

Ich habe gerade genug mit mir selber zu tun. Nachdem das Schicksal den Wurm in meine Ehe brachte, schreitet die Vermorschung des einen Pfeilers unserer Familie unaufhaltsam fort, während hier ein anderer Pfeiler bereits zusammengebrochen ist. Soll mir dabei nicht ein wenig ängstlich zumute sein? Eins ist gewiß, ich muß mich so schnell wie möglich aus dieser trostlosen Atmosphäre herausflüchten.

 

Bußbek, am 3. März 1896, vormittags.

Alles durch die Gegenwart Verdrängte hat mich heute nacht in Träumen heimgesucht. Ich muß eilen, bevor es versinkt, wenn ich etwas davon festhalten will. Erstens: der Schreckenstag in Paris, als ich von der Amerikareise meiner Frau und meiner Kinder erfuhr, spukte wiederum. Dieses Erlebnis hat sich ein für allemal in mir festgesetzt. Fast jeder meiner Träume trägt Elemente davon. Wiederum kreisten meine Traumbilder um den Gedanken »zu spät« herum. Melitta war im Zustand letzter Verzweiflung mit dem Entschluß, sich das Leben zu nehmen, davongerannt. Ich wußte, daß ich sie in der großen, nächtlichen Stadt nicht mehr auffinden konnte. Es gab also keine Möglichkeit, sie mit dem einen Wort, das ich jetzt wußte, zu beglücken. Ich vermochte nicht mehr wortlos meine Brust aufzureißen und zu sagen: Da hast du mein ganzes Herz. Nichts ist darin, was nicht dir gehört! Es war zu spät. Kein noch so lauter Aufschrei der Seelennot vermochte sie mehr zu erreichen. –

Nun, Gott sei Dank, Melitta lebt. Es hat eine Art Versöhnung mit dem Schicksal stattgefunden. Nach meinen Eindrücken zu urteilen, hat der lindernde Einfluß der Zeit sein Werk getan. Melitta gestaltet sich mehr und mehr ein stilles, harmonisches Sein in der schönen, von der Elbe durchflossenen Gartenstadt. In dieser Beziehung darf ich aufatmen.

Aber in meinem Traum wurde Alp durch Alp abgelöst. Anja ging an der Seite eines anderen in enger Verstrickung an mir vorbei und kannte mich nicht. Ich rief sie an, sie kannte mich nicht. Ich schrie, ich geriet in Raserei. Ich erinnerte sie an unsere erste Begegnung, erinnerte sie an die Stunde, wo ich ihr meine Liebe bekannt hatte, an das, was ich um ihretwillen gelitten hatte, erinnerte sie an alle die Dinge, von denen nur sie und ich wissen – sie kannte mich nicht. Ich schleuderte mein Inneres rasend aus mir heraus, Herz, Nieren, Hirn und damit meine ganze Seele. Als mein Wesen so mit dem letzten Versuch, die Mauer der Fremdheit zu durchschlagen, scheiterte, fand ich mich schweißgebadet hier im Hause des Bruders auf.

Meine Nächte sind überhaupt nicht gut, und auch meine Tage lassen zu wünschen übrig. Zwar ist in meinem Konflikt eine Art Stillstand eingetreten, ein Zustand, mit dem sich leben läßt. Aber in meinen Nerven, unabhängig davon, scheinen sich Nachwehen überstandener Zeiten geltend zu machen. Anfallsweise überkommen mich seltsame Stimmungen, zum Beispiel eine Art Lebensangst. Dann werde ich von dem Gedanken gepeinigt, das Leben könne ein endloser Zustand sein, von dem zu erlösen nicht einmal der Tod die Macht hätte. Das ist wohl der Ausdruck einer Seelenermattung, einer Seelenmüdigkeit, die sich sträubt, den beschwerlichen, aussichtslosen Weg durch das Dornengestrüpp des Daseins fortzusetzen. Übrigens machte mich schon als Kind meine Mutter zum Mitwisser ähnlicher Zustände, die also wohl als Erbe auf mich gekommen sind.

Da ist es nun Anja allein, vor der diese lebensfeindlichen Mächte davonflüchten. Seltsamerweise gerade sie, durch deren Vorhandensein die Last meines Schicksals vervielfältigt worden ist. Ich hätte mich also mit etwas beschwert, wodurch allein sich mein Herz und Gemüt erleichtern kann. Darum hat Anjas Frische, ihr mutiger Schritt, ihr durch keine Reflexion geschwächter Lebenssinn mich wohl so unwiderstehlich angezogen, ihre Davidhaftigkeit, die sie, wie ich ahnen mochte, befähigte, Sauls schwarze Stunden hinwegzuscheuchen. Das letzte und höchste Mittel dazu ist ihr Geigenton, dieser von allen Feuern des Himmels gespeiste Klang, den ihr niemand zutrauen würde.

Ich wollte von meinen schlechten Tagen und Nächten reden und bin wieder bei Anja angelangt. Der Weg zu ihr ist noch immer der Rettungsweg. Ich mag mich mit Arbeit, Kummer, Verwirrungen und Verdüsterungen aller Art herumschlagen bis zur Hoffnungslosigkeit, schließlich hellt sich an irgendeiner Seite das Himmelsgewölbe auf, und in meiner Hand ruht gleichsam die Türklinke zu Anjas Haus.

 

Bußbek, am 3. März 1896, nachmittags.

Noch bin ich hier festgebunden. Mein Bruder hält seinen Nachmittagsschlaf. Meine Schwägerin ist ausgegangen, um die Lebensmittellieferanten zu bezahlen, wozu ich einiges vorgestreckt habe. So wird wenigstens hier im Ort Ruhe sein.

Mein sonst fast nur in allerlei Humoren schillernder Bruder Marcus legte mir heute plötzlich eine längere Beichte ab. Tief erschrocken war ich und bin es noch, weil ich erkennen mußte, wie vollständig Marcus unserem Vater entfremdet ist.

»Rede mir nicht mehr von Kindesliebe«, sagte Marcus. »Mir soll man damit nicht mehr kommen. Ich habe diese Lüge viel zu lange mit mir durchs Leben geschleppt. Rede mir nicht von Dankbarkeit, die ich Vater und Mutter schuldig wäre. Die Mutter hat mich geboren, gewiß. Das hat ihr vielleicht sehr weh getan. Ich habe sie nicht darum gebeten. Und als sie merkte, daß sie mich zu erwarten hatte, war sie möglicherweise, wie die meisten Frauen, sehr unglücklich.

Vater hat mich seit meinem achtzehnten Jahre ausgenutzt. Ich denke gar nicht mehr dran, mir in dieser Beziehung etwa aus Kindesliebe ein X für ein U zu machen. Ich war in einer Volontärstelle, große Reederei, Auswandererbüro, und so fort. Ich merkte, daß ich vorwärtskam, ich merkte, daß ich Erfahrungen machte. Da rief er mich in diese verdammte Klitsche nach Weißenborn. Da mußte ich zwei Lehrjahre meines Lebens mit Gastwirtspielen in dieser Wanzen- und Flohbude zubringen, mußte mit diesen Schwindsuchtskrächzern, die Haus und Betten verseuchten, schöntun, um Pfennige schachern und stundenlang scharwenzeln und schwatzen, um einen Dreier zu retten, den sie mir an Logis und Mittagessen abhandeln wollten. Die Zeit war versäumt, der Anschluß verpaßt, als ich endlich wieder frei wurde. Dann machten wir unsere Heiraten. Ich wollte arbeiten. Unreif trat ich ins Geschäftsleben. Das erste Lehrgeld kostete mich das halbe Vermögen. Vater hängte sich an mich an. Mutter und er kamen nach Bremen, er trat ins Geschäft, das heißt, er nahm ein Gehalt entgegen wie ein Oberregierungsrat, obgleich er doch fünftes Rad am Wagen war. Außer daß er große Worte machte, habe ich nichts gesehen, was auf eine Arbeit hindeutete. Tu das nicht, tu das nicht! hat er gesagt. Von Wechselreiterei hat er gesprochen. Das ist gefährlich, das ist verhängnisvoll, hat er gesagt. Fall nicht ins Wasser! sagt man zu einem, der am Ertrinken ist. Klugscheißen ist leicht, Bessermachen ist eine andre Sache. Als er merkte, ich werde nun bald einen Kampf auf Leben und Tod durchzurackern haben, der vielleicht nicht sehr komfortabel für einen älteren Herrn wäre, da hat er nicht etwa gesagt: Guter Marcus, ich war lange Jahre dein Kostgänger, ich habe die gute Zeit mit dir durchgemacht: nun zähle auf mich in der schlechten. Nein! sondern als das erste, das zweite, das dritte Leck in die Schiffswand kam, da dachte er sich: Die Sache wird mulmig . . . und – da verließen die Ratten das Schiff.

Ich sage dir«, schrie mich mein beichtender Bruder an, »Vater und ich, wir haben uns einmal mit geballten Fäusten, Auge in Auge gegenübergestanden. Ich habe ihn angeschrien: ›Dir, deinem niederträchtigen Egoismus, verdanke ich, wenn ich untergehe, meinen Untergang. Mein Blut über dich! Mein Blut über dich!‹ habe ich gebrüllt. – ›Du warst ein Nichtsnutz von Jugend an!‹ schrie er dagegen. ›Ich habe dir dein Ende im Gefängnis, dein Ende am Galgen nicht einmal, sondern hunderttausendmal vorausgesagt!‹ – Was meinst du wohl, was ich da getan habe? Ich habe ein einziges Mal aufgelacht, dann habe ich mich, es war im Büro, weggedreht und habe ihn stehenlassen. Mit den Worten habe ich ihn dann stehenlassen: er möge doch dafür sorgen, daß aller überflüssige Ballast je eher je lieber aus dem Schiff käme.«

Als er das gesagt hatte, war das runde, volle Gesicht meines Bruders klein geworden, jeder Tropfen Blut war daraus gewichen. Selbst seine Lippen schienen mir weiß.

Ich dachte an Vater, der nun still mit Mutter in Liegnitz lebt. Meine Verehrung für ihn ist groß. Welche harten Kämpfe, Erlebnisse und Stürme müssen vorausgegangen sein, um das ganze Kapital kindlicher Liebe, das ja auch in der Seele meines Bruders Marcus vorhanden war, so in alle Winde zu jagen!

Dann begann er aufs neue zu sprechen. »Damals«, sagte er, »als Vater mir geschrieben hatte, daß ich in Weißenborn nötig sei, hätte ich ihm: Ja Kuchen! zurückdrahten sollen. Ich roch aber noch nach Muttermilch und lag geistig noch in den Windeln. Und in diesen verwünschten zwei Jahren, die ich – der Teufel hol' sie! – aus kindlicher Pietät mir aufgehalst hatte, hätte ich mich bei einem Haare tatsächlich ins Zuchthaus oder – es lebe die Prophetie unseres lieben Papas! – an den Galgen gebracht.«

Ich fragte Marcus, was denn da vorgefallen sei.

»Ich habe bisher zu niemand von dieser Geschichte gesprochen«, sagte er. »Es scheint aber mit mir so zu gehen wie mit allen Ertrinkenden, daß ihnen nämlich in den letzten Augenblicken ihr ganzes Leben noch einmal zum Bewußtsein kommt.

Es war eine Minute vor Table d'hote. Beide Hotelsäle waren mit Menschen gefüllt. Da ließen die Kellner sich im Büro melden. Nun, die befrackte Gesellschaft trat ein. Der Sprecher sagte, sie bäten um ihr Gehalt, sie würden sogleich den Dienst verlassen.

Ich betrachtete mir den Rädelsführer einen Augenblick. Im nächsten sah ich, wie mir vorkam, sämtliche Kellner davonstieben. Durch ein Guckloch fiel mir auf, daß die Arbeit in den Sälen fieberhaft im Gange war. Aber etwas zog sich immer wieder wie eine Qualle vor meinen Augen zusammen und verbreiterte sich, und inmitten dieser Erscheinung – ich sehe alles so deutlich, als ob es vor zwei Minuten geschehen wäre – lag irgend etwas, das einer schwarzen, formlosen Masse glich. Ich fragte mich: Was ist das für eine formlose Masse, die hier im Büro auf der Erde liegt? Dann sah ich: es war ein befrackter Mann, und langsam, langsam dämmerte mir, es mußte der Rädelsführer sein, dem irgend etwas geschehen war. Aber nein, ich hatte ihn ja nicht mit einem Faustschlag, aber mit einer Ohrfeige niedergeschlagen, die im Effekt einem Faustschlag glich.

Der Rädelsführer regte sich nicht. Ich verschloß das Büro, ich besprengte sein Gesicht, ich versuchte ihm Kognak einzuflößen, ich erkannte plötzlich, daß ich nicht mehr ein Sohn aus guter Familie, sondern ein Totschläger war. Ich durchlief blitzschnell die Wege im Geist, welche vom Steckenpferdchen bis zur Galgenschlinge heraufführen, und so fort und so fort. Draußen hörte ich Klappern, Klirren und Rennen bei Table d'hote, stellte wiederum durch das Guckloch fest, daß alle Gäste ordnungsgemäß bedient wurden, und sagte mir, daß in diesem Augenblick die meisten Hotelzimmer leer, die Flure und Treppen verlassen seien. Somit bestehe vielleicht die Möglichkeit, den toten Kellner unbemerkt in seine Kammer hinaufzuschaffen. Ich schloß das Büro hinter mir ab, untersuchte die Treppen bis zum Boden, wo ich die Kammer des Kellners, die verschlossen war, gewaltsam zu öffnen hatte, was mir seltsamerweise sofort gelang.

Nun also: ich habe mir tatsächlich den befrackten Toten auf den Rücken geladen und habe diese Last zwei Stockwerke hoch bis in die Dachkammer transportiert, und du kannst mir glauben, daß ich hie und da im Leben etwas Angenehmeres getan habe. Ich wurde ruhiger, als er auf dem Bette lag, und nun tat ich etwas, was ganz in der Ordnung war, ich rannte zum Arzt hinüber, fand ihn zu Haus, sagte ihm, was geschehen war, und als wir die Kammer des Toten betraten, war dieser zwar noch wie vorher ganz regungslos, aber er hatte sich eine nasse Kompresse auf die Stirn gelegt.

Und, du magst es mir glauben oder nicht: eine Stunde später putzte er Gläser.«

 

Berlin, am 10. März 1896.

Anja wird im Theater nicht genügend beschäftigt. Sie ist ungehalten deswegen, was man ihr nicht verdenken kann. In meiner Ansicht über ihre Begabung als Schauspielerin bin ich schwankend geworden. Ich hatte bis vorgestern abend vermieden, sie auf der Bühne anzusehen. Ich bin nicht eigentlich sentimental oder nervenschwach, aber ich glaubte, ich würde dabei irgendwie aus der Haut fahren.

Also vorgestern abend sah ich sie. In einer Loge versteckt, erwartete ich mit Herzklopfen ihr Erscheinen. Plötzlich, ich begriff es nicht gleich, kam sie aus der Kulisse gefegt.

Anja bewegte sich und sprach in dem Salon, den die Bühne darstellte, als ob sie bei sich zu Hause wäre. Dieses Alleinsein, dieses scheinbare Ausschalten des Publikums, dies völlige Nichtbeachten des Fehlens der vierten Zimmerwand ist mir nur noch bei der allergrößten in ihrem Fach aufgefallen.

Unbeachtet und ungesehen von Anja, wie ich gekommen, schlich ich mich aus dem Theater fort. Gestern sprach ich von dem empfangenen guten Eindruck mit ihrem Direktor. Dr. Mahn ist nicht meiner Ansicht.

Wenn aus Anja etwas werden solle, sagte er, dann müsse sie in die Provinz. Das sei die rechte Schule für sie. Dort könne sie sich durch alle Rollen hindurchspielen. Dort müsse sie jeden Tag vor das Publikum und werde sich die Routine aneignen, ohne die nun einmal das Theaterspielen nicht denkbar sei. Man müsse sich auf der Bühne heimisch machen, müsse lernen, auf dem Theater zu Hause zu sein.

Eine Weile stritt ich mit Mahn, denn das war es ja eben, was ich bei Anja in überraschendem Maße gefunden hatte. Man braucht schließlich nicht zu lernen, was man schon kann. Man schickt keinen Frosch in eine Schwimmschule. Schließlich aber war Mahn der Theatermann und ich nur der Laie, und ich konnte mir nicht verhehlen, worauf er hinauswollte.

So machte ich also mit Anja Pläne, da ja schließlich etwas geschehen muß. Ich bin dafür, daß sie ihr Geigenstudium fortsetze, aber sie selbst, ihr Bruder und ihre Familie sind einig darin, es sei besser für sie, auf dem nun einmal betretenen Wege weiterzugehn. Ich habe nach Hannover geschrieben und einem mir befreundeten Dramaturgen Anjas Begabung im besten Lichte dargestellt.

Aber welchen Unsinn betreiben wir eigentlich? Was können denn bei unserer innigen Verbindung noch für getrennte Ziele übrigbleiben? Kann ich im Ernst daran glauben, ich werde in Berlin leben und Anja werde in Hannover sein? Freilich suche ich meinen Pflichten zu genügen, und allerlei Erfolge, die zu verzeichnen sind, auch Angriffe, die man gegen mich richtet, beweisen, daß meine Hände nicht müßig sind. Schließlich aber würde alles das ohne Anjas immerwährende Gegenwart nicht zustande kommen.

Nicht, daß sie mich etwa zur Arbeit irgendwie anregte oder gar anhielte, aber eine Lunge atmet eben nicht ohne den nötigen Sauerstoff. Es ist nur ein scheinbarer Widerspruch, wenn ich sage, die Liebe zu Anja hat mich um jeden Ehrgeiz gebracht, und es ist wiederum sie, um deretwillen ich von einem gesteigerten Ehrgeiz befallen bin. Irgendein imaginäres Etwas, nicht zu trennen von Eros, war das, wozu mein Ehrgeiz mir früher das Mittel erschien. Dieses imaginäre Etwas ist verschwunden: die Geliebte nimmt seine Stelle ein. Aber nun möchte mein Ehrgeiz, der mit meiner Liebe ein und dasselbe geworden ist, alle Schönheit, allen Glanz, allen Ruhm, alle Macht auf mich herabreißen, um es vor Anjas Füßen auszubreiten.

Ich lese das, und wer immer es so obenhin liest, mag denken, daß ich hier sehr gewöhnliche Liebesphrasen hingesetzt habe. Es ist mir gleich, ich suche und brauche vor mir selbst dafür keine Legitimation. Genug, daß die hier zugrunde liegende Empfindung eine kühl und objektiv gefaßte Tatsache ist. Ich stelle fest, die Glorifizierungsversuche, der leidenschaftliche Hang, Teppiche, Perlen, Juwelen, Brokate, Seiden, kurz, jeden Reichtum der Erde mit den Gedichten der Dichter, den Tönen der Sänger vor Anja hinzuschütten, ist innerlich zwangsmäßig bis zur Peinigung. Mir ist, als wäre es schwere Versündigung an ihr und mir, diese Zeugenschaft unserer Liebe nicht öffentlich abzulegen. Alles, was ich entwerfe und ausführe, gilt nur ihr.

Ist so eigener Ehrgeiz durch Ehrgeiz für Anja abgelöst, so wird er wiederum nicht selten durch eine fast unüberwindliche Neigung zur Weltflucht aufgehoben: Weltflucht, selbstverständlich mit ihr. Sooft dieser leidenschaftliche Zug und Wunsch von uns Besitz ergreift – auch Anja wird von ihm ergriffen –, scheint uns außer der Sonne, der Himmelsluft, außer einem grünen Wiesenplan und einem Häuschen darauf alles, aber auch alles überflüssig. Unsere Liebe gleichsam vor den Menschen retten, geizig verstecken möchten wir. Man könnte irgendwo an den Hängen des Ural, in der Cyrenaika, in Peru oder sonstwo eine kleine Hütte bewohnen. Es war uns zumut, als vergeudeten wir, solange wir das nicht hatten, den Reichtum unserer kostbaren Zeit. Und was mich betrifft, ich möchte sogar in solchen Augenblicken aus meinem Geist allen nutzlosen Ballast hinauswerfen. Was brauche ich diese tausendfältige geistige Belastung und Ausrüstung, denke ich dann, wenn ich alle diese törichten, künstlich gezüchteten Bedürfnisse, welche das Kulturleben ausmachen, nicht mehr anerkenne, nicht mehr habe, nicht mehr befriedigen will. Was sollen mir alle diese eingebildeten Werte, denen ich unter Mühen, Leiden, Verbitterungen, Kränkungen rastlos nachjage, diese Verstaubungen, Verunreinigungen, Verwundungen und Verstrickungen, durch die man sich durcharbeiten muß? Ich brauche ja keine Eisenbahn und dann natürlich erst recht keine Fahrkarte. Und dann auch das Geld nicht dafür, das ich mir sonst mühsam erarbeiten muß. Was brauche ich gemalte Bilder und Photographien, solange ich gute Augen im Kopfe habe? Sehe ich nicht Anja? und Bilder um Bilder in der Natur? Der Blinde nun wieder kann mit gemalten Bildern auch nichts anfangen. Musik! nun ja: es gibt einen Bach, es gibt Haydn, Mozart, Beethoven. Aber die Stimme und Geige Anjas, meine eigene Stimme, Gesang der Vögel, Flüstern der Baumkronen, Rauschen des Meeres, Glucksen der Bäche, Gebrüll der Kuh ist auch Musik. Was kann ich dafür, wenn ich hierin bescheiden bin? Was kann ich dafür, wenn ich sogar, in den Rausch meiner Liebe gehüllt, mir nicht einmal bescheiden vorkomme, sondern mich auf eine unaussprechliche Weise beschenkt fühle?

Berlin ist finster, neblig und regnerisch. Wie Obdachlose wandern Anja und ich noch immer in allen Teilen der Stadt, allen Ausstellungen und Museen herum. Gestern promenierten wir lange, um dem Regen zu entgehen, wiederum in dem Säulengang der Nationalgalerie und machten Pläne und Pläne für die Flucht aus der Welt. Wir wollen ausschließlich uns allein leben. Hier in Berlin haben wir allerdings auch schon einen Anfang gemacht. Ich entziehe mich fast ganz meinen Freunden, außer wo es beruflich unmöglich ist. Wir wollen aber von allem fort. Was ist uns der deutsche Kaiser, das Kaiserreich, die hundertundein Kanonenschüsse, die man im Lustgarten wegen der Geburt eines Prinzen löst?! Wir wollen von keinem Berlin, keinem Theater, keinem Konzert, keiner Familie, keiner Politik, keinem Beruf wissen. Am liebsten wäre es uns, wenn um uns eine uns völlig unverständliche Sprache gesprochen würde und unsere Sprache unserer Umgebung ebenso unverständlich bliebe. Wir möchten nur uns, der Natur und Gott gegenüber Menschen, möchten eigentlich Adam und Eva im Garten Eden sein.

Wie würde sich dann der Garten der Erde ganz anders um uns ausbreiten, die Kuppel des Himmels sich in ganz anderem Sinne über uns auftürmen! Dann erst stünden wir ganz im Zentrum des großen Mysteriums. Wortlos würden wir in es hineinwachsen und schließlich voll und endgültig eins mit ihm sein.

 

Berlin, am 14. März 1896.

Es grunelt. Der Frühling ist in der Luft. Ich habe nur eine ungefähre Vorstellung davon, was ich zuletzt niedergeschrieben. Sie ist hinreichend, um mir bewußt werden zu lassen, daß das, was mir jetzt durch die Seele geht, kaum damit recht in Einklang zu bringen ist. Das Bewußtsein gleicht einer Bühne, auf die immer neue Schauspieler steigen, neue Gestalten, die sich aufspielen, als ob nun die Bühne auf ewig von ihnen beherrscht werden würde, die aber bald daraus ins Dunkel zurücktauchen. Derer, die im Dunkel auf ihr Stichwort warten, sind Legion, zahlreich sind sie, wie in Ägypten Fliegen und Heuschrecken.

Freilich, um bei dem Bilde zu bleiben, gibt es Lieblingsdekorationen und Lieblingsschauspieler. Es können Gedanken, können affektive Regungen, können Bilder, können Töne sein. Augenblicklich ist, wie ich mir eingestehe, eine meiner Lieblingsdekorationen wieder aus dem Nebel getreten.

Die Bühne stellt mein Haus, abwechselnd von innen und außen gesehen, stellt meinen Garten in Grünthal dar. Ein anderer Eros als jener, dem ich zuletzt huldigte, hat auf der Bühne die Oberhand und gibt den Dingen Wärme und Licht. Melitta erscheint in der Dekoration. Ich selbst erscheine mit meinen Kindern. Wir sind aus dem Hause getreten, um den blauen, weißen und braunen Krokus zu betrachten, der am nassen Abhang, dicht unter der Schneegrenze, aus der Erde sprießt.

Soll ich es leugnen, ich sehne mich, von einem anderen Eros wiederum in Besitz genommen, nach Melitta, nach den Kindern, nach Grünthal zurück. Und wahr und wahrhaftig, mir taucht der Gedanke auf, es könne sich mit der Übersiedlung Anjas nach Hannover doch wohl eine völlige Loslösung vorbereiten.

Pfingsten und die großen Ferien werden Melitta und die Kinder in Grünthal zubringen. Wie waren doch diese Sommerzeiten auf den Bergwiesen, in den Bergwäldern und auf dem Gebirgskamm immer so wundervoll! wie befreiend, köstlich und festlich die weiten Wanderungen! Ich weiß nicht, ob ich mich mehr nach meiner Familie oder nach den landschaftlichen Herrlichkeiten meiner Heimat zurücksehne.

Wie aber werde ich es ertragen, wenn Anja in Hannover ist? in einer Umgebung, wo ich ihren Namen nicht einmal nennen darf und mich stellen muß, als ob ich ihre Existenz vergessen hätte?

Ich könnte mich wieder dem Sport zuwenden. Ich habe als einer der ersten in Deutschland auf Skiern gestanden und Tennis gespielt. Ich werde mit meinen Jungens mich in Tennis- und Fußballkämpfe stürzen. Wir werden Bowlen ansetzen in unserem kleinen Buchenwald, Wein und Bier trinken und Picknicks abhalten. Ich werde Freunde einladen, und ich werde versuchen, den alten Übermut meiner Jugend auferstehen zu lassen. Die Freude Melittas, die Freude der Kinder, die ihren Vater wiederhaben, wird mir Anjas Lachen ersetzen, das ich freilich entbehren müßte.

Wie schön und geschlossen man solch einen grünen, von Bergen umgebenen Sommer mit Arbeit und Genuß gestalten kann. Übrigens werde ich mir ein kräftiges schottisches Pony zulegen und weite Ritte in die morgendlichen Wälder tun. Beim ersten besten Bach, wie sie dort überall mit großem Wasserreichtum von den Höhen stürzen, werde ich vom Pferd und ins Bad steigen. Ich werde halbe Tage lang und länger so mit mir allein zubringen und mit niemandem als der Einsamkeit und der Natur in Liebe verbunden sein. Auch bei dieser Art und Weise zu leben kommt ein Eros in Frage, der darüber die Herrschaft hat. Ich kenne ihn. Ich weiß recht gut, bis zu welchem Grade ich seinen Wonnen verfallen kann, weiß auch, daß ich keiner Art von Leben und Dasein gewachsen bin, wenn ich nicht regelmäßig und rhythmisch unter sein göttliches Szepter zurückkehre. Er vertieft, vereinfacht, weitet und beruhigt das Lebensbereich. Am Ende könnte die Harmonie, die er gibt, über alles Zerrüttende, leidenschaftlich Zerrissene, Disharmonische am ehesten Herr werden.

Mein Freund, der Dramaturg aus Hannover, ist hier gewesen. Er hat, nach einem Gespräch mit ihr und mir, Anja vom Fleck weg engagiert, wodurch denn nun also der Würfel gefallen ist. Am ersten Mai soll sie ins Engagement treten.

Und wiederum habe ich das Gefühl, als ob ich einen elektrischen Draht angefaßt hätte. Trennung! Trennung! Trennung! Drei Schläge sind es, und die Erkenntnis des Wortes, vom ersten zum zweiten, zum dritten der Schläge, steigert sich. Beim dritten der Schläge ist es mir, als ob ich vor einem Abgrund zurücktaumle. Mir klingen die Ohren, ich schließe die Augen, ich sehe nichts.

Auf welche Wege bin ich geraten? Was will ich tun? Nicht mehr und nicht weniger, als alle erdenklichen Mittel und Kräfte gegen Anja feindlich aufrufen. Den Kauf eines Gaules, eines schönen Bildes, einer Bronze, eines holländischen Bogens aus Zitronenholz, allerlei Spielzeug blicke ich unter diesem Gesichtspunkt an. Einen Arbeitstempel im Garten will ich mir bauen, Gewächshäuser einrichten, einen sogenannten Kunstgärtner anstellen, alles, um mich zu betäuben, zu beschäftigen, von dem Gedanken an Anja und von meiner Liebeskrankheit abzulenken. Es soll mich Anja vergessen lassen, vergessen, daß ich dieses Geschöpf, das sich mir in vertrauender Liebe hingeschenkt, betrogen, roh in die Welt hinausgestoßen, schutzlos unter wilde Tiere geschleudert habe. Und für den Fall, daß sie ihnen entrinnen, von ihnen gehetzt flehend und schreiend an meine Tür pochen sollte, verrammle ich schon von vornherein diese Tür. Ich verrammle sie mit Tischen, Picknickkörben, Wein- und Bierflaschen, Bildern, Bronzen, neuen Büchern und Bücherschränken. Reißbretter und Reißschienen baue ich dahinter auf, ein Gaul und verschiedene Philosophen werden quer und lang dahintergestellt. Eine Schar von Freunden mit Ideen, Plänen, Malerpinseln und Schriftstellerfedern, Mikroskopen, Seziermessern, vor allem aber Wein- und Biergläser in der Hand, sind bereit zur Verteidigung. So gedenken wir Anjas Angriff abzuschlagen. Ich selber aber werde durch ein Dachfenster gucken und zu meiner Geliebten hinunterbrüllen: Ich kenne dich nicht!

Da habe ich mich ja wirklich in eine überaus anmutsvolle Lage hineingedacht. Aber was würde nun Anja sagen, wenn sie gehetzt, zerlumpt und mit wunden Füßen zur Burg des tapferen Mannes und zu seiner Dachzimmerluke emporblickte? Nichts weiter als: Geliebter, betrüge dich nicht! Dich kann außer dem Tode und dem Wahnsinn keine Macht Himmels oder Erden mehr von mir loslösen!

Ich fürchte, mein Liebling, du hast recht. Sooft ich einsehe und begreife, daß wir einen langen, langen Weg vor uns haben, der uns doch vielleicht niemals ganz vereinigt, niemals ohne die bitter schmerzlichsten Schuldgefühle unsere Liebe genießen läßt, und sooft ich dann eine Art und Weise der Loslösung finden will, komme ich, wenn ich diese erkannt zu haben glaube, jedesmal zu einem Punkt, wo mir durch eine blinde Wand jede Aussicht genommen ist. Ich sehe dann höchstens einen Menschen, der eine Art Harakiri vollzieht und sich die Aufgabe stellt, sich selbst Herz und Lunge aus dem Leibe zu nehmen, ohne daran zugrunde zu gehen. Dieser Mensch aber bin ich selbst.

 

Liegnitz, am 25. März 1896.

Ich bin gleichsam wieder zum Kinde geworden. Es ist wohl immer so, wenn ein erwachsener Mensch wieder in das Haus seiner Eltern kommt.

Das Hauswesen wirkt ein wenig trübselig.

Ich gedenke des armen Bruders Marcus, der Auftritte, die es zwischen Vater und ihm gegeben hat, der Not, in die er geraten ist, und bin erstaunt, wie sehr der Vater sein Schicksal, ja seinen Namen auszuschalten imstande ist, nicht nur aus dem Gespräch, wie mir scheint, sondern auch aus seinen Gedanken.

Natürlich bin ich froh, daß wir aller Voraussicht nach Vater und Mutter bei ihren bescheidenen Ansprüchen vor dem Mangel bewahren können. Vater, wie ich deutlich merke, hat in dieser Beziehung Vertrauen zu mir. Er ist ja nun über siebzig Jahr, das gibt ihm ein Recht auf den Ruhestand.

Er hat sich eins von den kürzlich erfundenen Velozipeden gekauft, fährt bereits recht gut und macht ausgedehnte Touren. Meine Mutter findet das lächerlich.

Meine Schwester und eine ältere Freundin, Tante Henschke, haben sich in dem Badeort Schlierke, nicht weit von hier, niedergelassen. Sie waren heut tagsüber da. Ich verehre meinen Vater und fühle, besonders in seiner Gegenwart, ihn noch immer als Autorität. Meine Schwester treibt einen Kultus mit ihm. Er sitzt am Fenster, er geht, er steht, sie weist mich mit himmelnden Augen auf ihn hin und flüstert mir zu: Der gute Vater! Wie er sich wäscht, pflegt, kleidet, wie er das spärliche weiße Haupthaar frisiert, den dichten weißen Schnurrbart trägt, das alles, was meine Mutter belächelt, erregt ihr Bewunderung. Sie sagt: Sieh dir die andern Männer an, und dann betrachte dir unsern Vater! Er ist der geborene Aristokrat.

Es ist richtig, daß sich mein Vater mit gutem Geschmack zu kleiden pflegt, und zwar seinem Alter angemessen. Einen Anzug schlechter Machart oder von anderem als bestem Tuch zu tragen wäre ihm ein Ding der Unmöglichkeit. Wäsche, Handschuhe, Fußbekleidung, Kopfbedeckung, alles ist von bester Eigenschaft. Mehrere Stunden braucht er zum An- und Auskleiden. Jeder Gegenstand wird dabei eine Art Heiligtum. Kein Dienstmädchen und kein Hausdiener kann sich rühmen, meinem Vater während der letzten zwanzig Jahre einen Schuh geputzt, einen Anzug ausgeklopft und gebürstet zu haben. Mit einer Bürstensammlung und allen wohlgepflegten Utensilien werden alle diese Dinge eigenhändig ausgeführt.

Natürlich macht eine solche Bekleidungskultur trotz aller Schonung der Gegenstände eine nicht ganz geringe Jahresausgabe notwendig, besonders da mein Vater immer mehrere nagelneue Hüte, nagelneue Anzüge und Mäntel sowie einige Paar nagelneue Schuhe in Vorrat hält.

Während der letzten zwanzig Jahre sind meiner Mutter vielleicht zweimal je ein Paar neue Filzschuhe geschenkt worden. Alle vier oder fünf Jahre benützte sie etwa einmal ein mindestens dreißig Jahre altes schwarzes Seidenkleid. Nie habe ich meine Mutter oder jemand anders für meine Mutter einen Hut, eine Blume, ein Kleid, ein Paar Schuhe, ein Stück Wäsche anschaffen sehen. Sie benützte einzig und allein jenen alten Bestand, den sie in die Ehe mitgebracht und, wo es nötig und möglich war, persönlich mit Fingerhut, Nadel, Zwirn und Schere den neuen Verhältnissen angepaßt hatte.

Oft sagt meine Mutter, wenn sie freies, eigenes Vermögen besäße, über das sie jederzeit verfügen könne, würde sie vielleicht nicht so bescheiden sein. Aber es gäbe nichts so Furchtbares, als jemand anders um Geld bitten zu müssen. Um das aber zu vermeiden, habe sie sich mehr auf das Haus beschränkt, sich vereinfacht und jede Art Eitelkeit abgelegt.

Mein Vater ist übrigens Sammler geworden. Es sind alle Arten von Tischlerhobeln, die er zusammengetragen hat. Er hat solche Werkzeuge winzig klein und andere über meterlang. Ich gebe zu, daß es Kunstwerke und daß sie schön zu sehen sind. Natürlich werden sie nicht benützt, sondern nur, um sie bewundern zu lassen, hervorgeholt. Der Sammler gibt sie nicht aus der Hand, er läßt niemand auch nur mit der Fingerspitze darankommen, er dreht sie, wendet sie, so daß der Betrachter sie von jeder Seite bestaunen kann, worauf er mit der Rechten etwa darüber hinstreichelt und sie, als ob sie zerbrechliches Glas wären, wieder in ihre Behälter legt.

Warum sehe ich denn nur das Gesicht meines Bruders Marcus immer, zu sonderbarer Grimasse verzerrt, über die geruhsame Hobelsammlung hinwegblicken?

Wir haben den Abend in einer kleinen, dämmrig-behaglichen Weinstube, natürlich ohne Mutter, zugebracht, wo man recht billig offene spanische Weine trinken kann: mein Vater, meine Schwester, Tante Henschke, die ein immer gut gelauntes, kluges, gebildetes altes Fräulein ist, und ich.

Wir waren durch den Geist des Elternhauses vereint, verbunden, zusammengehalten, und es bildete sich jene Atmosphäre um uns, die uns während unserer Kindheit Lebensluft bedeutete. Daß es mit Marcus nicht gut stand, wurde nicht erwähnt, daß ich in einer vollkommen glücklichen Ehe lebe, vorausgesetzt.

Es war viel Hoffen, Wünschen und Planen in der Luft. Vater gedenkt ebenfalls in den Badeort Schlierke überzusiedeln, wo er vor zweiundsechzig Jahren in die Volksschule gegangen ist. Er rückte mit der Frage heraus, ob ich nicht in Schlierke ein gewisses kleines Haus mit Garten, natürlich auf meinen Namen, erwerben und ihn und die Mutter hineinsetzen wolle? Er nannte den Preis, und ich sagte zu. Es war kein geringer Augenblick, die Freude zu fühlen, die man erregt hatte und die mein Vater unter dem ihm eigenen gemessenen Wesen doch nicht zu verbergen verstand.

Kurz, es war Liebe, Erneuerung, irgendwie Jugend und Neubeginn in der Luft. Die Gläser wurden geleert und gefüllt und auf das Leben im neuen Hause angestoßen.

»Wundervoll«, sagte meine Schwester, »wie wir nun alle wieder in ein und derselben Gegend der alten Heimat landen werden! Vater und Mutter, Tante Henschke und ich in Schlierke unten, du in Grünthal mit Weib und Kind und außerdem Julius mit seiner lieben Lore.«

Man lobte die schöne Landschaft der bergigen Gegend. Man hatte den kleinen, freundlichen Badeort, Mutter erreichte in zwei Minuten die Promenade. Dort konnte sie, wenn sie wollte, täglich sitzen und im Freien schöne Musik hören. Es war ein hübsches Theater da. Man trank seinen Kaffee in den Anlagen mit dem Wall des Gebirges vor Augen.

Wie sehr ich doch mit solchen Plänen und Aussichten einverstanden bin! Wie sehr ich sie zu den meinen mache! Bald, als wäre ich noch das Kind im Elternhaus, bald, als wäre ich Vater und Mutter selbst und ginge daran, mir einen friedlichen Lebensabend vorzubereiten. Wir haben eben trotz aller Eruptionen und Kämpfe innerhalb der Familie einen ausgesprochenen Familiensinn. Bei unserer etwas aus dem Durchschnitt fallenden Art sind wir mehr als andere auf uns angewiesen.

»Paßt auf, es wird gut werden«, sagte meine Schwester. »Paßt auf, es wird eine glückliche Zeit werden. Es ist das Beste, was wir tun konnten. Und paß auf!« sagte meine Schwester zu mir, »auch du mit Melitta und den Kindern, ihr werdet bald Dresden satt haben und in das schöne, schöne Grünthal zurückkommen.«

»Ich bin froh«, sagte der Vater, »mit Mutter einen Platz zu finden, von dem uns niemand verjagen kann und wo wir in Frieden die paar Jahre, die wir etwa noch zu leben haben, verbringen können.« – Und auch ich, wie gesagt, bin mit mir zufrieden und mit dem, was zu tun mir in dieser Sache zugefallen ist: ein langes Leben voller Mühen und Sorgen liegt hinter meinem Elternpaar, und ich bin vom Schicksal berufen, ihnen dieses mühevolle Dasein durch einen abendlichen Glanz zu verklären.

 

Grünthal, am 28. März 1896.

Ich bin heraufgekommen, um einmal wieder nach dem Rechten zu sehen. Ein Teil des Hauses wird noch immer von Julius und seiner Frau bewohnt. Die Räume unsrer alten Wohnung sind unverändert geblieben. Die Frau des Hausmannes hat sie in Ordnung gebracht und mein Bett überzogen.

Ich fange mit solchen nebensächlichen Umständen an, weil ich ruhig werden will. Denn was ich hier mit meinem Bruder und meiner Schwägerin erlebte, war sicher nicht das, was ich gesucht habe. Ich bin auch im Grunde gar nicht hier, um nach dem Rechten zu sehen. Ich wollte ein oder zwei besinnliche Tage in dem von mir so geliebten und mir so werten Hause zubringen.

Auch darum kam ich natürlich herauf, weil ich mit Vater in Schlierke, also in nächster Nähe war. Das Haus ist gekauft, und Vater ist nach Liegnitz zurückgereist.

Der Empfang, der mir gestern gegen Mittag durch Bruder und Schwägerin zuteil wurde, ist wohl unter allen, mit denen man mir jemals begegnete, der frostigste. Schließlich war ich im eigenen Haus. Ich hätte sonst folgern müssen, mein Besuch sei hier unwillkommen und mir liege es ob, durch schleunigstes Schließen der Tür von außen diesem Umstand Rechnung zu tragen.

So weit geht meine Feinfühligkeit nun freilich nicht.

Es stürmt, es regnet, es schneit dazwischen, es ziehen Nebel, aber schließlich sitze ich in meinem lieben, alten, geheizten Arbeitsraum und habe mir von der Hausmannsfrau einen Grog brauen lassen.

Ich konnte natürlich nicht verstehen, wieso ich einen solchen Empfang verdient hatte. Er stellt im übrigen eine Erfahrung dar, auf die ich durch keinen einzigen Präzedenzfall im Verkehr mit meinen Geschwistern vorbereitet bin. Schon als ich das Mittagessen am Tisch meines Bruders genießen mußte, konnte ich mir ohne Schwierigkeiten einbilden, ich sei ein seinen Freitisch hinunterwürgender Bettelstudent. Beinahe hätte ich alles wieder herausgegeben.

Ich wurde belehrt: Julius sei nun in meinem Hause an Ruhe gewöhnt. Auch sei er in eine Arbeit vertieft, deren Mißlingen er fürchte, sofern er gerade jetzt gestört werde.

Mein Bruder leidet an einer ungewöhnlichen Reizbarkeit. Ich bin ihm in der öffentlichen Geltung ein wenig vorausgeeilt, trotzdem er, als der Ältere, immer, wenn auch im ganzen mit Sympathie, auf mich herniedergesehen hat. Schon dadurch ist sein gutes Verhältnis zu mir gestört, verkehrt und verwandelt worden. Er hat mich gestützt, mich gefördert und in jeder Weise ermutigt, solange ich unterstützungs-, förderungs- und ermutigungsbedürftig war: als ich es plötzlich nicht mehr war, konnte man sehen, daß dieser Umstand schwere Verwirrungen bei ihm anrichtete.

Ohne Ehrgeiz kein irgendwie geartetes Wirken in der Welt. Ehrgeiz ist eine Kraft oder Leidenschaft, welche teils lockt, teils mit der neunschwänzigen Katze vorwärtstreibt. Mit der neunschwänzigen Katze wird mein Bruder Julius erbarmungslos vorwärtsgetrieben, seit ich ihm einige Nasenlängen zuvorgekommen bin.

Schon durch meine Erzählung von dem Hauskauf, der soeben zustande gekommen war, hatte ich ihn aufs schwerste gereizt. Als ich voraussetzte, er werde sich darüber freuen, war ich töricht genug, die unzähligen Wucherungen seines Ehrgeizes nicht in Betracht zu ziehen. Er neidete mir den Augenblick, wo ich etwas Gutes für unsere Eltern hatte tun können: was er nicht getan hatte und auch nicht hätte tun können, aber doch leidenschaftlich gern getan haben würde.

Er gönnte mir nichts, weder äußeren noch inneren Gewinn, was sich aus den besonderen Glücksumständen ergab, durch die mich das Schicksal vor ihm – ungerecht, wie immer! – auszeichnete. Er wollte nicht nur der bessere Gelehrte, Fachmann und Praktiker sein, sondern auch der bessere Vater, Gatte, Freund, Bruder und Sohn. Bruder allerdings nicht auf mich, sondern auf meine anderen Geschwister bezogen.

Seine Frau leidet zwar an alledem: das gequälte, gepeitschte und reizbare Wesen meines Bruders macht auch ihr das Leben nicht leicht. Die Schläge der neunschwänzigen Katze aber fühlt sie womöglich noch schmerzhafter, weil sie von ihnen, aus Liebe zu meinem Bruder, in meinem Bruder noch stärker als er getroffen wird.

Ob meine Schwägerin Lore deshalb zu einer wirklichen Abneigung gegen mich übergegangen ist, weiß ich nicht. Das Auge des Wohlwollens schenkt sie mir jedenfalls nicht.

Nun, ich glaube, ich kann mich allmählich dem Kern meines heutigen Themas annähern.

Nachdem sich mir der Vormittag so wenig erfreulich gestaltet hatte, erlebte ich den eigentlichen Widersinn erst am Nachmittag.

Ich schäme mich, ihn erlebt zu haben, und noch mehr, ihm in keiner Weise durch Ruhe und Haltung gewachsen gewesen zu sein. Der wäre kein Mann, der sich zum zweiten Male so verhalten würde, aber auch der wäre kein Mann, der nicht den Mut hätte, sich die ganze Wahrheit einzugestehen.

Mein Bruder hat mit dem Vermögen seiner Frau, wie sich bei dem Vorfall gestern nachmittag herausstellte, noch weniger gut gewirtschaftet, als ich vermutete. Die Art, wie er um einen Teil seines Kapitals gekommen ist, hängt zweifellos mit einer edlen Gesinnung zusammen, die ihn seinen Freunden gegenüber allzu freigebig macht. So hat er auch an Marcus jüngst wieder mehr als ich getan. Gestern nachmittag nun wurde von ihm eine sehr erhebliche Summe eingefordert, für die er im Interesse irgend jemandes Bürgschaft geleistet hat. Natürlich, daß er nicht aus noch ein wußte.

Ziemlich verändert, versöhnlich gestimmt, trat er am Nachmittag bei mir ein. Und ohne viel Umstände, indem er eine hohe Geldsumme und den Zahlungszwang als eine Kleinigkeit hinstellte, verlangte er mit der Selbstverständlichkeit des älteren Bruders, daß ich einspringen sollte. Davon konnte nun nicht die Rede sein.

Das Vermögen meiner Frau gehört ihr. Wenn es angegriffen ist, so bin ich mit Erfolg dabei, das Fehlende zu ergänzen. Gerade wie die Dinge nun einmal liegen, muß die materielle Freiheit meiner Frau besonders gesichert sein. Natürlich die Kinder einbegriffen.

In aller Ruhe erklärte ich also meinem Bruder, daß ich eine Möglichkeit, ihm aus meinen Mitteln zu helfen, nicht ins Auge fassen könne. Mein Bruder ging, und ich setzte mich wieder an meinen Tisch, um eine gewisse Arbeit fortzusetzen.

Dabei überlegte ich mir, wie meinem Bruder auf andere Weise etwa zu helfen sei. Er war ja durchaus nicht mittellos. Das Zugebrachte der Frau mußte zum großen Teil noch vorhanden sein, aber wohl auf ungeschickte Weise festgelegt. Er hatte davon gesprochen, ich solle auf das Grünthaler Haus eine Hypothek nehmen. Aber gerade in diesem Hause liegt ein Teil des Vermögens meiner Frau, und ich hatte kein Recht, dies Vermögen durch eine Hypothek zu halbieren, indem ich den Erlös im Sinne meines Bruders auf Nimmerwiedersehen hinauswürfe.

Über dies alles dachte ich nach, als ich Türen schlagen und trampeln hörte und fast im selben Augenblick geballte Fäuste und, ich möchte sagen, schäumende Mäuler – ich hatte mich unwillkürlich vom Tisch erhoben – dicht unter meinen Augen sah. Das waren keine gesunden Menschen, sondern es waren Tobsüchtige im Zustande sinnloser Raserei. Mein Bruder brüllte, schrie, spie, meine Schwägerin kreischte, krähte, spie und schrie. Ich habe manches gesehen, aber ich ahnte nicht, daß es einen solchen Zustand gibt, geschweige daß Menschen in ihn geraten können.

Einen Augenblick fragte ich mich, ob denn dieser entstellte Mensch mein Bruder sein könne, er, der über Philosophen und Forscher, von Thales bis Kant und Fichte herauf, so schön zu sprechen verstand! ob diese Frau meine Schwägerin sei, die ich, sie mochte jetzt fünfundzwanzig sein, als ein fast unirdisch zartes, achtzehnjähriges Mädchen gekannt hatte, deren größter Reiz ein feines, in sich gekehrtes Wesen war.

Die ganze Erscheinung, die ich so plötzlich und gänzlich unerwartet vor mir sah und für die ich eine Erklärung noch jetzt nicht finde, gewann für meinen Blick etwas an sich so Grausiges, daß eine Art panischer Schrecken mich anpackte. Hier hatten sich zwei mir im Grunde liebe Menschen in zwei Unholde verwandelt: es schien da plötzlich eine Verkleidung von zwei wirklichen Höllenboten gefallen zu sein, die sich bis dahin nur zweier Golems bedient hatten, meines sogenannten Bruders und meiner sogenannten Schwägerin. Was als Grimasse, Entstellung, keuchender, wutspeiender Haß, Drohung, tödlicher Blick, Gewalttätigkeit, ja Mordsucht auf mich eintobte, blieb eine Unerklärlichkeit, die mich in eine bis dahin nicht gekannte Bestürzung versetzte. Ich glaube, es war der Grund meines Grauens, daß ich gleichsam zwei rasende Leichname mit ertöteten Seelen vor mir sah, die ich dereinst im Leben gekannt und geliebt hatte. Dann war es, als ob das gleiche, was diese Seelen getötet hatte, auch meine Seele erwürgen wolle, worauf auch ich die Besinnung verlor und vom Wahnsinn der Angst ergriffen wurde. So wich ich mit allen Zeichen läppisch-kindischer Todesangst an die Wand zurück, und mein Arbeitszimmer, das Zimmer meiner Entwürfe und Werke, war für Minuten in den Käfig eines Tollhauses umgewandelt.

Ich traf neulich einen befreundeten Künstler, der das Erdbeben auf der Insel Ischia erlebt hatte. Er saß mit Freunden beim Wein um den Tisch, als der Tisch mit den Freunden in einem sich plötzlich öffnenden Abgrund verschwand: er selbst blieb an dessen Rande zurück und hat die Freunde nie wiedergesehen. »Sehen Sie«, sagte er mir, als wir im Gewühle der Linden hinschritten, »hier, dort, da, oben, unten, nirgend, wo ich auch gehe, stehe, liege, habe ich seit jenem Erlebnis noch das Gefühl der Sicherheit. Ich werde es nie zurückgewinnen. Ich werde nie wieder die Erde so sehen, wie ich sie vor dem Ereignis gesehen habe.« – Ebensowenig werde ich meinen Bruder und meine Schwägerin, wie den Menschen überhaupt, jemals wieder so sehen, wie ich ihn vor meinem gestrigen Erlebnis sah.

Ich habe den Menschen kennengelernt, wie er außerhalb alles dessen sein würde, womit die sogenannte Zivilisation seine Seele frisiert, parfümiert, wäscht, schminkt, kastriert und kostümiert, womit sie seine Seele im ganzen und einzelnen vor allem maskiert. Mit einem Ruck versank mir gestern die ganze große Lüge der Zivilisation, geschweige daß noch irgend etwas sichtbar, riechbar, hörbar, schmeckbar und tastbar an Kultur erinnert hätte.

Ich fürchte, ich fürchte, daß mein Bruder Julius und meine Schwägerin heute in meinem Innern durch Selbstmord geendet sind.

Mit welchem unerwarteten Resultat verlasse ich diese Gegend, die uns im Dämmer der Liegnitzer Weinstube wieder einmal so allversöhnlich und freundlich-lockend vorschwebte!

 

Bad Schlierke, am 30. April 1896.

Das ist es also nun, was ich in dem für meine Eltern neuerworbenen Hause zuerst erleben sollte: Stunden bei verschlossener Tür, während deren ich, ein tätiger, vierunddreißigjähriger Mann, mir nur immer, um nicht hörbar zu werden, das Taschentuch wie einen Knebel in den Mund stoßen mußte. Ich will ja nur eine Art Spiegel für mich selbst aufbewahren: weshalb sollte ich denn nicht von Weinkrämpfen reden, die mich geschüttelt haben?! In diesem Augenblick bin ich ausgewunden und ausgeweint.

Weder die Griechen noch die Römer hielten das Tränenvergießen für unmännlich. Unsere Zeit meint in dieser Beziehung männlicher und würdiger geworden zu sein, aber sie ist nur stumpfer geworden.

Kurz und gut, ich habe aus Herzensgrunde geweint und geweint und schäme mich nicht, geweint zu haben.

Was aber ist davon die Ursache?

Daß Anja nach Hannover gegangen ist!

Wenn Anja in Berlin ist und ich in Dresden, in Liegnitz oder hier, hat mich niemals ein solcher Paroxysmus übermächtigt. Ich habe nie mehr als das natürliche, durchaus nicht unerträgliche Trennungsweh gefühlt, das mich an gelegentlich heiterem Wohlbehagen nicht hindern konnte.

Heut bin ich gebrochen, fühle unerträglichen Schmerz in der Brust.

Anja und ich haben vor der Trennung mehrere Tage in der Verborgenheit einer kleinen Stadt gelebt. Irgendwie hatten wir beide das Gefühl davon, daß der nahe Abschied ein anderer als alle früheren sein sollte. Es war ein Gefühl, das den Stunden, die wir durchlebten, durchliebten, durchlitten, eine schwer erträgliche Schmerzenswollust gab. Endlich brachte ich Anja zur Bahn. Der Zug rückte an und bewegte sich, ich folgte ihm qualvoll und trostlos mit den Augen. Als ich aber den Bahnsteig verlassen und im Freien eine nahe Böschung erstiegen hatte, schob sich der Zug noch einmal zurück, und ich konnte Anja, die mich nicht sah, beobachten, wie sie, allein im Coupé, sich über ihr Handtäschchen bog, sich schneuzte und die Augen trocknete.

Abermals mußte ich Anja sehen, die mich wieder nicht sah und, allerlei ordnend, sich immer noch, wie es schien, mit ihren Augen zu schaffen machte, als der Zug nun wirklich seines Weges fuhr. Daß ich sie sah und nicht mehr von ihr gesehen wurde, daß mir also solcherart unsere Zukunft, das Einander-Gestorbensein im Leben, im Zufallssymbol vor Augen stand, raubte mir nun meine Fassung durchaus.

Denn das ist, wie gesagt, der Punkt: es liegt nicht einer der bei uns üblichen Abschiede hinter mir, sondern, obgleich unausgesprochen, ein anderer. Unausgesprochenes, Unaussprechliches ist es, was diesen Trennungsaugenblicken ihren Charakter gab. Wir wußten, ohne es einzugestehen, daß diese Lösung den Beginn unseres Auseinanderlebens bedeuten sollte und jeder von uns einen anderen Weg beschritt: ich rückwärts gewandt, Anja dagegen in die weite, feindliche Welt.

Was hat uns zu diesem Schritte gedrängt? Das aussichtslose und mühselige Einerlei unseres Provisoriums. Aber wurden wir denn überhaupt dazu gedrängt? Gott weiß, wie es kam, daß wir eines Tages die Möglichkeit einer Lockerung unserer Bindung erörterten. In alle Ewigkeit konnte es nicht so weitergehen. Wessen Geduld aber, als wir bis dahin gelangt waren, Anjas oder meine, mag zuerst gerissen sein? Wir stellten uns eine furchtbare Aufgabe.

Der heimliche Wühler war ich, wie ich fürchte. Die Idee hatte sich nun einmal in mir festgesetzt, sie hatte sich in mich eingenistet. Das ganze Frühjahr hindurch bedrängte sie mich, es war, als sei ich von ihr besessen. Am Ende hatte die Krise jetzt ihren Abschluß erreicht, überraschenderweise, vielleicht wie etwa eines Tages plötzlich das Fieber eines Kranken weicht und die Genesung gesichert ist. Es mochten auch andere Ursachen mitwirken. Der Niederbruch meines Bruders in Bußbek rief meine familienerhaltenden Instinkte auf. Das wankende Haus sollte wenigstens, soweit ich dazu mitwirken konnte, einen unversehrten Pfeiler behalten. Ich empfand überdies eine gewisse Unlust, in der alten Weise fortzuschlingern, ein Nicht-mehr-Wollen, gipfelnd in einem jähen Eigensinn.

Damit bin ich dem Tiefpunkt, dem äußersten Tiefstand meines Wesens in dieser Sache nahegekommen. Die Übersiedlung Anjas nach Hannover bot mir die Gelegenheit zu einer ganz gewöhnlichen Niedertracht. Jetzt konnte man Anja ganz einfach abschieben. Jedermann wäre damit befriedigt, und die ganze ärgerliche Angelegenheit würde im Sande versickert sein.

Ich wollte Anja kaltblütig aufopfern. Ich zeihe mich eines Aktes bewußter Brutalität, der überdies noch Verrat und schnödester Undank ist. Einen Fall dieser Art gibt es in meinem sonstigen Leben nicht. Aber er hat sein Gutes gehabt. In diesem Augenblick erweist er selbst seine Undurchführbarkeit.

Ich öffnete meiner guten Mutter, die wohl mein krampfhaftes Schluchzen gehört hatte und zu mir hereinwollte. Eh sie begriff, worum es ging, goß ich einen Schwall von empörten, entrüsteten, verzweifelten Worten über sie aus, der sie wohl tiefer betroffen hätte, wenn sie nicht ähnliche Ausbrüche bei ihren Söhnen öfters erlebt hätte.

Ich tat, da sie die Repräsentantin der Familie war, als ob sie an dem Versuche schuld wäre, den ich um dieser willen unternommen hatte. In Übertreibungen ohne Maß warf ich ihr, die von der Sache nichts wußte, vor, man treibe mich in Zugeständnisse hinein, die einem Menschen wie mir das Leben zur Hölle, ja überhaupt unmöglich machen konnten. Sie wollte wissen, auf welche Fälle das zuträfe. Auf eine doppelte Hinrichtung trifft es zu, tobte ich, auf meine und Anjas Opferung!

Sie konnte mit dieser Eröffnung nichts anfangen.

»Ihr verlangt«, fuhr ich fort, »daß ich in der Gabeldeichsel meine Familie durch die Welt ziehe, an den Göpel gespannt, ihr Brotgetreide dreschen soll. Dabei muß ich immer und immer im Kreise herumgehen, und man legt mir noch Scheuklappen an. Aber ich bin kein versklavtes Tier, weder ein Ackergaul noch ein Packesel, ich bin sozusagen Gottes Ebenbild, Ställe sind für mich keine Wohnungen!«

»Wieso denn Ställe?« fragte die Mutter.

»An den Göpel, in die Deichsel, in die Sielen, an die Zugblätter, in den Stall wollt ihr mich. Aber ich bin an Freiheit gewöhnt, bin an Steppen und Höhen gewöhnt, bin nicht als Gaul, sondern höchstens als Reiter an den Sattel gewöhnt. Ich habe Größeres vor als ein Dasein mit Kachelofen und Bratäpfeln. Ich bin anderer Dinge gewürdigt worden, schmeckend, riechend, sehend, hörend, als euch allen miteinander, Melitta inbegriffen, auch nur zu ahnen gegeben ist!«

»Nun ja, das mag sein«, sagte meine Mutter. »Aber was Melitta angeht: versündige dich nicht.«

»Wer spricht davon, wer sich an mir versündigt? Wenn ich sterbe, begräbt man mich. Es wird niemand länger als fünf Minuten beschäftigen, die Frage zu beantworten, woran ich gestorben bin, und wenn ich an gebrochenem Herzen gestorben wäre.«

»So leicht stirbt man an gebrochenem Herzen nicht. Im übrigen aber sorge nur, daß nicht etwa jemand anders auf diese Art sterben muß.«

»Mag sterben, wer will, das ist mir gleichgültig. Diese ewigen Drohungen, Warnungen und Beängstigungen schrecken mich nicht. Anja ist auch seit dem Augenblicke tot, an dem sie mich aus dem Gesichtskreis verloren hat. Und wie du mich siehst, bin ich ebenfalls tot, gute Mutter, und wenn ich noch so sehr schreie und mit den Armen herumfuchtele.«

Die Mutter strich mir mit ihren gichtischen Händen über den Kopf und sagte: »Du hast es nicht leicht, lieber Junge.«

»Alles hängt, saugt, zehrt, reißt an mir. Alle tun es, nur Anja nicht. Und gerade sie habe ich fortgestoßen. Alles hängt sich mit stummen Bitten an mich, will mich belasten, macht mir Vorschriften. Anja allein macht mir keine Vorschriften, bittet um nichts und belastet mich nicht. Und eben deshalb wird sie geopfert, sie, die allein unter allen meinen Schritt beflügeln, meine Seele begeistern, mein Gemüt überschäumend froh machen kann.«

Was meine Mutter darauf erwiderte, hätte wohl einen gröber besaiteten Menschen, als ich bin, zur Besinnung gebracht.

»Siehst du, ich habe Vater abgeraten. Das Haus ist hübsch, er freut sich darüber, eine kleine Gartenwohnung hätte mich aber ebenso glücklich gemacht, und das hätte dich doch wenigstens nicht noch von unserer Seite mit einer neuen Last bedrückt.«

Ich bat meine Mutter um Entschuldigung.

Es schlug mir aufs Herz, wie sehr dieser erste, gleichsam erinnyengepeitschte Besuch ihr die Freude daran und an meiner Wohltat verbittern mußte.

Ich wurde ruhig, und da mein Vater abwesend war, hatte ich Zeit, ihr die Sachlage zu entwickeln.

Ich gab ihr von Anjas Wesen eine Schilderung, erzählte von ihrer Sprödigkeit, ihrer Tapferkeit, aber auch von der Ergebenheit, durch die sie gänzlich in mir aufgehe. Meine Liebe sei, sagte ich, zu einem Teil auch väterlich. Sie in Hannover am Theater zu wissen bedeute Unruhe und Kummer für mich, nicht so aus moralischen Gründen, als weil mir bekannt sei, welches Martyrium sich mit dem Bühnenberuf verbinde. Und übrigens wisse ich eben einfach nicht, wie ich leben solle ohne sie.

Die Mutter sagte: »Mein guter Junge, du tust mir ja leid. Ich wünschte, meine drei Söhne hätten weniger Begabung und weniger zarte Seelen als Lebensmitgift bekommen. Ihr seid leider zum Glück nicht gemacht, Ruhe und Frieden gibt's für euch nicht. Das Wort Behaglichkeit oder gar Gemütlichkeit hat für euch jeden Sinn verloren, und mein himmlischer Vater weiß, in wie mancher Nacht und wie manchem Gebet ich ihn um das, was euch fehlt, gebeten habe. Ich weiß nicht, was aus alledem noch einmal werden wird. Da liegt das Gold, vor euren Füßen liegt das Gold, ein gutes Geschick hat es euch vor die Füße gelegt, aber ihr mögt es nicht aufheben. Statt dessen ist es, als flöget ihr rechts und links vom Wege auf alles, worin ein Unglück oder gar Unheil stecken kann.«

Ich warf dazwischen: »Mutter, ein großer Dichter sagt: Nichts vermag jemand, der kein Unglück erfahren hat.«

»Ach, geh mir mit deinen großen Dichtern. Diesem Satze nach gibt es ja überhaupt keinen Menschen, der nichts vermag, und zwar, weil es keinen gibt, der kein Leid erfahren hat. Und ich zum Beispiel, lieber Titus, müßte wer weiß wie viel vermögend sein, wenn das Wort deines großen Dichters zuträfe.

Mein Vater und meine Mutter liebten einander noch im siebzigsten Jahr mit der innigsten Zärtlichkeit. Nie haben wir Kinder etwas anderes in ihrem Zusammenleben gesehen als Harmonie. Wir lebten bescheiden, lebten zufrieden, und keiner dachte daran, aus dem schlichten bürgerlichen Kreise auch nur in Gedanken herauszutreten. Für alles das habt ihr keinen Sinn. Nichts ist euch heilig, alles wollt ihr von frischem durchdenken. Ihr leidet an einer schrecklichen Ruhelosigkeit. Da fandet ihr eure lieben Frauen, es fiel euch gleichsam ein sonst nur in Märchenbüchern vorkommendes Glück in den Schoß: Marcus, Julius und du, ihr wurdet auf einmal sorgenfrei. Eure Frauen waren unabhängig und wohlhabend, eure Frauen waren brav, lieb und gut, ihr konntet euch keine besseren wünschen. Das ist also, dachte man, ein Wink von Gott, jetzt würdet ihr auch zu Ruhe und Frieden kommen. Nun sieh, was aus Marcus und seiner Familie geworden ist: sie wissen nicht, wie sie satt werden sollen. Julius ist durch sein unbefriedigtes Streben unglücklich. Materiell aber wird er möglicherweise eines Tages dorthin gelangen, wo Marcus gelandet ist. Und du? Aber wie es mit dir steht, mußt du ja selbst wissen!«

Nach kurzem Stillschweigen fuhr meine Mutter fort:

»Dir ist es in einem, ist es im anderen Sinne geglückt. Du hast auch mit deiner Arbeit Erfolg, deine Sachen bringen dir schöne Vorteile. Aber nun kehrst du dich plötzlich gegen dich, erschwerst deine Aufgaben, gefährdest durch dein leidenschaftliches Wesen und durch das, was du dir aufbündelst, alles, was du hast und bist!«

Ich habe die Worte meiner Mutter ungefähr so niedergeschrieben, wie sie gesprochen worden sind. Ich sah mich durch sie getröstet und habe Fassung wiedergewonnen.

 

Grünthal, am 3. Mai 1896.

Pfingsten, das liebliche Fest, ist gekommen. Insofern wenigstens, als Melitta und die Kinder bereits zu den Pfingstferien hier eingetroffen sind. Leider steht Melittas immerhin sichtbare Pfingstfreude, die Heiterkeit meiner Jungens, das überwältigende Grünen und Blühen in der Natur zu meinem Innern in peinlichem Gegensatz. Es ist unverkennbar, Melitta glaubt wieder einmal, es sei durch Anjas Entfernung nach Hannover ein wichtiger Schritt nach vorwärts geschehen, natürlich im Sinne ihrer Hoffnung. Sie ahnt nicht, wie es in Wahrheit damit beschaffen ist.

Wir teilen noch immer mit Julius das gleiche Haus. Trotzdem unsere Wohnungen eng beieinanderliegen, vermeide ich nach dem, was neulich geschehen ist, eine Begegnung mit ihm und Lore nach Möglichkeit. Wie seltsam, bis zu welchem Grade der Kälte unsere Beziehung gediehen ist. Als Knaben lebten wir fast wie Zwillinge, Zwillinge freilich mit einem Altersunterschied. Ich litt unter dem älteren Bruder, wie ein Zwilling wohl kaum unter einem Bruder gelitten hätte. Ich litt manchmal furchtbar unter ihm. Da man uns gemeinsam nach Bunzlau auf ein und dieselbe Schule, in ein und dieselbe Pension, in ein und dieselbe Stube gesteckt hatte, so mußten sich alle die Übel ergeben, die bei engem Zusammenwohnen unvermeidlich sind. Auch die Schrecken wie manchen Ehelebens lassen sich zurückführen auf räumlich beengtes Zusammensein.

Es kam dann Gott sei Dank eine andere Zeit: Studenten- und Studienjahre, in denen aus dem ungleichen Brüderpaar ein wirkliches Freundespaar geworden war. Leider ist nun auch dieser Zustand vorüber.

Wäre es anders, ich würde die fortwährenden Kämpfe meines Gemütes nicht so allein auszutragen haben. Oft sind sie zu physischen Martern gesteigert, und ich bin nahe daran, den Versuch zu machen, eine Art Befreiung herbeizuführen, indem ich meine Seele in die des Bruders ausschütte. Dann aber muß ich mir jedesmal eingestehen, die Seele meines Bruders Julius, seine Freundschaft für mich sind tot.

Hat mich Julius nicht geliebt, auf alle mögliche Weise gefördert, sich nicht beinahe vernarrt in mich gezeigt? Hat er nicht Studenten und Professoren begeistert auf mich hingewiesen? Hat er nicht ihnen und mir unentwegt meinen kommenden Ruhm, wie er es nannte, prophezeit? und als mein erstes Werk entstanden war, hat er nicht in Briefen an mich frohlockt und mich beglückwünscht aus Herzensgrund? Und nun, kaum ein halbes Jahr, nachdem mein Name in der Öffentlichkeit ein wenig genannt wurde, dieses willensstarke, kalte, entschiedene Abwenden!

Weiß mein Bruder, gegen welche Lasten ich mich zu stemmen habe, wenn ich nicht erdrückt werden will? Er weiß es nicht, und er will es nicht wissen. Ich bin nicht mehr: er hat mich in der eisigen Taygetosschlucht seiner Seele abgewürgt. Mein Bruder ist zum Spartaner geworden. Er hat keinen Sinn, weder Auge noch Ohr noch Gefühl mehr für mich. Er würde den Schuß nicht hören, wenn ich auf den Gedanken käme, in den Tod zu gehen.

Gott weiß es, ob ich die Wonnen dieser Pfingstzeit auch nur noch durch einige Tage, ohne verrückt zu werden, aushalte. Ich möchte fort. Ich möchte alle diese zerrenden, zupfenden, reißenden, schneidenden, Hohn oder Neid blickenden Mächte, Bindungen, Anmaßungen abschütteln, dieses klebrige, dumpfe, muffige, feindlich-freundliche Familiensein, dieses glühende Netz, in das verwickelt, wir blöde und sinnlos herumstolpern.

Was gehen mich Melittas bettelnde Blicke an? Ich bin ausgeraubt. Kann ein Ausgeraubter, ein Bettler etwas hinschenken? Ich bin leer. Körper und Seele sind ausgeweidet. Wenn etwas darin ist, so ist es außer dem Nichts nur der Schmerz. Außer dem Nichts nur die Schmerzensunendlichkeit. Wozu soll ich essen, wozu soll ich trinken? Wozu soll ich Luft schnappen, wo keine ist? Wozu soll ein Toter vor Toten Grimassen und Worte machen?

 

Schmiedeberg-Stern, am 7. Mai 1896.

Ich bin hierher nach einer mehrtägigen Gebirgswanderung gelangt, die ich mit Freunden unternommen habe: Professor S., Dr. T. und einige andere Herren hatten sich in Grünthal zusammengefunden, so unternahmen wir diese Bergpartie.

Die Zeit stand still. Sie wollte nicht fortschreiten. Ich konnte kein Ende der acht oder zehn Ferientage absehen, die ich noch vor mir hatte. Die Beengung wuchs. Ersticken oder durchbrechen: eines von beiden mußte binnen kurzem geschehen sein. Die Lüge, in der ich lebe, bei diesem Zustand meines Innern aufrechtzuerhalten, wurde schwerer und schwerer mit jedem Augenblick. Ich mußte mich stellen, als ob ich mit Leib und Seele bei Weib und Kindern sei, während doch nichts als mein Körpergewicht noch zugegen war. Es war keine Sehnsucht mehr, was mich zu der fernen Geliebten zog, mir wurde vielmehr die Seele von einer unwiderstehlichen Kraft erbarmungslos aus dem Leibe gezogen. Dabei war ich voller Ängste um sie und Bangigkeit.

Ich sagte mir, wenn ich mich dieser Fußpartie anschließe, so werde ich zwei, drei Tage Zeit im Handumdrehen getötet haben. Ich werde den Teufel betrügen und dreien seiner alphaften Höllengeburten, die er mir in den Weg stellte, ein Schnippchen schlagen. Diesen Eisen-, Phosphor-, Schwefelgeruch, den sie mir zu atmen geben, werde ich in reine Bergluft umwandeln. Auf den Höhen verliert sich wohl auch der Rost- und Stahlgeschmack, der mir widerlich in der trockenen Mundhöhle sitzt. Übrigens bin ich doch wohl körperlich krank. Ich sehe wirklich nicht nur auf den Photographien höchst jämmerlich aus, sondern auch hier im Spiegel meines Hotelzimmers. Mein Spiegelbild zeigt einen abgemagerten, ausgemergelten Mann, dessen Augen tief in den Höhlen liegen. Sein Gesichtsausdruck ist müde und trübselig. Allzu deutlich zeigt sich unter der schlaffen Haut die Schädelform. Über den Zahnreihen schließen zwar die Lippen noch, aber es fehlt am Ende nicht viel, so sage ich mir, und dieses fleischlose Haupt könnte einem Künstler als Modell dienen, der einen Totentanz malen will.

Wenn ich nun Lust und Muße hätte, könnte ich meine Erfahrungen darüber ausführlich behandeln, inwieweit der Körper auf die Seele, die Seele auf den Körper wirken kann. Aber ich mag mich auf alle die Subtilitäten, die darüber im Schwang gehen, nicht einlassen. Ohne alle Frage ist jedenfalls, gleichviel ob man Seele und Körper als getrennt oder als Einheit auffassen will, daß etwas Immaterielles, wenigstens etwas, das sich den Sinnen entzieht, vermögend ist, schwere physische Störungen zu verursachen. Oder welche materiellen Qualitäten will man den drei Worten: Sorge, Kummer, Gram zusprechen, von denen eines allein den stärksten und gesündesten Körper zugrunde richten kann?

Oder könnte in meinem Falle ein Arzt helfen? Gesetzt, ich ließe einen Arzt rufen. Ich sagte ihm etwa so und so und das und das. Etwa diese und jene Beschwerden fühle ich. Ich esse nicht, und wenn ich esse, so widersteht es mir, und gelegentlich wird mir übel. Was ich gegessen habe, verdaue ich nicht. Ich bekomme davon nur Sodbrennen und fortgesetztes Aufstoßen. Ich schlafe nicht, das heißt, ich lege mich todmüde zu Bett, verliere das Bewußtsein, und wenn ich erwache, liegen zwei Stunden Schlaf hinter mir. Den ganzen übrigen Teil der Nacht aber bin ich den Dämonen meiner Sorgen, meines Kummers, meines Grams ausgeliefert. Ich habe ein peinigendes Gefühl auf der Brust. Die Art des Schmerzes ist nicht zu beschreiben. Er ist nicht stillstehend. Man könnte ihn mit einem Schmerzgewölke vergleichen, das sich ausdehnt und zusammenzieht und auch wohl einmal für ein paar Stunden verschwinden kann. Darauf verschriebe mir der Arzt wahrscheinlich Natron oder Salzsäure, er drückte mir sein Lieblingsschlafmittel in die Hand und vielleicht eine zweite Chemikalie, die bestimmt wäre, auf das Sonnengeflecht oder irgendeinen anderen Nervenkomplex zu wirken. Seine Behandlung würde vollständig nutzlos sein. Die Salzsäure würde ebensowenig wie das Natron wirken, die Chemikalien so lange, als die Lähmungen durch sie vorhielten, aber da ich schließlich wieder aufwachen müßte oder mich durch Chemikalien endgültig abtöten, so würde bald alles wieder beim alten sein.

Sagte indessen dieser Arzt: Ich befehle Ihnen, steigen Sie sofort auf die Bahn, und verlassen Sie den Zug erst, wenn Sie in Hannover sind, alles Weitere wird sich finden: im Zug bereits wäre ich zur Hälfte, bei der Ankunft in Hannover zu dreiviertel, in der Gegenwart Anjas ganz gesund.

Habe ich nun dem Teufel wirklich ein Schnippchen geschlagen mit dieser Wanderung? Ich hätte wahrscheinlich zu Hause noch mehr gelitten. Ich leide ja schließlich am ärgsten, wenn ich, an einen Ort gebunden, meiner Ruhelosigkeit, meiner Rastlosigkeit nicht nachgeben kann. Aber der Geruch und Geschmack der Carceri – Piranesis Stiche schweben mir vor – hat sich auch auf den sogenannten Bergeshöhen nicht verloren. Ich habe mich schwatzend, lachend, Galgenhumore um mich verbreitend, hin- und fortgeschleppt, die Natur, die Gegenwart meiner Freunde, die Unternehmung als sinnlos empfunden, ja, ich war eine bloße Maschinerie, die, ich möchte sagen, einen bleiernen Tod in selbstauferlegter Tortur über die Berge von einem Ort zum andern trug.

 

Berlin, am 16. Mai 1896.

Ich sollte im Abschiednehmen doch wohl allmählich Übung bekommen. Wiederum liegen zwei Abschiede, der von Melitta und der von Anja, hinter mir. Ich hatte Melitta und die Kinder in den Zug gesetzt und bestieg selbst einen anderen, der mich zu Anja nach Hannover bringen sollte. Endlich war ich befreit, hatte aber während der Fahrt noch mit der Erinnerung an die wiederum so bedeutsam winkenden, gleichsam bettelnden Hände und Arme zu tun, die auch diesmal bei Abfahrt des Zuges mein Herz erweichen sollten. Bald aber war ich bei Anja – von der ich nun auch schon wieder geschieden bin. Der Zustand aber, in dem ich mich seit der Trennung wiederum befinde, spricht nicht dafür, daß mir Abschiednehmen eine geläufige Sache geworden ist.

Wie werde ich mich nach dem, was über mich hingegangen ist, in den platten Alltag zurückfinden? Noch schwingt mein ganzes Wesen davon. Schon auf dem Wege zu Anja, ahnte ich doch nicht, was mich erwartete. Ich spürte die Macht nicht vor, die sich an mir – sage ich zerstörend? oder sage ich beseligend? – offenbaren sollte. Das Leben mag durch und durch Offenbarung sein, aber nicht dasselbe oder gar alles wird jedem enthüllt. Die wenigsten werden in sich die Tiefen der Liebe voll erfahren. Der nehme alle Kraft zusammen, daß er nicht verkohle, wenn ihn die brennende Hand des Liebesgottes berührt.

Von Anja entfernt, stehe ich trotzdem noch mitten im Mysterium. Glaubte ich je an die Möglichkeit, Anja entbehren zu können, so bin ich eines anderen belehrt. Der Dämon in ihr hat mir seine wachsende Macht gezeigt: und er ist ein Tyrann ohne Gnade.

Scheu wie Diebsvolk trafen wir uns. Wie Tiere des Feldes, die inmitten des Straßengewühls Bestürzung und Angst befällt, suchten wir die Peripherie der Stadt zu gewinnen. Auf Feldwegen strichen wir zwischen Büschen, Bächen und Wiesen hin. Die Spannung war durch den Gedanken der Trennung unerträglich geworden. Die Lösung und Erlösung davon überfiel uns mit einer tiefen Benommenheit. Anja erzählte, was sie inzwischen erlebt hatte. Wir stapften auf Dörfer und nahe Ortschaften zu, wo wir Versteck und Obdach für die Nacht finden wollten. Und wirklich bot sich, die Nacht war bereits eingefallen, ein Gasthaus, dessen Räume von Blechmusik durchtobt waren, und jener verständnisvolle Wirt, der nicht fragt, woher und wohin.

Die Nacht ist keines Menschen Freund? – Sie war meine und Anjas Freundin, als sie undurchdringlich über uns zusammenschlug.

Die wesentlichsten Ereignisse unseres Lebens, so Geburt und Tod, liegen für uns in Dunkelheit. Wir erfahren das Tiefste, wenn der Sinn des Auges, der Sinn des Gehörs unbeschäftigt ist, wenn die Form zergeht, außer im Getast, also im Gefühl, wo dann eigene und fremde Körperlichkeit fast nur so erkannt und begriffen werden. Auch der Sinn des Geruches entdeckt sich dann, und gegenseitiges heißes Zusammenschmelzen scheint das blinde Geheimnis des Lebens aufzuschließen.

In der wahren Umarmung zweier Menschen bleibt ein Letztes immer noch unerfüllt. Hingebung des einen an den anderen will Besitzergreifung sein. Sie ist aber auch ein Versuch, sich wegzuwerfen, eines Befreiens von sich selbst. Und dieser Versuch ist von Not, Angst, Wut, ja Verzweiflung erzwungen. Man wirft sich weg, will das Andere, das Höhere, das Höchste im bloßen Genusse sein. Statt der Erfüllung aber umfängt uns am Ende Bewußtlosigkeit, und das Letzte der Schönheit, das wir für alle Zeiten uns einprägen möchten, wird nach kurzem, versengendem Aufleuchten durch das Nichts abgelöst.

Noch sind die vergangenen Nächte, noch ist die Blindheit und Betäubung dieser Nächte in mir, so daß mein äußeres Auge, ohne Verbundenheit mit meiner innersten Seele, zugleich sieht und nicht sieht oder nur seelenlose Gespenster sieht. Es war entthront, es ist in seine Hoheitsrechte noch nicht wieder eingesetzt. Noch immer herrscht das gleichsam übersichtig gewordene Gefühl. Jedes kleinste Teilchen meines körperlichen Wesens ist Medium visionärer Fühlungen, durch die ein anderes Wesen, ein lebendiges Bild deutlich gegenwärtig wird. Noch habe ich keine Beziehung zum Straßenlärm, zu den Glocken der Gedächtniskirche, die mir gegenüberliegt, menschliche Sprache vermag sich vor meinem Ohr über den Wert leeren Geräusches nicht hinauszuheben. Aber dieses Ohr liegt noch immer gepreßt an das schlagende Geheimnis einer Brust. Es kann sich an der rätselhaften Arbeit jenes inneren Lebewesens, das mit Systole und Diastole keinen Augenblick nachlassen darf, nicht satthören. Es behorcht weiter verzückt und erschreckt jenen unbegreiflichen Puls, ohne den im Himmel und auf Erden kein Leben ist.

Die meisten sind Stümper in der Liebe. Sie wissen nichts von der dunklen Erdglut, die in ihr ist. Sie ist wesentlich nächtig, irdisch, ja, mehr noch unterirdisch. Meinethalb sei der blinde Maulwurf, der im Humus Gänge gräbt, ihr Symbol. Sie ist eng verhaftet mit dem Gebiet, wo die Keime schwellen und Wurzeln fortkriechen, dem Welten, Himmel, Menschen, Pflanzen und Tiere gebärenden Mutterschoß. Ein betrogener Betrüger ist der, der in den Armen seiner Geliebten nicht ganz ein Gedanke ist: Du bist die Erwählte für mein Kind! Und ein Golem ist die Geliebte, die nicht ebenso denkt: Du bist der erwählte Schöpfer in mir, der mich zur Mutter erheben soll! Ja, so verbinden wir uns mit den Müttern. Wir sind den furchtbaren, allgebärenden Müttern nah, verbunden mit den glühenden Magmen des Erdinnern. Wer solcher Dinge gewürdigt wurde, ist in den Kern der Schöpfung eingedrungen.

Ein Letztes in der Liebe, sagte ich, bleibe unerfüllt. Deshalb ist uns beschieden, wie auch mir, immer wieder zur Qual der Entbehrung aufzuwachen.

 

Herthasruh auf Rügen, am 3. Juli 1896.

Es ist hier sehr schön. Der Vollmond steht über dem Meer, nicht über dem freien, sondern über dem Greifswalder Bodden. Es ist nachts gegen zwölf Uhr. Ich schreibe bei einem Kerzenflämmchen, das hie und da ein Lufthauch durchs offene Fenster herein in Bewegung setzt. Das Inselchen Vilm liegt mir gegenüber.

Ein Nachschlagen in diesem Tagebuch hat mich belehrt, was für Pläne ich mit dem kleinen Eiland gehabt habe. So seltsam sie immerhin auch gewesen sein mögen, daß ich nun hier bin und lebe, ist noch seltsamer. Das Inselchen ist in der Tat eine kleine Kostbarkeit: mit Bäumen in Urwaldmaßen bestanden, von milden und lockenden Fluten umspült.

Die Blätter habe ich leider nicht mitgebracht, auf denen die Niederschläge meiner amerikanischen Träumereien mit Grund und Aufriß meines Wohntempels zu finden sind. Aber ich sehe im Geist das Bauwerk trotzdem zwischen den Bäumen hindurch übers Wasser schimmern.

Was wollte ich doch in ihm verwirklichen? Ich denke, ein Stück antikes Griechentum in der häßlich-christlich-verworrenen Welt. Mein Tempel hatte ein säulenumgebenes Atrium, das seligen Bädern dienen sollte. Götter aus Marmor sollten in ihm sich spiegeln. Marmorstufen führten hinab ins Meer, an deren Seiten nachts auf breiten Pilastern in mächtigen Feuerbecken Pechflammen schwelen und lodern sollten. Eine Stätte der Liebe, eine Stätte der Schönheit, eine Stätte der Lust schwebte mir damals vor, und indem ich mit Zirkel und Schiene arbeitete, wurde das Unglaubliche so lange glaubhaft, als das geschah. Es war eine imaginierte Wirklichkeit, in die ich mich damals retten konnte.

Eben bin ich im selbstgeruderten Boot aus einem Fischerdorf zurückgekehrt, wohin ich Anja und ihre Mutter, die dort eine Sommerwohnung innehaben, gebracht hatte. Die beiden Damen waren bei mir im Herthasruher Kurhaus zum Abendbrot. Es verwirklicht sich also zum ersten Male, was wir bisher vergeblich ersehnt haben, nämlich in einer sommerlich schönen Natur ungestört vereint zu sein.

Anja hat ihr Verhältnis zum Theater, nicht nur zu dem von Hannover, vollständig gelöst und wird sich wieder allein der Musik widmen. Sie und ihre Mutter fühlen sich glücklich hier, und auch ich lebe in einem einzigen Hochgefühl. Man mag hier den Blick hinwenden, wo immer man will, er kehrt gleichsam gebadet in Schönheit zurück.

Ich habe aus voller Kehle und Seele gesungen, als ich die Damen abgesetzt hatte und mein Boot über die stille Wasserbahn, unter taghellem Mondlicht, zurückruderte. Es war ein italienisches Lied. Die Gegend hat um diese Jahreszeit südlichen Reiz. Verstünde ich Griechisch, hätte ich griechisch gesungen. Das sogenannte Kurhaus, in dem ich jetzt bin und auf das ich mein Boot hinsteuerte, stammt aus der Schinkel-Zeit und ist einem griechischen Tempel nachgebildet. Da kein anderes Gebäude in der Nähe ist, wird durch dieses die Gegend gleichsam in eine griechische Landschaft verwandelt.

Melitta, begleitet von meinem Ältesten, Malte, ist bei gemeinsamen Freunden in Norwegen, eine Fahrt, die sie gern unternahm und lange geplant hatte. Ihre Briefe gereichen mir zur Beruhigung. Sie wohnt in einem von drei Blockhäusern, die fernab von anderen menschlichen Anwesen unweit eines Bergsees errichtet sind, der, überfüllt mit Fischen, die tägliche Kost liefert. Unsere nordischen Freunde betreiben natürlich auch Landwirtschaft. Die großartig einfache Lebensform lenkt Melitta, so scheint es, von ihrem bisher gewohnten Denken, Sorgen und Leben ab und wirkt befreiend auf ihr Gemüt.

So ist also eine Vertagung des Konfliktes und seiner möglichen Lösungen durchgesetzt, und wir können einmal alle in jeder Beziehung aufatmen.

 

Herthasruh, am 5. Juli 1896.

Wieder habe ich einen goldenen Tag hinter mir: einen lichtüberfüllten, lichttrunkenen.

Ich traf eine Magd, die ihren grasbeschwerten Karren niedergesetzt hatte. Sie war stark und rothaarig, von der Art jener Weiber, deren Schopf die römischen Damen zu stehlen pflegten. Erst näher gekommen, begriff ich, weshalb diese wilde Gudrune, die ganz allein war, abwechselnd lauschte und dann, von maßlosem Staunen geschüttelt, schreiend auflachte. Der Vorgang war rätselhaft und packend in seiner Ursprünglichkeit. Allmählich wurde mir klar, was dieses Naturkind so gebannt und verstört hatte. Es waren die Triller und Läufe von Anjas Geige, war das Schluchzen ihrer Kantilene, was sie sich nicht erklären konnte. Das Gehörte, aus einer Fischerhütte hervordringend, löste einen Rausch der Befremdung und des Entzückens bei ihr aus, der aber, als handle es sich bei dem Gehörten um die seltsame Entartung eines Tierlautes, in Belustigung gipfelte: »Eine Katze, eine Katze!« kreischte die Magd immer wieder auf platt. Es war tatsächlich für sie eine Katze, die ihr Winseln, Greinen, Knurren und nächtlich liebevolles Miauen bis in diese nie geahnten Möglichkeiten gesteigert hatte.

Ein kleiner Zwischenfall ist zu nennen, der Gott sei Dank keine ernste Bedeutung hat. Wir setzten auf einer Fähre über nach dem Inselchen Vilm. Während der Fahrt, nachdem Anja einige Male unerwartet heftig geniest hatte, fiel sie um. Mir schien es weniger eine Ohnmacht als ein Aussetzen des Bewußtseins zu sein. Als sie nach Sekunden wieder zur Besinnung kam, war der Ausdruck ihrer Augen besonders merkwürdig. Wäre irgend etwas unvergeßlich, so müßte es dieser Ausdruck sein: als ob eine Seele aus unendlichen Tiefen und Fernen zum ersten Male auftauche. Sie schien in wenigen Augenblicken Jahrtausende des Vergessens abzutun.

Sie selber macht nicht viel daraus. In ihrer Familie wird man leicht ohnmächtig. Anja sagt, sie fühle sich nach einem solchen Anfall mehr als nach einem tiefen und langen Schlaf ausgeruht.

Auf dem Inselchen ist, mit dem kleinen Gutsbetrieb verbunden, eine Gastwirtschaft. Ich habe dort beim Mittagessen, nicht gerade angenehm berührt, einen Bekannten aus Grünthal getroffen. Es ist dies ein Herr, der seit langem in ständigen Wirren mit seiner Familie lebt. Er hat mehrere Scheidungen hinter sich und sorgt fortgesetzt für üble Nachrede. Doch schließlich schien mir der Mann nicht unangenehm. Er näherte sich mir mit einer schlichten und offenen Freundlichkeit. In Grünthal sind wir stets aneinander vorübergegangen.

Natürlich habe ich ihn Anja vorgestellt, und beide, nach der heiteren Unterhaltung zu schließen, schienen einander zu gefallen.

Ich hatte übrigens heute einen kleinen Konflikt um Strande in Herthasruh. Vor einer Fischerkate war eine Henne an einem Pflock festgemacht, man hatte ihr eine Schlinge um den Fuß gelegt und das andere Ende der kurzen Schnur an dem Pflocke befestigt. Eine Menge kleiner Hühnchen waren um die Alte her, die sich durch ständiges Reißen entsetzlich quälte, um von dem Pflocke loszukommen. Ich hielt mich ein wenig darüber auf und versuchte, ein in der Nähe Kartoffeln schälendes Weib zu bewegen, die Henne frei zu machen. Ich stieß auf heftigen Widerstand.

Was weiter? Es hat mich ein wenig verstimmt, aber ich habe weiß Gott nichts Neues gesehen und hätte mich, in Betracht der viel schlimmeren Dinge ähnlicher Art in Spanien oder Süditalien, vielleicht besser nicht eingemischt. Die eine befreite Henne könnte ja doch das Los der andern weder in Gegenwart noch Zukunft verbessern.

Und was sind das alles für Kleinigkeiten, besser kleinliche Äußerlichkeiten! Ich beruhe doch schließlich ganz in Ihr, so sehr beruhe ich in ihr und in mir, daß der frühere Antrieb, nach außen zu wirken, wunderlicherweise fast ausgeschaltet ist. Das bedeutet natürlich eine Gefahr für mich. Immerhin, mit oder ohne illusionistisches Ziel, schließlich ist mir ja Arbeit zur zweiten Natur geworden. Auch kann ich mit einem neuen Antrieb einigermaßen rechnen, der an Stelle des verlorenen getreten ist: das ist ein sonderbarer Bekenntnisdrang. Nicht allein, weil ich allenthalben spüre, daß man von Anjas Wert und von dem Wunder, zu dem sie mein Leben gemacht hat, keine Ahnung hat, sondern weil ich das Wunder überhaupt glorifizieren muß, wenn ich nicht zerstört werden will. Für mich allein vermag ich nicht damit fertig zu werden. Immerfort spricht eine Stimme in mir, wie sie in Paulus nach dem Tage von Damaskus gesprochen haben mag: Du bist eines Lichtes teilhaftig geworden, damit es durch dich aller Welt leuchte! Und auch ich, gewiß nicht weniger als der Apostel, bin mir dabei der menschliche Kräfte überschreitenden Aufgabe wohl bewußt.

Sie ist unlöslich verbunden mit mir. Ich muß ihr dienen. Von den ungeschickten Versuchen an, die dem und jenem nüchternen Kopf unter meinen Freunden Anjas Wert anpreisen, bis zu den Tempelbauten der Seele auf Insel Vilm, bis zu all der phantastischen Pracht der Städte und Paläste, die ich für sie im Geiste errichte, der Geschmeide und köstlichen Stoffe, die ich vor ihr ausschütte und mit denen ich sie bekleide und schmücke, von den einfachsten Annehmlichkeiten an, die ich ihr zu bereiten suche, bis zu den raffiniertesten aller Genüsse, die ich für sie ausdenke, Teppiche, Salbungen, marmorne Bäder des Orients, lebendige schwarze Sklaven, regungslose griechische Bildsäulen: alles und alles dient dieser Aufgabe. Diese steigert sich bis zu einer heilig unentrinnbaren Pflicht und hat nichts zu tun mit Eitelkeit. Ich lege südliche Gärten der Seele für Anja an. Und wenn über ihnen eine andere Sonne als die unsre leuchtet, über Zypressenalleen leuchtet, über Wegen leuchtet, die durch den Schatten alter Zedern, Steineichen und Kastanien in blaues Licht getaucht werden, wenn ich mit Anja über diese Wege zwischen Gebüschen von Lorbeer, Judenkirsche, Eibe und Ölweide lustwandle bis zu gewaltigen Wasserfällen, welche die Wipfel der über und über blühenden Blauglockenbäume mit Diamantstaub bedecken, so bin ich mit ihr ganz allein. Mit ihr allein und doch nicht allein. Denn, einem asiatischen Herrscher nicht unähnlich, muß ich dabei die Gewißheit haben, daß ich jeden Augenblick die Völker der Erde zu Anjas Füßen werfen, die Erde selbst zum Schemel ihrer Füße machen kann. Was ich ausschließlich und ganz allein besitzen muß, um zu leben, daran soll doch seltsamerweise die ganze Welt teilhaben. Durch sie soll der Gegenstand meiner Liebe erhöht, vergottet und in dieser Erhöhung und Vergottung, die der Gegenstand fordern kann, mir noch köstlicher gemacht werden.

 

Berlin, am 27. Juli 1896.

Die Sommerwochen von Rügen liegen hinter mir. Es ist leider ein Mißton, womit ihre Harmonie geendet hat.

Eine helle und warme Mondnacht lag über der Küste von Herthasruh. Wir begleiteten Anja nach Hause, nachdem wir heitere Stunden auf der Terrasse zwischen den weißen Säulen des Kurhauses zugebracht hatten. Der Abschied zog sich ein bißchen hin, die Gesellschaft konnte nicht gleich auseinanderfinden. Gelächter und hallende Zurufe belebten eine Zeitlang die verzauberte Nacht.

In der Nähe des Landungsplatzes von Herthasruh machten plötzlich Fischer, die zum gemeinsamen Fischfang auslaufen wollten, einen rüden Lärm, der in Gejohl und Gepfeife ausartete. Es war nicht zu verkennen, daß man durch dieses Verhalten herausfordern wollte. Die Damen und Herren unserer Gesellschaft, Maler, Schauspieler und junge Gelehrte, sollten als eine moralisch niedrigstehende Kategorie beschimpft werden.

Ein Hin und Wider entwickelte sich. Es wurden von unserer Seite Worte wie »Rowdy« ausgesprochen. Ein besonders reichlicher Schnapsgenuß, die Lindheit und Klarheit der Nacht mochten die Geister der Fischer belebt haben, kurz: der Handel nahm zu an Heftigkeit. Es fehlte nicht viel, und das Ganze endete in einer Schlägerei, bei der wir, da wir nicht unerlaubte Waffen gebrauchen wollten – Boxen hatten wir nicht gelernt –, überaus übel gefahren wären. Ein junger Fischer besonders befand sich im Zustand einer besinnungslos trunkenen, gleichsam blutunterlaufenen Raserei und wurde am Ende nur noch durch die Besonneneren seiner Berufsgenossen von Gewalttätigkeiten zurückgehalten.

Als die Wut zu verebben begann, die ärgste Gefahr vorüber war, die Sache in ein immerhin noch rohes, aber im Grunde versöhnliches Parlamentieren sich aufgelöst hatte, wurden auf Seiten der Fischer Auffassungen laut, die mir, ich gestehe, das Haar zu Berge trieben. Wir glaubten uns nicht zu täuschen, wenn wir den Eindruck gewannen, einer Art zufällig entbrannten nordischen Haberfeldtreibens gegenüberzustehen, das sich gegen Anja und mich richtete. Es wurden Worte laut, daß es doch eine Schande sei und so fort, ein Familienvater mit Kindern . . . verlassene Frau . . . einem jungen Ding nachlaufen . . . und dergleichen mehr.

Hierin lag, für meine Begriffe, eine ausgesuchte Art von Erniedrigung, der ich während der noch übrigen Stunden der Nacht bis zum Gedanken der Aufgabe meiner selbst unterlag. Nie bin ich dem Ende aus Ekel so nahe gewesen. Es gab einen Februartag, eine Februarnacht in Paris, da hing mein Leben an einem noch dünneren Faden. Allein meine Angst war nur die, daß er reißen könnte. Daran, ihn etwa selbst zu zerschneiden, dachte ich nicht. Wogegen ich diesmal nur schwer meine Hand, meine Schere zurückhalten konnte, weil alles und alles, die ganze Summe meines Lebensschicksals in eine übelriechende Materie heruntergezerrt worden war.

Ich hatte mich gegen eine Tierquälerei empört und eine Fischersfrau darauf hingewiesen, daß es grausam sei, eine Henne, wie sie es getan, mit einer kurzen Schnur um den Fuß an einem Pflock zu befestigen. Dieser Erziehungsversuch hatte mir den Haß der Ehemänner zugezogen. Ich war im Gasthaus der Insel Vilm einem wegen Ehewirren berüchtigten Mann mit besonderer Freundlichkeit gegenübergetreten. Er hatte zum Dank dafür jedem, der sie hören wollte, am Wirtstisch, auf der Fähre, auf dem Fischerboot meine Geschichte mit den ärgsten Entstellungen aufgetischt, um mir einen guten Leumund zu machen. Aus diesen zwei Wurzeln schoß ein Abenteuer hervor, das mir beinahe einen Tod durch Erbrechen, einen Lebensverzicht aus Ekel bereitet hätte.

Der Morgen, der nach diesem Erlebnis heraufdämmerte, sah greulich aus. Er sah widerwärtig aus, er sah schmutzig aus.

 

Grünthal, am 26. September 1896.

Ein seltsamer Tag hat sein Ende erreicht. Melitta, von ihrer Reise nach Norwegen heimgekehrt, verbringt die Michaelisferien mit den Kindern hier. Nicht ohne eigenen Antrieb dazu habe auch ich mich eingefunden. Mein Vater und ein Onkel Schulte waren hier, ein Gutsbesitzer und frommer Mann, mit der Schwester meiner Mutter verheiratet. Ein ungewöhnlicher Fall ist schon darum dieser Besuch, weil mein Vater während eines langen Lebens sich nur wenig mit dem Schwager berührt hatte.

Die Frömmigkeit dieses Onkels war durchaus nicht von der zelotisch finsteren Art. Ein zweifelsfreier, kindlicher Glaube ließ sein von Natur fröhliches Herz unangetastet, wodurch er selbst meinem so ganz anders gearteten Vater Achtung abnötigte.

Also: es hatten die beiden Herren gemeinsam den Weg zu uns angetreten. Es ist gleichgültig, was den Onkel nach Schlierke geführt hatte. Der Herbsttag war schön und eine Verlockung das Gebirge hinauf. Ob mein Vater Anlaß zu der gemeinsamen Bergfahrt gegeben hatte, ob es den Onkel zu mir zog, dessen Gut ich oftmals besucht hatte, ließ sich im Augenblick nicht feststellen. Immerhin, im Wesen meines Vaters ist seit einiger Zeit eine merkbare Wandlung eingetreten. Er scheint mit vollem Bewußtsein seinen Lebensabend erreicht und mit Welt und Menschen seinen Frieden gemacht zu haben.

Man muß meinen Vater mit seinem martialischen Schnurrbart und seinem unbeweglich strengen Gesicht genau kennen, wenn man Empfindungen oder Gemütsbewegungen bei ihm feststellen will. Er war aber doch wohl stolz, dem Schwager sein hübsches Haus in Schlierke zeigen zu können, und stolzer, daß er ihm sagen konnte: ich verdanke es meinem Sohn. Dessen »Glück« wollte er ihm dann auch wohl vor Augen bringen.

So saßen wir denn heut, Sonntag mittag, der Vater, der Onkel, Lore, Bruder Julius, Melitta, ich und die Kinder um den Tisch herum, und es wurde sogar Champagner getrunken. Die beiden alten Herren überkam eine mir an ihnen ganz neue, herzliche Aufgeschlossenheit. Wir jüngeren Leute wurden dadurch in den Bann ihres Lebensschicksals hineingezogen. Über unserer Gesellschaft lag, von diesen beiden Alten ausgehend, die Aura einer friedvoll heiteren, unverbitterten Resignation. Wir sahen und hörten zwei Menschen, die eigentlich schon mit dem Leben, von dem sie nur noch ein bißchen Abendröte verlangten, abgeschlossen hatten. Für mich lag über diesen Stunden Schicksalhaftigkeit. Ich habe nicht Zeit, neben dieses Tagebuch Erlebnis an Erlebnis, Roman an Roman zu setzen. Nach dem, was ich mit Onkel und Tante Schulte von Kindesbeinen an, während eines Zeitraumes von fast dreißig Jahren, erlebt und erfahren hatte, mußte mir diese Bewirtung des Onkels an meinem Tisch unwahrscheinlich vorkommen. Hätte ich doch als armer, nicht einmal hoffnungsvoller Junge, der das Gnadenbrot dieser Verwandten aß, eine solche Möglichkeit nicht annehmen können.

Das ist nun freilich dabei nicht die Hauptsache. Was die Alten fühlen und sehen, fühle und sehe ich. Ich fühle und sehe, worüber sie staunen. Glücksumstände, so scheint es ihnen, entwickeln sich hier, wie sie ihnen selber versagt blieben. Die milde Überlegenheit, die ironisch gütige Herablassung des Onkels von einst ist in Respekt umgeschlagen, der höchstens nur noch die einstige blinde Geringschätzung ironisiert. Wie alles sich so entwickeln konnte, versteht er nicht. Jeder Zugang zu diesem Ereignis ist ihm verschlossen. Aber das sozusagen innere Kopfschütteln nimmt ihm nicht seine Bewunderung. Fremd, fremd, gänzlich fremd bleibt ihm meine Welt. Aber er muß sie mit heimlichem Staunen gelten lassen. Wie gesagt: was die Alten fühlen und sehen, fühle und sehe ich, auch das noch, was sie nicht fühlen und sehen, nämlich das ganze, wahre Schicksal, das in mir verwirklicht ist. Wie aber würde mein Onkel erschrecken, wenn ich nur einen Zipfel des Vorhangs lüftete, der darüber liegt!

Ob mein Vater von dem wahren Stande meiner inneren Kämpfe weiß, kann ich nicht sagen, ich glaube es nicht. Ich meine, er ist der Ansicht, die Sache mit Anja sei vorüber, sei eine Episode, weiter nichts.

Melitta steht gütig lächelnd dem Hauswesen vor. Sie hat immer etwas für alte, gepflegte Herren übrig gehabt, und sie fühlen sich wohl in ihrer Nähe. Sie errötet oder erblaßt bei jedem freundlichen Wort, das an sie gerichtet wird. Aber das entsagende Wesen der alten Herren ist im Grunde das ihrige. Es liegt nichts darin, wodurch sie verwirrt oder auch nur beängstigt würde.

Sonst ist es mitunter erstaunlich, welche Geringfügigkeiten genügen, um das Gleichgewicht ihres Wesens zu stören, Harmonie in tiefe Verstimmung zu verwandeln. War dies in unseren glücklichen Zeiten der Fall, um wieviel mehr jetzt, wo sie so überaus Schweres durch meine Schuld oder mein Schicksal zu ertragen und zu verbergen hat. Was krankhaft schien, ist heut natürlich. Ihr Gemüt ist so zart und so tief, daß die leiseste Schwingung anderer Seelen im Raum von ihr empfunden wird. Und die schmerzlichen Fortsetzungen solcher Schwingungen: sie haben mir oft das Leben in tagelanges Leid verkehrt.

Melitta ist Vater kindlich zugetan, und das weiche, gütige Wesen des Onkels tut ihr wohl. Auch ging der Geist jener Stunde, welche die beiden Alten durchlebten, mehr und mehr in uns ein. Wir fühlten, daß sie sich vielleicht zum ersten Male in einem langen Leben wahrhaft begegneten und daß dieses erste Mal auch das letzte sein würde. Und daß die alten Herren es selbst fühlten, wie wir übereinstimmend zu erkennen glaubten, war das seltsamste.

Die friedfertige Harmonie dieser beiden Gezeichneten ging auch auf Julius und Lore über, wie denn überhaupt verwandtschaftliches Anhaften bei Julius stärker als bei mir entwickelt ist. Daß Vater so aufgeschlossen und Onkel Schulte zugegen war, nahm auch dem Verhältnis des Bruders zu mir einen Teil seiner Bitterkeit. Es schien, als hätten wir etwas Trennendes nicht erlebt und wären zehn Jahre jünger geworden.

Ich blättre in diesem Tagebuch. Schreibe ich eigentlich, um am Leben zu bleiben, oder lebe ich, um es zu schreiben? Das eine, das andere gelegentlich. Ich neige indessen der Ansicht zu, der erste Antrieb sei ausschlaggebend.

Das, womit ich mich abends hinlege und des Morgens aufwache, das, worauf ich hundertmal des Tages zurückkomme und woran sich die Träume meiner Nächte immer wieder klammern, ist der absurde Wunsch, innig Gewünschtes fortzuschaffen, heiß Umschlungenes zu verstoßen, nie zu Vereinendes zu vereinen, aus der Zahl zwei die Zahl eins zu machen.

Eine Belehrung ziehe ich aus diesen stets mißlingenden Versuchen nicht.

Vor kurzem habe ich wieder einen solchen Versuch eingesargt: nach dem hannoveranischen Abenteuer stürzte ich mich von neuem auf das Gleichen-Problem. Diesmal ging ich vom Wort zur Tat über: ich veranlaßte, ich bewog, ja ich zwang Anja und Melitta, Briefe zu wechseln. Das sollte zu einer ersten Begegnung und dann zu einer dauernden Freundschaft der Auftakt sein. Es gelang mir, Melitta zu bestimmen, den ersten Schritt zu tun. Was muß es die Arme gekostet haben!

Mich zu ernüchtern vermochte auch Anja nicht, die alles Geplante ohne eigentlichen Anteil entgegennahm, obgleich sie Melittas Brief beantwortete. Im Grunde waren ja beide Briefe, mit denen ich mir eine Erfüllung vorgaukelte, mein Diktat. Mir die Augen zu öffnen war erst das Werk meines Freundes Hüttenrauch. Ginge ich weiter in dieser Sache, sagte er, so wäre es wohl möglich, bei Melitta durchzusetzen, daß sie etwas auf sich nähme, was über ihre Kräfte gehe. Er warne aber vor diesem Versuch: sie habe ihm unter vier Augen gestanden, daß sie fest entschlossen sei, das einzige, was ihr noch übrigbliebe, schnell zu tun, wenn sie fühle, einer Begegnung mit Anja nicht gewachsen zu sein.

 


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