Gerhart Hauptmann
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Gerhart Hauptmann

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Gleich darauf war er im Boot, und man wollte abstoßen. Friedrich erhob Protest und hatte einen schreienden Zwist mit dem Offizier, der hereingekommen war und das Steuer des Fahrzeugs ergriffen hatte. Er konnte sich nicht entschließen, den braven Wilke aus der Heuscheuer aufzugeben, der ihm so tapfer unter Deck gefolgt, aber noch nicht wieder erschienen war. Da entdeckte er ihn, wie er vom Überbau der Salontreppe her buchstäblich wie auf einer Schlittenbahn bis gegen die Reling rutschte. Er schrie ihm zu: »Wilke! Wilke! Vorwärts ins Boot!« Wilke gab mehrmals ein »Gleich! Gleich!« zur Antwort. Er hatte Rettungsgürtel entdeckt und schleuderte sie von verschiedenen Punkten aus ins Meer, wo von Bord Gespülte verzweifelt rangen. Indessen hatte die Rettungsschaluppe infolge von Seegang und Ruderschlägen bereits zwanzig, dreißig und mehr Meter zwischen sich und die Bordwand des »Roland« gebracht.

Jetzt sah man die Stelle, wo sich ein fremdes Schiff oder ein treibendes Wrack in die Breitseite des »Roland« gebohrt haben mußte: einen gewaltigen Riß, der die Katastrophe verursacht hatte. Da fiel wiederum Nebel ein, der das tödlich verwundete Schiff den Blicken entzog. Als es gleich wieder klar wurde, hatte das Wrack eine unbegreifliche Wendung gemacht, und die etwa zwanzig Personen, die mit Friedrich in der Schaluppe waren, blickten, hoch über das beinahe mit dem Niveau des Wassers gleiche Hinterdeck des Dampfers emporgehoben, aus schwindelerregender Höhe darauf hinab. Sie brüllten laut, denn sie glaubten, sie würden mit furchtbarem Wurf in die auf dem Hinterdeck zusammengekeilte, ameisenartig schwarzwimmelnde Menschenmenge hineingeschleudert. Jetzt erst, in dieser Sekunde, konnte man sehen, welcher für Menschenbegriffe unfaßbare Zustand hier eingetreten war. Alle diese kleinen, gedrängten, dunklen Ameisen, die ratlos und hilflos durcheinanderwimmelten, zerrten, stießen und drängten sich. Trupps von Weibern und Männern waren zu kämpfenden Knäueln verbunden. Einige Rettungsboote, die noch nicht flott waren, schienen mit Seilen und Eisenträgern zu schaukelnden, dunkel wimmelnden Trauben geworden, von denen immer wieder etwas wie eine Beere oder Ameise ins Wasser hinunterfiel.

Wiederum machten Nebel und Gischt die umgebende Luft undurchsichtig. Aber das Rauschen und Brausen der See, das blecherne Knattern des Orkans vor den Ohrmuscheln wurde von einem Geräusch durchdrungen, das Friedrich nicht sogleich mit dem grausamen Schauspiel an Deck in Zusammenhang brachte. Sekundenlang war er weit fort, in einer bestimmten Gegend seiner Heimat, wo sich auf weiten Sumpfwiesen riesige, herbstlich ziehende Vogelschwärme zur Rast niedergelassen hatten. Aber es war nicht der Massenlärm reiselustiger Zugvögel, den er aus dem Nebel vernahm, sondern der Lärm jener Menschen, die eine Strafe erlitten so über alle Begriffe schwer, daß sie durch irgendeine menschenmögliche Schuld nicht verdient sein konnte. Friedrich spürte genau, wie durch das Übermaß des Eindrucks die Brücke zwischen dem, was die Sinne aufnahmen, und dem Innersten seiner Seele gesprengt wurde. Aber plötzlich drang doch das Fieber des offensichtlichen Todeskampfes von so vielen schuldlosen Menschen auch in Friedrichs innerste Seele ein und entpreßte ihm einen Ruf, in den, wie auf Kommando, alle im Boot einstimmten: es lag Angst, Not, Wut, Protest, Bitte, Entsetzen, Anklage, Fluch und Grauen darin.

Und dieses Grauen wurde durch das Bewußtsein genährt, daß hier kein Ohr, sondern nur ein tauber Himmel vorhanden war. Wo Friedrich hinblickte, war der Tod. Gleichgültig kamen die bleischweren Hügelketten herangeschoben. Es waren Bewegungen von einer mörderischen Gesetzmäßigkeit, die nichts aufhalten konnte und die mit keinem Hindernis rechneten. Friedrich schloß die Augen, zu sterben bereit. Einige Male griff er nach den Briefen der Eltern in der Brusttasche, als ob er sie als Reisepässe durch das nahe Land der ewigen Finsternis nötig hätte. Er wagte die Augen nicht wieder zu öffnen, denn er konnte die Krämpfe der Frauen im Boot, die grausame Hinrichtung auf dem Heck des »Roland« nicht weiter ansehen. Die Böen rasten. Es war eiskalt. Das Wasser gefror an den Bordkanten. Rosa, das Dienstmädchen, war die einzige, die unentwegt mit Hilfeleistungen für die Kinder, für Frau Liebling, für Ingigerd und für Artur Stoß tätig war. Bulke und sie überboten einander in stetem Eifer, das überschlagende Wasser auszuschöpfen, darin Artur Stoß und Frau Liebling lagen und das den Sitzenden bis zu den Knien ging.

Was sich indessen auf dem Achterdeck des »Roland« abspielte, paßte, soweit es Friedrich blitzartig auffassen konnte, nicht in seine Begriffe von Menschennatur. Was er dort im einzelnen zu erkennen glaubte, hatte nichts mit jenen zivilisierten und gesitteten Leuten gemein, die er beim Klang der Musikstücke, im Speisesaal und auf Deck hatte tänzeln, konversieren, lächeln, grüßen und zierlich den Fisch mit der Gabel zerteilen sehen. Friedrich hätte geschworen, er unterscheide die weiße Gestalt eines Kochs, der sich mit langem Küchenmesser durch die Respektspersonen, für die er gekocht hatte, Bahn machte. Er war überzeugt, er sah einen Heizer, einen schwarzen Kerl, der eine Dame, vielleicht die Kanadierin, die sich an ihn geklammert hatte, schlug und über die Reling stieß. Einige Stewards, deutlich erkennbar, benahmen sich immer noch heldenhaft, instruktionsgemäß. Sie wurden in Schlägereien verwickelt. Einer der Stewards war blutüberströmt; immer kämpfend und schreiend, half er einer Frau mit ihrem Kinde ins Rettungsboot. Aber das Boot schlug um und war verschwunden.

Noch strahlten die Lukenreihen, schräg von vorn nach hinten aufsteigend, im vollen Glanz des elektrischen Lichts. Auch die Vortopplaterne ließ das stechende Weiß ihres Brenners noch in den grauen Morgen hinein funkeln. Hie und da fiel ein erstickter Schuß aus dem Notmörser, und eine Rakete, schwach leuchtend, stieg in die Luft. Aber das Licht der Luken erlosch. Und als ob die See, in ihrem losgebundenen Haß, auf dies Ereignis gewartet hätte, wusch sie mit einer riesigen Flutwelle über Deck, so daß gleich darauf der Gischt in Lee von schwimmenden, brüllenden, um sich schlagenden, mit dem Tode ringenden Menschen wimmelte. Auf einmal, ohne daß jemand wußte, auf welche Weise man plötzlich wieder in allernächste Nähe des »Roland« gekommen war, wurde die Rettungsschaluppe von wütenden, zu allem entschlossenen Menschen angefallen, und der bestialische Kampf einer Seeschlacht begann.

Friedrich sah dies alles und sah es nicht: obgleich es in seiner Nähe geschah, so schien es doch in unendlicher Ferne vor sich zu gehen. Er schlug nach etwas: es war eine Hand, ein Arm, ein Haupt, ein nasses, nicht mit menschlicher Stimme heulendes seehundartiges Abgrundtier, das scheinbar von Henkershänden rückwärtsgerissen wurde. Er sah die roten Fäuste Rosas, die gekrampften Finger Frau Lieblings und der kleinen Ingigerd, wie sie mit der Kraft der Verzweiflung Hände und Ellenbogen ertrinkender Nebenmenschen von dem glattgefrorenen Bootsrand abnestelten. Matrosen gebrauchten die Ruder in einer Weise, der schwarze Ströme Blutes nachfolgten. Keiner bemerkte, daß nach einiger Zeit Bulke an Stelle des Offiziers das Steuer versah, daß der Offizier verschwunden und ein neuer Gast, ein junger Mensch mit langem Haar, der kein Lebenszeichen mehr von sich gab, im Boote lag.

Es kam darauf an, aus dem Bereich dieser Hölle ertrinkender Menschen herauszukommen und aus dem Bereich des Strudels, den das Schiff beim endlichen Untergange erzeugen mußte. Noch hörte man die Weisen der Schiffskapelle zeitweilig todesmutig herabhallen. Diese armen, namenlosen und bescheidenen Musikanten standen augenblicklang vor Friedrichs Seele in heroischer Größe da. Und doch wird man euch, dachte er, keine Gedenktafel aufrichten. Wir werden alle bald, samt unserem fürchterlichen Schicksal, vergessen sein. Aber Friedrich hielt dies alles, was er erlebte, plötzlich wieder für traumhafte Vorspiegelung und schlug seine Stirne gegen das Ruder. War er nicht eben noch im sichren Komfort eines wohligen Zimmers geborgen gewesen und schwebte doch jetzt ganz hilflos preisgegeben ohne Dach und Diele im unendlich wogenden Raum? Wie sollte man hier überleben können? Minutenlang mußte Friedrich die Besinnung gänzlich abhanden gekommen sein, denn in einer Art von Erwachen kam es ihm vor, als ob er aus weiter Ferne an den Ort des Entsetzens zurückkehre. Er hatte im Geist seine Eltern besucht, die im geruhsamen Frieden des Hauses mit gelassener Miene umhergingen, ohne auch nur eine Ahnung von der furchtbaren Todesnot zu fühlen, in der er stand. Wie qualvoll war diese Wiederkehr, wie peinvoll die unerreichbare Ferne. Jetzt hieß es, ganz unbeachtet untergehen, ohne auch nur von einem Gedanken der Liebe andrer gestreift zu sein. Friedrich fühlte, wie seine Gurgel vor Wut und Verzweiflung winselte. Aber auch das, was ihn hier zwischen Himmel und Meer umherschleuderte, war ein Ausdruck schadenfroher, dämonischer Wut: blinde Rache am Tun der Menschen. Mordgier und Feindschaft, grenzenlos. Und plötzlich, bei dieser Erkenntnis, steiften sich Friedrichs Arme an, stieg eine eigensinnige, wilde und trotzige Macht in ihm auf, mit der er sich, Feind gegen Feind, dem übermächtigen, tauben Rasen entgegensetzte. Er ruderte eisern, Schlag auf Schlag, und rücksichtslos alles zugrunde stoßend, was sich hemmend ans Ruder hing. Jetzt wollte er leben und würde sich retten. Freilich wußte kaum jemand im Boot, was vorn und rückwärts, was oben und unten war. Aber es kam in den Schlag der Ruder Gleichmäßigkeit, und so wurde das Kentern hinausgezögert. Man kam in Fahrt, als der Bursche Bulke Kommandos gab; und ohne daß jemand zu sagen gewußt hätte, wie es möglich geworden war, hatten sich nach kurzer Zeit viele ewigbewegte Gebirgszüge zwischen das Boot und das Wrack des »Roland« gelegt, und von dem gewaltigen Schnell- und Postdampfer der Norddeutschen Schiffahrtsgesellschaft war nichts mehr zu sehen.

 

Am Abend des Unglückstages sichtete der Kapitän eines Hamburger Frachtdampfers, der Orangen, Wein, Öl und Käse geladen hatte, bei klarem Wetter und hoher Dünung ein treibendes Boot. Der kräftig gebaute kleine Steamer hatte landwirtschaftliche Werkzeuge von Hamburg nach den Azoren gebracht und seine Ladung für New York an der Reede von Fayal eingenommen. Der Kapitän stellte fest, daß von dem treibenden Boote aus mit Tüchern gewinkt wurde. Er hielt darauf zu, und nach Verlauf einer halben Stunde wurden die in dem Boote befindlichen Schiffbrüchigen mit vieler Mühe an Bord gebracht. Es waren im ganzen fünfzehn Personen. Drei Matrosen und ein Schiffsjunge, die den Namen des bekannten Schnelldampfers »Roland« an der Mütze führten, zwei Herren, zwei Damen, eine gewöhnliche, ältere Frau und ein Dienstmädchen, ein Mensch ohne Arme, einer mit langem Haar, der eine Samtjacke trug. Außer diesen Leuten der Steuermann und zwei Kinder, Mädchen und Knabe. Der Knabe war tot.

Die Strapazen, Nöte und Ängste, denen der zarte Knabe erlegen war, hatten den übrigen Leuten auf das schrecklichste mitgespielt. Ein nasser Herr, es war Friedrich, versuchte eine bewußtlose junge Dame über das Fallreep emporzuschleppen. Seine Kraft jedoch langte nicht aus. Die Matrosen des Frachtdampfers mußten den Wankenden aufhalten und ihm die schöne triefende Last vom Arm nehmen. Er wollte sprechen, aber er brachte nur pfeifende Laute eines Bräunekranken heraus. Man mußte ihm, steifgefroren und durchnäßt wie er war, wie einem von Gicht Gekrümmten an Deck helfen. Er ächzte, stieß ein krächzendes, unmotiviertes Lachen aus und spreizte die blaugefrorenen Hände. Auch seine Lippen waren blau, und die eingesunkenen Augen fieberten aus einem von Schmutz und Salzwasser verkrusteten Angesicht. Man gewann den Eindruck, daß er vor allem den Wunsch habe, sich zu trocknen, zu wärmen, zu reinigen. – Ihm folgte das Dienstmädchen, es war Rosa, die, nachdem sie dem Ersten Steuermann ein bewußtloses kleines Mädchen, Ella Liebling, in die Arme gelegt hatte, umkehrte und wieder ins Boot hinabsteigen wollte. Der Weg war nicht frei, denn soeben wurde der völlig durchweichte Armlose auf die gewöhnliche Art von seinem Burschen Bulke und einem Matrosen des Frachtdampfers treppauf bugsiert. Der Armlose blickte stier, er troff, seine Zähne klapperten. Zwischen diesen klappernden Zähnen hervor konnte er erst nach einem erneuten Ansetzen die Worte: »Grog! Heißen Grog!« aussprechen. Seine Nase floß, seine Augenlider zeigten eine entzündliche Rötung, während die Spitze seiner Nase wächsern weiß wie bei Leichen war. Der Bursche Bulke und Rosa schienen einander bewußt in die Hände zu arbeiten. Sie stiegen, vor Nässe förmlich regnend, gemeinsam in die Schaluppe zurück, wo die zweite der Damen, Frau Liebling, in einer schlimmen Verfassung lag. »Die Frau ist tot, und der Junge ist tot«, sagten die Matrosen des Frachtdampfers und wollten das Weib aus dem Zwischendeck zuvörderst in Sicherheit bringen, das noch röchelnde Laute von sich gab. Aber Rosa brach in heulendes Weinen aus und schwor, daß Frau Liebling lebendig wäre. Die Matrosen erklärten, sie habe zuviel Wasser geschluckt. Dennoch ließ Rosa nicht nach, bis ihre Herrin ins Trockene gebracht und auf dem großen Tisch der Hauptkabine niedergelegt worden war. Als das furchtbar röchelnde, bewußtlose Weib aus dem Volke auf Deck gebracht wurde, fing einer der Matrosen des »Roland«, dem die Füße erfroren waren und der während des Herumtreibens keinen Laut von sich gegeben hatte, plötzlich vor Schmerzen zu brüllen an. Seine Kameraden riefen ihm plattdeutsch zu: »Hab dich nich, Korl, bist keen alt Wieb! halts Mul und swieg stille.« Hierauf brachte man den mit dem Ausdruck maßlosen Schmerzes nur noch leise Wimmernden die Stiege hinauf. Ihm folgten der Mann in der Samtjacke, der irre redete, Doktor Wilhelm und, von Matrosen getragen, schließlich die Leiche des kleinen Siegfried Liebling nach.

Oben an Deck gebärdete sich der Langhaarige in seinem jämmerlichen Aufzug höchst wunderlich. Bald stand er wie ein Rekrut, bald verbeugte er sich, bald zielte er in die Luft, wie wenn er auf Jagd wäre. Dabei schrie er: »Ich bin Künstler! Ich habe meine Kabine bezahlt! Ich habe nur meine Kabine verloren! Man kennt mich in Deutschland« – und hierbei nahm er eine selbstbewußte Haltung an –, »ich bin der Maler Jakob Fleischmann aus Fürth.« Er brach in erbarmungswürdiger Weise Seewasser, während um ihn das Deck von der aus seinen Kleidern strömenden Nässe schwamm. Doktor Wilhelm hatte das Sprechen verlernt, er konnte nur niesen und wieder niesen.

Inzwischen hatte der einzige Steward des Schiffs Friedrich heißen Tee gebracht, und ein Matrose, der an Bord zugleich Krankenpflegerdienste versah, versuchte Frau Liebling ins Leben zurückzurufen. Bald fand sich Friedrich so weit gestärkt, daß er sich an dem Samariterwerk des Matrosen beteiligen konnte. Doktor Wilhelm hatte nur mehrere Kognaks hinuntergeschluckt und sich dann, allerdings nur mit schwacher Hoffnung, assistiert von Herrn Wendler, dem Ersten Maschinisten des Schiffs, an die Wiederbelebung des kleinen Siegfried gemacht.

Frau Liebling unterschied sich in nichts von einer Toten. Stirn, Wangen und Hals der noch jungen und jüngst noch schönen Frau waren durch düster-rötlichblaue Flecken entstellt. Der Körper, den man entblößt hatte, war ebenfalls, wenn auch nicht so stark wie Hals und Gesicht, unterlaufen und aufgedunsen. Friedrich öffnete mit den Fingern ihre Lippen, drückte die mit vielem Gold plombierten Zahnreihen auseinander, gab der Zunge die rechte Lage und entfernte Schleim, der sich am Ausgang der Luftröhre angesammelt hatte. Hierauf ließ er den toten Körper vom Schiffskoch mit heißen Tüchern frottieren und leitete selbst die künstliche Atmung ein.

Der große, ovale Mahagonitisch, auf dem der leblose Frauenleib zu mechanischer Atmung durch gliederpuppenartige Verrenkungen der Arme und Beine gezwungen wurde, nahm den größten Teil der Passagierskajüte ein, die der Frachtdampfer zur Verfügung hatte. Der kleine ratternde Schiffssalon besaß Oberlicht, und seine zwei Längswände bestanden aus je sechs Mahagonitüren, die zu ebensovielen Bettkabinen den Zugang bildeten. Dieser sonst verlassene Raum, denn der Dampfer reiste ohne Passagiere, war im Handumdrehen zur Klinik geworden.

Ein ganz gewöhnlicher Maat hatte Ingigerd Hahlström aus ihren Kleidern geschält, den zarten, perlmutterglänzenden Leib ohne alle Umstände auf einen die Querwand einnehmenden Diwan gelegt und war, nach Friedrichs Anordnung, damit beschäftigt, ihr mit wollenen Lappen kräftig den ganzen Körper zu reiben. Das gleiche geschah durch Rosa der kleinen Ella Liebling, und das Kind ward, zuerst von allen, zu Bett gebracht. Mit Feuereifer war der Steward dabei, das ganze Dutzend von Betten zu überziehen. Als das zweite bereit war, wurde Ingigerd in gewärmte Decken und Kissen gelegt. Der Artist ohne Arme, Artur Stoß, hatte es seinem getreuen Bulke zu danken, daß er, noch immer zähneklappernd, das dritte fertige Lager bezog. Mit dem Maler, Jakob Fleischmann, hatte man große Schwierigkeiten. Als ein Matrose ihn, unter freundlichem Zureden, auskleiden wollte, fing er mit einem wütenden Schrei »Ich bin Künstler!« um sich zu schlagen und zu toben an. Der Steward und Bulke mußten helfen, ihn festzuhalten. Man brachte ihn gewaltsam zu Bett, und Doktor Wilhelm, der sein großes Lederetui mit Medikamenten gerettet hatte, erschien gerade zur rechten Zeit, um ihn durch eine Spritze Morphium zu beruhigen. Leider hatte der Schiffsarzt mittlerweile den Tod des kleinen Siegfried Liebling festgestellt.

Jenem Matrosen, den der Schmerz zuletzt überwältigt hatte, so daß er in laute Schreie ausgebrochen war, wurden die Stiefel mit der Schere von den gequollenen Füßen getrennt. Er verbiß den Schmerz und ächzte nur, bis man ihn in der Koje zur Ruhe brachte. Dort ausgestreckt, bat er um Kautabak. Man hatte die mit Lumpen bekleidete Frau ebenfalls zu Bett gebracht, und sie wußte nichts weiter zu sagen, als daß sie mit ihrer Schwester, ihren vier Kindern, ihrem Mann und ihrer Mutter unterwegs nach Chikago sei. Was mittlerweile mit ihr geschehen war, davon schien ihr nichts haften geblieben zu sein.

Inzwischen hatte Friedrich, selbst mit nacktem Oberkörper, unter Assistenz des Matrosen die Wiederbelebungsversuche an dem armen weiblichen Leichnam unablässig fortgesetzt. Es tat ihm gut, denn er war dabei in Schweiß geraten. Allein, seine Kraft ließ nach, und Doktor Wilhelm löste ihn ab. Als dieser mit den Armen der Erstickten, als wären es Pumpenschwengel, weiterarbeitete, taumelte Friedrich in die nächste Koje, die offenstand, und fiel, das Gesicht voran, erschöpft zwischen unüberzogene Decken und Kissen.

 

Nach einiger Zeit trat Herr Butor, der Kapitän des immer hurtig reisenden Frachtdampfers, ein, um Friedrich und Doktor Wilhelm zu beglückwünschen. Er sendete einen Matrosen aus, um für die beiden Ärzte, die halbnackt, trotz schwerster Ermüdung, die Behandlung des Frauenleibes fortsetzten, trockene Kleider herbeizuschaffen. Natürlich schwamm der Speisesalon, und die Luft war dick von süßlichen Dünsten.

Als die Herren, immer die Bemühungen um die Ertrunkene fortsetzend, einen ersten kurzen Bericht von der Katastrophe auf dem »Roland« gegeben hatten, zeigte sich Kapitän Butor insofern erstaunt, als er auf seiner Reise zwar nirgends besonders gutes, aber ebensowenig besonders übles Wetter getroffen hatte, sondern, bei meist klarer Luft, kräftige Brise, so wie jetzt, und mittleren Wellengang.

Über den Anlaß der Katastrophe konnten Friedrich und Doktor Wilhelm nur wenig aussagen. Wilhelm meinte, er habe gegen sechs Uhr des Morgens ein Geräusch wie von einem starken Gong gehört, in seiner Verschlafenheit aber geglaubt, es werde bereits zum Diner gerufen: bis er sich wieder an die Trompete des »Roland« erinnert habe, auf dem ja das Gong nicht gebräuchlich war. Friedrich glaubte, der »Roland« sei gegen ein Wrack oder gegen eine Klippe gelaufen. Dagegen erklärte der Kapitän, von Klippen könne in diesen Gewässern nicht die Rede sein, und wenn man annehmen wolle, der »Roland« sei durch Strömungen abgekommen, so spräche dagegen die kurze Zeit, die das Rettungsboot vom Punkte des Untergangs bis in den Kurs seines eigenen Dampfers gebraucht habe. Kapitän Butor nannte seinen Kollegen von Kessel, den er vor kurzem in Hamburg gesprochen hatte, einen erprobten Kapitän, die Katastrophe eine der allerschwersten. Vorausgesetzt, daß der Riesendampfer wirklich gesunken sei und nicht vielleicht doch noch in irgendeinen Hafen geschleppt werde. Schließlich lud der Kapitän die Herren, sobald es ihre Pflicht zulasse, in den Meßraum zum Abendessen.

Eben wollten die Herren ihre Wiederbelebungsversuche an Frau Liebling einstellen, als ihr Herz zu ticken, ihre Brust zu atmen begann. Rosas Freude war ohne Grenzen. Laute Ausbrüche nur mit größter Mühe zurückhaltend, fühlte sie, wie die Lebenswärme auch in die Füße ihrer Herrin zurückkehrte, deren Sohlen sie unermüdlich mit ihren reibeisenharten Händen rieb. Man brachte nun die Gerettete ebenfalls in ein Bett und legte Wärmflaschen um sie herum, wie bei einem zu früh geborenen Kinde.

Der letzte große Erfolg, den die Bemühungen der beiden Ärzte durchgesetzt hatten und der einer Totenerweckung ähnlich sah, bewirkte in allen, die ihm beiwohnten, auch in Friedrich und Doktor Wilhelm, eine tiefe Erschütterung. Die beiden Männer fühlten sich plötzlich veranlaßt, einander die Hand zu schütteln. »Wir sind gerettet!« sagte Wilhelm. »Das Unwahrscheinlichste ist geschehen!« – »Ja«, sagte Friedrich, »es ist tatsächlich so. Die Frage ist jetzt: wozu blieb man aufbehalten?«

 

Der Meßraum des Dampfers »Hamburg« war eine kleine quadratische Kammer mit eisernen Wänden, die außer einem viereckigen Tisch und einer Wandbank um drei ihrer Seiten herum nichts enthielt. Man räumte den beiden Ärzten, denen man, wie allen Verunglückten, eine geradezu rührende Sorgfalt widmete, die wärmste, an den Maschinenraum grenzende Wandseite ein, als man sich um eine gewaltig dampfende Suppenterrine niederließ. Der Dampfer besaß kein elektrisches Licht, und über dem Tisch hing eine Lampe, deren gut konstruierter Ölbrenner behagliches Licht verbreitete.

Kapitän Butor hatte persönlich die kräftige Suppe aufgegeben, und Herr Wendler, der Erste Maschinist, hatte, noch vor dem Braten, in dem Bemühen, die Geretteten einigermaßen aufzuheitern, vorsichtig diesen und jenen Scherz gewagt. Er war aus der Gegend bei Leipzig gebürtig, und das Plattdeutsche des kleinen, rundlichen Mannes ward auf dem Schiffe viel belacht. »Sprechen Sie nichts«, sagte der Kapitän zu den Ärzten, »Sie sollen nur essen, trinken und ausschlafen.« Aber der Braten, ein ungeheures Hamburger Roastbeef, wurde von einem Matrosen aufgetragen, und als es, vom Kapitän tranchiert, später von den Tischgenossen zum Teil verzehrt und mit Rotwein begossen worden war, kam der Rat des braven Mannes bei den Geretteten nach und nach in Vergessenheit. Bulke erschien, der mit den Matrosen vom »Roland« augenscheinlich aufs reichlichste regaliert worden war. Er wollte, trotz seines merkbar angeheiterten Zustandes, den man ihm gönnen konnte, nicht ohne Instruktionen von Doktor Wilhelm und Friedrich schlafen gehen und begrüßte die Ärzte militärisch. Es ward festgesetzt, daß der Barbier und Krankenpfleger mit einem anderen Matrosen der »Hamburg« gemeinsam die Nachtwache übernehmen sollte: alles, was vom »Roland« herübergekommen war, durfte und sollte, soweit möglich, des Schlafes genießen.

Der eigentlichen Katastrophe des vermutlichen Untergangs wurde aber, auch als sie merkbar auftauten, von den Ärzten nicht mit Worten gedacht. Es war etwas so Großes, etwas so Furchtbares und lag zu nahe, um jetzt schon von den Schiffbrüchigen, die »Roland«-Matrosen ausgenommen, ohne tiefste Gemütsbewegung berührt zu werden. Es hing in den Seelen als dumpfe Last. Was Wilhelm während des Essens erzählte und was Friedrich, mehr und mehr dem Leben äußerlich wiedergegeben, vorbrachte, betraf die Mühseligkeiten auf dem Rettungsboot und Einzelheiten der Reise des »Roland« aus der Zeit, bevor er die Woge im Ozean und die Sekunde der Ewigkeit gekreuzt hatte, wo sein schweres Schicksal sich entschied.

Friedrich sagte: »Herr Kapitän, Sie kennen das Staunen eines von den Toten Auferstandenen nicht. Denken Sie sich einen Menschen, Herr Kapitän, der von allem, was ihm im Leben lieb war, seinen ganz klaren, bestimmten Abschied genommen hatte. Ich habe nicht nur die Wegzehrung auf der Zunge gehabt, Herr Kapitän, und die Letzte Ölung empfangen, sondern ich habe den Tod, den leibhaftigen Tod, in allen Gliedern gehabt. Und fühle ihn jetzt noch in allen Gliedern. Und dabei sitze ich hier schon wieder gesichert beim freundlichen Lampenlicht, ich möchte sagen in einem Familienkreise. Ich sitze im allerbehaglichsten Heim, allerdings mit dem Unterschied, daß ich Sie alle« – es waren der Kapitän, der Maschinenmeister Wendler, der Bootsmann und der Erste Steuermann –, »daß ich Sie alle noch nicht recht für etwas so Geringes als nur für Menschen ansehen kann.«

Wilhelm sagte: »Als wir die ›Hamburg‹ sichteten, hatte ich gerade mein Testament gemacht. Denn ich gebe mich nicht so leicht wie Kollege von Kammacher. Als Ihr Schiff von der Größe einer Stecknadelkuppe langsam zur Größe einer ausgewachsenen Erbse wuchs, strengten wir schon – was irgend noch schreien konnte, schrie! – unsere Kehlen bis zum Bersten an. Als Ihre ›Hamburg‹ so groß wie eine Walnuß geworden war, Herr Kapitän, und wir erkannt hatten, daß wir gesichtet worden waren, fing Ihr Schiff für meine Augen wie ein ungeheurer Diamant oder ein Rubin zu flammen und wie mit Posaunen zu trompeten an. Der Osten, aus dem Sie kamen, Herr Kapitän, überstrahlte, weiß Gott, für mich den Westen, wo die Sonne noch über dem Meere stand. Wir haben alle geheult wie die Schloßhunde.«

»Es bleibt ewig wunderbar«, fuhr Friedrich fort, »wie auf einen solchen Morgen ein solcher Abend folgen kann. Ich habe Tage schockweise hinter mich gebracht, und sie waren nicht inhaltsvoller als Minuten. Ein Sommer verging. Ein Winter verging. Mir war es, als ob auf den ersten Schnee das erste Veilchen unmittelbar gefolgt wäre. Auf das erste Veilchen unmittelbar der erste Schnee. Was enthält dieser eine einzige Tag!« Doktor Wilhelm erzählte, daß die Matrosen des »Roland« schon in Cuxhaven wegen einiger Geistlichen abergläubisch erregt gewesen wären. Dann erwähnte er einen Traum, den seine alte Mutter in der Nacht, bevor er an Bord sollte, gehabt hatte. Eins ihrer längst verstorbenen Kinder, das im ganzen nach der Geburt nur vierundzwanzig Stunden geatmet hatte, war ihr, und zwar als erwachsener Mensch, erschienen und hatte von der Seereise auf dem »Roland« abgemahnt. Da man nun einmal auf das weite und in Kreisen von Seeleuten immer beliebte uferlose Gebiet des Aberglaubens gekommen war, fuhr man fort, Fälle von prophetischen Träumen, erfüllten Ahnungen, Erscheinungen Sterbender oder Toter aufzuzählen. Bei dieser Gelegenheit zog Friedrich auch das letzte Schreiben Rasmussens aus der Brieftasche, die er gerettet hatte, und las die Stelle, die also lautete: »Sollte es mir, nach dem großen Moment, aus dem Jenseits irgend möglich sein, mich bemerklich zu machen, so hörst Du später noch mehr von mir.«

Kapitän Butor fragte lächelnd, ob sich der Freund aus dem Jenseits denn nun auch gemeldet habe. »Folgendes ist mir im Traum begegnet«, sagte Friedrich, »urteilen Sie, ich weiß es nicht.« Ganz gegen seine sonstige Art entwickelte er nun jenen Traum, der mit der Landung in einem mystischen Hafen begonnen, mit den Lichtbauern geendet und ihn seither viel beschäftigt hatte. Er gab dabei die Personalien seines amerikanischen Freundes Peter Schmidt, von dem er, mit immer noch heiserer und bellender Stimme, erklärte, er habe ihm seinen Astralleib zur Begrüßung bis mitten auf den Atlantik entgegengeschickt. Er sprach von fourteen hundred and ninety-two, von der Caravella »Santa Maria« des Kolumbus, hauptsächlich aber von der Begegnung, die er mit Rasmussen, in Gestalt eines alten Krämers, gehabt hatte. Er gab von Rasmussens Anzug, von dem wunderlichen Meerschiff im Schaufenster des Kramladens, von dem Kramladen selbst und dem Gezwitscher und Geschwirr der Goldammern eine genaue Schilderung. Er zog sein Notizbuch und las die Worte, die der mysteriöse Krämer im Traum gesprochen hatte: »Ich tat genau am vierundzwanzigsten Januar, ein Uhr dreizehn Minuten, meinen letzten Atemzug.« – »Ob das wahr ist«, schloß Friedrich, »muß sich herausstellen. So viel ist sicher, wenn an diesem Traum irgend etwas nicht bloß ein leeres Spiel der Phantasie gewesen ist, so habe ich die Welt von jenseit mit der Seele gestreift und bin auf die kommende Katastrophe hingewiesen worden.«

Eh die kleine Familie der »Hamburg« sich von Tisch erhob, wurde noch einmal auf eine besonders ernste, ja feierliche Weise angestoßen.

 

Am nächsten Morgen erwachte Friedrich aus einem elfstündigen Schlaf. Doktor Wilhelm hatte die Behandlung der Kranken während der Nacht, soweit sie notwendig wurde, übernommen. Helle Sonne schien in Friedrichs schmale Kabine hinein, durch deren Jalousietür man ruhig sprechende Stimmen und das freundliche Klappern von Tassen und Tellern vernehmen konnte. Er besann sich auf nichts, glaubte, auf dem Post- und Schnelldampfer »Roland« zu sein, konnte aber die Veränderung seiner Kabine nicht mit dem Begriff in Übereinstimmung bringen, den er sich von seiner Schlafkammer auf dem »Roland« gebildet hatte. In seinem Befremden pochte er schließlich an die nahe Mahagonijalousie und hatte im nächsten Augenblick das frische, erholte Gesicht Doktor Wilhelms über sich. Die Kranken, sagte der Doktor, hätten, ausgenommen die Frau aus dem Zwischendeck, eine ruhige Nacht gehabt. Als er seinen klinischen Bericht eine Weile fortgesetzt und beinahe beendet hatte, merkte er, daß sein Kollege im Bett sich erst jetzt mit Mühe zu orientieren begann. Wilhelm lachte und brachte ihm einige der jüngsten Tatsachen in Erinnerung. Friedrich sprang auf und hielt sich die Schläfen. Er sagte: »Es geht mir eine wüste, unmögliche Menge Dinge im Schädel herum.«

Kurze Zeit danach saß er mit Doktor Wilhelm beim Frühstück, aß und trank, aber ohne daß dabei die Katastrophe erwähnt wurde. Ingigerd Hahlström war wach gewesen und wieder eingeschlafen. Der Barbier, Krankenpfleger und Matrose namens Flitte hatte ihre Kabinentür ins Schloß gedrückt. Der armlose Artur Stoß lag zu Bett und ließ sich bei geöffneter Tür, in aufgeräumtester Stimmung unter Späßen von seinem getreuen Bulke das Frühstück teils einflößen, teils in die Füße zureichen. Seinem Falsett schien die ganze überstandene Not nur mehr eine Kette komischer Situationen zu sein. Er erörterte unter gepfefferten Flüchen die Wahrscheinlichkeit, nicht pünktlich zum Anfangstermin seines Vertrages in New York zu sein, wodurch ihm mindestens eine Summe von zweihundert englischen Pfund verlorengehe. Dazu verwünschte er auf gut Englisch die ganze Hansa, besonders aber die »Hamburg«, den schäbigen Heringsdampfer, der höchstens seine zehn Knoten laufe.

Den Künstler Jakob Fleischmann aus Fürth hatten vierzehn Stunden ruhigen Schlafs zur Besinnung gebracht. Er bestellte von seinem Bett aus Eßbares, kommandierte und ließ den Steward springen. Er sprach sehr laut, und man hörte ihn immer wieder versichern, daß der Verlust seiner Ölbilder, Zeichnungen und Radierungen, die er in New York hätte an den Mann bringen wollen, zwar unersetzlich, daß aber unbedingt die Dampferkompanie dafür haftbar sei.

Rosa, das Dienstmädchen, nahm mit verweinten Augen, aber doch auch eifrig und glücklich, Kaffee, Zucker und Brot vom Tisch und brachte es ihrer Herrin in die Kabine. Es war erstaunlich, bis zu welchem Grade die Tote sich wieder erholt hatte. Als Friedrich nach dem Frühstück seine Visite bei der Dame machte, hatte sie nur einen dunklen Begriff davon, was mit ihr geschehen war. Sie sagte, sie habe herrlich geträumt, und als sie bemerkte, sie solle geweckt werden, habe sie ein Bedauern gefühlt.

Gegen zehn Uhr früh erschien Kapitän Butor in der Kajüte, fragte die Herren, wie sie geschlafen hätten, drückte ihnen beiden die Hand und erzählte, man habe die ganze Nacht auf der Brücke nach etwa weiter Geretteten Auslug gehalten. Da der Wind noch immer nordwestlich sei, wäre damit zu rechnen, daß man sich dem Kurs des Wracks, sofern es noch über Wasser sei, annähere. »Um ein Uhr nachts sichteten wir tatsächlich ein treibendes Wrack«, sagte er, »aber wir konnten feststellen, daß es von Menschen verlassen, älterer Herkunft und überhaupt kein Dampfer, sondern ein Segler war.« – »Vielleicht war es der Mörder des ›Roland‹«, sagte Wilhelm.

Der Kapitän bat in der Folge Doktor Wilhelm und Friedrich ins Kartenhaus, wo die gerettete Mannschaft des »Roland« bereits auf ihn wartete. Es kam darauf an, die Unterlagen für den knappen Seemannsbericht zu erhalten, den er der Agentur seiner Reederei in New York über die Aufnahme der Schiffbrüchigen und alle näheren Umstände zu erstatten hatte. Mit Feder und sonstigem Schreibzeug ward eine Art Verhör gehalten, wobei etwas wesentlich Neues über die Riesenkatastrophe nicht zutage kam.

Pander, der Schiffsjunge, zeigte den mit Bleistift geschriebenen Zettel, den Kapitän von Kessel ihm zur Besorgung an seine Schwestern gegeben hatte. Man betrachtete ihn und die wenigen Worte darauf mit Ergriffenheit. Bei dieser Gelegenheit ergab sich, wie sehr die Herzen und Nerven, sogar der Seeleute, durch den schrecklichen Vorgang gelitten hatten. Nicht nur Pander, sondern ebenso die Matrosen brachen bei Erwähnung dieses und jenes Menschen oder Umstandes in hysterische Tränen aus.

Nach Beendigung des Verhörs fühlte Friedrich das starke Bedürfnis, allein zu sein. Sonderbar: noch gestern abend hätte er zu lachen vermocht, heute hatte er ein Gefühl, als sei der Ernst seines Wesens zu Erz geworden und habe sich, nicht wie eine eiserne Maske, nicht wie ein bleierner Mantel, sondern viel eher ähnlich einem schweren metallenen Sarkophag um sein Wesen gelegt.

Friedrich spürte, das Ereignis hatte ihm eine finstere Erbschaft zurückgelassen. Es war ein schwarz zusammengezogener Ballen Gewölks, der drohend und brütend im Raum seiner Seele herumirrte. Friedrich mußte mit Willenskraft jedesmal ein Zittern bekämpfen, wenn etwas, einem Blitze ähnlich, aus diesem Gewölke brach und das ganze überstandene Schrecknis wie etwas noch Gegenwärtiges aufhellte.

Warum hatten die Mächte ihm den Jüngsten Tag nicht etwa als Vision, sondern wirklich gezeigt und hatten die unerhörte Parteilichkeit gehabt, mit den wenigen auch ihn dem Verderben entrinnen zu lassen? War er, die winzige Ameise, die so gigantische Schrecken aufzufassen imstande war, wichtig genug, um eine Führung für sich besonders, eine höhere Absicht im Guten oder im Bösen anzunehmen? Hatte er sich vergangen? War er strafwürdig? Aber dazu war dieses Ereignis des Massenmordes zu entsetzlich, zu riesenhaft! Es war lächerlich, ihm etwas wie eine pädagogische Absicht in bezug auf ein winziges Menschendasein unterzuschieben. Fühlte Friedrich doch auch, wie von dem großen Allgemeinen des Ereignisses alles Persönliche fast verdrängt worden war. Nein! in diesem Geschehnis waren, ausgenommen der furchtbar betroffene Mensch, nur blind zerstörende, taube und stumme Mächte am Werk.

Trotz alledem hatte Friedrich der Urtragik des Menschengeschlechts, der unabirrbaren Grausamkeit der Mächte und dem Tode ins Auge gesehen. Wenn auch ohne besondere höhere Fügung und Bestimmung, war er doch einer Erkenntnis teilhaft geworden, die etwas in seinem Wesen zur Härte des härtesten Felsens erstarren ließ. Wo lag der Sinn eines solchen Vorgangs, wenn die ewige Güte ihn angeordnet hatte, und wo lag ihre Allmacht, wenn sie ihn zu hindern nicht fähig war?

 

So langsam auf dem »Roland« die Zeit vorübergegangen war, so überraschend schnell hatte der Zeiger der Uhr auf der »Hamburg« zweimal zwölf Stunden zurückgelegt. Während dieser Zeit waren die beiden Damen zu Bett geblieben, obgleich das Wetter frisch und gleichmäßig war und den Aufenthalt an Deck ermöglichte. Die Folgen der Katastrophe zeigten sich bei Frau Liebling in Perioden starker Erregung und heftigen Herzklopfens, die von Angstzuständen begleitet waren, bei Ingigerd Hahlström in einer gesunden Schlafsucht, die den Gebrauch von Morphium, das man bei Frau Liebling anwandte, erübrigte. Beide geretteten Damen waren fieberlos. Dagegen hatte sich bei dem Matrosen, dessen Füße erfroren waren, Fieber eingestellt; auch war es den Ärzten nicht gelungen, die hohe Körpertemperatur bei dem Weibe aus dem Zwischendeck erheblich unter vierzig Grad herabzudrücken.

Sooft Friedrich bei der armen Schiffbrüchigen seinen Krankenbesuch machte, fühlte er sich versucht, ihr das Erwachen für immer zu ersparen. In den ersten Stunden hatten sich ihre Fieberphantasien mit dem Schiffsuntergang, ihrem Mann, ihrer Schwester und ihren Kindern beschäftigt. Endlich schien sie selbst zum Kinde geworden zu sein und im Elternhause Tage der Jugend zu durchleben: Schwalbennester, eine Kuh, eine Ziege, eine Wiese mit eingekapptem Heu, auf das es nicht regnen sollte, waren wichtige Dinge darin.

Artur Stoß, von seinem getreuen Bulke transportiert, und der Maler Fleischmann liefen bereits in bester Verfassung auf Deck herum oder lagen in den auch hier vorhandenen Deckstühlen. Die Ärzte, die auch an dem Monstrum noch Kleinigkeiten zu pflastern und zu massieren hatten, krähte der Artist in aufgeräumtester Stimmung an: »Ich sag' es ja immer, Unkraut verdirbt nicht, meine Herren! Durchgegerbtes Leder kann selbst Seewasser nicht angreifen. Ich bin ebensogut wie jede Ameise, die acht Tage, ohne draufzugehen, unter Wasser zubringen kann.«

Ella Liebling war, dank der unermüdlichen Sorgfalt Rosas, mit einem starken Schnupfen davongekommen. Ihre Kleider waren getrocknet worden, und das kleine Mädchen stieg, kokett und niedlich anzusehen, unter Aufsicht aller in allen Winkeln der »Hamburg« herum. Ihr Freipaß gestattete ihr, nach Belieben zu Kapitän Butor auf die Kommandobrücke, mit den Maschinisten in die Maschine, ja bis in den Tunnel der dicken Schraubenwelle hinabzuklettern. Sie war der Verzug von jedermann. Natürlich, daß bald jedermann über Lebenslage und Lebensweise der Frau Mama Bescheid wußte.

Es war ein Fest für die gesamte kleine Schiffsfamilie, als man Ingigerd, nachdem sie lange Bettruhe genossen hatte, in Friedrichs geretteten Mantel gewickelt, an Deck brachte. Das süße, blonde Geschöpf, das seinen Vater verloren hatte, wurde von allen Männern an Bord mit demselben männlichen Mitleid betrachtet. Der brave Schiffsjunge Pander war zu ihrem Schatten geworden. Aus einer Kieler-Sprotten-Kiste hatte er für sie eine Fußbank konstruiert, und während sie dasaß und mit Friedrich sprach, stand er entfernt, aber nahe genug, um ihre Befehle entgegenzunehmen. Auch Flitte, Matrose und Heilgehilfe, lief mit besonderem Eifer hin und her, um kleine Obliegenheiten der Pflege des Mädchens nicht zu versäumen.

Überhaupt war der Ruf nach Flitte derjenige, der am meisten gehört wurde. Der kleine, untersetzte Mensch aus der Mark, den Abenteuerlust aus einem Barbier und Heilgehilfen zum Matrosen gemacht hatte, erlebte inmitten seiner Schiffsfamilie unerwartet einen Triumph seiner Persönlichkeit. Bald rief Frau Liebling, bald Ingigerd, bald der Matrose mit den erfrorenen Füßen, bald Fleischmann, bald Stoß, bald sogar Bulke und Rosa nach ihm, Rosa, die sich mehrere Stunden am Tag in der schmalen Küche des alten und pfiffigen Schiffskochs nützlich machte. Auch die Ärzte hatten natürlich fortwährend mit Flitte zu tun, und es war selbstverständlich, daß er auch in den Augen seines vergötterten Kapitäns, den er im gewöhnlichen Lauf der Dinge zu rasieren hatte, jetzt ein Mann von ganz anderer Bedeutung geworden war.

Es war nicht zu leugnen: die unerwartete Ankunft des kleinen Trupps wunderlicher Passagiere mitten im Ozean hatte eine Erregung, die ebenso ernst als festlich war, bei Kapitän und Besatzung des kleinen Frachtdampfers hervorgerufen. Die Ärzte mußten sich immer wieder vom Kapitän, vom Bootsmann, vom Ersten Steuermann, vom Schiffskoch, vom sächsischen Maschinisten Wendler die Geschichte ihrer eigenen Sichtung und Bergung wie ein fremdes Ereignis vortragen lassen. An der Erregung, mit der es geschah, erkannten sie, wie es auch diesen Seebären ein unerhörtes Ereignis bedeutete. Keiner von ihnen hatte, solange er auf See war, eine solche Beute herausgefischt.

 

Ingigerd lag auf ihrem bequemen Deckstuhl ausgestreckt, und Friedrich hatte sich auf einem Feldstühlchen ihr gegenüber niedergelassen. Kollege Wilhelm und infolge seines Einflusses alle, die auf der »Hamburg« vereinigt waren, sahen Friedrich als den romantischen Retter und Verehrer der Kleinen an. Jedermann war sich mit Respekt und Interesse bewußt, der Entwicklung eines gleichsam vom Himmel selber sanktionierten Romanes beizuwohnen. Ingigerd war Friedrich gegenüber von einer schweigenden Fügsamkeit, als ob sie, ein gehorsames Mündel, in ihm den natürlichen Vormund sähe.

Das Wetter war frisch und bei mäßigem Seegang vollkommen klar geworden. Plötzlich, nach längerem Schweigen, das Friedrich ihr auferlegt hatte, fragte ihn Ingigerd: »Sind wir eigentlich wirklich bloß durch Zufall auf dem ›Roland‹ zusammengekommen?« Friedrich wich aus, indem er zur Antwort gab: »Es gibt keinen Zufall, oder alles ist Zufall, Ingigerd!« Damit war sie indessen nicht zufrieden. Sie ließ nicht nach, ehe sie über die Gründe und Umstände, die Friedrich noch vor Southampton auf den »Roland« geführt hatten, im klaren war. Da schloß sie: »Also hätte ja wenig gefehlt, und Sie wären präzis um meinetwillen zugrunde gegangen. Nun sind Sie dafür mein Retter geworden.« Mit diesem kurzen Hin und Her des Gesprächs ward das Band zwischen beiden fester gezogen.

Ausgenommen bei Friedrich und Ingigerd, nahm das Bewußtsein des neugeschenkten Daseins in den Geretteten, auch nach außen, übermütige Formen an. Nicht viel mehr als zweimal vierundzwanzig Stunden lagen zwischen jetzt und dem Schiffsuntergang, und die heiterste, unbefangenste Lustigkeit brach vielfach bei eben den gleichen Menschen aus, die alle brutalen Schrecken dieses Vorgangs durchlebt hatten. Artur Stoß hatte in seinem ganzen Leben wohl kaum jemals ein Publikum so wie jetzt den Kapitän, den Ersten Steuermann, den Bootsmann, den Obermaschinisten Wendler, den Schiffskoch, den Maler Fleischmann, Doktor Wilhelm, ja selbst Frau Liebling zum Lachen gebracht.

Was den Maler Fleischmann betraf, so tat er das gleiche unfreiwillig und unbewußt, was der Artist aus guter Laune und Absicht besorgte: konnte doch nichts unterhaltlicher sein, als wenn der schwarzgelockte Mensch, der seine schwarze Samtjacke und eine ebensolche Hose, durchtränkt von Seewasser, gerettet hatte, bei seinen malerischen Theorien auf seinen eingebüßten Bilderschatz zu exemplifizieren begann. Immer wieder machte sich Stoß den Spaß, das knotige Urgenie zur Schilderung seiner Gemälde zu veranlassen, deren Verlust, nach Fleischmanns Ansicht, bei der ganzen Katastrophe des »Roland« der schwerste war. Oder Doktor Wilhelm, wenn Ingigerd nicht zugegen war, brachte den Maler auf die näheren Umstände seiner Errettung. Diese nämlich stellten sich im Haupte des Künstlers auf eine ihn selber im höchsten Grade glorifizierende Art und Weise dar, und alle vorwiegend kläglichen Zwischenfälle, die ihn betroffen hatten, waren ihm gänzlich abhanden gekommen.

Allgemein bekannt auf dem Schiffe, wie der jeweilen erreichte Kurs eines Staats- oder Industriepapiers, war die letzte Summe, womit Fleischmann seinen Verlust an Bildern und seine Ansprüche an die Schiffsgesellschaft bewertete. Sie waren in zwei und einem halben Tag von dreitausend Mark auf mindestens fünfundzwanzigtausend Mark hinaufgeschnellt. Und vorläufig war nicht abzusehen, welche Höhe sie noch erreichen konnten.

Fleischmann hatte sich auf der »Hamburg« Konzeptpapier und Bleistift zu verschaffen gewußt und war seitdem unermüdlich beschäftigt, jedermann auf dem Schiffe zu karikieren. So kam es, daß er jetzt, da Friedrich und Ingigerd keines weiteren Menschen bedurften, zuweilen der ungebetene Dritte war. Friedrich geriet dann in üble Laune. »Ich wundere mich«, sagte er einmal, nicht gerade liebenswürdig, zu ihm, »Sie nach einem so ernsten Ereignis schon wieder zu solchen Spaßen fähig zu sehen.« – »Starker Charakter!« sagte Fleischmann lakonisch. – »Glauben Sie nicht«, fuhr Friedrich fort, »Fräulein Hahlström könnte sich durch Ihr ständiges Anblicken geniert fühlen?« – »Nein«, sagte Fleischmann, »das glaube ich nicht!« Ingigerd aber nahm seine Partei und erhöhte damit Friedrichs Unbehagen.

Man hatte Frau Liebling den Tod des kleinen Siegfried bis jetzt noch nicht mitgeteilt. Nun war Verdacht in ihr aufgestiegen, da sie nur immer die kleine Ella zu sehen bekam. Flitte und Rosa, von ihr gebeten, Siegfried herbeizuholen, waren ohne ihn wiedergekehrt und hatten sich schließlich durch die erregte und beängstigte Frau die Erklärung, der Knabe sei krank, abpressen lassen. »Was fehlt meinem süßen armen Siegfried?« rief sie Friedrich entgegen, als er in ihre Kabine kam. Gleich darauf fiel sie, die Hände vor beide Augen gedrückt, in die Kissen zurück und sagte: »O Gott, o Gott, es ist ja nicht möglich!« Und dann, ohne abzuwarten, was Friedrich vorbrachte, weinte sie still und ehrlich in sich hinein.

 

Am folgenden Tage, gegen die Mittagszeit, wurde sie von Doktor Wilhelm und Friedrich an Deck geführt. Auf alle, die sie nicht wiedergesehen hatten, seit sie als Leichnam aus dem Boot an Bord geschleppt worden war, machte das Erscheinen der wieder lebendig gewordenen Frau einen grauenerregenden Eindruck. Die Matrosen richteten scheue Blicke auf sie, und während jeder von ihnen sich beeiferte, Ingigerd Hahlström die Wünsche von den Augen zu lesen, hielten sie sich von Frau Liebling fern, als ob sie noch immer zweifelten, es mit einem natürlichen Menschen zu tun zu haben. Warum sollte nicht, wenn das Meer, wenn das Grab seine Toten wiedergab, auch der kleine Siegfried aus seiner Totenkammer wieder hervorgehen?

Als man die schöne, blutlose Dame, mit einem Mantel des Kapitäns und Wolldecken wohlverwahrt, in eine bequeme Lage gebracht hatte, blickte sie lange stumm in die Weite der ruhigen See hinaus. Dann sagte sie plötzlich zu Friedrich, dessen Gesellschaft sie gewünscht hatte: »Sonderbar, es ist mir nicht anders zumute, als hätte ich einen fürchterlichen Traum gehabt. Aber eben nur einen Traum, das ist das Seltsame. Und wenn ich mir noch soviel Mühe gebe, so kann ich mich nicht überzeugen, außer wenn ich an Siegfried denke, daß der Traum etwas wirklich Erlebtes widerspiegelt.«

»Wir dürfen nicht grübeln«, sagte Friedrich.

»Gewiß«, fuhr sie, ohne ihn anzusehen, fort, »gewiß, ich habe nicht immer recht gehandelt. Ich denke an Strafe. Habe ich aber Strafe verdient, so hat sie doch Siegfried nicht verdient. Und warum bin ich entlassen worden?« Sie schwieg und kam dann auf dies und das aus ihrer Vergangenheit: Kämpfe mit ihrem Mann, mit dem sie in der üblichen Art und Weise verkuppelt worden war und der sie zuerst betrogen hatte. Sie sagte, sie sei eine Künstlernatur, und der alte Rubinstein, dem sie, elf Jahre alt, vorgespielt, habe ihr eine große Zukunft vorausgesagt. Sie schloß: »Von Küche und Kindern verstehe ich nichts. Ich war immer schrecklich nervös, aber ich werde doch wohl meine Kinder liebhaben! Hätte ich sie wohl sonst meinem von mir geschiedenen Manne abgetrotzt?«

Friedrich machte tröstliche Redensarten, worunter auch hie und da etwas minder oberflächlich Gedachtes zutage kam: so, was er von Sterben und Auferstehen und von der großen Sühne sagte, die jede Art Tod, ja sogar der bloße Schlaf einschließe. »Wenn Sie ein Mann wären, gnädige Frau«, sagte er, »so würde ich Ihnen Goethe empfehlen. Ich würde sagen, lesen Sie recht oft den Beginn des zweiten Teils des ›Faust‹:

Kleiner Elfen Geistergröße
eilet, wo sie helfen kann . . .

oder:

Besänftiget des Herzens grimmen Strauß,
entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile,
sein Innres reinigt von erlebtem Graus . . .

und so weiter. Bei alledem, was wir erlebt haben, spüren Sie nicht ein Gefühl der Entsühnung, der Reinigung?« – »Mir ist«, sagte die Wiederauferstandene, »als ob mein früheres Leben in einer unendlichen Ferne läge. Ein unübersteiglicher Gebirgszug liegt seit dem Ereignis vor meiner Vergangenheit.« Sie endete: »Gehen Sie, Doktor, Sie langweilen sich! Sie sollen bei mir nicht Ihre kostbare Zeit unnütz vertun.«

Aber Friedrich unterhielt sich eigentlich lieber mit Frau Liebling als mit Ingigerd. Wenn er sich langweilte, so geschah es viel eher bei der Kleinen als hier. »O bitte«, sagte er deshalb, »nur keine Sorge!«

»Meine Mutter stellte mir vor«, fuhr Frau Liebling fort, »es sei unrecht, die Kinder mit über See zu nehmen. Hätte ich ihr gefolgt, Siegfried wäre heut noch am Leben. Sie kann mir mit Recht einen Vorwurf machen. Und wie soll ich schließlich, nach diesem furchtbaren Fall, auch vor Siegfrieds Vater stehn! Auch er tat, was er konnte, durch Briefe, durch Freunde, auch durch Anwälte, um die Kinder zurückzuhalten.«

 

Kleine Unstimmigkeiten zwischen Ingigerd und Friedrich abgerechnet, ging es auf der »Hamburg«, bei gleichmäßig schönem Wetter, gutgelaunt und lebhaft zu. Die Stätte des Schreckens lag bereits sechs-, sieben-, achthundert Meilen zurück im Ozean, und man wurde mit jeder Minute tiefer ins neugeschenkte Leben hineingetragen. Die Südfruchtladung im Raum des Schiffs gab Gelegenheit, die Damen immer aufs reichlichste zu versorgen. Nicht selten wurde, zur Belustigung Ingigerds, von den Herren mit großen Orangen Fangball gespielt. Die See, der Atlantische Ozean schien um die »Hamburg« her ein ganz anderer zu sein als jener, der den »Roland« verschlungen hatte. Er legte sich wie ein zweiter, wellenwerfender Himmel unter das Schiff, das er nur gerade wohlig schaukelte. Auch der kleine, über der Wasserlinie schwarz-, unter ihr rotgestrichene schmucklose Kauffahrer war in seinem Gange nicht ohne Majestät. Mit dem Wunderwerk der Technik, dem »Roland«, verglichen, bedeutete er eine alte, gemütliche Postkutsche, die aber zuverlässig und hurtig ihre zehn Knoten die Stunde lief. Kapitän Butor behauptete allen Ernstes, die Schiffbrüchigen hätten ihm Glück gebracht. Vom Augenblick ihres Erscheinens an sei der alte Ozean still und sanft wie ein achtzigjähriger englischer Pfarrer geworden. »Ja«, sagte Stoß, »aber der alte englische Pfarrer hat sich vorher, Teufel nochmal, an einigen Hekatomben von Menschenfleisch sattgefressen. Trau, schau, wem! Wenn er verdaut hat, wird er noch besseren Appetit kriegen.«

Allein die Reise verlor bis zum Schluß, trotzdem man einen Toten und die schwerkranke Frau an Bord hatte, nichts mehr von ihrer Festlichkeit. Die Kommandobrücke war freies Gebiet, und man sah meist, solange die Sonne schien, Ingigerd dort mit Herrn Wendler Schach spielen oder zuschauen, wenn Friedrich dem Obermaschinisten Partie auf Partie abgewann. Die gesamte Mannschaft, nicht am geringsten der Kapitän, empfand der Beute wegen, die man auf hoher See geborgen hatte, tiefste Befriedigung. Hätten sich die Hochgefühle, die in den Menschenherzen an Bord der wackeren Frachtkutsche »Hamburg« frei wurden, in Odstrahlen umgesetzt, der Dampfer wäre mitten am Tag von einer besonderen Gloriole umgeben gewesen.

Man wettete auf die Lotsennummer, kurz ehe der Lotsenkutter, mit Nummer fünfundzwanzig im Segeltuch, plötzlich ganz in der Nähe auftauchte. Artur Stoß, der gewonnen hatte, ließ, fast erstickend vor Lachen, ein erhebliches Sümmchen durch Bulke einstreichen. Der enge Zusammenschluß mit den Reisegefährten machte Friedrich innerlich ungeduldig. Er hatte noch nicht, wie sie, das alte Verhältnis zum Leben wiedererlangt. Eine gewisse Taubheit der Seele beherrschte ihn. Die Empfindung für seine Vergangenheit, die Empfindung für seine Zukunft, ja seine Leidenschaft für Ingigerd waren ihm abhanden gekommen. Es war, als ob ein Riß in der Stunde der Schrecken alle Verbindungsfäden zu Ereignissen, Menschen und Dingen seines bisherigen Lebens getrennt hätte. Er spürte, sooft er Ingigerd ansah, eine dumpfe Verantwortung. In diesen Tagen schien es beinahe, als wenn das vorwiegend ernst und weich gestimmte Mädchen auf eine Erklärung seiner Neigung gewartet hätte. Sie sagte einmal: »Ihr wollt alle nur euer Vergnügen, aber keiner will etwas ernsthaft von mir.« Friedrich verstand sich selber nicht. Hahlström war dahin, Achleitner hatte seine hündische Liebe büßen müssen, und das Mädchen, in einem gewissen Sinne durchgeschüttelt und durchgeläutert, war, wie Friedrich jetzt Grund zu glauben hatte, Wachs in seiner Hand. Oft traf er ihr Auge, wenn es ihn lange nachdenklich-ernst betrachtet hatte. Dann kam sich Friedrich recht kläglich vor, denn er mußte sich eingestehen, daß er, der sie einst mit dem ganzen Reichtum einer leidenschaftlich liebenden Seele hatte überschütten wollen, mit leeren Händen vor ihr stand. Er sollte reden, die Schleusen aufziehen, hinter denen die Fluten seiner leidenschaftlichen Liebe sich doch gestaut haben mußten, und blieb in tiefer Beschämung stumm, weil er wußte, daß vorläufig alles Wasser versiegt, alle Quellen vertrocknet waren.

 

Es war gegen zehn Uhr früh am sechsten Februar, als Kapitän Butor an der kleinen, zwischen den Krimstechern sitzenden, mit den schlanken Beinchen lustig baumelnden Ella Liebling vorüber durch das Glas Land sichtete. Es war ein erschütternder Augenblick, als die Nachricht davon zu den Passagieren drang. Der Steward, der sie in Friedrichs Kabine rief und im nächsten Augenblick wieder verschwand, ahnte nicht, wie sehr sein kurzer Zuruf »Land!« den Fremden getroffen hatte. Friedrich schloß die Kabine und wurde von einem gewaltsam tonlos gemachten, hohlen und tiefen Schluchzen geschüttelt. So ist das Leben, drang es ihm durch das Herz: wurde nicht eben erst in finsterer, trostloser Nacht das Wort »Gefahr!« in meine Kabine wie das Todesurteil in die Zelle eines armen Sünders hineingerufen? Und nun die Schalmei in das Schüttern des noch nicht verrollten Donnerschlags. Und jetzt erst, im Weinen, und nachdem er sich ausgeweint hatte, spürte Friedrich ein Schaudern, als ob sich das Leben im Triumph wieder annähere. Ihn packte ein Rausch, als ob eine ungeheure Armee mit klingendem Spiel von ferne her anrücke: eine Armee von Brüdern, bei denen er wieder daheim und sicher war. Nie hatte er das Leben so angesehen. Nie war es ihm so entgegengeflutet. Man muß sehr tief in Verwirrung und Finsternis verstoßen werden, um zu wissen, daß in allen Himmeln keine schönere Sonne als unsre vorhanden ist.

Auch die übrigen Schiffbrüchigen und Geretteten wurden, jeder auf seine Weise, von dem Rufe »Land!« in Erregung versetzt. Man hörte Frau Liebling in der nahen Kabine nach Rosa und Flitte rufen. »Per bacco, mein alter Schlingel«, sagte Stoß zu seinem getreuen Bulke laut, »per bacco, wir werden also doch nochmal wieder Land unter die Pfoten kriegen.« Doktor Wilhelm guckte zu Friedrich hinein: »Gratulor, Kollege von Kammacher«, sagte er. »Das Land des Kolumbus ist gesichtet. Wir haben den Vorteil, keine Koffer packen zu müssen.« Hinter Doktor Wilhelm blickte plötzlich der dicke Obermaschinist Wendler herein. Er war etwas komisch anzusehen. Er sagte: »Doktor, Sie müssen gleich an Deck kommen. Ihr Schützling löst sich in Tränen auf.« Natürlich betraf dies Ingigerd. Sie weinte, als Friedrich bei ihr erschien, und seine Tröstungen wollten nicht fruchten. Er hatte das Mädchen bisher niemals weinen gesehen. Ihr Zustand, der jenem so ähnlich war, den er kaum überwunden hatte, erregte ihm Mitleid und Sympathie. Aber auch jetzt blieben Mitleid und Sympathie mehr väterlich. Sie sagte plötzlich: »Ich bin nicht schuld, daß mein Vater zugrunde gegangen ist! Nicht einmal für Achleitner bin ich verantwortlich, ich habe ihm von der Reise im guten und bösen abgeraten.«

Friedrich streichelte Ingigerd.

 

Der Kurs der »Hamburg« ließ mehr und mehr die gewaltige Ozeaneinsamkeit hinter sich. Man sah nicht mehr nur dieses und jenes Schiff, das dem Hafen zustrebte, sondern allbereits war die Wasserfläche von einer großen Anzahl kommender und gehender Dampfer und Segler belebt, wodurch sich die Nähe des großen Hafens ankündigte. Schon sah man den Leuchtturm von Sandy Hook. Obgleich nun Ingigerd und Friedrich das innere Schwingen ihrer durch und durch erschütterten Seelen nicht zur Ruhe bringen konnten, wurden sie doch von den wechselnden Bildern der Einfahrt angezogen. Staunen folgte auf Staunen, und fast von Sekunde zu Sekunde beherrschte sie eine neue Form der Ergriffenheit.

Mit klingendem Spiel kam ein White-Star-Dampfer langsam vorbeigezogen. Er trat soeben die von der »Hamburg« beinahe vollendete Reise aufs neue an. Auf den Decks des majestätischen Schiffs wimmelten Passagiere wie Ameisen. Ihre Stimmung schien heiter bewegt und festlich zu sein. Was wußten sie jetzt von dem, was möglicherweise ihrer wartete? Und wenn sie auf die kleine »Hamburg«, mit den wenigen Passagieren an Deck, herabsahen, so kam ihnen auch nicht die leise Ahnung von der Größe und Furchtbarkeit des Ereignisses, das diese wenigen Menschlein als einzige Zeugen entlassen hatte.

Was bei dieser Einfahrt an Sandy Hook vorüber, durch die Lower Bay auf die Engen zu, die Erregung und Bewegung der Nerven, wie von Feuer und Tränen, nicht zur Ruhe kommen ließ, das war zugleich Abschied von Heimat und Meeresgefahr und Wiedersehen. Das Wiedersehen des festen Landes und der gesicherten menschlichen Zivilisation. Dies war der Mutterschoß, dem man entsprossen und in dem man bis zur Zeit der geistigen Lebensreife gewachsen war. So erlebte man eine Art Heimkehr, aber doch mit dem eigentümlichen Nebengefühl, als käme man auf einem fremden Planeten an. Da draußen im Meer und über dem Meer webte das Grauen der Einsamkeiten, darin der Mensch, der alles sieht, ein Ungekannter, Ungesehener, von Gott und Welt Vergessener bleibt. Das Mörderische in diesen Zwischenreichen ist es, was der Mensch in seinem erwärmten, wimmelnden und raspelnden Ameisenhaufen, um glücklich zu sein, vergessen muß: der Mensch, dieses insektenhafte Gebilde, dessen Sinnesapparat und dessen Geist ihn gerade nur zur Erkenntnis seiner ungeheuren Verlassenheit im Weltall befähigt.

Segler kreuzten, Dampfer tuteten. Scharen von Möwen fischten oder warfen sich da- und dorthin durch die frische, bewegte Luft. Ein zweiter großer atlantischer Dampfer näherte sich bei Norton Point, der Hamburg-Amerika-Linie angehörend. Das Riesengebäude wurde wie durch eine geheime Kraft ruhig und sicher vorwärtsgeschoben. Deutlich vernahm man das Gong, das die Passagiere von den Promenadendecks zur Tafel rief.

»Jetzt«, sagte Friedrich, indem er die Uhr aus der Tasche zog, »ist es in Europa eine Viertelstunde vor sieben und herrscht schon nächtige Finsternis.«

Kapitän Butor hatte mit der Quarantänestation Flaggensignale gewechselt, die »Hamburg« stoppte, und die Sanitätskommission erschien an Bord. Nach längeren Unterhandlungen und genauer Information durch die Ärzte wurden die kranke Frau und, mit Bewilligung von Frau Liebling, die Leiche des kleinen Siegfried von Bord gebracht. Friedrich sorgte dafür, daß Frau Liebling in ihrer Kabine blieb und ein allzu schmerzlicher Auftritt vermieden wurde. Dann ging die wackere »Hamburg« mit Volldampf durch die Narrows in die herrliche Upper Bay hinein.

Die Statue der Freiheit, das Geschenk der französischen Nation, wird noch immer von den Reisenden, lange bevor sie auftaucht, mit bewaffnetem Auge gesucht. Auch Friedrich huldigte ihr in Gedanken, als er sie mitten im Wasser auf einer sternförmigen Basis aufragen sah. Sie erschien hier nicht gerade riesenhaft, aber sie gab ihm doch einen schönen Klang, mehr der Zukunft als der Gegenwart, einen Klang, der sogar sein Herz berührte und selbst in der wunderlichen Verfassung, in der er war, ihm die Brust weitete. Die Freiheit! Mochte das Wort gemißbraucht sein, es hatte von seinem Zauber und von seiner Zukunft nichts eingebüßt.

 


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