Gerhart Hauptmann
Atlantis
Gerhart Hauptmann

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Das erste, was Friedrich nach dem Erwachen tat, war, nach der Uhr zu sehen. Ihm sagte ein dumpfes Gefühl, er müsse Tage und Nächte verschlafen haben. Aber es waren seit seinem letzten Erwachen höchstens sechs Minuten verstrichen.

Ihn ergriff ein Schauder sehr eigener Art. In seiner Erregung kam es ihm vor, als sei er einer Offenbarung gewürdigt worden. Er nahm sein Notizbuch aus dem Netz über seinem Bett und notierte das Todesdatum samt der Sterbestunde, die der seltsame Krämer und Trödler genannt hatte: ein Uhr dreizehn, hörte er noch die Stimme Rasmussens sagen, ein Uhr dreizehn, am vierundzwanzigsten Januar.

Die Bewegung des Meers und also des Schiffes hatte ein wenig zugenommen. Außerdem fing die große Sirene zu brüllen an. Friedrich überkam ein Anfall von Ungeduld. Der wiederholte, donnerähnliche Ruf der Sirene, der Nebel anzeigte, die Schwankung des Schiffes, die vielleicht nur das Vorzeichen neuer Stürme und neuer Strapazen war, machten Friedrich in einem grämlichen Sinne ärgerlich. Aus dem abenteuerlichen Getriebe hinter seiner Stirn war er in das nicht minder abenteuerliche der wirklichen Welt versetzt worden. Im Traume gelandet, fand er sich, erwacht, in die enge Kabine eines die hohe See durchpflügenden Dampfers gesperrt, eines Fahrzeugs, das, von bangen und schweren Träumen vieler Menschen belastet, seltsamerweise trotzdem nicht unterging.

Schon vor halb sechs war Friedrich an Deck, wo der Nebel wieder gewichen war und über die Kimme einer mäßig bewegten, bleiernen See ein nächtlicher Morgen heraufdämmerte. Das Deck war leer und machte den Eindruck öder Verlassenheit. Die Passagiere lagen in ihren Kojen, und da man auch von der Mannschaft zunächst niemanden sah, schien es, als ob das gewaltige Schiff seinen Kurs ohne menschliche Leitung fortsetzte.

 

Friedrich stand hinten bei der Logleine, die in der breiten, zerquirlten Kielstraße nachschleifte. Auch in dieser gespenstischen Vormorgenstunde verfolgten hungrige Möwen das Schiff, manchmal sich nähernd, manchmal zurückbleibend und immer wieder mit dem trostlosen Schrei verdammter Seelen ins Kielwasser stoßend. Dies war nicht Traum, und doch wußte es Friedrich davon kaum zu sondern. Noch von dem Wunderlichen und Befremdlichen des Traumerlebnisses durchdrungen, empfand er nun, überreizt wie er war, die fremde und wogende Ödenei des Weltmeers nicht minder wunderbar. So hatte es seine Wasserberge unter den blinden Augen von Jahrmillionen einhergewälzt, nicht minder blind als die Jahrmillionen. So war es gewesen, nicht anders, seit dem ersten Schöpfungstag: am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Friedrich fror. Hatte er je mit etwas anderem als mit Geist und Geistern, das heißt mit Gespenstern gelebt? Und befand er sich nicht im Augenblick mehr als je von dem geschieden, was ihm unter dem Namen Wirklichkeit als unerschütterlich fester Boden gegolten hatte? Glaubte er nicht in diesem Zustand an Ammenmärchen und Schiffergeschichten? an den fliegenden Holländer und den Klabautermann? Was verbarg dieses seine Wogenzüge grenzenlos wälzende Meer? War nicht alles aus ihm hervorgestiegen? Alles wieder in seine Tiefen hinabgetaucht? Warum sollte nicht irgendeine Macht Friedrich einen Geisterblick in die versunkene Atlantis eröffnet haben?

Friedrich durchlebte tiefe und rätselvolle Minuten einer furchtbaren und doch auch beglückenden Bangigkeit: Da war das Meer, auf dem das scheinbar verlassene Schiff, klein in dieser Unendlichkeit, vorwärtstaumelte: vor ihm kein sichtbares Ziel, hinter ihm kein sichtbarer Ausgangspunkt. Da war der Himmel, der es trüb und grau belastete. Da war er selber, Friedrich, als der Vierte im Bunde, allein, und was nicht tot war in dieser Öde, hatte sich in Visionen, Besuche von Schatten und Schemen in seinem Innern umgebildet. Der Mensch ist dem Unerforschlichen immer allein gegenübergestellt: das gibt ihm die Empfindung von Größe zugleich mit der der Verlassenheit. Da stand ein Mensch am Hintersteven eines Schiffs, in der weichenden Urnacht des dämmernden Morgens durch unsichtbare, glühende Fäden seines Geschickes mit zwei Erdteilen fest verknüpft, und erwartete die neue, weniger quälende Form des Lebens von der Sonne, einem fremden, viele Millionen Meilen von dem Planeten Erde entfernten Gestirn. Dies alles war ihm in einem fast vernichtenden Sinne wunderbar. So, als sei er in Wunder eingekerkert. Und es wandelte ihn, in einer plötzlichen Hoffnungslosigkeit, jemals aus dem erstickenden Zwange der Rätsel und Wunder befreit zu sein, die Versuchung an, sich über die Reling hinabzustürzen. Und schon überkam ihn die Scheu eines Menschen, der ein böses Gewissen hat. Er blickte sich um, wie wenn er fürchte, ertappt zu werden. Die Brust war ihm schwer, als hätte er niederziehendes Blei darin.

In diesem Augenblick hörte er sich mit einem kräftigen »Guten Morgen!« ansprechen. Es war der Erste Steuermann, Herr von Halm, der zur Brücke ging. Und sogleich, vor der gesunden Schönheit des Sprachlautes, wich der Spuk, und Friedrichs Seele ward dem Dasein zurückgegeben. »Wollten Sie Tiefseeforschungen machen?« fragte Herr von Halm. Friedrich lachte: »Jawohl, es fehlte nicht viel«, sagte er, »so hätte ich eine Lotung nach der versunkenen Atlantis unternommen.«

Er sprang ab: »Wie denken Sie über das Wetter?« – Der Recke hatte Südwester und Ölzeug angelegt und wies Friedrich an das Barometer, das erheblich gefallen war. Adolf, der Steward, suchte Friedrich. Er hatte ihn in der Kabine vermißt und brachte ihm Zwieback und Tee an Deck. Friedrich nahm, wie tags zuvor, gegenüber der Kajüttreppe Platz, schlürfte wohlig und wärmte sich an der Tasse die Hände.

Und seltsam: ehe er seinen Tee getrunken und seinen Zwieback geknabbert hatte, fing es im Takelwerk der Notmasten wieder zu sausen an. Eine eigensinnige steife Brise drückte sich backbord gegen das Schiff und legte es auf die Steuerbordseite. Friedrich haderte innerlich, wie wenn er mit jemand wegen der kommenden neuen Reisemühsal zu rechten hätte.

 

Als er und Wilhelm gegen acht Uhr früh im großen Speisesaal das eigentliche Frühstück genossen, erbebte das Schiff und rannte scheinbar hart gegen Felsen an. Das niedrige, hie und da elektrisch beleuchtete, im ganzen von trostlosem Dämmer erfüllte Kastenfach des Salons wurde in einem ziemlich tollen Tanz, mit allem, was darin war, hoch hinausgehoben oder ins gurgelnde Meer versenkt. Man lachte, und die wenigen Herren, die sich zum Frühstück gewagt hatten, suchten durch Späße und Witze über die nicht gerade rosige Lage hinwegzukommen. Friedrich meinte, er spüre unter dem Magen jenes Gefühl, das ihm schon als Kind das hohe Schaukeln verboten habe.

Wilhelm sagte: »Kollege, wir sind in des Satans Waschküche, da tut sich was, wogegen alles Bisherige nicht zu rechnen ist!« Und das Wort »Zyklon« wurde irgendwo ausgesprochen. Das Wort »Zyklon« ist ein furchtbares Wort, aber es schien auf den braven »Roland«, der, ein Vorbild entschlossener Pflichterfüllung, Wasser verdrängte und Breschen riß, keinen Eindruck zu machen. New York war das Ziel, und er eilte vorwärts.

Friedrich wollte an Deck, aber dort sah es böse aus, so daß er sich nicht hinauswagen konnte. Er mußte auf der obersten Stufe unter dem Schutz des Treppendaches stillestehen. Das Niveau des Meeres schien höher geworden, so daß es war, als wenn der »Roland« fortwährend in einer tiefen Gasse ginge. Man konnte dem Eindruck und Irrtum unterliegen, als müsse jeden Augenblick durch den Zusammenschluß der Oberfläche des Meeres über der Gasse das Schicksal des Schiffes entschieden sein. Matrosen und Schiffsjungen stiegen umher, um alles nicht Niet- und Nagelfeste zu kontrollieren und fester zu ziehen. Bereits waren Wogen übergekommen. Das Salzwasser rannte und schoß über Deck, dazu peitschte Regen und Schnee vom Himmel. In allen Tönen heulte, stöhnte, surrte und pfiff das Takelwerk. Und dieser harte und schaurige Zustand, mit dem rauschenden, brummenden, ewig dröhnenden, ewig zischenden gewaltigen Wasserlärm, durch den sich der Dampfer wie in wilder und blinder Trunkenheit vorwärtswälzte, dieser rasende, trostlose Taumel hielt Stunde um Stunde an und hatte, als es Mittag geworden war, zugenommen.

Der Ruf zum Lunch schmetterte trotzdem über Deck und durch die knackenden Dachsfahrten des Schiffes dahin; aber es waren nur wenige, die ihm Folge leisteten. Der lange Hahlström hatte an der gähnenden Tafel bei Friedrich und Doktor Wilhelm Platz genommen. »Kann man sich wundern«, sagte Friedrich, »wenn Seeleute abergläubisch sind? Wie dieses Wetter aus heiterem Himmel hereingebrochen ist, möchte man wirklich an Zauberei glauben.« Wilhelm meinte: »Es kann noch toller kommen.« Einige Damen, die es gehört hatten, blickten herüber und machten entsetzte Augen. »Meinen Sie«, fragte die eine, »daß etwa Gefahr vorhanden ist?« – »Gott«, antwortete Wilhelm, »Gefahr ist im Leben ja immer vorhanden!« und setzte lächelnd hinzu: »Es kommt nur darauf an, daß man nicht ängstlich ist.«

Unglaublicherweise fing die Kapelle, wie gewöhnlich, zu konzertieren an, und zwar ein Stück, das sich »Marche triomphale« nannte. Hahlström meinte: »Ein großes Kapitel ist der moderne Galgenhumor!« – »O Gott, einen ruhigen Tisch, einen ruhigen Sitz, eine ruhige Bettstelle! Wer diese Dinge sein eigen nennt, der weiß meistens nicht, wie reich er ist«, das sagte Friedrich mit schreiender Stimme, weil bei dem doppelten Lärm des ausgesperrten Meers und der eingesperrten Musik sonst nichts zu verstehen war.

 

Der armlose Artur Stoß nahm trotz des üblen Wetters mit Gleichmut und Heiterkeit seine Mahlzeit in dem von aller Welt gemiedenen Rauchzimmer ein. Er zerteilte mit Gabel und Messer, die er zwischen der großen und der zweiten Zehe hielt, seinen Fisch, als Friedrich nach beendigtem Lunch sich dem originellen und witzigen Ungeheuer gegenübersetzte. »Unser alter Omnibus rumpelt ein bißchen«, sagte Stoß. »Wenn unsere Kessel gut sind, ist nichts zu fürchten. Aber so viel steht fest: wenn das kein Zyklon ist, so kann er's noch werden. Es macht mir nichts. Die Sache sieht trostloser aus, als sie ist. Aber was ist man doch für ein Kerl. Um den Leuten in Kapstadt, in Melbourne, in Tananarivo, in Buenos Aires, in San Franzisko und Mexiko zu zeigen, was ein Mensch mit festem, energischem Willen, trotz Mißgunst der Natur, leisten kann, läßt man sich durch alle Zyklone, Tornados und Taifune sämtlicher Meere der Welt schleifen. Davon träumt der Philister nichts, der im Berliner Wintergarten, in der Londoner Alhambra et cetera sitzt, was ein Artist, den er auf der Bühne seine Nummer abspielen sieht, alles durchmachen muß, um bloß erst mal dort oben zu stehen.«

Friedrich fühlte sich elend. Obgleich die nächtlichen Träume noch in seinem Hirn spukten, spürte er doch, daß mehr und mehr jedes andere Gefühl in dem überall deutlichen Drohen einer brutalen Gefahr unterging. Hans Füllenberg kam und erzählte mit entgeisterter Miene, daß man eine Leiche an Bord habe. Und es war nicht anders, als brächte er den toten Heizer und den rasenden Sturm in Zusammenhang. Ihm war die Butter vom Brot gefallen. Stoß meinte, Bulke, sein Bursche, habe ihm auch erzählt, daß einer der Heizer gestorben wäre. Friedrich tat, als wisse er nichts davon. Gewohnt, sich auf ehrliche Weise zu beobachten, stellte er fest, daß ihn bei der ihm ja bekannten Nachricht ein Schauder gestreift hatte. »Der Tote ist tot«, sagte Stoß, nun mit Appetit seinen Braten vertilgend. »An dem toten Heizer scheitern wir nicht. Aber es ist diese Nacht ein Wrack gesichtet worden. Diese Schiffsleichen sind gefährlicher. Wenn die See bewegt ist, sieht man sie nicht.«

Friedrich ließ sich genauer informieren.

»Neunhundertfünfundsiebzig treibende Wracks«, sagte Stoß, »sind in fünf Jahren hier im nördlichen Teil des Atlantischen Ozeans gesichtet worden. Es ist sicher, daß die Zahl doppelt so groß und größer ist. Einer der gefährlichsten Vagabunden dieser Art ist der eiserne Viermaster ›Houresfield‹, der auf der Fahrt von Liverpool nach San Franzisko Feuer in die Ladung bekam und von der Mannschaft verlassen wurde. Wenn wir auf so etwas stoßen, dann hört man in keinem von allen fünf Weltteilen je mehr auch nur einen Mauz von uns.« Stoß sagte das, immer lebhaft kauend, aber nicht so, als ob er mit einem solchen Ausgang der Reise rechne.

»Man kann in den Gängen nicht fort«, sagte Füllenberg, »die Schottenverschlüsse sind zugezogen.« Jetzt fing auch wieder die Dampfsirene zu brüllen an. Friedrich hörte zwar immer noch Trotz und Triumph heraus, aber doch auch etwas, was an das geborstene Horn des Helden erinnerte, dessen Namen der Dampfer trug. »Noch ist keinerlei Not!« sagte beruhigend Stoß.

 

Friedrich befand sich noch in dem gemiedenen Rauchzimmer, als Stoß von seinem Burschen längst zum gewohnten Mittagsschlaf in sein Bett verpackt worden war. Der Raum war Friedrich unheimlich, aber gerade deshalb teilte ihn niemand mit ihm. Und das Alleinsein tat Friedrich bei dem Ernst der Lage besonders not. Er fing sich bereits mit der schlimmsten der Möglichkeiten zu befassen an. An der Wand des Raums lief eine lederne Polsterbank, Friedrich kniete darauf und konnte so durch die Luken in den machtvollen Aufruhr des Weltmeers hineinsehen. In dieser Stellung und beim Anblick des unbegreiflich zähen Sturmlaufs der Wogen gegen das verzweifelt kämpfende Schiff ließ er sein Leben Revue passieren.

Um ihn war eine graue Finsternis. Und er fühlte nun doch, daß er sich nach Licht sehnte und lange nicht so bereit, als er jüngst noch geglaubt hatte, zu sterben war. Es wollte ihn etwas wie Reue anwandeln. Warum bin ich hier? Warum habe ich nicht einen vernünftigen eigenen Willen nach ruhiger Überlegung eingesetzt, der mich vor dieser sinnlosen Fahrt bewahrt hätte? Meinethalben sterben! aber nicht so sterben! nicht in einer Wasserwüste, fern von der Muttererde, unerreichbar fern von der großen Gemeinschaft der Menschen zugrunde gehen. Denn dies ist ein besonderer Fluch, wie mir scheint, von dem die Menschen nichts ahnen, die auf festem Land und am eigenen Herde, Menschen unter Menschen, geborgen sind. Was war ihm jetzt Ingigerd! Ingigerd war ihm jetzt gleichgültig! Und er gestand sich, wie er jetzt nur noch im engsten Sinne an sich dachte. Welcher Gedanke, diesem brutalen Schicksal entronnen, wieder an irgendeinem Ufer gelandet zu sein! In Friedrichs Vorstellung war jeder Erdteil, jede Insel, jede Stadt, jedes verschneite Dorf zum Eden, zum Paradiese, zum unwahrscheinlichsten Traum von Glück geworden. Wie wollte er künftig für den bloßen Schritt auf trocknem Land, für das bloße Atmen, für eine belebte Straße, kurz, für die allereinfachsten Dinge bis zur Überschwenglichkeit dankbar sein! Friedrich knirschte. Was nutzt uns hier wohl ein menschlicher Hilferuf? Wo sollte man hier wohl Gottes Ohr finden? Wenn das Letzte geschah und der »Roland« mit seiner Menschenmenge zu sacken begann, so würde man Dinge sehen, die einen Menschen, der sie gesehen hätte, auch wenn er gerettet würde, nicht mehr könnten froh werden lassen. Ich würde es nicht mit ansehen, dachte Friedrich, ich spränge, nur um es nicht zu sehen, freiwillig über Bord hinaus.

Dampfer »Roland« ist untergegangen, steht in den Zeitungen. Oh, sagt der Philister in Berlin, der Philister in Hamburg und Amsterdam, nimmt einen neuen Schluck Kaffee und tut einen Zug aus seiner Zigarre, ehe er dann mit Behagen das Nähere über die Katastrophe, soweit wie beobachtet oder fabuliert wurde, auskostet. Und das Hurra der Zeitungsverleger! eine Sensation! neue Abonnenten! Das ist die Medusa, der wir ins Auge sehen und die uns sagt, welchen wahren Wert in der Welt eine Schiffslast von Menschenleben besitzt.

Und Friedrich versuchte vergeblich, gegen eine Vorstellung anzukämpfen, die ihm das gewaltig strebende, rollende und sich rastlos vorwärtswälzende Haus des »Roland« mit seinem im Sturm nun beinahe erstickten Sirenenlaut still und stumm auf dem Grunde des Meeres zeigte. Dort sah er, wie in eine Glasmasse eingesargt, das mächtige Schiff, über dessen Deck Züge von Fischen hin und her gingen und dessen Räume von Wasser erfüllt waren. Der große Speisesaal mit allen seinen Paneelen von Nußbaumholz, seinen Tischen und ledergepolsterten Drehsesseln war von Seewasser angefüllt. Ein großer Polyp, Quallen, Fische und pilzartige rote Seerosen waren auf dem gleichen Wege, wie jetzt die Passagiere, hineingedrungen. Und zum Entsetzen Friedrichs schwammen die eingeschlossenen uniformierten Leichen des Oberstewards Pfundner und seines eigenen Stewards immer langsam im Kreise darin herum. Diese Vorstellung war beinahe lächerlich, wenn sie nicht so grausig gewesen wäre und nicht so durchaus im Bereiche eines möglichen Falles gelegen hätte. Was sollen Taucher nicht alles berichtet haben. Was haben Taucher nicht alles in Kabinen und Gängen großer gesunkener Schiffe angetroffen: untrennbar verknotete Menschenmassen, Passagiere oder Matrosen, die ihnen, wie wenn sie auf sie gewartet hätten, mit ausgestreckten Armen, aufrecht, wie lebend, entgegenkamen. Näher betrachtet, waren die Kleider dieser Verweser und Wächter eines verlorenen Gutes am Meeresgrund, dieser seltsamen Reeder, Kaufleute, Kapitäne und Zahlmeister, dieser Glücksjäger, Goldsucher, Defraudanten und Hochstapler, oder was sie nun sein mochten, mit Polypen, Krebsen und allerhand Meeresgewürm behängt, das sich an ihnen gütlich tat, solange noch etwas anderes als bleiches, abgenagtes Gebein vorhanden war.

Und Friedrich erblickte sich selbst als ein solches verwesendes Schiffsgespenst, das in der grausenvollen Behausung herumirrte. Diesem schaudervollen Vineta, wo ein jeder stumm an seinem Nachbar mit fürchterlicher Gebärde vorüberging. Ein jeder, schien es, mit einem erstarrten Weheruf in der Brust, den er, den Kopf nach unten gekehrt, die Arme ausbreitend oder den Kopf nach rückwärts geworfen, mit offenem Mund, oder schauerlich auf den Händen gehend oder mit so oder so gerungenen, gefalteten oder gespreizten Händen ausdrückte. Die Maschinisten im Kesselraum schienen noch immer langsam, langsam Zylinder und Triebrad zu kontrollieren, nur anders als früher, weil das Gesetz der Schwere bei ihnen aufgehoben schien. Einer von ihnen war dabei auf eine sonderbar gebogene Art und Weise, wie ein Schlafender, zwischen den Felgen eines Rades festgewunden. Auf seinen gespenstischen Wanderungen war Friedrich auch zu den Heizern hinuntergelangt, die im Augenblick der Katastrophe bei ihrer Tätigkeit überrascht worden waren. Einige hielten die Schaufel noch in der Hand, aber sie konnten sie nicht emporheben. Sie selber schwebten, aber die umklammerte Schaufel an der Erde regte sich nicht. Es war alles aus, sie konnten das Feuer nicht mehr in Glut und also das mächtige Fahrzeug nicht mehr in Gang bringen. Im Zwischendeck sah es dermaßen aus, mit Durcheinandertreiben von Männern, Frauen und Kindern in einer solchen Dichtigkeit und Verfinsterung, daß selbst ein Katzenhai, der durch den Schornstein in den Heizraum und durch die Maschine bis hierher gedrungen war, sich in diese Versammlung zu mischen nicht hinreichend mutig und freßgierig war. Noli turbare circulos meos! schienen auch diese Leute zu sagen. Alle dachten angestrengt und in einer Vertiefung ohnegleichen, zu der sie freilich auch hinreichend Zeit hatten, über das Rätsel des Lebens nach.

Überhaupt schien jedermann hier nur deshalb auf eine so sonderbare Weise angestellt, um nachzudenken. Die Händeringer, die Händespreizer, die auf Händen liefen, ja auf der Spitze eines einzigen Fingers zu stehen vermochten, während sie mit den Füßen die Decke streichelten, dachten nach. Nur Professor Toussaint, der Friedrich auf dem Gange entgegenschwebte, schien mit erhobener Rechten sagen zu wollen: Ein Künstler darf nicht verrosten! man muß sich lüften! man muß neue Verhältnisse aufsuchen! und wenn man in Italien nicht nach Gebühr gewürdigt wird, muß man ganz einfach, wie Leonardo da Vinci, nach Frankreich gehen oder meinethalben ins Land der Freiheit auswandern.

Ich will leben, leben, sonst nichts, dachte Friedrich. Ich will, wie der ältere Cato, künftig lieber ein Jahr lang zu Fuße gehen, auch wenn ich denselben Weg in drei Tagen zu Schiff machen könnte. Und er verließ, um nur nicht etwa in die schreckliche Hausgenossenschaft der blauen, gedunsenen Denker hineinzugeraten, das grabartig düstere Rauchzimmer und schleppte sich mit schmerzendem Kopf und bleiernen Gliedern an Deck, wo die wilde Bewegung des Sturms und das Chaos von Schnee, Regen und salzigen Gischtwolken ihm den Alp von der Seele nahm.

 

In dem kleinen Raum um die Kajütentreppe traf Friedrich die auch tags zuvor dort versammelte kleine Gesellschaft an, die sich auf eng aneinandergeschobenen Deckstühlen niedergelassen hatte. Auch Professor Toussaint befand sich darunter. Im übrigen waren es der furchtsame Seglerkapitän sowie der lange Elektrotechniker, der das Kabel erklärt hatte, und außerdem ein amerikanischer Colonel. Dieser, ein Vorzugsexemplar seiner verbreiteten Spezies, hatte ein Gespräch über die Länge des Eisenbahnnetzes in den Vereinigten Staaten angefangen und Behauptungen aufgestellt, die den Chauvinismus des langen Elektrotechnikers, als eines Europäers, trotz des schauderhaften Wetters entflammt hatten. Unglaubliche Kilometerzahlen wurden von beiden Seiten genannt und dann von einem jeden die Vorzüge seines heimatlichen Bahnbetriebes herausgestrichen.

»Wir laufen nur halbe Kraft«, sagte Toussaint zu Friedrich. »Ist es nicht ganz erstaunlich, wie sich das Bild auf einmal geändert hat?« – »Jawohl, ganz erstaunlich«, antwortete Friedrich. – »Ich verstehe natürlich nichts vom Zyklon«, fuhr Toussaint mit einer bleichen Grimasse fort, die ein Lächeln darstellen sollte, »aber die Seeleute sagen, daß dieser Sturm zyklonartig ist.« Der kleine, dicke, furchtsame Segelschiffkapitän erklärte, man könne dies Wetter wohl einen Zyklon nennen. »Wäre ich auf meinem Schiffe gewesen, und hätte derselbe Sturm mit der gleichen Heftigkeit und ebenso plötzlich eingesetzt, wir hätten nicht Zeit gehabt, die Segel herunterzubekommen. Gott sei Dank, mit den modernen Steamern sieht es besser aus. Trotzdem fühle ich mich wohler auf meiner Viermasterbark und möchte lieber heut als morgen in meinen vier Pfählen sein.« Friedrich mußte hell auflachen. »Was den ›Roland‹ angeht, Herr Kapitän«, sagte er, »so möchte ich ja auch jetzt lieber im Hofbräuhause in München sein. Aber Ihre vier Pfähle locken mich weniger.« Hans Füllenberg schlängelte sich heran und erzählte, ein Rettungsboot habe das Wasser glatt weggeschlagen. Im gleichen Augenblick, als er das sagte, flog schräg von vorn eine gewölbte Wassermasse über das Schiff, die allen einen Ausruf entsetzten Staunens ablockte. »Großartig!« sagte Friedrich, »schön!« Der Schiffskapitän: »Das ist zyklonartig!« – »Sie können mir glauben«, hörte man wieder den Colonel, »daß allein die Strecke New York–Chikago . . .« Toussaint sagte: »Das war ja ein Niagarafall.« In der Tat war eine Wassermasse heruntergekommen, die in die Luftschächte und Schornsteine schlug und den mächtigen Schiffskörper förmlich badete.

Dabei war es kalt, und der »Roland« setzte allbereits unter einer Kruste von Schnee und Eis seine trotzige und bewunderungswürdige Reise fort. An Masten und Tauen hingen Eiszapfen. Die gläsernen Stalaktiten formten sich um Kommandobrücke und Kartenhaus und überall an Geländern und Rändern. Das Deck war glatt, und es blieb ein Wagnis vorwärtszukommen. Diesen Versuch machte Friedrich sofort, als Ingigerds Kabine geöffnet wurde und das vom Wetter gezauste lange Blondhaar des Mädchens sichtbar ward. Ingigerd zog ihn zu sich hinein.

Sie hatte Siegfried und Ella Liebling zu sich genommen, weil, wie sie sagte, Rosa genug mit der Mutter beschäftigt war. Sie äußerte Freude darüber, daß Friedrich gekommen war, und wollte wissen, ob man sich mit dem Gedanken an Gefahr vertraut machen müsse. Als Friedrich die Achseln zuckte, erschrak sie nicht, sondern gewann eher an Entschlossenheit. Sie rief: »Was sagen Sie zu einem Menschen wie Achleitner? Er liegt in seiner Kabine, schreit immerfort: ›Ach, meine arme Mutter! Meine arme Schwester! Warum hab' ich dir nicht gefolgt, Mama!‹, und so fort. Er heult! Ein Mann! Es ist scheußlich!« Und sie klammerte sich, wie es jedermann tun mußte, der nicht wie ein Paket in irgendeine Ecke geschleudert werden wollte, an die Bettstelle fest und wollte sich vor Lachen ausschütten.

In diesem Augenblick war der Berg von Steinen, unter dem Friedrich die kleine Sünderin Ingigerd begraben hatte, weggeräumt.

Seine Bewunderung steigerte sich. Denn nun wollte sie plötzlich, um diesen alten Esel zu trösten, über Deck und hinunter zu Achleitner. Friedrich aber erlaubte es nicht.

 

Seine Ankunft entlastete Ingigerd, da er sich sogleich mit den Kindern zu schaffen machte. Ella, der Ingigerd ihre Puppe gegeben hatte, saß auf der einen Seite des Diwans, die Beinchen in eine Decke gehüllt, während Siegfried es sich auf dem Bett bequem gemacht hatte. Dort trieb er mit abgespanntem Gesicht ein ziemlich monotones Spiel mit einem Satz Karten, wobei er einen imaginierten Partner zu haben schien.

»Mama ist geschieden«, erzählte Ella, »Papa hat mit ihr immer Zank gehabt.« Siegfried bestätigte, indem er das Spiel Karten beiseite schob: »Mama hat mal nach Papa einen Stiefel geworfen.« – »Papa ist stark«, erklärte Ella wiederum. »Er hat mal einen Stuhl auf die Erde gehaut.« Ingigerd mußte lachen und sagte: »Diese Kinderchen sind zum Schießen.« – »Papa hat auch mal eine Wasserflasche an die Wand geworfen«, sagte Siegfried, »weil Onkel Bolle immer gekommen ist.« Und so fuhren die Kleinen fort, das Thema Ehe altklug und eingehend zu erörtern.

Rosa wurde von dem Diener des Artisten Stoß auf dieselbe Weise wie sein Herr über Deck und in die Kabine bugsiert. Beide sahen vergnügt und gerötet aus, und Friedrich fragte den jungen Mann, wie er die Lage des »Roland« ansehe. Er lachte und sagte, es sei alles gut, wenn nur sonst nichts dazwischenkomme. »Bulke«, sagte Rosa, »nehmen Sie Siegfried auf den Buckel!« Bulke machte Miene, das zu tun, während sie bereits Ella auf ihren krebsroten Arm gesetzt hatte.

Aber die Kinder sträubten sich, und Ingigerd sagte, sie wolle die Kleinen gern bei sich behalten. Rosa dankte und meinte, sie wären hier wirklich am besten untergebracht. Ein bißchen Semmel und Milchkaffee, was sie zur Vesper bekommen müßten, wolle sie augenblicklich herbeischaffen. »Was haben Sie denn am Arm?« sagte Friedrich. Er sah einen langen Krallenriß. Ihre gnädige Frau, meinte sie, sei vor Elend und Angst wie wahnsinnig.

 

Fünf Stunden lang hatte nun der Zyklon mit unbarmherziger Wut getobt. Bö auf Bö stürzte sich gegen das Schiff, die eine der anderen nach immer kürzeren Pausen folgend. Friedrich hatte mit Mühe den Weg zum Barbier hinunter gemacht, der wirklich das Kunststück fertigbrachte, ihn auch bei diesem furchtbaren Wetter zu rasieren. »Man muß im Zug bleiben«, schrie der Barbier, »wenn man nicht arbeitet, ist man verloren.« Er hielt plötzlich inne, nahm das Messer von Friedrichs Kehle und entfärbte sich. Im Maschinenraum hatte die Signalglocke angeschlagen, zum Zeichen, daß durch das Sprachrohr ein Kommando des Kapitäns von der Brücke herunterkam. Gleich darauf stockte der Gang der Maschinen. Ein solches Ereignis, überaus einfach an sich, wirkte bei diesem Wetter, mitten im Atlantischen Ozean, nicht nur auf Friedrich und den Barbier, sondern auf jeden irgendwie noch zurechnungsfähigen Passagier und ebenso auf die gesamte Mannschaft mit der Kraft einer Katastrophe. Man merkte sofort die Aufregung, die jedermann in dem willenlos gewordenen Schiff ergriffen hatte. Stimmen riefen, Weiber kreischten, Schritte eilten die Gänge entlang. Ein Herr riß die Türe auf und rief: »Warum liegen wir eigentlich still, Herr Barbier?« Und er tat diese Frage mit einer Entrüstung, die dem armen Barbier die Verantwortlichkeit eines Kapitäns zutraute. Friedrich wischte den Seifenschaum vom Gesicht und strebte mit aller möglichen Eile, in Gesellschaft vieler fragender, kletternder, hüpfender, tappender, von einer Gangwand zur anderen geworfener Leute an Deck hinauf. »Wir treiben«, hieß es. »Wir haben die Schraube gebrochen!« – »Zyklon!« riefen einige. Andere: »Schraubenbruch!« – »Ach«, sagte ein junges Mädchen, das sich in einem Morgenrock mitschleppte, »es ist mir durchaus nicht um mich, durchaus nicht um mich. Aber in Stuttgart wohnt meine arme Mutter.« – »Was gibt's, was gibt's?« schrien zwanzig Stimmen auf einmal einen vorübereilenden Steward an. Er lief davon und zuckte die Achseln.

Da die Menschen, wie Schafe gedrängt, die erste Treppe an Deck, die Friedrich erreichte, verstellt hielten, suchte er eine andere auf und war genötigt, einen ziemlich langen Weg in das Achterteil des Schiffes und von da, einen engen Korridor entlang, wieder nach vorn zu nehmen. Dabei ging er schnell, schien äußerlich ruhig und war doch in ungewöhnlichem Maße gespannt, ja in Angst versetzt. In der zweiten Kajüte sah sich Friedrich durch einen Mann aufgehalten, der barfuß vor seiner Kabine stand. Er versuchte den Hemdkragen festzuknöpfen, was ihm indessen in der Aufregung nicht gelang. »Was ist denn los?« schrie er Friedrich an. »Ist denn alles in diesem verfluchten Kasten wahnsinnig? Erst stirbt ein Heizer! Jetzt haben wir womöglich ein Leck oder einen Schraubenbruch! Was denkt sich der Kapitän? Ich bin Offizier! Ich muß am fünfundzwanzigsten Februar unbedingt in San Franzisko sein. Wenn es so weitergeht, bleibe ich liegen.«

Friedrich wollte vorübereilen, aber der Herr vertrat ihm den Weg.

»Ich bin Offizier«, sagte er. »Ich heiße von Klinkhammer. Was glaubt denn der Kapitän«, schrie er weiter, während er durch einen unerwarteten Stoß gegen die Gangwand zurück und beinahe bis in seine Kabine geschleudert wurde. »Ich habe doch nicht meinen Dienst quittiert und eine Karriere aufgegeben, um in diesem verfluchten, abgenutzten Kasten . . .« Aber Friedrich war schon weitergerannt.

In dem innerlich nicht mehr pulsierenden Schiff war jetzt eine tiefe Stille verbreitet: eine Stille, darin das bange Leben der Bewohner nun doppelt bemerkbar ward. Türen schlugen, und wenn sie sich öffneten, drangen kurze, abgerissene Laute aus den Kabinen, die von der Verwirrung und Angst der Bewohner zeugten. Ganz besonders war Friedrich in diesem durch elektrisches Licht erleuchteten, wie ein neuer Stiefel knarrenden, schwankenden Korridor der unablässige Laut der elektrischen Klingeln schauerlich. In hundert Kabinen zugleich schienen von angstvollen Menschen, die ihre Kajütplätze teuer bezahlt und Anspruch auf gute Bedienung hatten, die Klingelknöpfe gedrückt zu werden. Keiner von ihnen war geneigt, die force majeure des Atlantischen Ozeans, des Zyklons, eines Schraubenbruchs oder irgendeines möglichen Unglücksfalles anzuerkennen. Sie glaubten, wenn sie klingelten, so gäben sie der unwiderstehlichen Forderung Ausdruck, von einem durchaus verantwortlichen Retter unbedingt aufs Trockene gebracht zu werden. Wer weiß, dachte Friedrich, während ihr hier klingelt, sind vielleicht oben schon die Boote aufs Wasser gebracht und bis zum Sinken mit Menschen beladen.

 

Aber so weit war es noch nicht, als Friedrich einen Ausgang gewonnen und die Deckkabine Ingigerds endlich erkämpft hatte: denn zu Ingigerd Hahlström trieb es ihn. Er fand außer den Kindern, die sie wie eine kleine Mama zu beschäftigen suchte, ihren Vater und Doktor Wilhelm bei ihr. Wilhelm sagte: »Die Feigheit der Menschen ist grausenhaft!« – »Ja, das sagen Sie so, aber was ist denn los?« fragte Friedrich. – »Eine Welle wird heißgelaufen sein. Das braucht etwas Zeit, um sie abzukühlen.« Die auf den Treppen gedrängten Passagiere riefen in einem fort nach dem Kapitän. Wilhelm sagte: »Der Kapitän hat anderes zu tun, als blödsinnige Fragen zu beantworten.« Friedrich meinte, man sollte die Leute aufklären und beruhigen und setzte hinzu: »Ich finde, daß Besorgnis bei einer Landratte, die von Nautik und von der Beurteilung der Sachlage keine Ahnung hat, berechtigt ist.« – »Warum soll man den Leuten was sagen«, gab der Schiffsarzt zurück, »selbst wenn die Sache ganz schief geht, ist es besser, die Leute zu täuschen.« – »Na, so täuscht sie doch«, sagte Hahlström, »schickt die Stewards ab, laßt ihnen sagen, alles ist allright, wir müssen ersaufen!«

Kurze Zeit darauf wurden in der Tat die Passagiere im Auftrag der Oberleitung durch die kleine Armee der Stewards mit der Nachricht beruhigt, daß wirklich nur, wie der Doktor gesagt hatte, eine Welle heißgelaufen sei und die Maschine bald wieder in Gang kommen werde. Auf die tausendmal wiederholte Frage, ob Gefahr wäre, wurde von allen Stewards auf entschiedenste Weise mit »Nein« geantwortet. Aber der hilflose Anblick, den der willenlos treibende Koloß des »Roland«, von der Kabine Ingigerds aus betrachtet, gewährte, unterstützte die Nachricht der Stewards nicht sonderlich.

Um die Luft zu verbessern, hatte Ingigerd, soweit möglich, die Tür an Deck immer einen Spalt offengestellt. »Wir können uns nicht verhehlen«, sagte Hahlström, »daß wir vor Topp und Takel treiben.« Gleich darauf sagte Wilhelm: »Wir hängen Ölbeutel aus!«, wobei er Friedrich durch den Türspalt den Schiffsjungen Pander zeigte, der gemeinsam mit einem Matrosen einen Segeltuchbeutel, getränkt mit Öl, an einer Leine ins Wasser hängte. Diese Maßregel schien angesichts der schweren Seen, die gleich wandelnden Bergen herankamen, und bei den schauerlich wuchtenden Böen, die sie begleiteten, fast lächerlich. Aller Augenblicke wurde der tote »Roland«, der fortwährend mit einem langgezogenen Ton nun seine hilferufähnlichen Warnungssignale gab, auf ein unter ihm hervorquellendes Wassergebirge emporgedrückt, wo es aber ebensowenig wie in der Tiefe einen Ausblick gab. Der gewaltige Steamer stand, schien nicht zu wissen, wohin er sich wenden solle, ward bald nach Steuerbord, bald nach Backbord von der Wucht der Böen hinübergedrückt und hatte von seiner herkulischen Kraft nichts als seine ungefüge, hilflose Masse zurückbehalten. Er drehte sich langsam, er wendete sich, und mit einemmal kam wie eine vieltausendköpfige Schar zischender weißer Panther, die von einem schwarzgrünen Gebirgsrücken abgeschleudert wurden, eine schreckliche See über Bord gestürzt.

»Das war bös«, sagte Wilhelm, der, noch gerade zur rechten Zeit, die Decktür ins Schloß gerissen hatte.

Friedrichs Nerven beherrschte ein Spannungsgefühl, das nicht nur im übertragenen Sinne, sondern deutlich spürbar von ihm wie die bis zum Reißen straffe Anspannung einer Saite empfunden wurde. »Macht Sie die Sache nervös?« fragte Hahlström. – »Etwas«, gab Friedrich zur Antwort, »ich leugne es nicht. Man hat Kraft, man hat einige Intelligenz und kann nichts davon ausüben, selbst wenn die Gefahr vor Augen ist.« Wilhelm meinte: »Direkte Gefahr? Kollege, so weit sind wir noch nicht. Erstlich wird die Schraube gleich wieder arbeiten, und wenn wir wirklich treiben und schließlich unsere Notsegel beisetzen, können wir hier auf unserem Kasten noch in acht Tagen fuchsmunter sein.« Hahlström sagte: »Was verstehen Sie unter fuchsmunter, Herr Doktor?« – »Wir haben den Sturm aus Nord-Nordwest. Es kommt gar nicht vor, daß ein solches Schiff auf hoher See etwa kentert. Also würden wir höchstwahrscheinlich gegen die Azoren zu getrieben und eines Tages in einen dortigen Hafen eingebracht werden. Vielleicht kämen wir aber auch noch südlicher, und dann ist es gar nicht ausgeschlossen, daß wir in acht Tagen auf den Kanarischen Inseln, im Angesicht des herrlichen Piks von Teneriffa vor Anker gehn.« Hahlström sagte verstimmt: »Ich danke für Pik von Teneriffa. Ich muß nach New York. Wir sind verpflichtet.«

Friedrich kam wieder auf seine bis zum Bersten gespannten Nerven zurück. »Acht Tage Unsicherheit«, sagte er, »könnte mein Nervensystem nicht durchhalten. Ich bin nicht geeignet für dieses passive Heldentum. Im. Aktiven könnte ich mehr leisten.« – »Sie kennen doch Lederstrumpf«, sagte Wilhelm ironisch, »da müssen Sie doch auch wissen, Kollege, daß bei den alten amerikanischen Rothäuten schon – denken Sie an die Marterpfähle – das passive Heldentum das höher geachtete ist.« – »Nein, nein«, meinte Friedrich, »mit der Marterpfahlwirtschaft lassen Sie mich gefälligst in Frieden! Wenn ich heute erfahre, daß unsere Schraube gebrochen ist und wir morgen noch hilflos herumtreiben, so halte ich das ganz einfach nicht aus und springe übermorgen ins Wasser. Es ist der gleiche Grund, weswegen ich gegen den Rettungsgürtel bin. Ich lehne ihn ab: Sie mögen mir dreist einen anbieten.«

 

Die Stunden verrannen. Auf den grauen Tagesdämmer, mit dem endlosen, trommelfellzerstörenden Lärm der See, folgte ein abendliches, noch tieferes Dämmerlicht. Friedrich, wie jedermann, hatte vergeblich des Augenblicks gewartet, wo die Schraube sich wieder bewegen und dem hilflosen Schiffsrumpf seinen Kurs zurückgeben sollte. Die Stärke der Böen wurde taxiert, und man beobachtete mit der Angst der Verzweiflung, ob sich die Ruhepausen zwischen ihnen verkleinerten oder vergrößerten. Als das Wetter nicht nachließ, bemächtigte sich Friedrichs zeitweise ein köhlerhafter persönlicher Verfolgungswahn. Schauerlich war besonders der Umstand, daß in kurzen Zwischenräumen, während vieler Stunden, die Massenschreie der eingesperrten Zwischendeckler laut wurden. Die zusammengepferchten Leute wimmerten, beteten schreiend, riefen wütend den Himmel um Hilfe an und brüllten, teils vor Angst, teils vor Wut, teils im physischen Schmerze. Aber als ob nichts geschehen wäre, erscholl zur bestimmten Zeit der erste schmetternde Ruf zum Diner über das immer noch steuerlos treibende Schiff, diese mächtige, nun wieder von zahllosen Lampen erleuchtete, hilflose Arche, diesen aus Reihen von Luken strahlenden, zum trostlosen Spiele der Wogen gewordenen, vereisten Feenpalast – und Friedrich fragte sich, wer wohl jetzt Kaltblütigkeit oder Mut oder Lust zu der täglichen Tafelei finden sollte. Aber Wilhelm rief: »Zu Tisch, meine Herren!«, und da Rosa eben wieder, naß und mutig, die Kinder versorgen kam und ein längeres Bleiben in Ingigerds Zimmer nicht angängig war, mußte sich Friedrich Doktor Wilhelm und Hahlström anschließen, die mit kurzem Entschluß hinaus und über Deck voltigiert waren. Der Kakadu kreischte, Ella schrie und wurde von Ingigerd und Rosa ziemlich energisch zurechtgesetzt. Eh er aber das Zimmer verließ, sagte Friedrich: »Wünschen Sie, daß ich hierbleibe? Es liegt mir daran, daß Sie jetzt ganz über mich verfügen, Fräulein Ingigerd.« Sie gab zur Antwort: »Danke, Herr Doktor, Sie kommen ja wieder.« Und Friedrich wunderte sich über die selbstverständliche Art, mit der er gefragt und die Antwort erhalten hatte.

Jetzt aber trat unerwartet ein Umschwung ein. Man merkte an einem gewissen, alles durchdringenden Beben von Wand und Fußboden, daß der Rhythmus der Kraft, der Rhythmus der Zielstrebigkeit, der Puls und das Herz des »Roland« wieder lebendig geworden war. Ingigerd jauchzte auf wie ein Kind, und Friedrich biß die Zähne zusammen. Der Zustrom erneuten Lebens, erneuter Aussichten und Hoffnungen, die wiedereingetretene Planmäßigkeit, verbunden mit allgemeiner Entspannung, hatte in ihm eine Schwachheit erzeugt, die ihn mit Rührung und Tränen zu überwältigen drohte. Erschüttert trat er auf Deck hinaus.

Und nun war das Bild ein anderes geworden. Fröhlich und machtvoll sprang der »Roland« wiederum vorwärts, in die lärmende Dunkelheit. Die ganze ungeheure, nächtlich rauschende Hexenwäsche, die mit Sintflutgewässern arbeitete, schien ihm nun wieder ein willkommenes Fest zu sein. Wieder bohrte er Breschen durch finstere Gebirgszüge, ließ sich emporheben und stürzte mit wilder Tollheit in tiefe Täler hinab, wobei hinten die Schraube jedesmal viele Sekunden lang, wie rasend, frei in der tosenden Luft quirlte.

Rinck saß auf der Schwelle seines deutsch-amerikanischen Seepostamtes, das hell erleuchtet war, rauchte und streichelte seine gefleckte Katze. »Gut, daß wir wieder laufen«, konnte Friedrich sich nicht enthalten zu sagen, als er sich in der Nähe vorüberhantelte. – »Why?« gab Rinck ihm phlegmatisch zurück. – »Ich jedenfalls«, sagte Friedrich, »laufe lieber mit Volldampf, als daß ich mich hilflos treiben lasse.« – »Why?« sagte Mr. Rinck wiederum. In den Gängen unten war es nun trotz der Schiffsbewegung wieder ziemlich behaglich geworden. Die Angst schien vergessen. Man taumelte, Witze reißend, sich überall festhaltend, aneinander vorbei, zum Speisesaal. Das Geklapper des Porzellans in der Nähe der Küchen war ohrenbetäubend, besonders wenn, wie es vorkam, ein Stoß Teller zusammenbrach. Man mußte lachen. Man sagte Prosit. Und jedermann hatte den wohligen Rhythmus der wieder in Gang befindlichen großen Maschine im Ohr, mit dessen beglückender Wirkung keine Musik der Welt jetzt wetteifern konnte.

Friedrich faßte den Mut, da er ziemlich durchnäßt war, sich in seiner Kabine umzukleiden. Adolf, sein Steward, kam, ihm behilflich zu sein. Er erzählte, während Friedrich die Kleider wechselte, von einer Panik, die beim Stoppen der Maschinen im Zwischendeck ausgebrochen war. Einige Frauen hatten wollen ins Wasser gehen. Das hätten die anderen mit Mühe verhindert. Und eine Polackin habe sein Kollege, Steward Scholl, und ein Matrose buchstäblich nur noch bei den Beinen wieder an Deck gebracht.

»Man kann es den Leuten nicht verdenken, daß sie in dieser Lage feige sind«, sagte Friedrich. »Das Gegenteil wäre wunderbar. Wer kann von sich sagen, daß er feststehe, wenn der Boden ihm unter den Füßen wankt. Ein solcher Mensch löge entweder, oder er besäße einen Grad von Stumpfheit, der ihn noch unter das Tier degradierte.« – »Ja, was sollten wir aber machen«, sagte der Steward, »wenn wir so feig wären?« Und Friedrich kam, wie nicht selten, in jenes Dozieren hinein, das ihm als Privatdozent eine Menge von jugendlichen Hörern verschafft hatte. »Bei euch ist es anders«, sagte er, »ihr werdet durch das Gefühl, eure Pflicht zu tun, zugleich belohnt und aufrechterhalten. Gut, während wir Passagiere uns ängsteten, haben die Köche Bouillon abgeschäumt, Fische geschuppt, gekocht und mit Petersilie angerichtet, Geflügel gebraten und zerteilt, Rehrücken mit Speck gespickt und dergleichen« – der Steward lachte –, »aber ich kann euch versichern, daß es zuzeiten leichter ist, einen Braten zu braten, als ihn zu essen.« Und Friedrich fuhr fort, in fast feierlicher, aber gerade deshalb schalkhafter Art, über Feigheit und Mut zu philosophieren.

 

Das Diner begann, und obgleich das Wetter keineswegs besser geworden war, hatten sich doch jetzt, nach einer überstandenen noch größeren Gefahr, verhältnismäßig viele Esser an der Dreizacktafel zusammengefunden. Obersteward Pfundner, dessen weißes Haar auch heut vom Schiffsfriseur zwar nicht gerade in einen Zopf gebunden, aber doch gebrannt und zierlich rokoko-perückenhaft zugestutzt worden war, stand wie immer in majestätischer Haltung vor einem Scheinkamin zwischen den Eingangstüren des Salons, von wo aus man am besten den Speisesaal überblicken konnte.

Ganne, »Le Père la Victoire«. Es war ein Marsch. Gillet, »Loin du Bai«, folgte. Bei Suppé, Ouvertüre zu »Banditenstreiche«, polterten und taumelten die ewigen Skatspieler in den Saal, die sich, wie meistens, bei ihrer Partie verspätet hatten. Überall wurde viel Wein getrunken, weil es Mut machte und betäubend war. Vollstedt, »Lustige Brüder«, stieg, wobei immer noch die überstandene Katastrophe besprochen wurde. »Wir hatten Notflaggen gehißt«, sagte man. – »Wir haben Raketensignale gegeben.« – »Gürtel und Boote wurden bereits instand gebracht!« – »Jawohl, wir haben ja Öl ausgegossen!« Und um so lauter schossen die Bemerkungen hin und her, da weder der Kapitän noch einer der Schiffsoffiziere bei Tafel war. »Der Kapitän«, hieß es, »ist von morgens an nicht von der Brücke gekommen.«

Plötzlich wurden die Luken von außen hell, jedermann ließ mit einem Ausruf des Staunens Gabel und Messer fallen, und nach diesem allgemeinen »Ah!« sprang alle Welt von den Stühlen empor, um stoßend, drängend, polternd und mit dem Rufe »Ein Schiff!« »Ein Dampfer!« Hals über Kopf an Deck zu klettern, wo denn wirklich mit einer erschütternden Majestät, im Glanz seiner tausend Lichter, einer der gewaltigsten Ozeanbezwinger von damals in schöner Bewegung, stampfend und rollend, nicht weiter als fünfzig Meter entfernt, heran- und vorüberkam.

»Der ›Fürst Bismarck‹!, der ›Fürst Bismarck‹!« schrien die Leute, da der Dampfer bereits erkannt worden war. Und dann brüllte man »Hurra« aus voller Kehle. Und Friedrich brüllte! Und Hahlström brüllte! Und Doktor Wilhelm und Professor Toussaint, und was eine Kehle hatte, brüllte aus vollen Lungen mit. Das gleiche Freudengebrüll scholl vom Zwischendeck. Und nun donnerten noch zum Gruß die gewaltigen Dampfpfeifen.

Natürlich sah man auch von den verschiedenen Decks des »Fürst Bismarck« Passagiere herüberwinken und hörte trotz des Lärms, den der Ozean aufführte, wenn auch nur schwach, ihr Hurrageschrei. Der Dampfer »Fürst Bismarck« hatte damals gerade seine Weltrekordreise hinter sich, auf der er den Atlantischen Ozean in sechs Tagen, elf Stunden, vierundzwanzig Minuten gekreuzt hatte. Etwa zweitausend Menschen machten jetzt auf dem Doppelschrauber, einem der ersten Exemplare dieses Typs, die Fahrt von New York nach Europa zurück. Zweitausend Menschen, das bedeutet soviel wie eine Menge, mit der man zweimal den Zuschauerraum eines großen Theaters vom Parkett bis zur Galerie anfüllen kann.

Es wurde vom »Roland« zum »Bismarck« und vom »Bismarck« zum »Roland« mit Flaggen signalisiert. Aber die ganze Vision hatte vom Auftauchen bis zum Verschwinden noch nicht drei Minuten gebraucht. Während dieser Zeit war der kochende Ozean mit einer Flut von Licht übergossen. Erst als nur noch ein quirlender Nebel von Licht zu sehen war, hatte der »Bismarck« Musik auf Deck gebracht, und man hörte einige gespenstisch verwehte Klänge der Nationalhymne. Gleich darauf war der »Roland« wieder mitten im Ozean, mitten in Nacht, Sturm und Schneegestöber mit sich und seinem Kurs allein.

Mit doppelter Verve spielte jetzt die Kapelle eine Quadrille von Karl, »Festklänge«, und einen Galopp von Kiesler, »Jahrmarktskandal«; und mit doppeltem Appetit, mit doppelter Lebhaftigkeit wurde das Abendessen im Speisesaal fortgesetzt. Bewundernde Ausrufe wie »Feenhaft!«, »Märchenhaft!«, »Herrlich!«, »Gewaltig!« und »Kolossal!« überstürzten einander. Selbst Friedrich empfand ein Gefühl von Stolz und Beruhigung und den Lebenshauch einer Atmosphäre, die dem Geiste des modernen Menschen nicht minder notwendig als Luft seinen Lungen ist. »So sehr wir uns sträuben, Kollege«, sagte Friedrich, »und so sehr ich noch gestern abend auf die moderne Kultur losgezogen bin, ein Anblick wie dieser eben genossene muß einem doch bis auf die Knochen imponieren. Es ist einfach toll, daß ein solches durch Hand und Geist des Menschen zusammengestelltes Produkt geheimer Naturkräfte, eine solche Schöpfung über der Schöpfung, ein solches Schiff nur möglich geworden ist.« Sie stießen an, und man hörte an vielen Tischen anklingen. »Und welcher Mut, welche Kühnheit, welcher Grad von Unerschrockenheit«, fuhr Friedrich fort, »den seit Jahrtausenden gefürchteten Naturkräften gegenüber liegt darin, und welche Welt von Genie ist vom Kiel bis zur Mastspitze, vom Klüverbaum bis zur Schraube in diesen mächtig lebenden Organismus eingebaut.«

»Und dies alles, Kollege«, sagte der Schiffsarzt, »heut Erreichte ist in kaum hundert Jahren erreicht und bedeutet also erst den Anfang einer Entwicklung. Mag sich sträuben, wer will, die Wissenschaft, aber mehr noch der technische Fortschritt ist die ewige Revolution und die echte und einzige Reformation aller menschlichen Zustände. Was hier seinen Anfang genommen hat, diese Entwicklung, die ein dauernder Fortschritt ist, wird nichts mehr aufhalten.« – »Es ist«, sagte Friedrich, »der durch Jahrtausende passiv gewesene, plötzlich aktiv gewordene Menschengeist. Unzweifelhaft ist das Menschengehirn und damit die soziale Gemeinschaftsarbeit in eine neue Phase getreten.« – »Ja«, sagte Wilhelm, »auf gewisse Weise war vielleicht auch im Altertum der Menschengeist schon aktiv, aber er hat zu lange nur mit dem Mann im Spiegel gefochten.« – »Hoffen wir also«, bestätigte Friedrich, »daß die letzte Stunde der großen, auf uns gekommenen Spiegelfechter, Gaukler, südseeinsulanischen Medizinmänner und Zauberer nicht mehr ferne ist und daß alle Flibustier und zynischen Freibeuter, die vom Seelenfang leben und seit Jahrtausenden gelebt haben, vor dem schnellen und sicheren Meerschiff der Zivilisation, das den Intellekt zum Kapitän und die Humanität zum einzigen Hausverwalter hat, die Segel streichen.«

Nach dem Essen kletterten Friedrich und Doktor Wilhelm ins obere Rauchzimmer. Am Skattisch saßen die Kartenspieler. Sie rauchten, tranken Whisky und Kaffee, schlugen die Karten auf den Tisch, und alles übrige schien ihnen gleichgültig. Friedrich bestellte Wein und fuhr fort, sich aufzustacheln. Ihn schmerzte der Kopf, und er vermochte ihn kaum auf dem schmerzenden Nacken zu halten. Die Augenlider taten ihm weh vor Müdigkeit, aber wenn sie über die Augäpfel herabfielen, so strahlten diese gleichsam von einer inneren peinlichen Helligkeit. Jeder Nerv, jeder Muskel, jede Zelle in ihm war wach, und er durfte an Schlaf nicht denken. Wie hatte er, gleichsam im Handumdrehen, Wochen, Monate, Jahre verbracht, und an diesem Abend waren seit Southampton nicht mehr als dreieinhalb Tage vergangen.

»Sie sind müde, Kollege«, sagte Wilhelm, »ich werde Sie also lieber nicht auffordern, heute noch mit zum Begräbnis des toten Heizers zu gehen.« – »Doch, doch«, sagte Friedrich, und es war eine schmerzhafte Wut in ihm, sich nichts zu ersparen und alle, auch die bittersten Eindrücke dieses losgelösten, gerüttelten und geschüttelten Stückes Menschenwelt bis zur Neige durchzukosten.

 

Die beiden Ärzte kamen dazu, als man den Heizer Zickelmann, der seine Mutter hatte besuchen oder überhaupt suchen wollen, in Segeltuch einnähte. Der kahle Raum, wo das geschah, war nicht gerade stark durch eine elektrische Birne erhellt. Friedrich erinnerte sich seines Traums und daran, wie der tote Heizer, mit den Bastschnüren, ihn und Peter Schmidt zu den Lichtbauern geführt hatte. Nun war bereits eine starke Veränderung mit ihm eingetreten, sein Antlitz schien eine künstlich geformte Masse aus gelbem Wachs zu sein, auf der Haupthaar, Brauen und Bart festgeleimt waren. Aber ein leises, schlaues Lächeln lag, wie es Friedrich schien, um des Toten Mund. Und als der junge Arzt ihn mit einer seltsamen Spannung und Neugier schärfer betrachtete, schien er zu sagen: »Legno santo! die Lichtbauern!«

Als nun auch das Gesicht des Toten verhüllt und alles mit groben Stichen zugenäht worden war, wurde die ganze, nur mit Mühe in Ruhe gehaltene Puppe aus Segeltuch von Matrosen auf ein gehobeltes, mit Eisen beschwertes Brett gebunden. Wird wirklich, fragte sich Friedrich, aus einer solchen Verpuppung je wieder ein Schmetterling? Der ganze Vorgang mit seiner taumelnden Akrobatik war weniger grausig als lächerlich. Ob man es aber auch nur mit der sterblichen Hülle einer unsterblichen Seele zu tun haben mochte, es blieb ein Gedanke von unendlicher Traurigkeit, auch nur diese der schrecklichen Öde des Weltmeeres zu überantworten.

Da die Beförderung über Bord bei diesem Wetter nicht gerade eine leichte Sache war und das ständig von Wasser überflutete, schwankende Deck Zeremonien nicht ermöglichte, forderte der Zahlmeister die wenigen Anwesenden – Kapitän von Kessel durfte die Brücke nicht verlassen – auf, ein stilles Gebet für die Seele des Toten zu sprechen. Dies geschah, und vier Kollegen des Heizers trugen stockend, schwankend, stolpernd und schnaufend das lange Paket auf Deck an die Reling hinaus, von wo sie es in einem gegebenen Augenblick in die See hinabschießen ließen.

Wilhelm bot Friedrich gute Nacht und setzte hinzu: »Sie sollten zu schlafen versuchen.« Man trennte sich, und Friedrich suchte an Deck einen geschützten Platz, um womöglich dort die Nacht zu verbringen und lieber bei eisiger Luft und dicker Nacht, unter dem bleichen Licht der am Mast befestigten Bogenlampen, dem Graus von Wind und Wetter ins Auge zu sehen. Vor der beklemmenden Enge seiner Kabine mit der verwahrten Luke und der heißen, verbrauchten Luft schauderte ihn. Aber es war nicht dieser Schauder allein, der ihn hier oben festbannte, sondern mehr noch der Wunsch, für den Fall der Gefahr Ingigerd Hahlström nahe zu sein. Und als er sich in der Nähe der Schornsteine niedergelassen und, den Rücken gegen eine erwärmte Wand gedrückt, den Hut heruntergezogen, das Kinn unter den Mantelkragen gedrückt hatte, lachte er plötzlich in sich hinein, denn er war nun in derselben Verfassung und an dem gleichen Platz, an dem er gestern den Baumeister Achleitner gefunden hatte.

Vor Friedrichs Ohren rauschte es. Er spürte die Bogenlampen, die über ihm gewaltige Kreisbogen ausführten. Er spürte den regelmäßigen Sturmlauf der Böen, und in das Brausen und Gären der Wassermassen klang die schauerliche Katzenmusik des Luftzugs im Takelwerk: ein eigensinniges, böses Miauen, mit plötzlich fauchendem Tigersprung. Dann wieder schienen die Laute Friedrich mehr das unsagbare, klägliche Winseln und Weinen verirrter Kinder zu sein, einer Schar von Kindern, die er jetzt deutlich sehen konnte und die mit lautem Wehklagen um die Bahre des toten Heizers versammelt standen. Und richtig, da waren auch wieder die Lichtbauern. Sogleich griff Friedrich einen davon, um ihn Ingigerd Hahlström in die Kabine zu tragen. Ingigerd aber zog sich gerade zu ihrem berühmten mimischen Tanze an. Die große Spinne hing schon bereit und wob das Netz, in das Mara sich später verwickeln mußte. Friedrich ersuchte um einen Besen, weil er den Tanz verhindern und die Spinne hinwegfegen wollte. Ein Besen kam, aber in Gestalt eines Knechtes, der Wasser trug und ausschüttete; ihm folgte ein zweiter, ein dritter, ein vierter, ein fünfter, bis alles von rauschenden Wassermassen überfloß. Friedrich wachte auf, er hatte den Zauberlehrling geträumt und das angstvolle Wort noch auf den Lippen, womit man die Fluten bannen konnte. Die Wogen rauschten. Er war wieder eingeschlafen. Jetzt ward das Rauschen zu einem Strom, der zu Friedrichs Füßen floß. Die Sonne schien, es war heller Morgen. Vom anderen Ufer kam Friedrichs Frau, jugendlich schön, in einem großgeblümten Kleide, selbst ihren kleinen Nachen rudernd. Ihre milde, dunkle und volle Gestalt hatte zugleich den Reiz der Vestalin und des Weibes. Und aus einem nahen Walde trat Ingigerd in ihrer Zartheit und im Schmuck ihres blonden Haares und Fleisches. Die besonnte Landschaft, mit der ihre reine Nacktheit vereinigt war, schien aus der Zeit vor der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradiese zu sein. Friedrich nahm seine Frau bei der Hand, die ihn huldreich anlächelte, und nahm Ingigerd Hahlström bei der Hand, die weich und rein und gehorsam schien, und legte die Hände der beiden ineinander. Dabei sagte er zu Ingigerd:

»Ich wende dich in Klarheit;
ich brenne dich von Schlacken rein.«

Aber der Himmel verfinsterte sich. Der Wald wurde schwarz, und ein gespenstisches Mondlicht war über dem furchtbar wie große Wasser rauschenden Walde aufgegangen. Friedrich lief mit eiligen Schritten am Rande verdüsterter Felder hin, als plötzlich hinter ihm der Ruf »Moira! Moira!« erscholl und sich mit schwerer Bewegung, wie von gewaltigen schwarzen Flügeln, ein Stück Finsternis vom Waldrande ablöste. Es war ein Vogel, der mit dem immer lauter schallenden Schrei »Moira, Moira!« hinter ihm dreinschwebte. Friedrich floh, als ob der furchtbare Vogel Rock hinter ihm her wäre. »Moira, Moira!« Er zog sein Federmesser heraus, um sich zu verteidigen . . . Friedrich erwachte und fand sich entkleidet in seinem Bett; irgend jemand hatte ihn, wie er gestern Achleitner, hinunter in seine Kabine geführt. Der Ruf »Moira!« aber scholl noch im Wachen vor seinen Ohren.

 

Nachdem Friedrich einige Stunden geschlafen hatte, fand er sich plötzlich, erwachend, irgendwo draußen im Korridor, wo er mit einigen Stewards, die schon bei der Morgenarbeit waren, gesprochen hatte. Langsam begriff er, daß er mit nichts als dem Hemde bekleidet war. Irgendeine Erfahrung als Nachtwandler hatte er bisher an sich nicht gemacht. Nun aber wußte er, daß auch er vor dem Übel nicht sicher war. Er war bestürzt, er schämte sich und mußte sich, im Hemde wie er war, von einem Steward in die Kabine zurückbringen lassen. Er sah nun, wie seine Kabine drei, vier Zoll hoch voll Wasser stand, das wohl aus irgendeinem undichten Rohre stammte. Er kroch ins Bett und quetschte, zwängte und klammerte sich, um nicht herausgeschleudert zu werden, auf selbsterfundene Art und Weise zwischen die Bettbretter. Kurz nach sechs Uhr war Friedrich an Deck und auf seiner Bank und hatte die heiße Teetasse in den Händen. Das Wetter war furchtbar. Der Morgen von nicht zu überbietender, eisiger Trostlosigkeit. Die Wut der See hatte zugenommen. Eine neue Art Finsternis, nichts anderes, war die kommende Dämmerung. Rauschen und Heulen von Wasser und Wind waren ohrenbetäubend. Friedrich schmerzte das Trommelfell. Aber immer noch lief und kämpfte das Schiff und konnte den Kurs, wenn auch langsam, einhalten.

Und plötzlich, Friedrich wußte nicht gleich, ob er recht hörte, drangen überirdische, gläubige Klänge durch den Lärm der See an sein Ohr, feierlich anhebend, ruhig anschwellend, Akkorde und Harmonien eines Kirchenchorals, die Friedrich bis zu Tränen erschütterten. »Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen.« Er besann sich darauf, daß der trostlose Morgen, der eben angehoben hatte, der eines Sonntags war, den die Schiffskapelle, auch inmitten eines Zyklons, gemäß ihrer Vorschrift, mit diesen frommen Klängen einleitete. Sie hatte sich in dem gemiedenen Rauchzimmer unter Deck, in halber Höhe der Treppe, aufgestellt, von wo die Weise schwach herauf- und heranflutete. Alles, was in Friedrichs Seele hart und wirr und getrennt im Kampfe lag, ward von dem Ernst, der Einfalt und Unschuld dieser Musik hinweggeschmolzen. Er mußte an seine Jugend denken, so manchen Morgen voller Unschuld, voller Erwartung und voll von Ahnungen einer großen Glückseligkeit, Sonntage, Festtage, Geburtstage des Vaters oder der Mutter, wo den Knaben das Ständchen der mit einem Choral beginnenden Regimentskapelle aus dem Morgenschlummer geweckt hatte. Was war das Heut, verglichen mit dieser Vergangenheit? Was lag dazwischen: welche Summe nutzloser Arbeit, enttäuschter Hoffnung, bitter bezahlter Erkenntnis, wieviel leidenschaftlich ergriffener Besitz, der verlorenging, versickerte Liebe, versickerte Leidenschaft, wieviel erstes Begegnen und schweres Valetsagen, ein mühsames, quälendes Ringen ins Allgemeine und ins Besondere hinein, wieviel reine Absicht in Schmach und Schmutz gezogen, wieviel Ringen nach Freiheit und Selbstbestimmung, mit dem Resultat einer willenlosen, blinden Gefangenschaft.

War er wirklich vor Gott eine Person von so großer Wichtigkeit, daß er ihn mit so ausgesuchten, bitteren Läuterungsarten heimsuchte?

»Ich bin desperat«, schrie Hans Füllenberg, der jetzt am Eingang zur Kajüttreppe erschien. »Ich mache nun nicht mehr mit, sonst werde ich blödsinnig.« Allein er und Friedrich sowie alle übrigen Passagiere, die allesamt im letzten Grade erschöpft und willenlos oder desperat waren, machten auf die gleiche schreckliche Weise, Stunde um Stunde, von Morgen zu Mittag, von Mittag zu Abend und wieder von Abend zu Morgen mit, wo alle, die zwanzigmal zu sterben geglaubt hatten, immer noch lebendig, wenn auch ohnmächtig und desperat waren. Diesem Zustand auch nur eine weitere Stunde standzuhalten, schien den meisten unmöglich zu sein, und doch wurde ihnen gesagt, daß sie bis New York noch mindestens dreimal vierundzwanzig Stunden zu dulden hätten.

 

Der Montag, mit etwas Sonne und nicht vermindertem Sturm, war fürchterlich. Alles nicht Niet- und Nagelfeste wurde von Deck heruntergeschlagen. Die regelmäßigen Schreie, die vom Zwischendeck her das kämpfende Schiff durchdrangen, erinnerten nicht an Menschen, sondern an Tiere, die unter dem Messer des Metzgers sind. Die Nacht zu Dienstag war eine Tortur, und niemand, der nicht vor Schwäche oder unter den Martern der Seekrankheit bewußtlos geworden war, schloß ein Auge. Es war Dienstag früh, im Morgengrauen, als jedermann in der ersten Kajüte von den Stewards mit dem ruhig gesprochenen Wort »Gefahr!« überrascht wurde.

Friedrich hatte, ohne die Kleider abzulegen, einige Zeit auf seinem Bett liegend zugebracht, als auch sein Steward die Türe öffnete und das Wort »Gefahr« instruktionsgemäß mit ernster Haltung in die Kabine sprach. Dabei hatte der Verkünder einer so lapidaren und inhaltsschweren Botschaft das elektrische Licht eingeschaltet. Friedrich fuhr empor. Er saß auf dem Bett, wobei ihn das Wasser des lecken Rohres genierte, das, je nach den Schlingerbewegungen des Schiffs, bald auf dieser, bald auf der anderen Seite der Kabine zusammenlief. Zunächst wußte er nicht, ob das Wort, das er gehört hatte, wirklich gerufen oder nur eine jener Gehörstäuschungen gewesen war, wie sie die Überreizung und Übermüdung der Nerven mit sich brachte. Als er jedoch deutlich das Klopfen der Stewards an die Nachbarkabinen, das Öffnen der Türen, zwei- oder dreimal das Wort »Gefahr« auf eine unzweifelhafte Weise unterscheiden konnte, kam ihn eine Empfindung an, die eine Veränderung in ihm hervorbrachte. »Gut«, sagte er leise und trat, noch sorgfältig seinen Mantel umnehmend, wie wenn er zu einem ihn nicht berührenden Schauspiel gerufen wäre, in den Gang hinaus.

Der Korridor war wie ausgestorben. Friedrich hatte noch eben gedacht: Gut, jetzt werden wir von den unsichtbaren Machthabern, deren Spielzeug wir Menschen nun einmal sind, auf die letzte, unverhüllte Manier brutalisiert. Er war nicht etwa aus einem Schlaf, sondern aus hundert Schichten von Traum und Schlaf geweckt und ernüchtert worden. Nun kam es ihm vor, als ob dies alles doch wieder nur eine phantastische Täuschung seines zerrütteten Hirnes sei, und er wollte sich in die Kabine zurückziehen.

Da erst merkte er, daß weder der Rhythmus der Maschine mehr zu fühlen oder zu hören noch auch das Quirlgeräusch der Schraube zu spüren war. Er glaubte plötzlich, das gewaltige Schiff treibe von Mannschaft und Passagieren verlassen im Ozean, nur er sei bei der allgemeinen Rettung vergessen worden. Allein, nun taumelte ein Passagier im seidenen Schlafrock vorbei, den Friedrich mit der erstaunten Frage, was es denn gäbe, anreden konnte. »O nichts«, sagte der Herr, »ich suche nur meinen Steward. Ich leide an Durst. Ich hätte nur gern ein Glas Limonade gehabt.« Damit torkelte er in seine Kabine.

»Esel!« sagte Friedrich und meinte sich. Er nannte sich einen vollkommen Wahnwitzigen. Aber die Stille lastete fürchterlich, und Friedrich konnte, von einem wilden Instinkt gepackt, nicht anders, als plötzlich, nur um an Deck zu kommen, vorwärtsstürzen.

Jemand trat ihm entgegen und fragte ihn, wo er hinwolle. »Platz!« antwortete Friedrich, »das geht Sie nichts an.« Aber der entsetzliche, mit den Spuren der Seekrankheit besudelte, halbangezogene leichenhafte Mensch wich nicht und rief: »Sind denn die Stewards hier alle irrsinnig?« In diesem Augenblick fing ganz nahe an Friedrichs Ohr die elektrische Klingel zu hämmern an, und im nächsten war das schlotternde Furchtgespenst, das Friedrich den Weg versperrte, durch zehn, zwanzig, dreißig andere ebensolche Gespenster verstärkt worden. Sie schrien: »Was gibt's? Was ist los? Wir sinken! Gefahr!« – »Steward, Steward!« brüllte ein Herr mit Kommandostimme. Ein anderer: »Kapitän, Kapitän!« – »Das ist eine verfluchte gemeine Wirtschaft!« schimpfte ein Mensch, dessen Stimme überschlug. »Kein Steward ist da! Will man uns denn hier brutalisieren?« Und die elektrischen Klingeln begannen zu toben.

Friedrich wich zurück und lief den endlosen Korridor nach der entgegengesetzten Seite hinunter, wobei er, von niemand aufgehalten, an den Fenstern zum Maschinenraum vorüberkam. Zylinder und Wellen regten sich nicht. Aus der Tiefe des Schiffes, von den Kesseln und Feuern herauf, drang trotz des Lärms, den das Knacken und Knirschen der Wände verursachte, ein Geräusch, das wie Plätschern und Strömen von Wasser klang. Sollte ein Kessel geplatzt sein? dachte Friedrich und vergaß dabei, daß er in einem solchen Falle hätte das gewaltige Ausbrechen kochender Dämpfe vernehmen müssen. Aber er hielt sich nicht auf und lief weiter, am Postbüro vorüber, dem Hintersteven des Schiffes und der zweiten Kajüte zu. Während des Laufens ging es ihm durch den Kopf, wie glücklich er in Paris gewesen war, als er auf dem Büro von Thomas Cook und Sohn, Place de l'Opéra, erfahren hatte, daß er bei großer Eile den »Roland« noch im Kanal vor Southampton erreichen würde. Weshalb war er eigentlich mit einer so großen und zitternden Ungeduld, in immerwährender Angst, es zu versäumen, geradezu ins Verderben gerannt?

An der Durchgangstür zur zweiten Kajüte stieß Friedrich auf den Barbier. »Die Feuer sind aus«, rief der Mann. »Zusammenstoß! Das Wasser ist unterhalb meines Salons in den Raum gedrungen.« Die Klingeln rasten. Der Barbier schleppte sich mit zwei Rettungsgürteln. »Wozu brauchen Sie zwei?« Friedrich nahm einen und rannte davon.

 

Er hatte die hintere Decktür erreicht, konnte jedoch nicht ins Freie hinaustreten. Er erkannte sofort an der Lage des Schiffs, daß etwas nicht wieder Gutzumachendes mit ihm geschehen war. In Lee lag es hoch, in Luv nur drei bis vier Meter über der Wasserlinie. Da auch der Hintersteven bedeutend tiefer als der vordere Teil des »Roland« lag, so wäre es, zumal bei den überkommenden schweren Seen, ein nahezu aussichtsloses Wagnis gewesen, über Deck nach vorn zu klettern. Gern oder ungern, wohl oder übel mußte Friedrich durch dieselbe Dachsröhre, die er soeben abwärts gekommen war, wieder nach vorn und nach oben zurück.

Kaum fünfzehn Sekunden später, als Friedrich den vorderen Ausgang an Deck, über dem Speisesalon, erreicht hatte, hätte er nicht zu sagen gewußt, wie ihm möglich gewesen war, durch den mit Passagieren überfüllten Gang zu kommen, ohne erschlagen, erdrosselt oder niedergetreten worden zu sein. Seine Stirn, seine Hände waren beschunden, und er hielt sich mit Anstrengung an dem Rahmen der Tür, heftig mit Doktor Wilhelm verhandelnd. Wilhelm packte ihn an, und die Kollegen klommen mit Todesverachtung auf die Kommandobrücke hinauf. Sie duckten sich, im Schutze des Deckbaus und der Leeseite, sahen, wie etwas im grauenden Dämmer des Morgens in mächtiger Höhe und tollem Schwunge über sie flog, und wären im nächsten Augenblick, bis an den Bauch in einem stürzenden Wasserfall klimmend, über Bord gespült worden, wenn sie sich nicht mit aller Gewalt an Geländer und Laufstangen geklammert hätten.

Auf der Kommandobrücke sah es ungefähr wie gewöhnlich aus. Kapitän von Kessel stand, scheinbar gelassen, vornübergelehnt; der riesige Herr von Halm hatte das Glas an die Augen gesetzt und suchte den Nebel, der immer wieder einfiel, zu durchdringen. Die Sirene heulte. Am Vordersteven wurden Raketensignale gegeben und Böllerschüsse gelöst. Rechts vom Kapitän stand der Zweite Offizier, und der Dritte erhielt soeben den Befehl; »Taue kappen, Rettungsboote aufs Wasser werfen!« – »Taue kappen, Rettungsboote aufs Wasser werfen«, wiederholte er. Er verschwand, den Befehl nach Möglichkeit auszuführen.

Bei alledem hatte Friedrich zunächst wieder die Empfindung von etwas Unwirklichem. Augenblicke wie diese hatten zwar immer wie etwas Mögliches vor seiner Seele gestanden, nun erkannte er aber, wie er niemals ernstlich mit ihresgleichen gerechnet hatte. Er wußte bestimmt, daß die Wahrheit, vor der er stand, unerbittlich vorhanden war: dennoch vermochte er nicht, sie überzeugend aufzufassen. Er sagte sich, eigentlich sollte wohl auch er in ein Boot zu gelangen suchen. Da streifte ihn das blaue Auge des Kapitäns, aber ohne ihn zu erkennen oder mit Verständnis an ihm zu haften. Mit ruhiger Stimme erklang der Befehl, in dem bekannten, an das Zusammenschlagen von Billardbällen irgendwie erinnernden schönen Ton: »Alle Mann an Deck, die Pumpenmannschaft auf die Stationen!« – »Alle Mann an Deck, die Pumpenmannschaft auf die Stationen«, wiederholte der Mann, eh er die Treppe an Deck hinunterstieg. Nun hieß es: »Frauen und Kinder nach Steuerbord!« – »Frauen und Kinder nach Steuerbord!« kam wie ein nahes, sachliches Echo die Antwort. Jetzt trat der Schiffsjunge Pander zum Kapitän. Er hatte die brave und sonderbare Idee, ihm einen Rettungsgürtel anzubieten. Von Kessels Hand fand einen Augenblick seinen Scheitel. Er sagte: »Ich danke dir, lieber Sohn, ich brauche ihn nicht.« Er nahm einen Bleistift, schrieb einige flüchtige Worte auf und reichte dem Schiffsjungen das Dokument, mit den Worten: »Spring in ein Boot, Bengel, und bring's, wenn du kannst, meinen Schwestern!«

Eben brach sich eine schwere See über der Leeseite. Eine furchtbare Dünung schwoll, hob und drehte das kolossale, noch erleuchtete Schiff, und Friedrich versuchte vergebens, sich aus einer bleiernen Gleichgültigkeit emporzuraffen, die ihn angesichts des unbegreiflichen Schauspiels befangen hielt. Plötzlich sprang in ihm das Entsetzen auf. Er kämpfte es nieder, weil er um keinen Preis vor sich selbst und anderen als feige erscheinen wollte. Aber er folgte seinem Kollegen Wilhelm, der sich dem Schiffsjungen Pander an die Ferse hing. »Wir müssen ins Boot«, sagte Wilhelm, »es ist kein Zweifel, wir sinken.« Gleich darauf befand sich Friedrich in der Deckkabine Ingigerds. »Auf! vorwärts! die Leute springen schon in die Boote!« Er hatte die Türen offengelassen, und man sah, wie der Schiffsjunge Pander und zwei Matrosen in nächster Nähe mit Beilen die festgefrorenen Taue einer Rettungsschaluppe durchhieben. Ingigerd fragte nach ihrem Vater. Sie fragte nach Achleitner. Friedrich erklärte, sie könne nur noch an sich denken. Jetzt noch unter Deck zu gelangen, sei eine Unmöglichkeit und würde nur sicheren Tod bedeuten. »Anziehen, anziehen!« Stumm beeilte sie sich, es zu tun. Jetzt erst kam einer der Stewards an Ingigerds Deckkabine vorüber und rief sein kurzes »Gefahr!« hinein. »Wieso Gefahr?« rief die Kleine, »gehen wir unter?« Aber Friedrich hatte sie schon gepackt, aufgehoben und in die Nähe des Bootes gebracht. Eben gaben die Seile nach, und es fiel in den nebelichten Strudel hinunter.

»Frauen und Kinder auf die andere Seite!« kommandierte entschieden die Stimme des Dritten Offiziers. Dieser Befehl bezog sich nicht nur auf Ingigerd, sondern auch auf das Dienstmädchen Rosa, das vor Anstrengung feuerrot, wie wenn sie mit Markteinkäufen überladen die Tram zu versäumen fürchtete, an Deck erschien und mit einer unglaublichen Kraft ihrer dicken Arme Frau Liebling und beide Kinder heranschleifte. »Frauen und Kinder auf die andere Seite«, wiederholte, ein wenig zu schneidig, der Dritte Offizier, wurde aber zum Glück durch beginnende Kämpfe um das nächstfolgende Rettungsboot in Anspruch genommen. Es war keine Zeit zu verlieren, und trotz entschiedenen Widerstandes zweier Matrosen ließen Friedrich, Pander, der Schiffsjunge, und Doktor Wilhelm Ingigerd glücklich ins Boot hinab. Hierbei zeigte sich Friedrich plötzlich ebenfalls laut und preußisch. Durch seine eiserne Energie, die jeden Widerspruch kappte, wurde es durchgesetzt, daß man die Kinder, dann Frau Liebling und schließlich Rosa in die Schaluppe befördern konnte, was keine leichte Sache war. Friedrich hörte sich rufen, kommandieren, ward angebrüllt, brüllte Matrosen und Bootsmann an, er kämpfte, er arbeitete: alles ohne einen Schimmer von Hoffnung und mit dem klaren, festen Bewußtsein, einer unrettbaren Lage gegenüberzustehen. Es war alles aus. Es war alles verloren. Wer es etwa nicht glauben mochte, dem wurde es eben jetzt überzeugend vor Augen geführt. Man hatte das nächste Boot glücklich aufs Wasser hinabgelassen. Drei Matrosen sprangen darin herum. Es schwebte. Es stieg. Friedrich schien es, als wenn unter den Passagieren, acht oder neun, die es bereits aufgenommen hatte, bekannte Gestalten wären, da schlug es voll Wasser und war verschwunden. Wie infolge eines Taschenspielertricks blieb die Stelle, wo noch eben die wimmelnde Holzbarke mit Menschen getanzt hatte, leer, Nebel und Schaumstürze schossen darüber.

Langsam veränderte sich das Schwarzgrau und Braungrau der frühesten Dämmerung, wie der nahende Tag sich seltsam fremd und gleichgültig fortschreitend durchsetzte. Wenn der Nebel ein wenig wich, hatte Friedrich manchmal augenblicklang den schauerlich-täuschenden Eindruck, zwischen Bergen in einem windstillen Tal mit blumigen Weiden zu sein, in das der Blütenschnee des Frühlings hineinstäubte. Dann aber kamen die Berge, umheult von den rasenden Geistern des Orkans, ins Tal gewandert. Die schweren, gläsernen Höhen brachen sich und schlugen mit der Wucht ihrer flüssigen Felsmassen die ersten und zweiten Notmaste des »Roland« wie Binsen von Deck. Das arme Wrack konnte bei seinen nun bereits erkalteten Kesseln einen Hilferuf nicht mehr ausstoßen. Sein kläglicher Rumpf stand noch immer gigantisch nach vorn empor. Raketen stiegen. Am vordersten Mast führten hurtig flatternde Flaggsignale eine nutzlose Sprache in das erbarmungslose Rasen der Elemente hinein. Im Zwischendeck war es still geworden. Dagegen hörte man von der Leeseite her einen eigentümlichen Lärm, der an das Jauchzen und Kreischen einer Volksmenge zwischen Jahrmarktsbuden, auf Rutschbahn und Karussell erinnerte. Ein Gesumm wie von schwärmenden Bienen drang deutlich durch die Wut des Orkans, ein Gesumm, das von den Fisteltönen bis zur Raserei entrüsteter oder entzückter Weiberstimmen übertönt wurde. Friedrich dachte an seine dunkle Deborah. Er dachte an Wilke, gerade als Artur Stoß von seinem getreuen Burschen Bulke herangeführt wurde. Wilke folgte. Er hatte getrunken und schrie, als wäre das Ganze nur eine Lustbarkeit. Aber er brachte auch, sie halb ziehend, halb tragend, eine ältere Arbeiterfrau an Deck herauf, die er, Stoß und Bulke zurückdrängend, glücklich in die Schaluppe hinunterließ. Ingigerd rief nach ihrem Papa und nach Achleitner. Statt ihrer fiel aber nur, von Wilke und Bulke am Strick gehalten, der armlose Stoß ins Boot hinein.

Nicht weit von Friedrich stand Mr. Rinck, seine Katze im Arm, in die offene Tür seines Postamtes eingeklemmt. Friedrich rief: »Mir scheint, die Sache ist bös, Mr. Rinck.« Er bekam ein phlegmatisches »Why?« zur Antwort. Im nächsten Augenblick wurde der Postmeister von einer angstvollen Stimme angebrüllt: »Was ist los, was ist los?« – »Nichts!« gab er zur Antwort.

Inzwischen ward auch Doktor Wilhelm durch Wilke und Bulke ins Boot befördert. »Das Mädchen dort unten«, sagte Bulke, »schreit sich nach ihrem Vater wund.« Ingigerds Kreischen schnitt Friedrich ins Herz. Aber kein Hahlström war zu entdecken. Friedrich drang bis an das gemiedene Rauchzimmer vor, das ihn, trotzdem die elektrischen Birnen strahlten, mit seinen Lederpolstern wie eine höllische Falle angähnte. Wilke war plötzlich neben ihm: »Hierdrin ist niemand«, sagte Wilke. Beide kletterten weiter die Treppe hinab. Der Raum vor dem Speisesaal und der Speisesaal selbst waren leer. Er stand bergan. Eine Menge Teller und Silberzeug war am Eingang zusammengekollert. Friedrich schrie, was er konnte: »Hahlström! Achleitner! Hierher, hierher!« Aber er bekam keine Antwort. Da geschah es, daß die Musik im Saale mit einer kräftigen Marschweise einsetzte, wahrscheinlich auf Order des Kapitäns, um die Schrecken der Panik zu beschwichtigen. Aber nun, gerade im Angesicht dieses zum Feste des Todes hellerleuchteten, musikdurchrauschten leeren Raums, griff Friedrich nacktes Entsetzen an. Jetzt rannte er, rannte um sein Leben.

 


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