Otto Erich Hartleben
Die Serényi
Otto Erich Hartleben

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Wie der Kleine zum Teufel wurde

I

Mit meinem Freunde, dem Kleinen, kann ich heute kaum noch reden. Er ist mir über den Kopf gewachsen. Er ist jetzt Reserveoffizier, und ich bin noch immer überzeugter Reichskrüppel; er ist einer der beliebtesten Referendare unserer gemeinsamen Vaterstadt, und ich habe inzwischen diesen bürgerlichen Beruf mit einer lohnenderen Beschäftigung vertauscht. Kein Wunder also, daß mein Freund, der Kleine, jetzt, wenn auch mit Wohlwollen, auf mich herabsieht.

Vor fünf Jahren war das anders. – Ich war in Berlin zu hohen Semestern herangereift, stand kurz vor dem mündlichen Examen, und er kam als blutjunger Fuchs, eben von der Schulbank, zum erstenmal aus der Provinz nach Berlin. Es war natürlich, daß ich damals noch eine gewisse Autorität bei ihm genoß. O schöne Zeit...

Die Geschichte, die ich erzählen will, spielte einige Monate später, als die vorige vom abgerissenen Knopfe. Sie ist mir dabei wieder eingefallen.

Es hieße übrigens dem Kleinen Unrecht tun, wenn man nach dem Obigen annehmen wollte, daß ihm etwa damals das nötige Selbstbewußtsein gemangelt hätte. Im Gegenteil! Nur besaß es noch nicht diese vernichtende Schärfe der sozialen Überlegenheit, es war harmloser – es war vorwiegend sittlicher Natur. Gleich am ersten Abend, nachdem ich ihn von der Bahn geholt und in ein ›echtes Bierlokal‹ geführt hatte, hielt er mir folgende Rede:

– Na, du altes R..: man hört ja nette Dinge von dir! Du schämst dich wohl gar nicht mehr! Wenn man den Kerl ansieht! Es ist nicht auf eine Kuhhaut zu schreiben, wie schnell es mit ihm bergab gegangen ist! Ein Mensch wie du! Zwar: stinkend faul warst du ja auch schon als Pennäler, aber immerhin: du berechtigtest doch zu einigen Hoffnungen. Sagte man! Ich muß allerdings zu meiner Ehre bekennen, daß ich persönlich nie daran geglaubt habe. Nie! – Prosit!

Der Kleine, wenn er so loslegte, versetzte mich stets mit unfehlbarer Sicherheit in die rosigste Laune. Ich vergaß alle Examenssorgen, und wir stießen laut lachend die Krüge aneinander.

– Gott sei Dank, daß du jetzt da bist, Kleiner! Nun kann ja noch alles gut werden.

– Das ist zu spät! Bilde dir nur keine Schwachheiten ein. Du bist nun mal in dem Sumpf der Großstadt versunken –: dir hilft kein Gott mehr!

Es war unvergleichlich, mit welcher pathetischen Lüsternheit der Kleine den Sumpf der Großstadt betonte. Er wollte ihn ja immerhin erst kennen lernen – diesen Sumpf...

– Aber ich will dir sagen, woran das liegt. Wodurch du so weit gekommen bist, und weshalb mir das nie passieren kann! Wenn du so wie ich mit einer – verstehst du? –: einer reinen und keuschen Liebe im Herzen in dies Leben hier hineingekommen wärst ... Aber das muß ich dir ja erst erzählen!

Und nun, mit seiner galoppierenden Offenheit, fing er an und erzählte. Also er hatte sich verlobt. Heimlich, aber natürlich fürs Leben ... auf dem letzten Primanerball. Dora hieß sie. Sie war – nein, aber wirklich! – das reizendste, das lieblichste Geschöpf von der Welt. Und dabei klug und riesig gebildet! Sie spielte Klavier und malte sogar! Und dabei war sie erst siebzehn! – O, ich brauchte mir nicht einzubilden, daß das alles Gänse wären – diese anständigen Mädchen. Es gäbe Gottlob noch Ausnahmen! Freilich müsse man sich die Mühe machen, sie herauszusuchen ...

Nun kam ich wieder dran.

– Du natürlich – schnauzte er los, du, in dieser ewigen Atmosphäre, hast keine Ahnung, du glaubst, weil sie zurückhaltend sind – müssen sie gleich dumm sein. Du hast nur nicht gelernt, dich mit ihnen zu unterhalten! Das ist das Ganze!

Nach diesem Ausfall gegen mich hielt er inne und beschaute mich herausfordernd mit seinen in schöner Begeisterung funkelnden Augen. Er hatte überhaupt einen hübschen Kopf, an dem ich immer meine Freude hatte.

– Ich weiß schon – sagte ich resigniert: ich weiß schon. Du wirst ein Mandat unserer organisierten Tantenschaft in der Tasche tragen. Gesteh's nur: du hast den Auftrag, mich lebendig oder tot in die gute Gesellschaft zurückzuführen. Es ist ein Preis auf meinen Kopf gesetzt. Unter dem Vorwande, hier in Berlin Jurisprudenz studieren zu wollen, kommst du in geheimer Mission der Alliance moralisatrice ...

– Du bist verfolgungswahnsinnig. – Ich sage ja –: bei dir ist nichts mehr zu wollen.

– Du beruhigst mich. Prosit. –

Wir tranken. Und er fuhr in der Beichte seines Herzens fort. – Sie liebte ihn natürlich ganz furchtbar. Wenn er sie küßte, wurde sie wie rasend. Er sah da so recht, wie leicht es tatsächlich einem Manne ist, seine Macht zu mißbrauchen. Wie das wirklich gar kein Kunststück ist. Aber um so elender ist es auch! – Gott sei Dank: bei ihm war sie sicher. Er konnte sich beherrschen, er war kein Lump! – Donnerwetter, laß dieses eselhafte Grinsen aus deiner Visage!

Er schlug auf den Tisch. Wir waren beim Fünften.

– Ja, weißt du, lieber Kleiner, mein Lächeln ist ja nur der freudige Widerschein deines hohen Glücks:

Bedenke, daß ja mir nicht das geworden,
Was dir, dem Reichen, das Geschick gebracht –:
Ein Rausch des Glücks bis an der Seele Borden,
Ein Liebestraum in aller Lebensnacht!

Mit unsagbarer Geringschätzung in Blick und Ton fragte er mich: – Du dichtest wohl immer noch? – Ach ja – erwiderte ich mit einem Seufzer.

– Merkwürdig. Und immer noch an die verschiedensten Weiber natürlich.

– An die verschiedensten Weiber.

– Pfui! –

Der Stoff war ausgezeichnet. Wir brachten es beide bald auf Zehn. Der Kleine wurde immer großartiger. Ich glaubte ihm alles aufs Wort. Es wäre eine Geschmacklosigkeit gewesen, es nicht zu tun. Der Abend war so schön.

– Überhaupt, weißt du: Glück muß ein junger Mensch haben, Glück! Das ist alles! – Und dann natürlich: man darf auch kein Hornochse sein! Im rechten Moment zufassen und, was man hat, festhalten – das ist die ganze Kunst. Und das hab ich raus, kann ich dir sagen...

Wir tranken immer noch sehr viel mehr. –

Schließlich fuhren wir aber doch hocherfreut nach Hause. Er schlief die Nacht bei mir. Morgen früh wollte er sich eine Wohnung suchen.

II

Nach dieser ersten erhebenden Antrittsfeier hörte ich volle acht Tage nichts vom Kleinen ... gar nichts.

Die ersten Tage dacht ich: Aha, jetzt sieht er sich erst mal den Sumpf an. Dabei bin ich überflüssig. Als aber eine ganze Woche verging, ohne daß er etwas von sich merken ließ, da wurde mir die Sache denn doch bedenklich, und ich telegraphierte an seine Mutter nach seiner Adresse.

Nachmittags erhielt ich denn auch die gewünschte Drahtantwort. Sie lautete: Kleiner wohnt Tieckstraße 30/31. Aber bitte rühren Sie nicht daran.

Wohl eine halbe Stunde lang las ich es wieder und wieder: Kleiner wohnt Tieckstraße 30/31. Aber bitte rühren Sie nicht daran.

Was, zum Teufel, sollte denn das heißen? War ich wirklich schon blödsinnig geworden von dieser Examensbüffelei – oder lag es am Text? Woran sollte ich denn nicht rühren?

Ich fuhr hin. Tieckstraße 30/31. – Als ich die Haustür öffnen wollte, schauderte meine Hand unwillkürlich vor der Klinke zurück.

– Ach Unsinn, sagte ich mir: du wirst auf deine alten Tage noch abergläubisch werden! – Und mutig griff ich zu und öffnete mir das Haus!

– – Ich trat in eins jener trostlosen Chambregarniezimmer, die dazu ersonnen zu sein scheinen, auch dem philiströsesten Musenjüngling die Augen über die Vorzüge des Kneipenlebens zu öffnen. Von dem mitleidslosen Öldruck Seiner Majestät bis herab zu den violettplüschenen ›Fohthöchs‹ war alles vertreten, was zum Interieur einer solchen ›Bude‹ nun mal gehört.

Die Unfreundlichkeit des Zimmers wurde noch erhöht durch das abendliche Halbdunkel. Eine Studierlampe schien diesen Räumen unbekannt.

Wie ein Schatten von der Wand löste sich der Kleine schweigend aus den dunklen Tiefen des Sofas und starrte mich an.

– Mensch, mach doch Licht! – rief ich. ihn an. Mir war direkt unheimlich zumut.

– Licht? – Ja so.

Ich erschrak. War das die Stimme des Kleinen ? Er ging zur Tür und rief nach einer Lampe.

– Kleiner, was fehlt dir?

– Nichts.

– Weshalb hast du dich die ganze Zeit nicht sehen lassen?

– Ich habe gearbeitet. –

Die Wirtin kam und brachte ein Stearinlicht, das sehr schlecht brannte. Der Kleine fuhr sie ärgerlich an: – Weshalb bringen Sie keine Lampe?

– Ich habe bloß zwei. Eine brauch ich selber und eine braucht der andere Herr. Sie sind ja doch nie zu Hause.

Damit ging sie. – – Hm. – Wir setzten uns beide an den ovalen Sofatisch mit der schmutzigen gehäkelten Decke. Der Kleine hustete. Ich betrachtete ihn. Möglich, daß das unruhige Flackern des elenden Lichtstumpfes mit daran schuld war – jedenfalls sah er greulich aus ... greulich!

– Kleiner, was fehlt dir denn? – wiederholte ich eindringlicher.

– Ach, komm – sagte er – hier können wir ja doch nicht bleiben. Schauriges Loch, hier. Hab auch schon wieder gekündigt. Komm: woll'n gehn.

Er suchte nervös nach seinen Sachen. Wir gingen.

Auf der Straße sagte der Kleine:

– Du, woll'n wir nicht in die blutige Lampe gehn?

– Blutige Lampe! Was ist das?

– Tingeltangel ... Ohne Entree ... S' wird gesammelt... Hier, gleich in der Nähe.

– Na, weißt du – sagte ich und betrachtete ihn so scheu von der Seite – ich kann nun eigentlich nicht behaupten ...

– Ach tu doch nicht so – schnauzte er mich an. Zum erstenmal kannte ich meinen Kleinen wieder und seufzte erleichtert auf.

– Lächerlich, wenn ein Mensch wie du – sich auch noch zieren will!

– Aber Kleiner, ich habe Durst nach einem guten Glase Bier, habe außerdem noch nichts gegessen...

– Ach Unsinn! Dies stumpfsinnige Rumsitzen in der Kneipe – das könnt' ich zu Hause auch schon. Hier will ich doch merken, daß ich in der Weltstadt bin.

– Na – also gehn wir schon in die blutige Lampe.

Als wir dort ankamen, bemerkte ich sogleich, daß der Kleine da bereits alter Stammgast war – N' Abend, Herr Doktor, n' Abend, Herr Doktor...

Wahrlich: er hatte seine Zeit nicht verloren.

– Famose Waden, was?

– Aber Kleiner!

– Was denn ? – Donnerwetter, Mensch –: ich hätte nicht gedacht, daß du ein solcher Heuchler wärst! Tag, Emmy!

Mit der Miene des souveränen Wüstlings nickte er einem unglücklichen Geschöpfe auf dem Podium zu, das allerdings ganz als Wade gedacht zu sein schien. Sie lächelte melancholisch auf ihn nieder.

Das Lagerbier war natürlich nicht zu trinken. Der Klavierspieler hielt das alte Pianino offenbar für noch nicht verstimmt genug und haute konsequent daneben. Die Waden hatten sämtlich keine Stimme und kein Talent.

Dazu kam, daß auch der Kleine völlig ungenießbar war. Kurz als schließlich sogar noch eine – ›seriöse‹ Sängerin das Podium bestieg, die ihre höhere Kunstbranche durch lange Kleider markierte – da wurde es mir denn doch zu bunt, und ich beschloß zu gehn, sobald diese Dame ausgesungen hätte. Hm. Sie sang natürlich das schöne Lied:

Nur einmal blüht
Im Jahr der Mai,
Nur ein –
Mal im Leben die Liebe!

Trotz der endlosen Vokale war sie schließlich fertig. Reicher Beifall lohnte sie. Ich wandte mich zum Kleinen.

Aber was sah ich da!

Das Kinn auf die Fäuste gestützt, saß er da, sah in sein Bierglas und die hellen Tränen liefen ihm langsam über die Backen.

Der Kleine weinte! Ganz leise weinte er – offenbar ohne daß er's wußte. Er hatte seine Umgebung völlig vergessen.

Ich muß sagen, daß mich das ordentlich erschütterte. Denn wie das mit solchen burschikosen Freundschaften ist: man teilt die Freude – nur selten das Leid. Schon aus dem einfachen Grunde, weil ... Du lieber Gott, nun ja: was hat denn so ein jüngstes Semester für Leid?

– Kleiner! – Nu sei doch nicht so borniert, sag mir doch, was du hast!

Er antwortete nicht, aber nach einigem Schweigen zog er einen recht zerknitterten Brief aus der Tasche und reichte ihn mir, ohne mich anzusehen.

Ich las. Der Brief, der an jenem Abend in meinen Besitz übergegangen ist, lautet folgendermaßen: Lieber Freund!

Seit Du fort bist, war es mir gleich so merkwürdig, was ich aber erst nicht wußte, weshalb. Mama hat zwar immer schon so gesagt, daß Pastor Schulz ein prächtiger und braver Mensch wäre, auf den man sich verlassen könnte, und er hätte auch Vermögen und schon in so jungen Jahren eine feste Anstellung, aber ich hatte darauf nicht geachtet und Dir deshalb auch nichts davon gesagt.

Lieber Freund, an die letzte Zeit und den Ball bei Seemann, der mein erster war, werde ich immer zurückdenken müssen.

Ja das waren schöne Zeiten,
Doch die sind nun vorbei!

Wer weiß, ob wir uns je in diesem Leben wiedersehn, das sagte ich Dir schon beim Abschied, nicht wahr? Ich weiß nicht, ich habe immer eine Vorahnung gehabt, daß sich uns unübersteigbare Hindernisse in den Weg legen würden, worüber Du mich aber stets auslachtest und siehst Du, nun sind sie schon da, denn gestern hat Pastor Schulz schon mit Mama gesprochen.

Ich leide entsetzlich, denn Du siehst wohl ein, daß wir unter diesen Umständen nie auf eine Vereinigung rechnen können, erstens liegen bis zu der Zeit, wo Du heiraten könntest, doch noch etliche Jahre, und dann will auch Mama, wie ich wohl gemerkt habe, durchaus Pastor Schulz, und wir raubten uns bloß die schönsten Jahre unserer Jugend.

Man muß sich eben über alles zu trösten suchen, und Gott sei Dank bin ich eine Natur, die sich schnell über etwas hinwegsetzt, was ihr doch unendlich schwer wird, weshalb ich auch die Schrift zu entschuldigen bitte, ich schreibe auf dem Postamt und habe deshalb nur fünf Minuten Zeit. Dieselben Orte, wo wir so glücklich waren, alles mahnt mich an Dich und ich darf nichts sagen, darf nicht einmal eine Träne vergießen, die mir doch gewiß Erleichterung verschaffen würde!

Lieber Freund: bedenke, wie sich auch an uns Scheffels Lied bewahrheitete:

Behüt Dich Gott, es wär zu schön gewesen,
Behüt Dich Gott, es hat nicht sollen sein.

Ja, es wär zu schön gewesen! Dies ist wahr und wer weiß, ob Du nicht dadurch auch Deine Studien vernachlässigt hättest.

Nun adieu, Gott behüte Dich. Wir wollen beide den Schmerz unterdrücken, so groß er auch ist, und niemand was merken lassen.

Deine tiefgebeugte

Dora.

P. S. Ich erwarte keinen Brief mehr, denn wozu, und gebe Dir deshalb keine andere. Adresse. D.

– Dora heißt die Canaille! – murmelte ich, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. Ich war ehrlich wütend und zerknitterte die schon öfter zerknitterte Epistel meinerseits noch einmal.

– Da hast du's nun mit deinen anständigen Mädchen! Das ist es ja: geheiratet wollen sie sein, die Bestien. Und weiter nichts. Ä! Pfui Deuwel!

Der Kleine richtete sich an meinem Zorn seelisch wieder auf und überwand seine sentimentale Regung. Er schlug derart mit der Faust auf den Tisch, daß sich alle Welt nach uns umsah. Aber das störte ihn nicht, sondern er rief, er schrie beinah:

– Ja! Ja! Du hast recht. – Oh, da muß man, da muß man ja schließlich zum Teufel werden! Zum Teufel! – Wenn selbst ein Mädchen, wie Dora ... Mensch! Kannst du denn überhaupt fassen, was das heißt? Dora! Dora!

Die Leute an den Nebentischen wurden unruhig und einige zischten. Wir taten, als bemerkten wir es nicht. Ich sagte:

– Ja, ja: ausgerechnet Dora – dieses seelenvolle Mädchen!

– Ach, ich verbitte mir das! Sie war durchaus nicht seelenvoll. Das hat sich jetzt gezeigt. Gibt es denn auf der ganzen Welt eine größere Gemeinheit, als sich in dieser Weise ... so mir nichts dir nichts ... mit einem andern Menschen zu verloben?!

Ich verneinte diese Frage nach bestem Wissen und Gewissen. Er schlug trotz der bereits gereizten Umgebung wieder mit der Faust auf den Tisch und rief: – Und noch dazu mit einem Pastor!

– Ruhe! – rief jetzt eine Stimme.

Ich sprach deshalb etwas leiser:

– Na, weißt du, Kleiner –: daß es ein Pastor ist, das ist nun meines Erachtens in diesem Falle noch lange nicht das Schlimmste. Für dich nämlich. Ich wenigstens würde in deiner Stelle aus diesem Umstande sogar noch eine gewisse Süßigkeit saugen ...

– Wieso?

– Ja, ich hab sie zwar nie gesehn, aber ... ich kann sie mir doch ganz gut vorstellen – als Frau Pastor. Morgens melkt sie die diversen Kühe, nachmittags stopft sie ihrem Herrn Gemahl die lange Pfeife und zwischendurch wird gekocht und gewaschen. Sonntags kommt Besuch – und so weiter. – Na und dann –: die Kinder! Was glaubst du! Man hat mir erzählt, daß sie in solchen Pastorenfamilien überhaupt nur noch nach Dutzenden gezählt werden. – Das sei deine Rache!

Des Kleinen Augen leuchteten in fanatischer Glut. Er schrie – Ja! Ja! O, das ist ihr recht! Das ist ihr recht! Da hat sie sich was Nettes eingebrockt!

– Ruhe! Zum Donnerwetter! – Die Geduld des Publikums war gerissen. Von allen Tischen erfolgten Zurufe. Der Kleine sah sich herausfordernd um, der Grimm seiner Seele lechzte nach Taten.

Da trat ein junger, elegant gekleideter, untersetzter Herr auf uns zu und teilte uns höflich mit, daß der Wirt uns bitten ließe, entweder unser Privatgespräch etwas leiser zu führen oder ...

– Halt die Schnauze, verfluchter Esel! – schrie ihn der Kleine an.

*

Der auf diese Worte folgenden Vorgänge erinnere ich mich teils nicht mehr genau, teils sind sie weder für den Kleinen noch für mich in dem Maße ehrenvoll, daß sie einer besonderen Aufzeichnung würdig erschienen. Zu unserem Unglück war das Straßenpflaster an diesem Tage gerade hervorragend schmutzig, so daß ein Droschkenkutscher uns unsere Bitte um Aufnahme rundweg abschlug und wir den Weg zur Bude des Kleinen tiefbeschämt zu Fuß machen mußten. Wir mieden die Nähe von Laternen so gut es ging.

III

Des Geistes Wegwurf in ein Meer von Schmach –

Diese Verszeile knirschte mir allabendlich wie Sand zwischen den Zähnen, wenn ich erschöpft von dem Auswendiglernen juristischer Weisheiten einschlief. Es war so weit mit mir gekommen, daß mir selbst der Schlaf keine Ruhe mehr brachte. Im Traume kehrten sie wieder, diese scheußlichen Ungetüme, diese Rechtsbegriffe. Eines Nachts erwachte ich schweißgebadet: ich war behaglich in eine alte, liebe Kneipe eingetreten und fand da, statt der guten Mädchen Emmy und Grete, neuengagiert die Emphyteusis und die Superficies ...

Endlich an den Iden des März, vollbrachte ich dann – das Unmögliche – das Examen ...

Auf der Rampe vorm Kammergericht stand der Kleine. Er schüttelte mir gerührt die Hand – »Was der Preußische Staat für'n Pech hat ...«

Als Ort der nun folgenden Sitzung wählten wir das alte Kempinskische Lokal in der Friedrichstraße. Ich muß bei dieser Gelegenheit um Entschuldigung bitten, daß die von mir erzählten Geschichten sich eigentlich immer in irgendwelchen Lokalen zutragen. Mir fällt das soeben selber auf. Aber ich darf wohl hoffen, daß niemand so böswillig ist, aus dieser Tatsache, die sich einfach aus meiner sachlichen Wahrheitsliebe erklärt, Schlüsse auf meine persönliche Lebensführung zu ziehen.

*

– Nun, Kleiner – was blickst du so trüb und so bleich? Hat die Wunde sich noch nicht geschlossen?

– Ach du meinst, wegen Dora? Denke gar nicht mehr an sie. Ist mir so gleichgültig.

– Na, denn sei doch vergnügt. Was hast du denn?

– Der Sekt ist mir zu süß.

– Du bist eine faustische Natur, Kleiner. Im Sekt verschmachtest du nach Rheinwein. Aber meinetwegen ...

Bei einer Flasche Rauenthaler hob sich die Laune des Kleinen. Aber nur vorübergehend: alsbald versank er in seinen Stumpfsinn zurück, so daß ich schließlich ungeduldig wurde.

– Zum Teufel, ich habe sie nun allmählich satt, deine ewigen Seelenschmerzen. Was ist denn nu wieder! Hätte, weiß Gott, nie gedacht, daß du dich – hier im Sumpf so schnell zum tragischen Genie entwickeln würdest. Los! Rede wenigstens!

Der Kleine fuhr sich durch seine Locken, die er damals noch nicht zur Leutnantsfrisur depomadisiert hatte, und sah mir traurig und treuherzig in die Augen.

– Weißt du – sagte er langsam – ich hab es früher immer für eine Phrase gehalten, aber jetzt merk ich, daß es doch richtig ist, nämlich – daß einen das Leben schlechter macht. Das Leben – und vor allem die Weiber.

– Aber lieber Kleiner, das steht ja schon im alten Testament. Da wurde er patzig:

– Das weiß ich nicht! Geht mich nichts an! Ich bin kein Jude!

Darüber ließ sich nicht streiten. Nach einigem Schweigen fuhr er fort:

– Nämlich – ich muß dir eine Geschichte erzählen.

– Nun ja, natürlich. Darauf wart ich ja schon lange. Also: wo hast du sie kennen gelernt?

– Auf der Straße. Es war windig, und der Hut flog ihr fort. Mir gerade ins Gesicht. Ach ich sage dir ...

Er trank sein Glas aus.

– Thekla von Broigh heißt sie. Ihr Vater ist als Hauptmann bei Königgrätz gefallen.

– So? – Wie alt ist sie denn?

– Achtzehn. – So so. – Das muß ein sehr tüchtiger Offizier gewesen sein.

– Wieso?

– Na, er muß doch zum mindesten eine ganz ungewöhnlich nachhaltige Wirkung ausgeübt haben ...

– Ah ... ja so! Hm.

– Na, aber das macht ja nichts. Wenn es sich um die Angabe des Alters handelt, sind solche Rechenfehler verzeihlich. Nu mal weiter.

– Ja, also ihre Mutter lebt als Witwe in Torgau. Natürlich sehr ärmliche Verhältnisse ... von Jahr zu Jahr wurden sie schlechter. Schließlich sah die Mutter nur noch einen Ausweg.

Ein alter Freund ihres Mannes, ein Major von Soundso, Witwer, Vater von drei Kindern, sehr wohlhabend, bewarb sich um Thekla. Da er aber alt und unschön war, hatte sie ihn abfallen lassen. Trotzdem kam er immer wieder. Wie die Not nun am höchsten war, redete die Mutter so lange auf Thekla ein, bis sie nachgab und Ja sagte. Sie konnte sich nicht mehr retten. – –

Der Kleine schien von seiner Erzählung selbst ergriffen zu sein. Er schwieg und leerte wieder sein Glas. Ich störte ihn nicht, sondern wartete, bis er fortfuhr.

– Das war an einem Abend gewesen, als die Mutter sie herumkriegte. Am andern Morgen sollte der Major kommen und – und in der Nacht ging sie durch.

– Durch?

– Ja, hierher nach Berlin. Sehr brav, nicht wahr? Sie wollte sich nicht verkaufen lassen.

– In Torgau. Jawohl. Sehr brav. Aber was hat sie hier angefangen? Wie lange ist sie schon hier?

– Erst wenige Monate. Bisher hat sie sich davon ernährt, daß sie die Schmucksachen, die ihr der Major in der letzten Zeit geschenkt hatte, eins nach dem andern ... versetzte.

– So. Nun und wenn sie mit diesem bürgerlichen Beruf zu Ende ist – was dann?

– Ja, das ist ja eben der Haken.

– Ach so – nu kommst du. Laß dich nur nicht auch versetzen.

Ich hatte die Gefühle des Kleinen verletzt. Er wurde grob.

– Wenn du altes Rindvieh kein Gefühl mehr im Leibe hast, so ist das schlimm genug, und du solltest dich was schämen.

Dieser plötzliche Hinblick auf meine Persönlichkeit erinnerte ihn daran, daß er noch gar nicht auf mein Wohl mit mir angestoßen hatte, und so wurde er ganz unvermittelt sentimental. – Er wünschte mir alles Gute und Liebe, pries in warmen Worten mein wohltemperiertes, leichtschlagendes Herz, und schließlich küßten wir uns.

Nach der Verlegenheitspause, die diesem Überschwang der Gefühle folgte, nahm der Kleine wieder das Wort:

– Weißt du: es ist ja zu traurig. Sie hat sich die letzte Zeit schon kaum noch durchschlagen können. Als ich sie kennen lernte, hatte sie bereits alles versetzt oder verkauft – bis auf das Kleid, das sie auf dem Leibe trug. Schrecklich! So taumelte sie ahnungslos dem Abgrunde zu ...

– Welchem Abgrunde?

– Na aber Mensch! Bedenke doch! Sie ist sehr hübsch, eine schlanke, elastische Figur. Eh sie jemanden gefunden hätte, der ihr aus reiner Menschenliebe hilft ...

– Hm. Ja so. Ich verstehe. Nun und du – hast ihr also – aus reiner Menschenliebe geholfen.

Der Kleine versank in ein düstres Schweigen. Dann sagte er ohne mich anzusehen mit gedämpfter Stimme:

– Nein. Das ist es ja eben. Wie ein richtiger Lump hab ich an ihr gehandelt. – – Sieh mal, du mußt dir eben meinen Gemütszustand vorstellen, wie er damals war nach diesem schmählichen Brief von der Dora. Ich hatte eine Wut auf die ganze Nation! Hast du Strindberg gelesen?

– Jawohl.

– Na, also, dann weißt du ja ungefähr ... Wie ein erstickter Schrei nach Rache ... ja! – So saß es mir in der Kehle. Ich mußte ihn um jeden Preis los werden, diesen Schrei ... ich mußte der Nation einmal zeigen, beweisen, was es eigentlich heißt, einen Teufel aus einem gemacht zu haben! – – Sie war so arglos. Am dritten Abend, nachdem wir im Pschorr gesessen hatten ... sie hatte eine Portion Gänsebraten gegessen ... erzählte ich ihr, ich hätte ihr ein feines silbernes Armband gekauft, hätt' es aber dummer Weise zu Hause liegen lassen. Aber da wir ja so wie so vorbeigingen und ... da könnte sie sich ja bei der Gelegenheit gleich mal ansehn, wie ich eingerichtet wäre und –

– Allerdings – teuflisch!

– Gemein. Grade wo sie deshalb von Hause ausgerückt war. Einfach gemein. Aber das Schlimmste ist: ich gewöhne mich und sie an ... an diese Gemeinheit.

– Kleiner, Kleiner – wo soll das hin?

Er lachte höhnisch:

– Hö! Wo das hin soll? Ich sagt' es dir schon: Man wird eben von Tag zu Tag schlechter. Auf die himmlische – die irdische Liebe. Des Schweines Ende ist der Wurst Anfang. – Ich seh es schon kommen – ich werde noch so wie du. –

– Elender! – Aber kann man denn dieses junge Mädchen nicht mal ... kennen lernen?

– Ja, Thekla ist zwar sehr scheu – aber offen gesagt: ich möchte sogar sehr gern, daß du sie kennen lerntest. Ich habe manchmal das Gefühl ... na, wie soll ich sagen ... daß ich doch noch recht jung bin. Und dann ... ich weiß nicht, ich werde aus mir selber nicht mehr gescheut ... was soll nun geschehen? Müßte ich nun nicht eigentlich Ernst machen?

– Was für'n Ernst?

– Nun ich meine: als Ehrenmann ... sie ist aus guter Familie ... ich kann ihr doch keinen Vorwurf daraus machen, daß – ich sie verführt habe.

– Um Gotteswillen, Kleiner! Du hast ihr doch nicht schon was versprochen?

– Nein, das nicht, aber ... ich habe ihr ... davon gesprochen, daß ich sie zu ihrer Mutter zurückbringen wollte.

– Was sagte sie dazu?

– Niemals! Sie zitterte förmlich vor Schreck. Das Kind ist ja so verschüchtert.

– Na gut. Nu versprich mir mal, daß du nichts weiter unternehmen wirst, bevor ich sie nicht kennen gelernt habe. Hörst du?

Er versprach es, und wir verabredeten nun, daß ich mich am nächsten Nachmittage, wo das Fräulein von Broigh zum Kleinen kommen wollte, dort ebenfalls unerwartet einstellen sollte. Dann würden wir mal ein ernstes Wort mit ihr reden ... überhaupt mal sehen ...

IV

Am andern Morgen erhielt ich einen Brief vom Vater des Kleinen:

– Sie wissen, daß mein Sohn eine chronische Neigung zu Verlobungen besitzt. Ich habe in der Beziehung schon manches mit ihm durchgemacht und bin an einiges gewöhnt. Schon als Untertertianer war er mit der Köchin einer befreundeten Familie verlobt. Seitdem sind die Geschichten immer weniger aufregend geworden. Darum ist es möglich, daß ich ihn in dieser Hinsicht verwöhnt habe, denn in seinem letzten Briefe an mich proklamiert und fordert er geradezu ein prinzipielles ›Recht auf Verlobung‹. Der Brief ist in einem so merkwürdigen, drollig ernsthaften Ton geschrieben, daß ich doch stutzig geworden bin. Man braucht kein Genie an Menschenkenntnis zu sein, um erkennen zu können, daß etwas Außergewöhnliches in ihm vorgeht. Es ist nun zwar ein bißchen viel von Ihnen verlangt, sich darüber zu informieren, denn ich gebe Ihnen ohne weiteres zu, daß es bisher nichts Uninteressanteres gab, als die periodischen Verlobungen meines Karle, ich möchte Sie indes auch nur darum bitten, zuzusehen, ob überhaupt etwas Ernstliches zu befürchten ist. Ich würde dann sofort selber kommen. – Es gibt bekanntlich unheilbare Quartalssäufer, die bessern zu wollen ein törichtes Unterfangen wäre, ebenso wird es mir nie einfallen, einen notorischen Quartalsbräutigam, wie meinen Sohn, in seinem, im ganzen harmlosen Vergnügen zu stören.

Auch bin ich, wie Sie wissen, kein Männerbundsmitglied, und es liegt mir fern, den Jungen unter eine sittenpolizeiliche Kontrolle zu stellen; zu welchem Zwecke ich auch am allerletzten Veranlassung nehmen würde, mich an Sie zu wenden.

Aber – auch Verlobungen dürfen nicht ausarten. Sie verstehen mich. Bitte, antworten Sie mir bald! Im voraus besten Dank.

Und so weiter ...

Der Brief machte mich doch nachdenklich. Ich fühlte wohl, daß sich hinter diesem mir wohlbekannten trocknen Humor doch eine ernsthafte Besorgnis verbarg. Denn es war schon viel, daß der alte Herr überhaupt so einen Brief schrieb, und daß er gar daran dachte, eventuell selber zu kommen ...

Meine Ungeduld ließ mir daher keine Ruhe, und ich kam früher zum Kleinen, als verabredet war. Das Fräulein von Broigh war noch nicht da.

Ein unbehagliches Schweigen machte sich zwischen uns breit. Eine recht blöde Situation ..

Schließlich fuhr mich der Kleine an:

– Was willst du mit dieser süffisanten Nilpferdvisage sagen?

– Aber gar nichts, Kleiner. Ich denke nur nach. Mir ist so, als ob ich gestern im Examen gewesen wäre, und nun kann ich mich nicht drauf besinnen: hab ich es bestanden, oder bin ich durchgefallen.

– Wahrscheinlich das letztere.

– Wahrscheinlich. – –

Da wurde ganz schnell die Zimmertür geöffnet und sofort wieder zugeschlagen. Der Kleine sprang auf und eilte hinaus.

Er ließ die Tür halb offen stehen, und ich konnte hören, was sie draußen sprachen. –

– Aber Thekla! Sei doch nicht so übertrieben scheu. Es ist ja ein guter, sehr guter Freund von mir, einer meiner ältesten und besten. Er möchte dich doch so gern kennen lernen. Hat mich so gebeten! Ich bitte dich, komm doch!

Dann eine aufgeregte Flüsterstimme, die des Fräuleins von Broigh:

– Nein, nein, laß mich. Ich will nicht! Nein! Das ist gegen die Abrede! Laß mich los!

Diese Stimme ...?

Ich trat in die Tür und sah hinaus.

Und dann rief ich hinaus mit meinem lustigsten und freundlichsten Lachen:

– Aber so komm doch rein, Lore! Ich hab dich ja doch schon erkannt. Du wirst dich doch nicht vor deinem alten Jugendfreunde genieren.

Der Kleine ließ sie los – vor Schreck.

Sie entwischte ...

*

Seitdem hab ich die liebe Lore nicht wieder gesehen, und der Kleine hat sich noch nicht wieder verlobt. Er ist, wie er selber sagt, vollends – zum Teufel geworden, der die ›ganze Nation‹ schlechtweg verachtet. – Im übrigen ist er, wie gesagt, ein strebsamer Beamter und Leutnant der Reserve.


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