Otto Erich Hartleben
Die Serényi
Otto Erich Hartleben

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Die Serényi

Ein Tagebuch

1. August 1886.

Warum fange ich erst jetzt an, ein Tagebuch zu schreiben?

Ich habe so viel erlebt: so viel Trauriges, so viel Buntes, und nie hatte ich das Bedürfnis, es für mich niederzuschreiben.

Erst heute!

Heute ist mein fünfundzwanzigster Geburtstag. Aber das ist es nicht. Diese runde Summe von einem Vierteljahrhundert – sie imponiert mir gar nicht. Nein, es ist etwas anderes.

Mein Gatte – o Gott! – mein Gatte soll diese Blätter einst lesen.

Ich habe mich heute verlobt – verlobt –

Mein Herz ist voller und reicher denn je. Mit der Mutter hab ich bis jetzt geplaudert: wir haben uns geküßt und immer wieder geküßt. So froh sind wir selbst damals nicht gewesen, als ich meine ersten Triumphe feierte, meine ersten Kränze aufnahm ...

Aber nun bin ich allein. Und mein Herz ist noch immer nicht still: es muß noch immer jubeln und von seinem Glücke reden. –

O meine liebe, gute Mutter! Was bist du mir gewesen, wie hast du mich geschirmt, wie hast du mich geliebt ...

– Schlafe, mein Kind! Wache nicht mehr in deinem Zimmer: Dein Glück gehört dir auch noch morgen, so sagtest du zuletzt.

Ja, Mutter, ich will dir folgen. Ich lege mich nieder – mein Glück gehört mir auch noch morgen!

3. August 1886.

Ich denke noch daran: ich will sie nicht vergessen, jene Zeit.

Der Vater war gestorben, plötzlich – und nun waren wir arm. Ich war siebzehn Jahre alt, verzogen und kindisch – ein Luxusmöbel. Meine Mutter mußte arbeiten.

Ich sitze ihr wieder in dem kleinen Raum gegenüber. Vorgebeugt stickt sie und stickt, ohne aufzusehen, bis ihr die Augen schmerzen und sie die Lampe anstecken muß. Ich aber sitze da mit der Arbeit, die sie mir gegeben, zu der sie mich liebevoll angewiesen hat, und schaue hinaus auf das freie Feld, auf die eingegrenzten, leeren Bauplätze, die wir aus unserer hohen Etage übersehen können. Ich habe keine Vorstellung von Not und Sorge, und lustige Lieder sing ich den ganzen Tag.

Und meine Mutter ist so gut. Sie lächelt und sagt mir nicht, daß ich sündige, daß ich ein unnützes, wertloses Geschöpf bin, welches sich füttern läßt und lieben und der Mutter Arbeit hinnimmt wie ein Recht.

Die Mutter sagt es mir nicht.

Aber ein anderer hat es mir gesagt, und ich werde es ihm gedenken, solange ich lebe.

Armer, kranker Lehrer! Du bist schon lange tot und hast deine Leiden und dich selbst mit ihnen vergessen. Das Gute, das du tatest, vergaßest du schon im Leben, und wenn ich dir in der letzten Zeit eine kleine Freude zu machen versuchte, dann warst du zu Tränen gerührt und hast deiner, kleinen Theaterprinzessin die Hand so stachlig geküßt, als hättest du dankbar sein müssen!

Ja, du hast es mir gesagt. Ich half dir die Treppen herauf und leitete dich in dein Zimmer, das in demselben Stock wie die unsern lag, und wenn du dich dann erschöpft in deinem Sessel am Fenster niedergelassen hattest, dann lächeltest du so still und dankbar und streicheltest meine wirren Haare.

Aber eines Tages, als du lange mit der Mutter geredet hattest, und ich abends zu dir kam, da drücktest du mir nur ernst die Hand und sahst mich ganz anders an als sonst.

Und dann fragtest du:

– Du liebst deine Mutter, Jenny?

Ich sagte erschrocken: ja.

– Und du hast ein gutes Herz, mein Kind, und viel Verstand. Und du bist auch stark und gesund und hast ein lebendiges, bewegendes Blut.

Ich war beklommen: ich wußte nicht, was du wolltest. Und du fuhrst fort:

– Wo ist deine Mutter?

– In unserm Zimmer.

– Was tut sie ?

– Sie arbeitet.

– Für wen? –

Ich besann mich, ich wurde verwirrt: du sahst mich so ernst an. Schließlich sagte ich:

– Für uns.

– Für wen?

– Für sich und für mich.

– Auch für dich?

– Ja, gewiß.

– Weshalb?

Ich wußte wieder nichts. Du aber faßtest meine Hand und sagtest ganz leise:

– Weil sie dich unendlich lieb hat.

– Ich sie auch! rief ich lebhaft, wie zur Verteidigung.

– Das weiß ich: Du liebst sie auch, wie sie dich –: Arbeitest du auch für sie?

– Ich helfe ihr.

– Wenn ihr eßt: wer ißt mehr, deine Mutter oder du?

– Ich.

– Wer schläft länger: Deine Mutter oder du?

– Ich.

– Wer ist kräftiger?

– Ich.

– Wer hat mehr gelernt, deine Mutter oder du?

Ich war betroffen, überrascht ... du sagtest:

– Ich darf so zu dir sprechen. Du hast ein gutes und gerechtes Herz und bist klug. Du wirst auf deine Mutter nicht herabsehen. Aber du hast eine bessere Erziehung erhalten, als sie: Du hast mehr gelernt und bist besser gerüstet. Auch das ist ihre Liebe, auch das ist ihre Arbeit! – Und nun? – Du hilfst deiner Mutter, sagst du: – Hilfst du ihr sehr?

Ich begann jetzt zu begreifen; alles Blut stieg mir in den Kopf. Ich wollte dir meine Hand entziehen, so sehr schämte ich mich. Du aber hieltest sie fest. Ich stotterte:

– Nein!

– Siehst du, mein Kind! Und ich fühle bereits, daß du das Rechte erkennst – ich habe es gewußt. Und deshalb habe ich zu dir gesprochen. Nicht wahr? Du mußt arbeiten für deine Mutter, wie sie für dich, und mehr noch; du mußt ihr danken – eine siebzehnjährige Sorge. Das Schicksal hat euch rauh angefaßt, aber es hat euch nicht gestrichen aus der Zahl der Glücklichen, solange nicht du dich überhebst und das Glück für immer verscheuchst. – Gib mir auch deine andere Hand, Jenny!

Du faßtest auch diese und drücktest beide. Ich aber schluchzte laut auf und verbarg meinen Kopf an deiner Schulter. –

Du armer, kranker Lehrer!

3. August 1886. Nachts (nach Nanon!).

O Gott, wie sentimental ist der Mensch, wenn er – allein ist.

Ich bin eigentlich gar nicht daran gewöhnt.

Aber mir ist, Herbert, als müßten dir in dieser Zeit auch meine Gedanken gehören, wenn ich fern von dir und für mich bin ... deshalb werde ich dieses Tagebuch führen bis zu dem Tage unserer Hochzeit.

Ach, hätt ich nur mehr Zeit – aber erst Nanon, und dann du und der Wein ...

›Du und der Wein.‹ Das find ich nett.

Doch jetzt bin ich todtmüde.

4. August 1886.

Von jener Stunde bis auf die Bretter der Operettenbühne!

Die gute Mutter hat oft geweint, oft den Kopf geschüttelt, und manchmal bin auch ich verzagt geworden. Aber mein alter Lehrer hatte recht: ich habe lebendiges, bewegendes Blut!

Ich habe gesiegt und bin vorwärtsgekommen und habe mir nichts vergeben.

Und nun dieser letzte, dieser unendliche Sieg!

Ein Sieg?

Nein! Das war Gnade. –

Pfui, wie kam ich auf das Wort Sieg?

Das mag die Balleteuse sagen, wenn sie ihren alten Grafen schließlich so kindisch gemacht hat, daß er sie heiratet.

Ich habe nicht danach gestrebt!

Wehe dem, der das so auffaßt –

Aber wehe auch mir, wenn er je ...

Schlage das Buch zu; du hast heute einen unglücklichen Tag!

5. August 1886.

Ich wollte das gestrige Blatt vernichten. Aber nein. Er soll es lesen. Er soll erfahren, wie meine Seele plötzlich zusammengeschreckt ist, als sie auf jenen bösen Gedanken, wie auf eine Schlange, trat.

Und sie verfolgt mich!

Heute abend sang ich die Maritana. Wenn der König dem Zigeunermädel seine Liebe anträgt und von allem spricht, nur nicht von der Ehe, dann hat ihm das Zigeunermädel zu antworten:

›Recht int`ressant,
Recht amüsant,
War das, was ich bisher verstand –
Drum drängt zu hören mich – noch mehr:
O weiter, weiter, lieber Herr!‹

Herbert saß in der Loge, und mir, die ich bis jetzt, ohne dabei etwas zu denken, unzählige Male diese Stelle kokett und flott gesungen habe, mir stockte plötzlich der Atem, das Blut stieg mir zu Kopf ...

Maritana will – geheiratet sein.

O Gott, wenn auch er so von mir dächte ...

Es wäre mein Tod. – – –

Ja! Ich habe ihn schon lange, lange geliebt! Solang ich hier in Berlin bin. Aber ich habe ihm nichts gezeigt; manchen seiner Kameraden, zum Beispiel Treskow, habe ich vor ihm ausgezeichnet. – Und als er mir seine Liebe gestanden hat, seine Liebe, an die ich glauben mußte, da hat mein Herz überlaut gesprochen – aber ich habe gewartet – und als er schwieg – habe auch ich geschwiegen. Als er aber kam und mir die Ehe anbot, da –

O Gott, was habe ich getan!

6. August 1886.

Ich bin die Soubrette – das schöne Mädchen, das sie alle sehn, über dessen Körper sie alle urteilen ...

Wer denkt sie sich anders als sittlich – irrelevant?

Wer schont in seinen Gedanken ihre Weibesehre?

Wer glaubt an ihre »Anständigkeit«? –

Er, er hat daran geglaubt, er glaubt daran!

Ich bedarf dieses Glaubens, wie der Luft, in der ich atme ...

Und habe ich recht gehandelt, daß ich erst dann meine Liebe zugestanden, gegeben habe, als er mir die Heirat bot?

Glauben auch die andern alle?

Und wenn nicht, wird ihn das nicht stetig kränken, vielleicht gar überwältigen? –

7. August 1886.

Ich habe recht gehandelt. Ich durfte nicht anders. Meine Mutter! Und dann – er selbst. Er hätte mich auf die Dauer nicht geachtet, wenn ich seine Geliebte – nur seine Geliebte geworden wäre? Wir leben in der Welt. Und in welcher Welt! Er in der der Offiziere, des Adels. Da gilt es als fashionable mit »der Serényi« ein »Verhältnis« haben, aber für fashionabler, ein solches Verhältnis »aufzugeben«.

Und – die »Serényi«! Man höre nur, wie die Herren das aussprechen. –

Ich aber lebe in der Welt der Operettenbühne. Ich habe mich rein gehalten, und es ist noch keinem gelungen, mich anders als eine ›Ausnahme‹ nennen zu dürfen.

Aber – wäre es auch der Mann, dem ich mein ganzes Leben opfern will – die Geliebte des Barons von Hartenstein ist sofort – wie sie alle!

Ich habe recht gehandelt! An meiner Mutter, an dir, an mir.

10. August 1886.

O die Welt ist so modern!

Heute sprach er davon, daß er seinen Abschied eingereicht hätte.

Er muß des Königs Rock ausziehen: ich bin ja »vom Theater«. –

Nun, ich hänge nicht an dieser Uniform: mag er sie gern ausziehen: ich wollte, er könnte alle seine Kameraden mit ausziehen.

Ich liebe nicht den Rittmeister von Hartenstein, ich liebe dich, Herbert!

11. August 1886.

Heute abend waren wir bei Witzleben vom Alexanderregiment.

Ich kann mir nicht helfen, mir sind diese Offiziere jetzt eine unangenehme Gesellschaft.

Solange ich mit Herbert nicht verlobt war, bin ich eigentlich gern in ihrem Kreise gewesen, zumal wenn er darunter war. Sie waren immer artig genug, und ich besitze die Geistesgegenwart, mich zu behaupten. Ich war ungehindert, und meine Stellung war mir klar. Sie wollten eine fidele Gesellschafterin an mir haben, und meinem Naturell entsprach es, eine solche zu sein. Außerdem entsprach es nicht nur meinem Naturell, sondern auch meiner gottlob vernünftigen und vorurteilsfreien Anschauung vom Leben und vom Frauenleben insbesondere, wenn ich einen freieren und ungenierteren Ton führte, als ihn einer dieser edlen Herren seiner – Gattin würde gestattet haben. Bei mir fand man das völlig in der Ordnung: man achtete mich trotzdem. Man sagte: die Serényi ist eine Ausnahme: so toll und fidel sie sein kann – sie ist anständig.

Das war gut. Ich konnte mit dem Zustand zufrieden sein, und ich kneipte gern mit »meinen Offizieren«.

Nun aber führt mich Herbert – als seine Braut in denselben Kreis ein ...

O, ich habe es wohl bemerkt. Nur die wenigsten, nur die innerlich Vornehmen haben da mir gegenüber den richtigen Ton gefunden. Die meisten sind höchst verlegen gewesen, haben wohl gar einen faden Scherz zu machen versucht. Viele haben gar kein Gefühl gehabt für das Lächerliche, das darin lag, daß sie plötzlich ihr Benehmen gegen mich völlig änderten. Die glaubten mir dadurch die größte Achtung zu erweisen, daß sie »die Serényi« auf einmal ganz ignorierten, mich also – mich! – verleugneten, um der Braut ihres Kameraden, des Rittmeisters Freiherrn von Hartenstein, gerecht zu werden. Und ich? Ja, ich will es mir nur offen gestehen, auch ich habe den Ton nicht gefunden.

Ich dachte zu oft daran: wie würde sich ein Mädchen aus Herberts Gesellschaft jetzt an deiner Stelle benehmen?

Und dann kam mir der quälende Gedanke: sie würde überhaupt nicht hier sitzen, als einzige »Dame« unter acht Herren, in der Wohnung eines Junggesellen Bowle trinkend.

Und dann – aber ich hoffe, das war nur Einbildung – öfter, wenn ich sprach, war es mir, als wenn die Augen Herberts mit einer gewissen kontrollierenden Sorge auf mir ruhten, als wollte er mir zuflüstern: bedenke deine Stellung, mein Kind.

O, das ist schrecklich!

Die Unbefangenheit, die Sicherheit, mit der zu leben mir Bedürfnis – die sollte ich jetzt für alle Zeiten eingebüßt haben; ohne sie sollte ich weiter leben ?

Das wirst du nicht von mir fordern, Herbert.

Du hast mir gesagt, du wolltest mich in deine Gesellschaft mit der Zeit einführen – dachtest du dabei, das wäre ein Ziel meines Ehrgeizes? Dachtest du ...

Wieder die marternden Zweifel!

12. August 1886. Nachts.

Himmel, ist dieser Tiergarten schmierig. Ist das noch Grün – diese schmutzverklebten Blätter? »Wieder nicht abgestäubt!« würde meine Mutter zur Stadtverwaltung sagen. Aber sie war doch so schön, diese Fahrt in den Abend mit meinem lieben, lieben – gibt es ein entsetzlicheres Wort als »Bräutigam«?

Es war schön! Die Kulissen sind noch garstiger, als diese staubigen Bäume.

Wir fuhren bis nach Charlottenburg hinein, dann links ab bis zur Kurfürstenstraße und dann wieder hinein: es wurde dunkel, und Witzleben, der Major, erwartete uns bei Dressel.

Ich war fidel, den ganzen Abend. Wir scherzten, wir neckten uns – aber auf einmal fragte er:

– Sag mal, Kind: hast du dich nun früher mit Treskow auch so gut unterhalten?

Ich war frappiert: das klang so zögernd, so eigen, als wollte er in scherzhaftem Tone eine ernste, schwerwiegende Frage tun.

– Glaubst du denn, daß zwischen Treskow und mir –

– Mein liebes Kind, wenn ich das glaubte, was manche meiner Kameraden glaubten, dann – dann würde ich mich nicht mit dir verlobt haben. Aber, das wirst du doch gewiß nicht leugnen wollen, daß Treskow in deiner Gunst höher gestanden hat, als irgend ein anderer, und daß du mit ihm lieber verkehrt hast, als mit uns allen, das heißt – eine Zeitlang, nachher war es dann plötzlich vorbei.

Ich schwieg – o, erbärmliche Lüge, elende Feigheit! Hätt ich doch gesprochen!

Wenn du wüßtest, Herbert!– –

Nun – ich vergaß jenen peinlichen Moment und will ihn auch vergessen. Aber ich war doch ernster geworden und erzählte ihm nun leise von den Zweifeln, von den Sorgen, die ich mir machte ...

Er streichelte meine Hand.

Schließlich schwärmten wir von unserer spanischen Reise ...

Berlin, 12. August 1886.

Mein liebes, teures Mädchen!

Deine Sorge ist ganz unnötig. Verschiedene Kameraden haben mir gesagt: Du würdest Dich ganz vorzüglich hineinfinden. Treskow sagte, er habe deutlich bemerkt, wie fein Du bereits gestern bei Witzleben Deine veränderte Stellung markiert hättest.

Habe nur Mut und Selbstvertrauen, mein großes, kluges Kind!

In herzlicher Liebe

Dein Herbert.«

Der Brief hat mich sehr traurig gemacht. Er versteht mich nicht. Alle die Kämpfe und Zweifel, welche jetzt so gewaltsam meine Brust bewegen, deutet er nur auf die Sorge, ob ich mich auch fähig fühle, den Kampf mit seiner Gesellschaft aufzunehmen, mich in ihr zu behaupten.––

Und dieser Herr von Treskow ...

Fühlt er denn nicht, daß das mein Todfeind ist, daß der mich blutig haßt, daß es der bissigste Hohn ist, wenn er von mir sagt: »er habe deutlich bemerkt, wie fein ich – meine veränderte Stellung markiert hätte.«

O wenn du wüßtest, Herbert!

13. August 1886. Abends.

Du sollst es wissen. Wenn du dieses liest, darfst – ja, mußt du es vielleicht wissen.

So höre denn, Herbert.

Dieser Herr von Treskow, dein Kamerad und teurer Freund, liebte – was sage ich! – begehrte mich.

Und er hat dies Gefühl nicht stolz und ehrlich wie du in der Brust getragen, hat dann nicht stolz und ehrlich davon zu mir gesprochen – er hat mich überlisten, er hat – mich zwingen wollen.

Es war etwa vor einem halben Jahr.

Die Geschichte ist unglaublich einfach und doch entsetzlich raffiniert.

Ich hatte damals gerade angefangen, mit dem Kreise von Offizieren zu verkehren, dem du angehörtest. Die Herren waren stets sehr liebenswürdig, saßen stets in der Proszeniumsloge, applaudierten, als wenn ich sie bezahlte, und ließen mir mit Vorliebe Kränze werfen an Stellen, wo sie absolut nicht hingehörten. Fast regelmäßig waren wir nach dem Theater noch zusammen, meist im Restaurant, oft auch schon in den Wohnungen der einzelnen.

Treskow war damals mein eifrigster Verehrer, und der große, schöne und geistreiche Mensch wurde von mir in harmloser Weise bevorzugt. Auch bei ihm waren wir schon öfter zusammen gewesen.

Eines Tages nun, als ich im Theater nichts zu tun hatte – die Geistinger sang an dem Abend meine Rolle als Gast –, erhalte ich gegen Abend durch einen Dienstmann einen Brief von etwa folgendem Wortlaut:

»Gnädigste Sirene! (Dieser Wortwitz war natürlich allgemein.) Verzeihen Sie, wenn ich heute etwas brevi manu handle. Der glorreiche Gedanke, heute abend bei mir einmal wieder jene ehrwürdige Gemeinde zu versammeln, welche sich in meinen heiligen Hallen stets so wohl gefühlt hat, ist mir erst heute nach Tisch gekommen. Ich glaube, es kam davon, daß ich eine bessere Zigarre geraucht habe, wie sonst. Ich habe nun noch schleunigst auf den Flügeln der Dienstmänner die nötigen Einladungen ergehen lassen und natürlich zunächst an Sie, meine gnädigste Sirene, gedacht. Ich weiß, Sie werden einem vereinsamten Waisenknaben nicht die einzige Freude, die er vom Leben hat, verkümmern, die Freude nämlich, seine – Freunde (!) um sich zu sehen. Ich weiß, Sie werden um acht Uhr eine jener mit Recht auch in weiteren Kreisen so beliebten Droschken kommen lassen und vor das Ihnen hoffentlich in guter Erinnerung stehende Haus in der Kurfürstenstraße vorfahren!

Nicht wahr?

Womit ich bin und bleibe

Ihr hoffentlich nicht immer gefesselter

Odysseus, Heinz v. Treskow.«

Der Brief war in demselben Tone geschrieben, wie seine früheren Einladungen. Zeit und Ort waren die gewöhnlichen, die Plötzlichkeit der Einladung glaubhaft motiviert.

Ich fuhr also hin.

Als ich an seiner Tür in der zweiten Etage geklingelt hatte, frappierte es mich, als er persönlich mir die Tür öffnete, und zwar so schnell, als wenn er bereits hinter derselben gestanden hätte.

– Ah, Sie, meine Teure! Die erste! Comme toujours: auch zeitlich. Bitte, treten Sie näher.

Arglos trat ich in sein Zimmer. Ich kannte es kaum wieder: der Kronleuchter war nicht angesteckt, sämtliche Vorbereitungen zu einer Gesellschaft fehlten. Eine kleine, geschmackvolle Petroleumlampe mit einem grünen Schleier beleuchtete knapp den Tisch, das Sofa, die Sessel. Auf dem Tisch standen – zwei Gläser und eine Flasche Sekt im Kübel. Im Fenster sah ich noch einige silberne Flaschenhälse.

Ich war zunächst noch immer arglos. Ich setzte mich auf seine Aufforderung in einen Sessel und sagte lächelnd:

– Nun? heute wollen Sie wohl einmal zeigen, was Ihre Räume an traulicher Behaglichkeit leisten können?

Er trat einen Schritt näher und sagte mit eigentümlich heiserer Stimme:

– Allerdings!

Er betonte das so seltsam, daß ich verlegen wurde.

– Sie müssen nämlich wissen, meine liebe Freundin, daß meine Kameraden sämtlich haben absagen lassen. Ein komischer Zufall, aber mir so günstig ...

Da ward es mir klar.

Einen Augenblick erstarrte mir das Blut.

Aber im nächsten war ich, ohne ein Wort zu sprechen, aufgesprungen und hatte den Türgriff in der Hand –

Hahaha! Er lachte auf – die Tür war zugeschlossen. Er hatte den Moment benutzt, wo ich ihm beim Eintreten den Rücken zugewandt hatte.

Mit ironischer Ruhe faßte er meinen Oberarm: ich fühlte seinen sanften, aber unwiderstehlichen Druck – ich fühlte: ich war wehrlos gegen diesen Mann.

Er zwang mich wieder in den Sessel, schob einen andern für sich daneben und hielt mich nun am Arm fest.

– Meine liebe Freundin! Welches Mißtrauen gegen mich! Habe ich Ihnen dazu jemals Veranlassung gegeben? Ich dächte nicht. – Aber abgesehen davon, möchte ich Ihnen unnütze Mühe sparen. Sehen Sie: mein Bursche hat heute zu seiner großen Freude frei bekommen. Das Haus ist gottlob solide gebaut – kurz: Sie werden mir zutrauen, daß ich keinen Staatsstreich riskiere ohne genügende Garantie des Erfolges. Nicht wahr? Ich glaube nicht, daß Sie mich für einen Dummkopf halten.

Ich schwieg und überlegte. Mit Gewalt war nichts auszurichten: dieser Mann war zu allem entschlossen. Die List blieb mir, die Überredung, die Gewalt der Seele.

Und ich lächelte und reichte ihm die Hand:

– Sie sind ein Genie. Mein Kompliment. Aber fürchten Sie nichts von mir: woher wissen Sie, daß ich überhaupt fort will von Ihnen?

– Weil Sie vorhin aufsprangen.

– Ja, das tat ich, weil Sie gelogen, sich überhaupt unwürdiger Mittel bedient haben – aber woher wissen Sie, daß ich nicht gekommen wäre, wenn Sie wahrheitsgetreu geschrieben hätten: Meine liebe Sirene, kommen Sie heut abend zu mir – zu mir allein und trinken Sie ein gemütliches Glas Sekt mit Ihrem Odysseus!

Das zog.

Er küßte meine Hände und stammelte:

– Meine liebe Sirene!

– Und nun schenken Sie mir ein!

Er schenkte nun den Wein ein, und wir unterhielten uns heiter und ungezwungen.

In jener Stunde habe ich erfahren, wie viel es wert ist, wenn man schauspielern kann.

Ich bin damals so kokett gewesen, wie nie. Es blieben mir wenige Stunden, und in ihnen mußte ich diesen Mann bändigen. Ich mußte ihn so mein eigen machen, daß er mir selbst die Türen wieder aufschloß, die er vorher geschlossen hatte: ich mußte ihn meine Liebe völlig glauben machen!

Wahrlich eine Aufgabe, wohl wert des besten Künstlerschweißes!

Und – glaube mir, Herbert! – sie wäre mir gelungen.

Im Vertrauen auf meine aufrichtige Liebe zu ihm, hätte mich Treskow, der kein innerlich roher Mensch ist, schließlich den Abend unbehelligt gehen lassen und in Zukunft hätte ich mir schon selber geholfen.

Aber ich brauchte nicht bis zu diesem Ziele zu arbeiten: ein glücklicher Zufall kam mir schon vorher in ungeahnter Weise zu Hilfe.

Treskow wurde zahm, er behandelte mich galant, aber mit Ehrerbietung, wie immer.

Er zeigte mir seine Bilder, einige Bücher und was er sonst an sehenswerten Sachen in seiner wohlausgestatteten Junggesellenwirtschaft aufgestapelt hatte.

Darunter war auch eine Waffensammlung.

Die altertümlichen und fremdländischen Dolche, Säbel und Schwerter hingen in gefälliger Ordnung an der Wand über dem Sofa. Wir knieten beide friedlich nebeneinander, und er erklärte mir bei jedem Stück, das er herunternahm, die Bestimmung, die Herkunft und wie er es erworben hatte.

Sein Bruder war Seeoffizier und hatte ihm viele der seltsamsten Mordinstrumente von seinen Reisen mitgebracht. Wir lachten noch besonders über ein paar jener ›Bauchaufschlitzer‹, welche in der köstlichen Szene bei Sardou solch wichtige Rolle spielen.

– Die passen eigentlich für unsere Situation, sagte ich lachend.

– Wieso? fragte er fast erschrocken.

– Selbst wenn ich anfangen müßte. Sie wissen doch: zwei Menschen, die sich über eine vitale Frage durchaus nicht einigen können – in China, die setzen sich hin und würfeln – pardon knobeln – wer – ›anfangen soll‹ – in China. Dann ist es Ehrenpflicht des andern, sich auch zu töten.

– Aber, meine liebe Sirene: wie kommen Sie auf so tragische Gedanken? Ich bitte Sie ...

– Ja: so ist das in China.

Wir knieten noch immer nebeneinander auf dem Sofa. Er war ernst geworden, und ich fühlte, wie meine Kräfte, denen ich in der verflossenen halben Stunde nichts Geringes zugemutet hatte, anfingen zu erlahmen: die Furcht, meine Rolle nicht ausspielen zu können, doch vielleicht noch – ich war einer Ohnmacht nahe. Um mich bei Bewußtsein zu erhalten, wiederholte ich mechanisch:

– Ja: so ist das in China, und wandte meine Aufmerksamkeit wieder den Waffen zu.

– Uns ist das zu häßlich, dieses Bauchaufschlitzen: pfui! Wenn wir auch den physischen Mut dazu hätten: der ästhetische würde uns mangeln. – – Sind die niedlich!

Es waren ein paar kleine Revolver, die direkt über dem Sofa hingen.

– Sind sie geladen?

– Jawohl! sagte er und machte sie los, indem er mir einen davon reichte.

– Ein Geschenk von Hartenstein. ›Schenk den einen davon deiner Liebsten,‹ schrieb er mir dabei. Sieht aus wie eine niedliche Spielerei: aber beachten Sie das Kaliber: gefährlich, was? –

Als ich deinen Namen hörte, Herbert – ich liebte dich schon damals, wie heute – und als ich den bequemen Elfenbeingriff so in meiner Hand fühlte, da waren plötzlich wieder alle meine Kräfte bei mir.

Ich stand auf und trat langsam, um ihm nicht aufzufallen, vor den Tisch, der nun zwischen uns stand.

Ich richtete mich auf und sagte mit wahrer, fester Stimme:

– Herr Baron! Wir leben nicht in China und schlitzen uns nicht den Bauch auf. Aber es gibt auch bei uns Güter, die man mit dem Leben verteidigt – soll ich ›anfangen‹? –

Treskow lachte.

– Sie sollten zur Tragödin umsatteln, meine Teure! Da faßte mich eine namenlose Wut gegen diesen Menschen: alles, was ich zurückgehalten hatte, stieg in mir auf – ich erhob die Hand und schoß auf ihn.

Der Schuß ging fehl: er schlug in ein Bild. Das Glas fiel klirrend zu Boden: es wurde still.

Eine Sekunde standen wir uns schweigend gegenüber: Todfeinde.

Ich hatte die Besinnung nicht verloren. Der Schuß mußte seine Schulter fast gestreift haben. Ich wußte, das nächste Mal würde ich nicht fehlen. Und ich achtete auf jede Bewegung seiner Hand.

Da legte er den Revolver auf den Tisch und sagte langsam, fast mühsam, mit einer Stimme, wie ich sie noch nicht von ihm gehört hatte:

– Den Schuß könnte man im Hause gehört haben: man könnte vielleicht kommen. Ich muß mich daher leider der Ehre Ihres Besuches berauben. Sie kennen die kleinlichen Anschauungen der Menschen. Darf ich Ihnen übrigens den kleinen Revolver, den Sie eben probierten, als ein Andenken verehren: es würde mich freuen, wenn Sie eine Erinnerung an diese Stunde behielten!

Er ging zur Tür: ich wich zwei Schritt zurück und ließ ihn nicht aus den Augen. Ich erwiderte:

– Ich würde Sie schon selbst um diese Freundlichkeit gebeten haben: es würde mir schwer werden, diese niedliche Waffe gerade jetzt wieder aus der Hand zu legen. Ich danke Ihnen also vielmals.

Er hatte die Tür aufgeschlossen. Ich setzte meinen Hut auf und nahm mein Jakett unter den Arm.

Er trat mit eigentümlichem Lächeln zwei Schritt von der Tür zurück: ich, gegen ihn gewandt, ging rückwärts zur Tür hinaus.

Auch ich mußte lächeln.

Auf dem Korridor war es dunkel. Er kam mit der Lampe, stellte sie auf den Tisch und schloß nun auch die Flurtür auf.

Ich ging hinaus: an ihm vorbei.

Als ich draußen stand, reichte er mir die Hand und sagte:

– Besten Dank für Ihren Besuch, Sirene!

Ich nahm die Waffe in die linke Hand und gab ihm die rechte:

– Ihr Ehrenwort, daß Sie schweigen?

– Mein Ehrenwort. Wie das Grab.

– Besten Dank für Ihren Revolver.

14. August 1886.

Er liegt vor mir: er soll mich nicht verlassen, so lange ich lebe.

Dieser zierliche Elfenbeingriff mit den silbernen Nägeln – oft nehme ich ihn in die Hand und schwelge in dem eigentümlichen Machtgefühl, das mich dann durchströmt.

Der Mensch ist frei – ich genieße mein Selbstbewußtsein mit dieser Waffe in der Hand.

Und wie wunderbar die Fügung. Von dir stammt dieser Retter aus höchster Not: ist es nicht, als wärest du mir damals beigesprungen?

Du, mein lieber, lieber Mann!

15. August 1886. Vormittags.

Was tut der Mensch nicht, um den ›Eklat zu vermeiden‹ – pfui!

Wenn ich bedenke, daß ich noch heute ruhig mit Treskow verkehre – in der Gesellschaft; daß ich beispielsweise heut abend zu ihm – in dieselbe Wohnung gehen werde; daß er mich voraussichtlich beim Singen begleiten wird ...

Vier Wochen allerdings habe ich damals den Kreis gemieden – dann war es Herbert selbst, der mich bestimmte.

Beim ersten Wiedersehen lächelten wir uns beide ironisch an: ich sah den Haß in seinen Augen leuchten, und mir war es, als müßte ich nach einer Waffe greifen ...

Aber seitdem – ein wunderbares Gesellschaftstier ist der Mensch: wir können zusammen verkehren, plaudern, lachen, als wäre nie etwas geschehen zwischen uns.

Und heute Abend!

Es ist das erstemal seitdem. Mit jener wunderbaren Delikatesse, die ihm eigen ist, hat er es bis jetzt zu umgehen gewußt, daß man sich bei ihm versammelte.

O diese wunderbare Delikatesse!

Die war es auch, die ihn damals, als wir uns auf Leben und Tod gegenüberstanden, bewog, mir den Revolver zu schenken, den ich, falls er diese Höflichkeit nicht gehabt hätte, so – ohne Recht daran, hätte mitnehmen müssen. Das hätte mich – genieren können, und deshalb – schenkte er mir die Waffe!

O Herr von Treskow: ich werde heute abend mit Ihnen anstoßen auf – die Delikatesse!

15. August 1886. Nachts.

O Gott! mein Gott!

Mein Herz klopft, und das Blut kocht noch in meinen Adern: aber ich fühle schon, wie jenes entsetzliche Ermatten vor dem Übermächtigen, vor dem Schicksal sich meiner bemächtigen will.

Und davor hab ich Furcht – eine grauenhafte Angst. –

Aber nein ... nein! Du mein lebendiges, bewegendes Blut, erstarre nicht – den Kopf hoch, Jenny!

Ich will austoben lassen, was mich so bewegt: Zug für Zug will ich das Bild, vor dem ich schaudere, wieder vor mich hinmalen, und so versuchen, diesen drückenden Schmerz zu lindern.

Sei es denn vorweg gesagt, das Schreckliche: Herbert – zweifelt an mir. – – –

*

Ich will erzählen.

Wir waren um acht bei Treskow: neun Personen.

Als ich eintrat, waren erst Witzleben und Meinstorff da und saßen in demselben kleineren Zimmer, bei derselben kleinen Lampe mit dem grünen Schleier da. – Ich erkämpfte mir Fassung: und als die Herren sich erhoben und Treskow auf mich zukam, vermochte ich sogar lächelnd zu sagen:

– Sie glauben nicht, Herr Baron, wie angeheimelt ich mich hier fühle.

Er erwiderte:

– Ja, mein gnädigstes Fräulein: diesen bescheidenen Lichteffekt habe ich auch eigens in Rücksicht auf Ihren Geschmack gewählt.

Allmählich kamen die andern. Ich sah mich inzwischen im Zimmer um. Zwei Veränderungen! Das Bild, das ich zerschossen hatte, hing nicht mehr da: statt dessen ein neues kleines Ölbild in Riesenrahmen: und – die beiden Revolver hingen nicht mehr über dem Sofa.

Aha! Es würde auffallen, daß das Paar getrennt ist. Dabei fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, meinen Revolver zu Hause wieder wegzuschließen. –

Es waren schon alle eine Zeitlang versammelt, da erschien schließlich Herbert.

Seine Stirn war trübe, seine Stimme klang eigentümlich kalt, als er sagte:

– Liebe Jenny, ich komme so spät, weil ich bei dir vorgefahren war, um dich abzuholen. Du weißt, ich wollte dir die Bücher bringen.

– Welche Bücher?

– Du weißt doch: Hopfen.

– Ah richtig. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Du bist zu aufmerksam, Herbert. Jede Laune –

– Ich habe die Bücher auf deinen Schreibtisch gelegt.

Damit wandte er sich ab. Ich verstand ihn nicht; ich dachte: ärgert er sich, weil ich allein gekommen bin?

– Sie konnten es gar nicht abwarten, nicht wahr?

Witzleben sagte das mit seiner Majorsstimme.

– Sie konnten es gar nicht abwarten, zu Kameraden zu kommen ... zumal zu Treskow, was? – Donner ... Pardon, gnädigstes Fräulein – wenn ich zurückdenke: vor einem halben Jahre – ich hätte geschworen, daß Treskow mal der Glückliche sein würde. Damals gut Freund, was?

– Es schien so, Herr Major ...

Herbert mußte jedes Wort gehört haben. –

Wir setzten uns im angrenzenden Zimmer zu Tisch.

Ich saß zwischen Herbert und Treskow.

Herbert war einsilbig. Und weil ich glaubte, er wolle, wie oft, nur angeregt sein, um in gute Laune zu kommen, unterhielt ich mich um so lebhafter mit Treskow, der heut abend sein gesellschaftliches Talent glänzend entfaltete.

Ich suchte Herbert in das allgemein werdende Gespräch hineinzuziehen: er lehnte das so auffallend ab, daß ihn verschiedene fragten, ob er nicht ganz wohl sei.

Er sprach von Kopfweh. –

Später, nach dem Essen, wurde ich an den Flügel gezogen und mußte singen.

›Was nur das Herz Aphrodites bewegt,
Daß sie der Tugend – der Tugend nur –
Fallstricke legt!‹

Ich sah bei dem Refrain nach Herbert, um, wie so oft, durch mein Lächeln sein ernstes Gesicht zu erhellen.

Er wandte den Kopf ab. –

– Nun noch mein Lied! bat Treskow, der am Klavier saß: – Bitte, ja?

Es war ein kleines, entzückendes Lied, von einem ihm befreundeten früheren Kameraden gedichtet und von Treskow komponiert.

– Das müssen Sie singen, Herr Baron, aber ich werde Sie begleiten.

Ich hatte es zwar schon einige Male gesungen, so widersinnig das dem Texte nach auch war, heute aber war mir die Lust vergangen. Ich setzte mich hin, und er sang:

›Nun lös ich sanft die lieben Hände,
Die du mir um den Hals gelegt:
Daß ich in deinen Augen fände,
Was dir das kleine Herz bewegt! ...‹

Als das Lied zu Ende war, sah ich mich nach Herbert um. Er war hinausgegangen. –

Schließlich saßen wir wieder alle in dem kleineren Zimmer um den runden Tisch herum.

– Ich würde das Gas anstecken, sagte Treskow, – wenn nicht unsere allverehrte Sirene vorhin ausdrücklich erklärt hätte, diese Beleuchtung heimelte sie an. Nicht wahr?

– Sie sind stets zartfühlend, Herr Baron!

So saßen wir: ich und Witzleben im Sofa; neben mir auf einem Stuhl Treskow; an der andern Seite des Tisches Herbert neben Schlüter: jeder ein Glas Rotwein vor sich. –

Ich wunderte mich, als Herbert plötzlich gesprächig wurde. Er redete von dem neuen Repetiergewehr. Ich hatte gar nicht geglaubt, daß er sich so sehr für Schießwaffen interessierte. Jedesmal, wenn das Gespräch auf etwas anderes überging, kam er mit Konsequenz auf das alte Thema zurück. Das schien auch Treskow aufzufallen, und er sagte leise zu mir, während Herbert noch sprach:

– Wenn ich nicht wüßte, gnädiges Fräulein, daß Sie ausnahmsweise eine besondere Sympathie für gute Schießwaffen haben ... übrigens warten Sie nur! Sie kennen doch das Sprichwort: spiele nicht mit Schießgewehren, denn es fühlt wie du –

– Du, Treskow! Herbert rief das ganz plötzlich laut über den Tisch: – sei doch so gut und gib mir mal die beiden kleinen Revolver, die ich dir voriges Jahr schenkte. Daran kann ich euch das zeigen, wandte er sich an die andern, zu denen er gesprochen hatte.

Treskow zog den Kopf, den er etwas gegen mich vorgebeugt hatte, zurück und schwieg einen Augenblick, als hätte er nicht verstanden, so daß Witzleben ihm zurief:

– Du, Treskow: die Revolver von Hartenstein!

– Ja ... ja! sagte er: – laß nur, ich besinne mich, wo ich sie habe.

Er strich sich mit der Hand über die Stirn.

Mir schlug das Herz.

– Ach so! Ja, weißt du, lieber Hartenstein, die habe ich in meinem Schlafzimmer in einem alten Sekretär vergraben. Es würde mir Mühe machen, sie jetzt hervorzusuchen – können es nicht ein paar andere sein: irgendein gewöhnlicher Revolver?

– Nein, sagte Herbert fast rauh. – Bitte, sei so gut und hol sie mal her.

– Na, fix doch, Treskow! Er scheint sich weiß Gott vor seinem alten Sekretär zu fürchten!

Witzleben lachte am lautesten über seinen Scherz. Während des Lachens ging Treskow hinaus: es sah in der Tat so aus, als wenn er sich fürchtete.

– Ist der Kerl faul! rief Meinstorff. – Ich werde mal seinen Platz einnehmen: ich glaube, gnädiges Fräulein, das macht Ihre Nähe ...

Als Treskow mit einem in Leder gebundenen Kästchen wieder ins Zimmer trat, machte er ein vergnügtes Gesicht und sagte heiter zu Herbert:

– Weißt du, Hartenstein, jetzt ist mir erst eingefallen, weshalb ich dein liebes Geschenk so verbannt habe: ich habe nämlich ein sehr schlechtes Gewissen: sieh hier –

Er klappte den Deckel auf.

Herbert fuhr zurück, als sähe er etwas Furchtbares.

Die anderen lachten laut auf darüber.

Mir stockte der Atem.

– Mir ist nämlich der eine der beiden auf eine verflucht dumme Art und Weise abhanden gekommen. Weibergeschichte ... kann auf Ehre nicht erzählen! – Aber kannst mir glauben, lieber Hartenstein, daß ich ein Geschenk von dir nicht ohne wirklich zwingende Gründe aus der Hand geben werde. Nicht wahr? – Schriebst mir ja außerdem damals: ›Schenk den einen deiner Liebsten ...‹

Alle lachten verständnisinnig.

– Übrigens, fuhr er fort, – was du zeigen wolltest – wolltest du uns nicht etwas zeigen? – Nun, das kannst du ja an diesem einen ebensogut. Nicht wahr?

Herbert antwortete nicht.

Er hatte auf den halbleeren Kasten gestiert und erhob sich jetzt wie ein alter Mann, indem er sich auf den Tisch und die Lehne des Stuhles stützte.

Die anderen sahen ihn erstaunt an.

– Mir ist nicht wohl, sagte er langsam. – Laßt mich nach Hause gehen ... –

In bebender Empörung, in zitternder Angst war ich allem: jedem Wort, jeder Bewegung gefolgt.

Mir war jetzt alles klar: Herbert hatte zu Hause auf meinem Schreibtisch den Revolver gefunden, er hatte einen häßlichen Verdacht geschöpft, er hatte sich vergewissern wollen – und nun ...

O du Feigling, du Feigling! rief ich mir zu, kannst du jetzt nicht aufstehen und die Wahrheit sagen ...

Um abermals den Eklat zu vermeiden, kannst du ihn auch nur eine Minute in diesem schmählichen Verdacht lassen?

Nein ... Nein!

Und ich stand auf – Treskow erbleichte.

– Herr Baron, Sie können jene Weibergeschichte auf Ehrenwort nicht erzählen – nun wohl, so werde ich den Herren –

– Schweig!

Herbert schrie es in furchtbarster Wut.

Er hatte die andern rücksichtslos beiseite geschoben und stand nun bebend, mit geballten Fäusten, dicht vor mir.

Der furchtbarste Anblick in meinem ganzen Leben!

Meine Knie wankten: ich fiel in das Sofa zurück und wurde ohnmächtig – ohnmächtig!

Als ich wieder zu mir kam, waren nur noch Witzleben und Treskow anwesend – es war mir, als hätte Herbert in der dunklen Tür gestanden und sie gerade jetzt bei meinem Erwachen leise hinter sich geschlossen.

Mein Gesicht, meine Haare waren feucht ...

Ich stieß Treskow von mir!

Witzleben brachte mich in einen Wagen und fuhr mit mir nach Haus.

Wir sprachen beide kein Wort.

Nur einmal sagte der Major mit bewegter Stimme:

– Weinen Sie doch, liebes Fräulein ...

Ich konnte nicht.

16. August 1886.

Heute abend sing ich die schöne Helena.

Auch vom Wahnsinn und vom Tode sagt man – sie grinsen ...

16. August 1886. Nachts.

Er war nicht im Theater. Das war mir ja eine Erleichterung – aber auch sonst nichts, nichts: kein Brief, keine Nachricht ...

Die Mutter fragt: was ist mit Herbert, der hat ja heute gar nichts von sich hören lassen? – Er hat es mir schon gestern gesagt, Mutter: er ist heute beschäftigt.

Arme Mutter!

17. August 1886.

O jetzt habe ich Zeit, an meinem Tagebuch zu schreiben – viel Zeit. – –

Herbert kommt nicht; er schreibt nicht ... ich habe Zeit. – –

Die Lüge, die Lüge, die erbärmliche Lüge knechtet uns alle! Und manchmal reckt sie sich übermütig, trotzend auf ihre Macht, empor und zerschmettert einen ihrer Sklaven!

Lüge war es, die mich trieb, damals die Gemeinheit dieses Menschen zu vertuschen: Lüge und Furcht vor der Lüge.

Die Lüge zwang Herbert zu jenem furchtbaren ›Schweig‹, und wenn ich jetzt wirklich schweige und nicht zuerst wieder zu Herbert komme, um ihm alles zu erklären – ist nicht auch das Lüge? –

Aber ich will mich empören: ich will Stolz und falsche Scham, Herkommen und – gerechte Entrüstung niedertreten und will an ihn schreiben.

Sogleich! Sogleich! –

17. August 1886. Abends.

Er hat meinen Brief. Ich habe ihm alles gebeichtet. O nun muß ja auch alles gut werden!

Wozu diese großen Schmerzen, diese wilden Klagen, diese bangen Zweifel – ich übertreibe mir alles, ich empfinde es viel zu schwer. –

Aber aus welchem Grunde?

Weil ich dich liebe, nur weil ich dich grenzenlos liebe, Herbert, und weil ich alles nun auf dieses Eine gesetzt habe!

Wenn ich den Glauben in deiner Seele verlöre, ich könnte nicht leben länger ...

Und ich lebe so gern!

18. August 1886. Morgens.

Keine Antwort – o Gott!

Sollte er – der Gedanke ist entsetzlich, er ist erniedrigend – sollte er diese Gelegenheit, diese erbärmliche Gelegenheit mit Freuden, gern ergriffen haben, um ...

O Schmach!

Nicht wahr? Die Ehre einer – Soubrette darf man, muß man bezweifeln, wo es sonst Wahnsinn, Verbrechen wäre?

O Schmach!

›Berlin, 18. August 1886.

Liebe Jenny!

Für heute morgen hatte ich mit Treskow einen Spazierritt verabredet und bitte daher um Entschuldigung, wenn ich erst jetzt schreibe. –

Also zunächst: weshalb ich nicht komme. Ja, liebes Kind, es gibt Sachen, die man erst verwinden muß, ehe man wieder in die alte Bahn seiner Empfindungen und Gedanken einlenken kann. Ich habe sehr schwere Stunden hinter mir: aber ich hab's überwunden: ich bin soweit gekommen, daß ich wieder ohne Groll – wenn auch anders! – an Dich denken kann, und morgen abend, sollst Du sehen, komme ich zu Euch.

Denn ich liebe Dich, mein großes, kluges Mädchen, ich liebe Dich, heiß und mit aller meiner Leidenschaft!

Die Geschichte, die Du in Deinem Briefe erzählst, ist sehr nett und klingt auch relativ glaubwürdig; aber laß doch, liebes Kind, laß doch – wir wollen davon gar nicht mehr reden. Was geht uns denn das an, was hinter uns liegt?

Schweigen wir doch davon, vergessen wir es möglichst!

Wir lieben uns: ich weiß, daß es Dir unmöglich sein würde, mir untreu zu werden – genügt das nicht? –

Aber, Jenny: Illusion gegen Illusion!

Ich habe unter tiefen, tiefen Schmerzen eine Illusion eingebüßt – meine Liebe hat standgehalten.

Aber nun fordere ich auch von Dir eine solche zurück und hoffe, daß auch Deine Liebe standhält.

Ich habe gesagt: schweigen wir von der Vergangenheit – ich füge hinzu: schweigen wir auch von der Zukunft.

Lieben, mit aller Überschwenglichkeit lieben tut Dich Dein Herbert. Aber heiraten tut Dich der Freiherr von Hartenstein. Und der Freiherr von Hartenstein heiratet eine Jungfrau.

Verzeih die rohe, häßliche Wahrheit: aber sie mußte nun einmal zwischen uns heraus, und ich denke groß genug von Dir, um sie Dir ungeschminkt, offen und ehrlich ins Gesicht zu sagen.

Hinfort soll hiervon nie wieder ein Wort zwischen uns fallen. Ich habe meinen Dienst quittiert und bereue das nicht. Meiner alten zurückgedämmten Leidenschaft, die weite Welt zu sehen, werde ich nun an Deiner lieben Seite mit um so größerer Freude genug tun können. Wie oft, meine liebe Jenny, haben wir davon geschwärmt – wir wollen weiter schwärmen: nicht wahr, mein teures Mädchen?

Ich komme mir vor, wie aus einem verschrobenen Traum erwacht.

Erwacht zu der etwas nüchternen, aber doch so lieben Wirklichkeit ... Du machst sie mir lieb!

Also bis morgen abend, mein Herz!

Dein Herbert.‹

18. August 1886.

– Mir sind Gedanken gekommen, ekelhafte, widerwärtige Gedanken – aber ich will auch sie nicht verschweigen.

Was eine Tatsache ist, kann man beweisen: man zeige sie ...

Ich bin deiner würdig, Herbert ... ich bin es! –

Aber nein, o Gott, nein, nein!

Das ist es ja nicht! Nur wenn ich ihn ewig verachten wollte, dann könnte ich ihn wissen machen ...

Der Glaube! Der Glaube ...

Ich bin verloren – die Lüge hat sich aufgereckt und mich zermalmt ...

18. August 1886. Nachts.

Ich habe noch eine Hoffnung.

Wenn Treskow ein Herz hat, wenn er ein Mensch ist – er muß sich meiner erbarmen, er muß reden.

Ich habe ihm geschrieben. Einen Boten hab ich mit dem Brief hingeschickt und auf die Antwort warten lassen, auf das Ja, welches mich dem Leben erhält. Er hat mir sagen lassen: morgen früh würde ich Antwort haben.

Mich diese Nacht in solcher Qual zu lassen – das wird seiner Rache für den Schuß auf ihn, für – die entgangene Liebesnacht genug sein, das muß ihr genug sein.

Morgen früh ... ich hoffe, es zu erleben. O Gott, ich lebe so gern ... wie hätt ich sonst auch dies noch versucht, das doch nicht nötig werden durfte! – –

Aber wenn auch diese Hoffnung mich betrügt, dann ... nun ja: meine Mutter kann jetzt ohne mich leben: ich habe nun für sie genug gearbeitet: mein Leben gehört jetzt mir.

Und dieser Revolver, diese Waffe, die von dir stammt, Herbert, und die mich einst von der Schande gerettet hat, die du ... du! ... mir jetzt ins Gesicht wirfst ... o, ich habe dann nur den einen Wunsch noch: möge sie sicher treffen, möge sie es schnell machen, wenn ich sie an die Schläfe drücke.

Und dann – dann mögen sie mich sezieren, um dem Freiherrn von Hartenstein zu beweisen, daß er mich heiraten durfte! – –

Aber nein ... nein! Ich hoffe den morgigen Tag zu überleben, und gleich heute will ich das Datum desselben auf die nächste Seite schreiben –

19. August 1886.

*

Berlin, 19. August 1886.

Gnädiges Fräulein!

Mein Ehrenwort, daß ich – schweigen werde wie das Grab.

Hochachtungsvoll

gehorsamst
Heinz v. Treskow



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