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Erster Akt

Szene: Das Jagertsche Wohnzimmer. – Das Zimmer sieht kahl und nüchtern aus. Peinliche Sauberkeit. Die Betten mit weißen Waffelbettdecken zugedeckt. Die Möbeln mit weißen gehäkelten »Schonern« belegt. Auf dem Kleiderschrank mehrere Stöße Zeitungen. Hinten ein Kanarienvogel im Bauer, darüber ein Regulator. Über dem Sofa links ein großer Stahlstich.

Frau Sophie Jagert (sitzt allein an dem Sofatisch links. Sie hat die brennende Lampe nah zu sich herangezogen und strickt emsig. – Plötzlich legt sie das Strickzeug mit einem Ruck auf den Tisch und horcht nach rechts. Dann schüttelt sie den Kopf und seufzt laut. Wie sie ihre Arbeit wieder aufnehmen will, klingelt es. Sie fährt zusammen, freudig: Doch! Sie eilt nach rechts ab und öffnet. Man hört von draußen ihre Stimme mit einem Tone der Enttäuschung:) Ach du bist's!

Lieschen Bode (ebenfalls noch draußen, beinahe gleichzeitig:) Guten Abend, Tante. Ja – ich bin's. Wenn's dir nicht paßt, brauchst's ja bloß zu sagen. (Lacht.)

Sophie (im Eintreten:) Na komm rein, komm!

(Beide treten ein. Lieschen ist eine hübsche, blasse Blondine von zwanzig Jahren. Auffallend gekleidet, helles Jackett, Federhut.)

Lieschen. Brauchst's bloß zu sagen!

Sophie. Nu! Komm man schon rin und pell dir aus – Ach Lieschen . . .

Lieschen (hat sich den Hut abgenommen und reicht ihn Sophie:) Na?

Sophie (hält beim Anblick des Hutes inne. Nimmt ihn, bewundernd:) Nein, ist das ein feiner Hut!

Lieschen, (indem sie sich das Jackett auszieht:) Sache! Mein neuer.

Sophie (streichelt die Feder:) Fein! Wirklich sehr fein! Kostet gewiß . . . Na, du hast ihn wohl geschenkt gekriegt?

Lieschen. Nu natürlich. Jeklaut nich.

Sophie (melancholisch:) Ja – ja! Ach, weißt du, Lieschen: zu meiner Zeit – na! Ne kleene Weiße mit ne Strippe – det war allens. An sowat war jarnich zu 42 denken! Kein Mensch! Bloß später Ede – und da war er schon mein Bräutigam.

Lieschen. Ja – Kunststück! Früher! (Singend:) Das ist schon lange her . . .

Sophie. Na nu komm! Setz dir uffs Kanapee!

Lieschen (setzt sich weiterträllernd in die vordere Sofaecke.)

Sophie (an ihrem früheren Platze, nimmt das Strickzeug wieder auf:) Wat macht ihr denn? Wie jeht's denn Muttern?

Lieschen. Ach die! Na – du weißt ja. Meistens sitzt sie jetzt im Lehnstuhl. Der Doktor sagt, sie soll sich legen. Aber will sie denn? – Na – und dies Geschimpfe! Zackeriert 'n janzen Dag! Als ob ick wat dafor kann? Aber sie gönnt es einem bloß nicht, daß man jung, jesund un verjniegt is. Immer und ewig soll man bei ihr in der Stube hocken. Das ist doch kein Vergnügen!

Sophie (traurig, leise:) Die arme Wally!

Lieschen. Gott ja – es ist ja schlimm genug. Aber sie braucht es einem doch nicht immer vorzuklönen! So – und so – und immer wieder dasselbe. Ich kann's doch nu mal nicht ändern!

Sophie (seufzt laut:) Ja – ja . . . (Pause.)

Lieschen. Wo ist denn übrigens Hanna?

Sophie (weinerlich:) Ach – dat Mächen! Nu seh mal einer an – nu ist es bald halb neune und sie ist noch immer nicht da! Ich sitze wie uf Kohlen – ach, Lieschen: du weißt ja noch gar nicht . . . denk doch mal an . . . sieh mal hier!

(Sie reicht ihr ein auf dem Tisch liegendes Telegramm.)

Lieschen (neugierig:) Na, was ist denn los? (Liest das Telegramm:) Was – was?! Be–gna–digt? Konrad begnadigt? Na nu!

Sophie. Denk dir!

Lieschen. Ist die Möglichkeit!

Sophie. Und kommt heute noch. Ist überhaupt schon da. Sieben Uhr fufzehn kam der Zug. Jeden Oogenblick kann er da rinkommen und . . . 43

Lieschen. Er hat's also angenommen!

Sophie. Was?

Lieschen. Na – die Begnadigung.

Sophie. Schaf. Wie wird er denn nicht.

Lieschen. Na, na, na . . . der mit seinem Dickkopp? . . . Der kriegt et fertig . . . daß er meinswegen sagte: was, erst habt ihr mich zu drei Jahre verknackt . . nu sitz ick knapp zwee und nu wollt ihr mir wieder raus haben? Ne – is nich; nu sitz ick jrade bis Schluß. – So is er!

Sophie. Ach – red doch nich! Der wird . . . (Auffahrend, nach rechts horchend:) Horch! Hörst du nichts?

Lieschen. – Ne, aber wir können ja mal nachsehn. (Sie läuft nach rechts zur Tür und horcht hinaus. Sophie folgt ihr. Lieschen schlägt die Tür wieder zu:) Jarnischt. Allens mucksstill.

(Beide kehren auf ihre Plätze zurück.)

Sophie. Nämlich, mußt du wissen: Ede ist zur Bahn gegangen mit 'ne Masse andre. Die holen ihn alle ab. Du weißt ja, wie das ist . . .

Lieschen (affektiert:) Nein – dieses Glück für . . . (In anderem Tone:) Na ja: wenigstens for'n selber.

Sophie. Für de Hanna! Denk mal an! – Wie't so heute nachmittag um Viere rum war, fragt ich Eden, ob ich's ihr nicht ins Geschäft bringen sollte. Aber der –: ne laß man, wir wollen ihr überraschen, wenn sie abends kommt. Ach Lieschen – richtig geweint hab ick vor Freude – und nu kommt sie nicht.

Lieschen. Na, wird schon noch. Man stille. Is ja 'n weiter Weg vom Spittelmarkt und wer weeß denn . . . Nu sag mal! Aber seht ihr's . . . seht ihr's nun? Was hab ich immer gesagt? Wenn unser Kronprinz mal an die Regierung kommt, hab ich gesagt, denn könnt ihr wat erleben! Hab ich nu recht, oder hab ich nicht recht?

Sophie. Ja, Ede sagt zwar . . .

Lieschen. Ne, ne, ne, ne, ne Tante! Daran kannst du nu bei mir nicht tippen. Alle Achtung vor Onkeln, 44 aber in der Beziehung, der jeht nu mal immer mit de Partei, und ich kann dir bloß sagen: mein Max, wat der Einjährige ist, den ich neulich bei Sterneckern kennen gelernt habe, der hat es mir ganz absolut klargelegt – und da mögt ihr nu reden, was ihr Lust habt . . . und zumal Onkel: der muß ja nu eben alles schlecht machen, das gehört ja nun mal dazu. Nicht die Spur von Patriotismus. So is es!

Sophie. Gott, ich hab ja auch gar nichts gegen. –

Lieschen. Du, Tante: nu werden sie wohl bald heiraten?

Sophie (in Gedanken:) Ich denke. Ja. – Hm . . .

Lieschen. Na – wo doch damals schon alles so weit war. Ich meine – die Aussteuer und so – wie?

Sophie. Ja, ja. (Deutet auf den neumodischen, in die übrige Einrichtung nicht hineinpassenden Kleiderschrank, vorn rechts:) Da! Alles da drin. Eins auf dem andern und alles fein gezeichnet. Wird wohl schon ganz gelb geworden sein. Sie hat den Schlüssel – aber in die ganzen zwei Jahre hat sie nichts angerührt.

Lieschen. Hm. Na und die Betten? Die habt ihr wohl wieder verkauft?

Sophie (entrüstet:) Verkauft? Du bist woll . . . Hast du 'ne Ahnung von wegen verkauft! (Mit einer Bewegung nach hinten:) Willst mal sehn?

Lieschen. Ne laß man, glaub's schon. – Na also: da sind sie ja fein raus. Brauchen bloß wieder anzufangen, wo sie aufgehört haben. Sie haben ja auch beide lang genug warten müssen – der arme Kerl! (Lauernd:) Na, und Hanna?

Sophie. Was denn?

Lieschen. Na – ick meine man . . . die hat sich doch . . . die ist doch wohl . . . in de Zwischenzeit 'n bisken . . . verändert. Wie?

Sophie (seufzend:) Ach ja! – Wenn sie nur erst käme!

Lieschen. Hm . . . ja . . . Ich habe gehört: um die Versammlungen und so . . . soll sie sich ja gar nicht mehr kümmern. Wie? 45

Sophie. Ach! Von gar nichts will sie mehr was wissen. Ede zankt mit ihr alle Naselang. Denk mal: Hanna, die doch früher immer so . . . so sehr für sowat war – nich?

Lieschen. Die – na ich danke! Also is se woll gar nich mehr in de Partei?

Sophie. Ich weeß nich. Aus'n Verein ist sie raus. Allens niedergelegt; und mit ihre frühere Freunde und Bekannte überhaupt . . . kommt sie schon gar nicht mehr zusammen. Die sind jetzt auch alle furchtbar tück'sch auf sie, kannst dir ja denken.

Lieschen. Hast de Wörter? (Kordial:) Sie bummelt woll tüchtig, he?

Sophie (laut:) O nein! O nein!

Lieschen. Na? Ick meene: Sie hat sich so'n bisken als Dame frisiert, wat?

Sophie. Nein, nein. Was ich dir sage! – Wo denkst du hin! Wie die aufs Jeschäft is! Und sie ist jetzt sowas Besseres, mußt du wissen . . . wie 'ne Direktrise oder so.

Lieschen. Immer noch in die Kindergardrobe?

Sophie. Immer noch. Na, was glaubst du wohl. Sie kauft jetzt auch ein für sie . . . denk mal! Und die Modelle, die sie macht! Dadrauf kriegen sie immer die allermeisten Bestellungen. Na – sie verdient ja auch ein schönes Geld. Vierzig Dahler im Monat! Ja, ja, mein liebes Lieschen: das is 'ne Sache!

Lieschen. Ja, ja . . . Ja: bei euch überhaupt! Wie dabei Onkel noch 'n Nörgler is . . . wo er doch selber so gut verdient und du hältst es so zusammen und das eine Kind hat er man und die . . . Ne, weeßte: ich kann es einfach gar nicht begreifen. (Demütig vertraulich:) Du weeßte, Tante, sieh mal: Mutter, unsere jute arme Mutter, die sitzt doch nun immer so da und kann sich kaum rühren und reine gar nischt verdienen . . . und der Richard is auch so'n Schlingel und manchmal hab'n wer, weeß Gott nischt zu knabbern un zu beißen und . . . und es is doch nu mal deine Schwester, Tantchen . . . 46

Sophie. Ach, die arme Wally. Ja – ja . . . Na aber verdienst du denn noch immer nichts?

Lieschen. Ach jawoll! Aber unser Oller, der verflixte Kerl hat uns ja schon wieder fünf Pfennig von's Dutzend Kragen abgeknöppt! Wirklich – es lohnt sich nicht mehr anzufangen! Tantchen! Möch'ste uns nich auf'n paar Tage einen Dahler borgen? Wir haben wahrhaftjen Jott balde janischt mehr im Hause.

Sophie (sieht zu Lieschen hinüber:) Hm. Na – ich will dir was sagen. Morgen früh werd ich mal ran kommen und werd mal sehen, was die Wally braucht. Verstehste?

Lieschen. Aber Tantchen . . . weshalb . . .

Sophie. Wie? – Ja, weißt du: es is man bloß – du vergißt es vielleicht wieder.

Lieschen. Wa . . .

Sophie. Ja, ja. So, wie neulich. Gott, das kann ja vorkommen. – Wally wußte von nischt.

Lieschen (verlegen, aber doch frech:) Ach – von wegen . . . (Schweigen. Lieschen sieht umher, sie bemerkt den Tisch mit Büchern am Fenster links, steht auf und geht hin:) Was liegt denn da eigentlich alles rum?

Sophie. Das? Ach, das sind Hannas Bücher. Weiß der liebe Himmel, was das alles für Zeug is. Ach ne! Wo das Mädchen aber auch bleibt!

Lieschen (bissig:) No – das wird doch woll keene so'ne jroße Seltenheit sind . . . sie hat doch jedenfalls 'n Hausschlüssel!

Sophie (sofort pikiert:) Na sei du man ganz stille, weeßte. In dein'n Alter durft sie mir überhaupt noch nich for die Türe, verstehste.

Lieschen. So so. Na ja – aber später, wie sie immer in die Versammlungen ging und so . . . nich wahr? Und immer ihre klugen Reden hielt, von denen keen Mensch was verstand . . . wie? Nu ja: du konnt'st ja doch nich immer mitloofen . . . es wär dir als Mutter woll'n bisken schenierlich gewesen, wenn du ihr so bei ihre Predigten hätt'st zuhören müssen un . . . un . . . un – hätt'st schließlich ooch nischt verstanden! 47

Sophie (wütend:) Lieschen! – – Nu borg ich dir den Dahler grade nich!

Lieschen. P – hö!

Sophie. Wo sie nu schon ihre siebenundzwanzig Jahr alt ist, und überhaupt so'ne verständige Person, wie unsere Hanna! Wegen der brauchen wir gottlob um sowas keene Bange zu haben. Die is nich so . . . daß sie mal heute mit dem und morgen mit dem looft, wie – andere.

Lieschen. So, so. Na, du mußt et ja wissen.

Sophie. Ja: das weeß ich ooch!

Lieschen. Ja, ja: ick weeß ooch –: die brave Hanna, die brave Hanna! Hab't ja oft genug zu hören gekriegt . . . solang ich mir besinnen kann –: da nimm dir mal 'n Muster dran! Was die ihre Eltern für Freude macht! So – und so – und so – der reenste Tugendbesen – na! –: ich will dir mal was sagen, Tante: ich rede gewiß keinem gerne was Schlechtes nach – und am allerwenigsten meiner leibhaftigen Cousine – a – ber: das muß ich dir denn doch sagen: mir machste nischt weiß – und bei die wird ooch man bloß mit Wasser gekocht!

Sophie (außer sich, stammelt:) Li . . . li . . . lieschen . . .

Lieschen (läßt sie nicht zu Worte kommen. Lauter:) Und wenn unsereins wirklich mal mit einem looft – du lieber Gott, nun ja: was hat man denn sonst vom Leben – die – die – nun ja: die fährt freilich lieber! Is jesünder for die Stiebelsohlen!

Sophie. Mächen, du . . .

Lieschen (schneidet ihr frech das Wort ab:) Ja, ja, ja, ja – sei man ganz stille –: wat ick jesehen habe, det hab ick jesehn! Da is nischt zu wollen! Ich wollt's dir zwar eigentlich nicht sagen – aber wenn du mir so kommst – grade! Vorgestern abend war's . . . zwar schon duster . . . aber bei des Elektrische –: ganz genau hab ich sie gesehn: mit 'n Herrn in 'ne Kutsche – nich in 'ne Droschke – ooch nich in 'ne erste Jüte –: i Jott bewahre: is ihr 48 ja allens viel zu poplich – in 'ne – in 'ne Privatequipage!

Sophie. Das ist nicht wahr.

Lieschen. Das ist wohl wahr. Siehste!

Sophie (schreiend:) Nein: Das ist nicht wahr! Das hast du gelogen! Sowas tut unsere Hanne nicht. (Weinerlich:) Da sterbt se lieber! (Schluchzt.)

Lieschen. Na, man sachte, was ist denn schließlich dabei? Ich –

Sophie (mit plötzlichem Ausfall:) Du, ja du . . . du möcht'st woll gerne, daß sie ooch so'n Flittjen wäre – aber ne – ne! Gottseidank! Solche Streiche brauchen wir uns bei der nicht zu besehn. Ich weiß ja: Du – (Es klingelt:) Das ist sie! Das ist sie ganz bestimmt! (Eilt nach rechts:) Sie wird's dir schon besorgen! Sie wird's dir schon anstreichen. (Ab.)

Lieschen (gleichzeitig und nachrufend:) Int Jesicht sag ick's ihr . . . int Jesicht! Sie wird mir doch nicht ausreden wollen, was ich mit diese beiden Oogen jesehen habe!

Sophie (kommt mit Hanna zurück, die sie förmlich ins Zimmer zieht:) Stell dir bloß vor! Hier – det Mächen! Hab' dir doch erzählt, wie sie neulich is gekommen und hat mir'n Dahler abgeknöppt –: »für ihre arme kranke Mutter!« Andern Tags komm ich hin –: keen Dahler un keen Liesken! Is de ganze Nacht nich zu Hause gekommen. So'ne Pflanze! Und heute kommt sie wieder ran, will wieder 'n Dahler . . . und wie 'ch 'n nu nich jleich geben will, denn wozu? die Wally braucht'n doch wirklich – wird se tück'sch und kommt mir mit Spitzfindigkeiten und will mir ärgern. Und weeßte, was se sagt? Weeßte, was se sagt?! Sie hätte dir mit 'n Herrn in 'ne Kutsche gesehen, sagt se . . . Und nich in 'ne Droschke, ooch nich in 'ne erste Jüte, ne . . . stell dir vor –: in 'ne Privatequipage!

(Pause.)

Lieschen (trotzig:) Mit zwee Rappen. 49

Sophie. Det freche Frauenzimmer! Wie sie lügt!

Lieschen (frech zu Hanna:) He? Is woll nich wahr? Vorgestern abend! Unter die Linden! – He?

Hanna (groß, schlank, brünett. Sie trägt die etwas spröden Haare, ohne jede Stirnlocke, gescheitelt. Ruhige, selbstbewußte Haltung, große Schritte, Altstimme. Sie ist schwarz, mit Einfachheit gekleidet. Sie hat die Eigentümlichkeit, bevor sie spricht, die Person, mit der sie spricht oder der sie antwortet, erst einen Augenblick überlegend anzuschauen. Zu ihrer Mutter:) Du willst, daß ich ihr antworte?

Lieschen (höhnisch:) Na nu ne!

Sophie (gleichzeitig:) Aber . . . na – jewiß doch!

Hanna (richtet den Blick auf Lieschen:) Ja. Es ist richtig. Ich bin Donnerstag abend mit einem Herrn . . in dessen Wagen . . . die Linden entlang gefahren.

(Sie geht an ihr vorbei nach links, wo sie ihre Sachen ablegt.)

Lieschen (zu Sophie:) Na? Wie steh ich nu da?

Sophie (furchtsam:) Hanna . . . wie . . . wie . . .

Lieschen (schneidend:) Da wird sich Konrad Thieme aber freuen!

Hanna. Dem werd ich es schon rechtzeitig schreiben!

Lieschen (lacht hell auf:) Kannst'n ja och telephonieren.

Sophie. Aber Kind, so . . . so sprich doch, erkläre uns doch . . . was soll denn Lieschen denken, wofür soll sie dich denn halten?

Hanna. Was sie mag. Für ihresgleichen.

Lieschen (wie geohrfeigt, in heller Wut:) Was? Wie? Für meinesgleichen? Bitte, liebe Cousine, willst du mir mal erklären, was du damit sagen willst! Ja?

Hanna (zu Sophie:) Mutter! In Lieschens Gegenwart . . . erlaß mir –

Lieschen (schneidend dazwischen:) Ach so, ja ja – versteh schon! Mich kann sie eben nicht dumm machen. Wir kennen den Rummel! Aber siehste! Det is es ja grade, worüber ick mir immer so schauderös ärgern muß! Dies Vornehmtun und dies – immer will se was Besseres rausbeißen und spielt sich uff wie 'ne 50 Jeborne! Ä! Ick gebe mir wenigstens for das, was ick bin, und habe mich nich so und mache aus meinem Herzen keene Mördergrube. – Aber laß man jut sin, Cousinchen, laß man jut sin –: wenn Konrad jetzt kommt, dem wer ick's schon stecken! Gleich heute! Auf der Stelle!

Hanna (verliert ihre bisherige Fassung:) Was . . . heißt das?

Lieschen (triumphierend:) Ja, ja: Cousinchen: Konrad Thieme, dein Bräutigam Konrad Thieme! Ganz glücklich bin ich, daß ich die erste bin, die dir die frohe Nachricht bringt . . . Jede Minute kann er jetzt hier hereinkommen: jede Minute! (Zu Sophie:) Siehst es, Tante, siehst es: das böse Gewissen! Das paßt dir woll nich – he? Du hättst'n woll nich begnadigt – was? Hättst'n lieber noch'n Jährchen brummen lassen – wie? Ja! – Ach ja! Spazierenfahren is ja so'ne schöne Sache, so'ne schöne Sache! – Aber dem soll 'n Talglicht ufjehn.

Hanna (furchtsam, leise:) Mutter – ist das – wahr?

Sophie (nickt traurig und beobachtet sie.)

Hanna (zuckt zusammen.)

Sophie (erschreckt aufschreiend:) Hanna!

Lieschen. Ja ja: Kannst ruhig glauben, was ich dir sage. – »Unangenehm« – was? »Es ist im Leben häßlich eingerichtet« . . .

Sophie. Sie müßten schon längst zurück sein. Wir – wollten dich – überraschen.

Lieschen (lacht, schickt sich zum Gehen an.)

Hanna (greift ebenfalls nach ihren Sachen:) Dann muß ich . . .

Sophie (in Schluchzen ausbrechend:) O mein Gott, mein Gott . . . (Läßt sich auf einen Stuhl fallen. Hanna bleibt mit sich kämpfend in der Mitte der Bühne stehen. Sie richtet den Blick voll Verachtung auf Lieschen.)

Lieschen (vor diesem Blick zurückweichend:) Na, nu kann ich ja gehn. Jetzt wird mir die Jeschichte zu 51 plümerant. Will det Wiedersehn nich stören . . . Aber das wollt ich ja bloß sagen: man soll nicht mit Steine schmeißen, wenn man selber mang die Fenster sitzt. – Tjöh.

(Es antwortet ihr niemand. Sie geht rechts ab. Pause.)

Hanna (nähert sich langsam ihrer weinenden Mutter und legt die rechte Hand auf ihre Schulter:) Mutter. Liebe Mutter – weine doch nicht! – Ich weiß – was ich getan habe. Hab es auch gewußt – als ich es tat. Ich bereue nichts. Ich kann mich durchaus verantworten – vor mir selber. Hoffentlich auch vor dir, nur . . . nur jetzt . . . nach dem Ton, den Lieschen angeschlagen hat . . . ich muß mich erst wieder . . . zurechtfinden. Und dann . . ist auch jetzt keine Zeit, dir das alles zu erklären. (Lebhaft:) Mutter, liebe Mutter: ich bitte dich: laß mich . . . ihm aus dem Wege gehn, heute den ersten Abend . . . laß mich! Es ist besser.

Sophie (sieht mit einem durchdringenden, forschenden Blick zu ihr auf.)

Hanna (kniet nieder, angstvoll:) Oh! . . . Denke nicht schlecht von mir, Mutter! Mach mich nicht irre an mir! Hörst du? Nur das nicht! Du hast mir ja immer vertraut . . . sonst . . . allezeit . . .

Sophie. Ja – immer – bis heute.

Hanna. Mutter! Um Gottes willen, sprich nicht so! Sprich nicht so! Wenn du mich dahin brächtest . . . daß ich bereute . . . Mutter!

Sophie (fährt in die Höhe:) Horch! Kommen sie nicht? Geh zur Tür, geh!

Hanna (springt auf, nach rechts, horcht hinab. Man hört eine Tür ins Schloß fallen.) Nein. Nichts. Es war unter uns. Alles still. – Es ist noch Zeit –

Sophie. Noch – Zeit?

Hanna. Ja. – Du sagst, Tante Wally wäre kränker geworden . . . ich müßte bei ihr wachen. Später, morgen . . .

Sophie. Hanna! – Du traust'n dir nich in die 52 Augen zu sehn – und du willst ein gutes Gewissen haben?

Hanna. Quäle mich doch nicht so furchtbar! – (Wie für sich:) Gewiß! Ja! Ich habe ein gutes Gewissen. Ein neues vielleicht, aber . . . Ja! – Und dies ist nun der Kampf mit dem alten. Damit muß ich fertig werden, ich wäre ja sonst . . . (Mit einer abweisenden Gebärde:) Nein! Es ist ja nur . . . Ich habe noch nicht den rechten Mut . . . diese dumme Überraschung, daß man so gar nicht daran dachte . . . und noch dazu diese rohe Art, in der es einem mitgeteilt wurde . . . Ich muß mir nur – (mit gesunkener Stimme:) selber treu bleiben. (Fest:) Das ist alles!

(Man hört plötzlich Lärm im Treppenhaus. Hanna, welche die letzten Worte eben noch mit einer erzwungenen Festigkeit gesprochen hat, fährt, ganz unvermittelt, jäh zusammen und beginnt vor Angst zu zittern. – Draußen lauter werdende Schritte . . .)

Sophie. Nun – mußt du wohl dableiben. (Mit traurigem Spott:) Oder willst du dich vielleicht verstecken?

Hanna. Mutter –

(Man hört, wie die äußere Korridortür geöffnet wird.)

Eine tiefe Baßstimme (draußen:) Nu noch einmal: Unser hochverehrter Freund und Genosse, der Strafgefangene a. D. Konrad Thieme – er lebe hoch, und abermals hoch – und zum drittenmale: hoch! (Lachen, dann Hochrufe.)

Eine singende Stimme. »Ein Sohn des Volkes will ich sein . . . will ich sein . . . und bleiben!«

(Alles fällt brüllend ein. Dann zahlreiche: »Pst!« »Pst!« »Ruhe!«)

Konrads Stimme. Danke, Genossen, danke, danke! Nu – aber nu – lebt wohl!

Eduards Stimme (einfallend:) Ne, so kommt doch mit rein! Ach was . . . Immer rin in die gute Stube.

Verschiedene (durch Lachen unterbrochen:) Ne, ne, ne. Was würde deine Hanna sagen! Ne, ne . . .

Konrads Stimme (einfallend:) Ne, ne! Ich bin auch zu –

Eine breite Stimme (fast gleichzeitig:) Anjegriffen – wat? (Gelächter.) 53

Konrad. Na ja denn – gut. Gut' Nacht!

Die Stimmen (durcheinander:) Gut' Nacht! Viel Vergnügen! Gut' Nacht!

Verlieren sich.
Man hört, wie die äußere Korridortüre geschlossen wird. Während des Vorgangs draußen, spielt sich auf der Szene folgendes ab.

Hanna (steht angstvoll lauschend da. Sowie sie Konrads Stimme hört, flüchtet sie in unwillkürlicher Angst zu ihrer Mutter. Flüsternd:) Er ist es.

Sophie. Ja. (Bitter:) Du hast wirklich nicht den rechten Mut. – Hast du das gehört: »Was würde deine Hanna sagen!«

Hanna (rafft sich auf:) Wir – müssen ihnen entgegengehen. (Sie ringt nach Selbstbeherrschung und geht auf die Tür rechts los. Sobald sie mitten auf der Bühne angelangt ist, fliegt die Tür auf.)

Konrad (stürmt hinein.)

Eduard (erscheint hinter ihm in der Tür.)

Hanna (bleibt fest an ihrem Platze.)

Sophie (erhebt sich und geht den beiden entgegen.)

Konrad (mit ausgebreiteten Armen auf Hanna los, ekstatisch:) Hanna!

Hanna (weicht unwillkürlich ein wenig zurück. Dann aber reicht sie ihm mit anscheinender Ungezwungenheit beide Hände. Leise:) Konrad – willkommen! Will–kommen. Wie . . . Welche . . . (Sie stockt. Einen Augenblick atemlose Pause.)

Konrad (hält Hannas Hände fest und beschaut sie erstaunt und bewundernd. Sie senkt den Kopf.)

Sophie (vortretend:) Welche Freude – meint sie.

Eduard. Ja, ja! Das is mal 'ne Überraschung! He? Die is nich von schlechten Eltern! (Lacht dröhnend.)

Konrad (zu Sophie:) Ach – Frau Jagert! Na – da sind Sie ja auch wieder! Und sehn so gut und so gesund aus – ganz die Alte!

Sophie. Ach ja – man wird alt. Aber kommen Sie . . .

Konrad (fröhlich:) Ne . . . ne: Sie wollen mich bloß nich verstehn. Von wegen alt! – Keene Spur! Ich 54 meine nur: unverändert, ganz unverändert – wie vor zwei Jahren. Schaut sich um: Hier – hier ist überhaupt alles unverändert! Wie – Hanna?

Hanna (versucht zu sprechen – schweigt – schüttelt den Kopf.)

Sophie (gleichzeitig mit Eduard:) Ach ne, was denken Sie woll, Konrad. Hanna ist viel weitergekommen! Viel weiter! Hat sie Ihnen denn das nicht geschrieben? Sie ist zwar noch immer bei Lorenzen, aber . . .

Eduard (gleichzeitig beginnend:) Glaub nur sowas nich. Die is überhaupt – na! – Die is 'ne ganz andre geworden, die versteht keen Mensch mehr! Natürlich – was so'n Gelehrter ist, wie du – du wirst vielleicht dahinter kommen. Geld? O ja! Hat sie immer! Darin is se groß! Aber – denkt nur noch an sich – nur noch an sich, sag ich dir! Kooft sich Bücher, jeht ins Theater! Un bekieckt sich von innen. De Partei – nich sehn – nich in de Hand! Ja – ja! Na – aber komm! Setz dir mal erst hin. Du wirst schön müde sein. (Geleitet ihn an den Tisch:) Hier! Hier in de Sofaecke! So. – Willste was trinken?

Sophie. Oder essen?

Konrad (zerstreut, blickt nach Hanna:) Danke. Danke. Habe ja erst vorhin . . . auf dem Bahnhof . . . Setz dich doch hierher, Hans.

Hanna (setzt sich schweigend auf den Stuhl neben ihm. Konrad nimmt ihre Hand und streichelt sie:) Nu . . .? Sieh mich doch mal an . . . ist es so?

Hanna (sieht ihn an:) – Ja. Ich – an all das – ich glaube nicht mehr recht daran. Das heißt – daß wir es noch erleben müßten. Sieh mal . . .

Eduard (brummig:) Hm? Und deshalb legt'se die Hände in'n Schoß. Schöner Grund!

Hanna. Ich – meine: ich tue vielleicht viel mehr, wenn ich . . . an mir, an mir selber . . . arbeite . . .

Eduard. Ja, ja – »man lebt bloß enmal« – nicht wahr?

Hanna. Der einzelne Mensch – ja. Und der hat 55 vielleicht . . . auch seinen Wert. (Etwas lebhafter:) Denn weißt du: das hab ich nun wirklich erfahren –: die Menschen im allgemeinen werden nicht besser dadurch, daß sie die Macht bekommen.

Konrad. Hans! Siehst du! Da erkenne ich dich so recht dran wieder! Immer tüfteln und spintisieren! Ach ich merk schon: das ist alles nur halb so schlimm: du bist doch immer noch meine alte, kreuzbrave und kluge, riesig kluge Hanna – wie?

Sophie. Ach, Konrad: sehn Sie: die Hauptsache is ja nur: sie hat ja zu viel Ärger gehabt. Wissen Sie: so'ne Jemeinheiten, wie da immer vorgekommen sind . . . na! Ich kann's ihr nich verdenken.

Eduard. Ach Unsinn!

Konrad (zu Hanna:) Wirklich?

Hanna. Ja – laß mich mal reden! – Sieh mal: wenn man schnell vorwärts geht – irgendwohin, auf ein bestimmtes Ziel los, das ganz nahe ist – oder man glaubt es wenigstens ganz nah – dann achtet man ja gar nicht so auf den Weg – man . . . geht eben frisch drauf los. – Aber wenn man nun auf einmal merkt oder erfährt: das . . . das Ziel ist gar nicht nahe – es ist noch weit, meilenweit – oder? – es gibt womöglich gar kein Ziel? – dann, siehst du, dann – bekümmert man sich plötzlich auch um den Weg – auf dem man geht. Und wenn man dann findet, daß der schmutzig ist – na! . . . Und doch! Du hast im Grunde ganz recht, ich bin gewiß dieselbe geblieben, wie früher, nur –

Konrad. Hm?

Hanna. Ich meine –: wenn man sich daran gewöhnt, über alles selber nachzudenken . . .

Eduard. Na ja! Da hast es! Det is so die rechte Höhe! »Über alles selber nachdenken!« Na, ick danke! Wenn das alle machen wollten – da könnte wat Nettes bei rauskommen!

Konrad. Aber laß sie doch aussprechen. Nun? Also, was ist dann, wenn man sich daran gewöhnt hat? 56

Hanna. Dann – nun, dann kommt man leicht zu neuen Ansichten – über –

Konrad. Worüber?

Hanna. Über alles. Über das ganze Leben . . . (Verlegen:) und so . . .

Konrad. Aber – es gibt doch auch – Sachen, denk ich, die – na, die nicht »Ansichtsachen« sind – wie?

Hanna (sieht ihm ins Gesicht. Nach kurzem Nachdenken:) Nein.

Konrad (will sprechen, schweigt betroffen.)

Eduard. Na nu hört aber mal auf! Klugschmusen könnt ihr immer noch! Sehe gar nich ein, was ihr euch gleich in der ersten Stunde in so'n ungemütliches Gerede rinredet. – (Zu Konrad:) Komm mal hier!

(Er steht dem Sofa gegenüber vor dem Tisch. Er winkt Konrad, aufzustehen und sich neben ihn zu stellen.)

Konrad (indem er gehorcht:) Was soll ich denn?

Eduard (legt ihm die rechte Hand auf die Schulter und zeigt mit der linken auf den Stahlstich, ein lebensgroßes Porträt Lassalles:) Sieh mal da! (Pathetisch: Dein Mobiliar!)

Konrad (erfreut:) Wahrhaftig! Da hängt es!

Eduard. Mehr haste nich jehabt.

Hanna (versucht sich zu entfernen.)

Sophie. Hanna, leucht doch mal!

Hanna (hält die Lampe in die Höhe.)

Konrad. O! Und einen neuen Rahmen scheint mein Mobiliar auch gekriegt zu haben.

Eduard. Na, natürlich. Das war ja nischt mit dem alten. Aber fein jetzt – was?

Konrad. Sehr . . .

Hanna (stellt die Lampe wieder hin.)

Eduard. In Plötzensee hatten sie dir woll keinen Lassalle an de Wand jehangen – was? Ja, ja! Darin sind se komisch! Was 'n richtiger Zimmerschmuck ist – davor haben se keen Verständnis. Das kann man nur zu Hause haben – bei Muttern.

Konrad. Ja freilich – zu Hause . . . (Er faßt wie dankend Eduards Hand und drückt sie. Leise:) »Zu Hause. 57 (Seufzt:) Aber Hanna – soll ich dir was sagen? Ich glaub es nicht. Ich – fühle mich doch noch nicht so recht – so wirklich zu Hause – eh du mir nicht . . . erst wieder . . . einen Kuß gege – (Da Hanna eine plötzliche Bewegung des Schreckens macht:) Hm? Was meinst du?

Sophie (nähert sich ängstlich und will sprechen. Auf einen fragenden Blick Eduards hält sie jedoch plötzlich inne.)

Hanna (tritt mit niedergeschlagenen Augen langsam näher. Schweigend bietet sie sich ihm an.)

Konrad (hat sie in atemloser Spannung beobachtet. Plötzlich laut, freudig:) Hanna! (Er umfaßt sie leidenschaftlich und küßt sie wiederholt:) Du – ach du! – du bist es ja doch noch! Meine Hanna, meine . . . meine . . .

Hanna (wird sich in seiner stürmischen Umarmung ihrer unsittlichen Feigheit bewußt. In größter Scham und Aufregung macht sie sich gewaltsam von ihm los. Keuchend:) Laß mich . . . laß . . . (Eilt nach hinten.)

(Pause.)

Konrad (bleibt starr vor Staunen stehen, sieht ihr nach und blickt dann die beiden Alten fragend an. Heiser:) Was – was bedeutet das?

Eduard (unwirsch:) Weiß ich's – was die wieder im Schädel hat! Ich sage ja –: kein Mensch wird mehr klug aus ihr. Überspanntes Frauenzimmer! (Deutet auf die Stirn:) Hier! Verstehste? Heiraten muß se. Is die höchste Pferdebahn! (Geht durchs Zimmer. Sein Ärger wächst.)

Sophie (macht sich verlegen zu schaffen.)

Eduard. Aber laß man gut sin! Wir werden ihr schon Räson beibringen! Deuwel auch! Was sich so'n Frauenzimmer einbildet! (Zu Sophie, barsch:) Ruf sie rein!

Sophie (bittend:) Ach, Ede: willste ihr nicht . . . Laß se doch man lieber zufrieden. Ihr fehlt jewiß wat.

Eduard. Ruf sie rin! sag ich. Paßt sich nicht: – so wegzulaufen. Keene Manier!

Sophie (geht zögernd nach hinten zur Tür.)

Konrad. Na, aber – wenn deine Frau meint, wollen wir sie nicht doch lieber erstmal . . . 58

Sophie (bleibt nah der Tür stehen.)

Konrad. Ich meine –: sie ist vielleicht nur so überrascht, so . . . ihre Nerven –

Eduard (aufbrausend, höhnisch wütend:) Nerven? (Gebieterische Handbewegung zur Tür.)

Sophie (ab.)

Eduard (durchs Zimmer gehend:) Ooch noch! Ne, mein Junge! Det jibt's nich! Hier bei mir zu Hause, weeß man, Jottlob, noch nischt von de Nerven. Weibermucken! Sowas müßte erst injeführt werden. – Hier heißt et parieren, verstehste! Parieren – und damit Schluß! So setz dich doch! (Rückt mit einer unwillig heftigen Bewegung einen Stuhl zurecht und setzt sich. Stopft sich eine kurze Pfeife. Pause.)

Konrad. Wieviel – verdient Hanna jetzt?

Eduard. Ach – und wennse tausend Dahler verdiente . . . Dat sind so'ne Ideen!

Konrad. Aber . . .

Eduard. Weß schon! Weß schon: du bist auch so einer. Wie der Wilke . . . quatscht ooch immer 'ne Naht zusammen von de »Frau–en–emen–zipa– tzion«! Ja – Kuchen! Möchte mal wissen, was das mit die Arbeitersache zu tun hat. Das einzige –: sie drücken die Löhne. Pä! Was gehen uns die Weiber an.

Konrad. Na, aber hör mal . . .

Eduard. Ne, weeßte: damit mußte mir nu nich kommen. – Später – wenn du mal so weit bist und die Hanna ist deine Frau – na, denn kannst es ja halten wie der Pfarrer Aßmann . . . denn kannste se meinswegen in Hosen rumloofen lassen. (Lacht ingrimmig und steckt sich seine Pfeife an:) Pä!

Konrad. Na, weeßte – mir is es nich zum Spaßen.

Eduard. Na, denkste vielleicht mir?

(Pause.)

Konrad (setzt sich hinter den Tisch.)

Eduard (sitzt vorn. Er trommelt mit der linken Hand auf den Tisch, von Konrad abgewandt.)

Konrad (aus seinen Gedanken heraus, indem er mit der Hand 59 auf den Tisch schlägt:) S' is doch kein Kind mehr! Mit ihre siebenundzwanzig Jahr . . . Und hat im kleinen Finger mehr Verstand, wie so'n Dutzend werte Jenossen in ihre sämtliche Dickschädel! – Na also! Wo darfste die denn nu so mir nichts dir nichts kommandieren wollen wie'n Lehrjungen!

Eduard. Ich bin ihr Vater. Basta.

Konrad. Aber Mensch! Wie kannste nu so was sagen! Also deshalb bist du ihr Herr!? Das is doch nichts Natürliches! Das is doch nur 'ne Folge von ganz schauderöse ökenomische Zustände! Grade von solche Zustände, wie wir sie umschmeißen wollen. Verstehste denn das nich?

Eduard (paffend:) Ne – ganz und gar nich.

Konrad. Na aber! Bedenk doch mal! Sieh mal: die Hanna . . . die kann doch sehr schön leben – nicht wahr? Du gibst ihr doch nichts dazu. – Na also. So is es doch bloß ihr guter Wille und weil sie euch gern hat und sie ist es auch so gewohnt – sonst – sie kann doch jede Stunde auf und davon gehn . . . und was willste denn da machen? Das ist doch 'ne ganz andre Sache, wie mit so'ne Burschoatochter. Die natürlich hat nichts gelernt und hat von der ganzen Welt keine Ahnung. Und wenn sie nicht zufällig einer nimmt und macht se zur Gnädigen . . . und der Vater macht mal die Augen zu – nu ja: dann sitzt sie da mit die Talente und mit's Klavierspielen, und kann froh sind, wenn sie noch irgendwo so als alte Junfernante unterkriechen kann. – – Siehste: bei so einer hat's en Sinn, wenn sie auch noch als 'ne ganz alte Schachtel Vatern parieren muß, wie 'n Rekrut. Was soll se denn machen? Se muß doch leben! – – Aber sind denn das etwa Verhältnisse, wie wir sie wollen? Ich dächte, da hätten wir sie selber schon besser. Denn das sind doch verrückte, das sind doch jradezu blödsinnige Zustände und so'n armes Mädchen kann einem doch bloß leid tun. Wie? 60

Eduard (raucht schweigend.)

Konrad. Freuen solltste dich, daß die Hanna so ganz anders dasteht! Siehste: das ist ja das Beste an ihr: diese Selbständigkeit! Das ist es ja grade, was ich so riesig an ihr verehre! Jawohl: verehre!

Eduard (verstockt:) Na – ich danke.

Konrad (hitzig:) Was denn! Das mußt du doch einsehen!

Eduard. Ne – das will nu jarnich in meinen verfluchten alten Schädel rin.

Konrad. Aber –

Eduard. Ja, ja – du kannst ja lange reden, eh mir was gefällt. – Meine Meinung is nu mal: Familie bleibt Familie – ob sie nu reich is – oder arm. Sonst hört ja alles auf. Du bist en Umstürzler.

Konrad (steht auf:) So! – Und meine Meinung is: tyrannisieren bleibt tyrannisieren, ob's nu von so'n Landjunker jemacht wird . . . mit de Hundepeitsche . . oder von 'n Vater, der sich einbildet Sozialdemokrat zu sein –

Eduard (gereizt, steht ebenfalls auf:) Nu hör aber auf! Deuwel auch, das ist . . .

Konrad (jähzornig:) Ach was: »Deuwel auch!« . . . Spießbürger seid ihr! Spießbürger alle zusammen, aber keine Sozialdemokraten!

Eduard (vor Wut sprachlos.)

Konrad (in großer Erregung:) Es ist wirklich . . . es, es kommt wie gerufen! Gleich am ersten Tage . . . gleich in den ersten Stunden . . . wo ich noch kaum raus bin aus dem Kasten . . . gleich muß ich es wieder so recht mit Händen greifen . . . dieses jammervolle Philistertum, dieses, dieses ä! Das kann ich dir sagen, Jagert –: hätt ich vor fünf Jahren, wo ich in die Bewegung eintrat, all das gewußt, was ich jetzt –

(Man hört im hinteren Zimmer einen Stuhl fallen. Konrad hält inne und sieht nach hinten.)

Hanna (erscheint, hastig. Sie trägt eine Reisetasche, die sie auf einen Stuhl stellt.) 61

Sophie (kommt weinend hinter ihr her.)

Eduard (hat während der letzten hitzig hervorgestoßenen Worte Konrads verschiedentlich zum Sprechen angesetzt. Durch das plötzliche Geräusch und das Auftreten Hannas ist auch er abgelenkt. Zu Sophie:) Na, was is denn?

Sophie (flehentlich:) Laß sie zu Bett gehen, Ede! Bitte! Sie ist krank. Sie weiß gar nicht, was sie will, sie . . . sie . . .

Konrad (hat ausschließlich Hanna beobachtet. Er tritt ihr näher:) Hanna – du – hast mir was zu sagen.

Hanna (sehr bleich, aber fest und sicher. Sie erwidert seinen Blick und hält ihn aus:) – Ja!

(Pause.)

Hanna (kommt langsam nach vorn:) Es war feige von mir . . vorhin, mein Benehmen. Wie die Dinge nun einmal liegen . . . muß ich . . . Aber glaube mir: es gehört Mut dazu. – Daß ich dir nicht ins Gefängnis geschrieben habe . . . das wirst du wohl verstehn. Wir dachten ja alle, du würdest noch ein Jahr dort bleiben, und da wollt ich dir erst schreiben . . . kurz vor der Entlassung . . .

Konrad (vor Angst bebend. Leise:) Hanna!

Hanna (ringt mit ihrer Kraft.)

Eduard (schlägt sich vor den Kopf:) Bin ich denn verrückt? Wo zum Deuwel soll denn das hinaus?'

Hanna (mit einer ruhig abwehrenden Gebärde, den Blick auf Konrad gerichtet:) Laß mich jetzt, Vater! – Erinnere dich, Konrad, wie es damals –

Konrad (von einer plötzlichen Schwäche befallen, muß sich an den Tisch stützen.)

Hanna (mitleidig:) Ach, siehst du – dir ist nicht wohl. Mutter . . .

Sophie (jammernd:) Könnt ihr's denn nu wirklich nich bis morgen lassen. Konrad, Sie haben doch heute nun schon so ville durchgemacht . . .

Konrad (energisch:) Nein, nein, nein. Sprich nur: sprich nur weiter! – Also: woran soll ich mich erinnern? 62

Hanna (zögernd:) Daran, wie . . . es damals eigentlich war. Ich meine: wie es so zugegangen ist . . . daß wir uns . . . verlobten.

Konrad, (der sich im folgenden mühsam aufrecht erhält, nervös:) O das weiß ich, das weiß ich . . . Ich habe Zeit gehabt . . . ich habe auch Gelegenheit gehabt . . . darüber nachzudenken . . . Nu?

Hanna. Damals, wo ich noch so ganz und gar im Parteileben aufging – kaum etwas anderes kannte – da warst du für mich – ein Genosse. Ein Genosse, für den ich die größte Verehrung hatte, den ich als seine Schülerin bewunderte. Dagegen – als Weib . . .

Konrad. Nun – »als Weib«?

Hanna. Ach, Konrad: es ist so furchtbar schwer . . . für zwei Menschen . . . sich zu verständigen . . . nach Jahren, wenn der eine sich während der Zeit weiter entwickelt hat . . . und der andere . . .

Konrad. . . . ist der alte geblieben. Ja.

Hanna. Also sieh. Das hab ich dir ja auch damals nie verhehlt, daß ich nicht so wie du . . . Ich dachte eben: ich wäre darin überhaupt anders, und solche leidenschaftlichen Gefühle wären mir nun mal versagt. Das glaub ich auch jetzt noch, und: ich bin darin immer ehrlich gewesen . . . gegen dich – und gegen mich auch.

Konrad. – Ja.

Hanna. Nun waren wir aber zusammen tätig . . . für dieselbe Sache . . . mit denselben Idealen . . . und dazu –: unter demselben Druck. So rückten wir zusammen und gewöhnten uns aneinander. Und weil wir so vieles gemeinschaftlich hofften, fürchteten und liebten – vergaßen wir wohl, daß es sich um etwas anderes, Drittes, um etwas außer uns handle – und nicht um uns selber. Verstehst du mich?

Konrad. – Ja.

Hanna. Es ist nötig, Konrad, daß du mich verstehst. Sieh: du warst mein Kamerad . . . fast stets mein Nebenmann . . . in all der Arbeit, die wir beide 63 für etwas Hohes, für etwas Heiliges hielten. Und wie sah ich zu dir auf, zu deinem ehrlichen, unerschütterlichen Mannesmut, zu deinem festen Glauben – ja! –: zu dem besonders! Der war mir das Wertvollste.

Konrad. – Weiter.

Hanna (leise:) So . . . haben wir uns verlobt.

Konrad (krampfhaft, heftig:) So? Nein! So nicht. Ich nicht! Ich ganz gewiß nicht! Bei mir ging's nicht so vornehm zu. Viel gewöhnlicher, viel einfacher. Ja – ganz simpel! Du mußt es wirklich schon verzeihn: ich – ich verliebte mich in dich – ich! Nimm's nicht übel. Das war ja damals, damals . . . und ich habe mich inzwischen nicht so – entwickeln können – wie du!

Hanna. Konrad! Du –

Eduard (zu der leise schluchzenden Sophie:) Laß das Heulen! Verdammt! Paß auf! Hier kannst du was lernen.

Konrad (immer nervöser:) Aber natürlich: du – du bist über so was erhaben! Was wäre denn das so Besonderes! Eine . . . Liebe . . . eine einfache natürliche Empfindung . . . I Gott bewahre! So was hätt'st du ja schließlich mit jedem andern Frauenzimmer gemein – und Hanna – Hanna muß doch was Apartes haben. Hanna kann doch nicht . . .

Eduard (einfallend:) Siehste! Siehste! Da hast es mit deiner Selbständigkeit! Jawoll! hochnäsig! hochnäsig – und dabei kalt wie 'ne Hundeschnauze . . . Da hast es!

Konrad. Und . . . und . . . ist das nun alles?

Hanna leise: Nein. Vor einem Jahr etwa . . . lernte ich einen Mann kennen. Der hat mich nach und nach zu einem ganz – ganz anderen Menschen gemacht. Und – ich habe mich ihm mit Leib und Seele hingeben müssen. Er . . .

Konrad (schlägt ein lautes Gelächter auf, aus dem er allmählich in ein krankhaftes Weinen übergeht.)

Hanna (ohne jemanden anzusehn, wie für sich, bekennend, fest:) Ich tat, was ich mußte. Ich konnte nicht anders. 64

Eduard (packt Sophie am Arm und schüttelt sie:) Hast es gehört, Alte? Hast's gehört? Schämst du dich nicht? Es ist deine Tochter!

Konrad. Betrügen! Mich zu betrügen, während ich . . . während ich . . . Oh wie niedrig! . . . Also das war es! Das! Dazu die vielen klugen Worte! Weiß Gott, ja: du hast viel Verstand! Du bringst es fertig, die größten Gemeinheiten vor dir selber zu rechtfertigen! Das bringst du fertig. (Rauh:) Wer is es? Wie heißt er? Kenn ich ihn?

Hanna. Nein.

Konrad. Na – was nich is, kann ja noch werden. Also, wie heißt er?

Hanna. Könitz . . . Alexander Könitz.

Konrad. Und was is er?

Hanna (zögernd:) Er . . . er ist Chemiker.

Konrad. Chemiker? Chemiker. Nu ja . . . aber, was, was heißt das? Wo arbeitet er denn? In welcher Fabrik, oder – – – He?

Hanna. Er hat . . . selber eine . . . Fabrik.

Konrad. Hat se . . .? Fa – brikbesitzer?! (Einen Augenblick sprachlos. Dann mit tollem, rohem Lachen, brutal:) Bravo! Vorzüglich! Fabrikbesitzer! Auch das noch! Also daher das viele Geld – verkauft hast du dich, richtig verkauft! Na ja –: deinen Bräutigam hielten sie ja fest – der saß. Da bist du – zu ihnen hingegangen und, und . . . und hast dir eine Mitgift verdient, du . . . (In sinnloser Wut auf sie los:) du . . . Er hebt die Hand gegen sie. (Sie sieht ihn ruhig an. Er taumelt plötzlich. Kreischend:) Eduard! (Er fällt.)

Eduard (springt ihm bei und fängt ihn auf.)

Sophie (losjammernd:) Ach Jott, ach Jott, ach . . .

Eduard. Wasser, Alte.

Sophie (läuft nach hinten ab.)

Hanna (hat bereits vom Tisch die Karaffe geholt und will sie ihrem Vater reichen:) Hier!

Eduard (stößt sie roh zurück:) Weg! Weg, du . . . (Er schlägt ihr die Karaffe aus der Hand, daß die auf der Erde zerschellt.) 65

Sophie (kommt mit dem Waschbecken und einem Handtuch. Weinerlich:) Ne, ne . . . was er aber auch heute schon alles hat durchmachen müssen . . . ne, ne . . . (Sieht die Scherben:) Ach Gott, was is denn das nu wieder . . (Sucht die Scherben zusammen.)

Eduard (legt Konrad ein nasses Handtuch auf die Stirn. Zwischen den Zähnen:) Armer Kerl! So'n Luder . . .

Hanna (hat sich zum Fortgehen angezogen, die Reisetasche genommen. Leise, fast demütig:) Mutter, adieu . . .

Sophie (zittert, aber wendet sich nicht um.)

Hanna. Mutter . . .

Eduard. Raus mit dir!

Sophie (wendet sich unwillkürlich nach Hanna um. Als diese sich aber nähern will, streckt sie beide Hände wie abwehrend gegen sie aus.)

Hanna (in großem Schmerz:) Mutter!

Eduard. Er kommt zu sich! – Hinaus, sag ich!

Hanna (tonlos, wie gedankenlos:) Hinaus. (Sie zuckt heftig zusammen und geht schnell rechts ab.)

Sophie (bricht, sobald Hanna die Tür zuschlägt, in ein bitterliches Weinen aus.)

Konrad (zu sich kommend:) Hm, hm . . . Wer . . . weint da?

Sophie. Ich . . .

Konrad. Wo . . . wo ist . . . Hanna?

Eduard (ihn aufrichtend:) Fort. – Komm! Wir wollen nicht mehr an sie denken.

Konrad (matt:) Doch – doch. Ich . . . habe noch mit ihr . . . abzurechnen. Und mit ihm – auch!

(Vorhang) 66

 


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