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Auf der äußersten Spitze der sandigen Halbinsel, welche an der Stelle liegt, wo die Bai von San Francisco mit dem Stillen Ozean zusammenfließt, stand zur Zeit der ersten Einwanderung nach Kalifornien ein optischer Küstentelegraph. Er hob seine schwarzen Arme gen Himmel, kehrte den Rücken dem Goldenen Thor und der ganzen ungeheuern Wasserfläche zu, deren nächstes Ufer Japan ist, und verkündete einem zweiten Semaphor, das weiter landeinwärts stand, durch gewisse kunstlose Zeichen, was für Fahrzeuge ankamen. Von dort ging die Nachricht nach dem Telegraphenhügel in San Francisco, wo die nämlichen Signale auf einem dritten Semaphor sichtbar wurden, so daß jeder Eingeweihte ›Schoner‹, ›Brigg‹, ›Segelschiff‹ oder ›Dampfboot‹ lesen konnte. Mit letzterem Zeichen waren besonders alle Heimwehkranken in San Francisco wohl vertraut, und an gewissen Tagen im Monat wandten sich viele Blicke sehnsüchtig nach den großen Armen hin. Wenn sie weit ausgebreitet im rechten Winkel standen, so bedeutete das: ›Raddampfer‹ und ›Briefe aus der Heimat‹; kein anderes Dampfschiff beförderte die Post. Lauter Jubel begrüßte jedesmal die Freudenbotschaft, aber nur wenige gedachten dabei des einsamen Wächters auf der Sanddüne, der sie abschickte; man wußte ja kaum etwas von dem Vorhandensein jener abgelegenen Telegraphenstation.

Sie lag in der trostlosesten Einöde, die man sich vorstellen kann. Kein Bewohner von San Francisco wanderte je weiter hinaus, als bis zum Presidio, das sich mit seinen stummen Kanonen und den leeren Schießscharten in einer Bodensenkung verbarg, oder bis nach der Mission Dolores, deren verfallene Mauern samt dem Glockenturm in eben solcher Vertiefung lagen. Den berühmten Vergnügungsort Cliff House gab es damals noch ebensowenig wie Fort Point, und von Black Point aus sah man auf dem Ufer der Ziegeninsel, ›Yerba Buena‹, oder in der Umgegend von San Francisco selbst, nichts als glitzernde Sanddünen, über die der Wind fegte, und hier und da einen Wassergraben, aus dem nur die Kronen der schwarzen Zwergeichen hervorragten. Sechs Monate lang sandte die Sommersonne hier ihre glühenden Strahlen aus dem wolkenlosen Himmel herab; sechs Monate lang stürmten dann die Passatwinde vom Westen wild einher; unablässig kamen die breiten Wogen des Stillen Ozeans herangerollt, um sich mit einförmigem Geräusch am Ufer zu brechen. Bei Tage war es fast unmöglich durch den Treibsand zu waten und dem rasenden Winde zu trotzen; bei Nacht hüllte der dichte Nebel, der sich um Sonnenuntergang leise durch das Goldene Thor stahl, alles in undurchdringliche Schleier. Bis zum Morgen waren dann Meer und Land eine pfadlose Wüste und nur die unsichtbare Brandung erhob ihre Warnungsstimme mit Donnergetöse.

Die Telegraphenstation selbst, eine roh gezimmerte Hütte mit zwei Fenstern – in dem einen war das Teleskop angebracht – sah aus wie ein gestrandetes Wrack, das die Flut ans Ufer gespült hat, oder wie ein Haufen Treibholz. Meilenweit ragte kein Gegenstand über die wellenförmigen Dünen hinaus, außer dem Semaphor, das je nach dem Wetter oder der Tageszeit eine mehr oder minder düstere Form annahm. Bald glich es einem entblätterten Baum, bald den Masten und Spieren eines auf den Strand gezogenen Schiffs, bald einem verwitterten Galgen. Streckte es aber die Arme im rechten Winkel aus und hob sich dabei von einem goldigen Hintergrund ab, wenn die Sonne in der Bai unterging, so hätte eine lebhafte Einbildungskraft es leicht für das Erlöserkreuz halten können, welches der begeisterte Missionar Portala vor hundert Jahren an jener heidnischen Küste aufgerichtet hat.

In so hoffnungsvoller Gestalt war es aber dem einsamen Stationswächter Richard Jarman schwerlich je erschienen. Aus einer britischen Verbrecherkolonie entflohen, hatte sich der Sträfling im Packraum eines australischen Schiffes als blinder Passagier eingeschmuggelt und war ohne einen Heller in der Tasche in San Francisco gelandet. Natürlich vermied er jede Berührung mit seinen rechtschaffeneren Landsleuten, die sich schon länger dort aufhielten, weil er sich keinen Augenblick sicher wußte. Es war sein Glück, daß die englischen Einwanderer ohne Ausnahme zu den Goldsuchern gehörten, die nach Sacramento und den südlichen Minenbezirken zogen. Jarman war klug genug der Versuchung zu widerstehen, ihnen dahin zu folgen; statt dessen nahm er die Stelle eines Semaphor-Wächters an, die erste, welche sich ihm bot. Kein Bewerber machte sie ihm streitig, denn selbst der armseligste Einwanderer, den goldene Träume umgaukelten, würde sie verschmäht haben, während Jarman sich nichts Besseres hätte wünschen können.

Seine Vorgesetzten thaten weder verfängliche Fragen, noch verlangten sie irgend welche Empfehlungen. Einen Vertrauensposten konnte man es ja auch kaum nennen, es war nichts da, was man hätte entwenden können, außer dem Teleskop; Versuchungen oder schlechte Gesellschaft gab es für den Mann dort in der Einsamkeit nicht, seine Obliegenheiten waren rein mechanischer Natur und jede Versäumnis, die er sich zu Schulden kommen ließ, müßte sofort in San Francisco bemerkt werden. Außer Kost und Wohnung versprach man ihm monatlich fünfundsiebzig Dollars, eine lächerlich kleine Summe in jenen flotten Tagen, die aber dem geängsteten und halbverhungerten Flüchtling wie ein fürstlicher Gehalt vorkam.

Ueberdies winkte ihm endlich Ruhe und Sicherheit. Von der quälenden Sorge und Furcht vor Entdeckung, die ihn seit drei Monaten Tag und Nacht verfolgte, war er erlöst. Er brauchte nicht mehr unausgesetzt zu wachen und auf der Lauer zu sein; die Wächterhütte bot ihm eine Zuflucht, in der er sich verkroch wie ein gehetztes Wild in seiner Höhle. Daß ihn hier irgend jemand aufspüren würde, schien undenkbar; er entging seinen Feinden und war zugleich der Schmach überhoben, einem ihm befreundeten Menschen zu begegnen, bis er von Freund und Feind vergessen war. Von seinem Beobachtungsposten in jener Einöde konnte er auf zwei bis drei Meilen jeden Fremden sehen, der sich der Hütte näherte. Und im schlimmsten Fall, wenn er doch verfolgt werden sollte, so lag ja die pfadlose Sandwüste vor ihm und das weite Meer.

Ungesehen und unbehelligt beobachtete er zuweilen mit einer gewissen Befriedigung das Verdeck der vorbeifahrenden Schiffe. Sein Fernglas brachte ihn doch wieder mit der Welt in Beziehung, die ihn ausgestoßen hatte. Ob unter den Passagieren wohl jemand den einsamen Wächter kannte oder von seinen Missethaten gehört hatte? so fragte er sich oft in düsterm Sinnen. Es würde seine Stimmung nicht heiterer gemacht haben, hätte er gewußt, daß die meisten Menschen, deren Blicke mit so heißem Verlangen nach dem goldenen Hafen ausschauten, nur an sich selber dachten. Nicht ohne Neid betrachtete er die Gesichter auf den wenigen heimwärts segelnden Schiffen, um darin zu lesen, ob sie ihr Glück gefunden hätten. Auch er dachte bisweilen – wenn auch nur selten – an seine Heimat und sein früheres Leben. Es war keine glorreiche Vergangenheit. Seine verschwenderische, genußsüchtige Jugend hatte ihn zu Betrug und Fälschung geführt, und so war er für immer aus seiner alten, ehrbaren Heimatstadt verbannt. Daß die Seinigen glaubten und wünschten, daß er tot wäre – das wußte er. Aber, obschon er ohne Freude an seine Vergangenheit dachte, so quälte ihn doch auch die Reue wenig. Wie die meisten Menschen seines Schlages schob er die Schuld auf andere Leute, auf sein Mißgeschick, auf den Zufall – sich selbst machte er niemals dafür verantwortlich. Sein Unrecht war ihm nicht leid, er wollte nur ein andermal klüger sein. Und lebendig sollten sie ihn nicht wieder fangen!

In völlig einförmiger Weise vergingen ihm zwei oder drei Monate, in denen er wieder einigermaßen zu Kräften kam und neuen Mut faßte. Sein Auge verlor den versteckten, ruhelos lauernden Ausdruck; die kräftige Seeluft und die glühende Sonne bräunten sein Gesicht und gaben ihm die gesunde Farbe und das freimütige Aussehen eines Matrosen. Die Gewohnheit den Horizont zu durchforschen hatte auch sein Auge geschärft; mit Leichtigkeit unterschied er jetzt den langsam an der Küste kreuzenden Schoner von dem weit ausgreifenden Kauffahrteischiff, das vom Kap Horn kam; auch die schwache Dunstlinie, welche den Dampfer ankündigte, entdeckte er bevor noch Masten und Schornsteine sichtbar wurden.

Außer dem Schiffer, der ihm allwöchentlich seinen Vorrat an Lebensmitteln im Kahn herüberbrachte und in der kleinen nahgelegenen Bucht landete, sah er keine Menschenseele. Sein abweisendes, verschlossenes Wesen hielt der Schiffer für englischen Hochmut und kümmerte sich wenig um einen Mann, der nicht einmal fragte, ob es etwas Neues gäbe und an den er niemals Briefe abzugeben hatte. Zuerst brachten die langen Nächte, wenn die Hütte im Nebel verschwand, dem Flüchtling ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit, allmählich lastete jedoch ihre furchtbare Einförmigkeit schwer auf ihm und versetzte ihn in eine sonderbare Ruhelosigkeit, die er durch Branntweingenuß zu bekämpfen suchte. Dies Getränk, das ihm geliefert wurde, dämpfte seine erregten Sinne, doch sorgte er dafür, daß es ihn niemals an der mechanischen Ausübung seiner Pflichten hinderte.

Fünf Monate war er nun schon auf dem Posten, und die Hügel am jenseitigen Ufer bis nach Tamalpais hin, begannen sich gelb und rot zu färben; da beobachtete er an einem klaren Morgen die kleine Flotte der italienischen Fischerboote, welche in der Bai kreuzten. Dies war stets ein höchst malerisches Schauspiel, das einzige vielleicht, welches etwas Abwechslung in die sonst eintönige Aussicht brachte. Die absonderlichen, mattroten oder gelben lateinischen Segel, die sich grell von dem funkelnden Wasserspiegel abhoben, dazu die Fischer mit ihren roten Kappen und Schärpen, fesselten die Aufmerksamkeit unwillkürlich. Plötzlich änderte eine der größeren Barken ihren Kurs und kam gerade auf die kleine Bucht losgesteuert, wo Jarmans wöchentlicher Proviantkahn zu landen pflegte. Sofort wurde Jarmans Argwohn rege, er musterte das Fahrzeug aufs genauste durch sein Fernglas, erkannte jedoch, daß sich außer den Bootsleuten nur noch ein paar Frauen auf Deck befanden, die vermutlich zur Familie des Fischers gehörten. Bald sah er die ganze Gesellschaft am Ufer aussteigen und als er bemerkte, daß sie nur einen harmlosen und friedlichen Streifzug vorhatten, schlug er sich alle Bedenken aus dem Sinn.

Die Fremden wanderten unter lebhaften Gebärden lachend und scherzend durch den Ufersand; sie hatten Kochgeschirr mitgebracht, zündeten ein Feuer an und bereiteten ihr einfaches Mahl. Offenbar war ihnen das Semaphor etwas Neues, denn Jarman sah, daß es immer wieder ihre Aufmerksamkeit erregte. Da er gerade die Ankunft eines Fahrzeugs signalisieren mußte, wagten sich die Kinder sogar mit halb ängstlicher Neugierde näher heran, um zu sehen, wie sich die großen Arme bewegten, während die Erwachsenen von ferne standen, als fürchteten sie, unbefugterweise den Grund und Boden der Regierung zu betreten, über den die Polizei sicherlich im geheimen wachte. Nach einigen Tagen entdeckte der Wächter mit Ueberraschung an der nämlichen Uferstelle einen Haufen Bauholz, der wohl im Morgennebel gelandet worden war. Tags darauf erhob sich dort ein altes Zelt und die Fischer begannen daneben eine rohe Hütte zu zimmern. Soviel Jarman wußte war jener Landstreifen öffentliches Eigentum und man würde die armen Ansiedler dort aller Wahrscheinlichkeit nach eine Zeitlang ruhig gewähren lassen. Der Gedanke beschäftigte ihn sehr. Die Leute waren zwar Ausländer und über eine halbe Meile von ihm entfernt, aber bei dem gesetzlosen Zustand der hier herrschte, konnte ihr Beispiel leicht andere ermutigen sich gleichfalls in dieser Gegend niederzulassen. Dem mußte Einhalt gethan werden. Diesmal stand Richard Jarman ganz auf seiten von Gesetz und Ordnung.

Als jedoch die armselige Hütte fertig war, überzeugte er sich, daß sie dem Fischer und seiner Familie nur vorübergehend als Obdach dienen sollte; vermutlich fanden sie es bequemer, dort ihre Vorräte unterzubringen und das Boot segelfertig zu machen als auf der Werft von San Francisco. Es war ein ganz malerischer Anblick, wenn sie ihre Netze und Segel am Ufer ausbesserten, denn trotz der scharfen Nordwestwinde verlockten die wolkenlosen, sonnigen Tage die Italiener ihr heimatliches Leben im Freien hier wieder zu beginnen. Sie schwelgten nicht nur im Sonnenschein sondern verrichteten auch viele ihrer wirtschaftlichen Obliegenheiten außerhalb des Hauses, sogar ihre Toilette wurde al fresco vorgenommen. In die öde Gegend, die in ihrem Rücken lag, weiter vorzudringen hatte offenbar keinen Reiz für sie; aus halb amphibienartiger Gewohnheit blieben sie am Uferrande. Jarman hatte in den ersten Tagen auf seinen kurzen Spaziergängen eine andere Richtung eingeschlagen, aber bald hielt er es für unnötig den Ort zu vermeiden, ja er vergaß zuweilen völlig, daß die Leute in der Nähe waren.

Als er eines Morgens sein Frühstück eingenommen hatte, begann sich der Nebel gerade zu teilen und er konnte vom Fenster aus das ferne Meer glitzern sehen. Er wollte Wasser aus dem Faß draußen holen, das einmal wöchentlich von Sancelito aus gefüllt werden mußte, da es in seiner Nachbarschaft keine Quelle gab. Doch blieb er vor Schrecken wie angewurzelt stehen, denn beim Oeffnen der Thür sah er sich einem jungen Mädchen gegenüber, das mit halb ängstlichem Lachen vor ihm zurückprallte. Als sie jedoch seine sichtliche Verwirrung bemerkte, faßte sie wieder Mut.

»Ich wollt' mir nur eben mal das Ding ansehen,« sagte sie schüchtern und deutete nach dem Semaphor.

Sein Staunen wuchs, denn als er ihre Olivenfarbe und die dunkeln Augen sah, hatte er geglaubt, sie würde italienisch reden oder seine Sprache radebrechen; auch ihre Schönheit machte ihm großen Eindruck, vielleicht weil er so lange mit keinem weiblichen Wesen verkehrt hatte. Nach einer Weile stammelte er zögernd:

»Wollt Ihr nicht eintreten?«

Sie wich noch einen Schritt zurück und machte eine abwehrende Gebärde, nicht nur mit der Hand sondern auch mit dem Kopf und der ganzen biegsamen Gestalt. Dann erwiderte sie in echt amerikanischer Betonung:

»Nein, Herr!«

»Warum nicht?« fragte Jarman unwillkürlich.

Das Mädchen schob sich seitwärts gegen die Hütte und in ihren Augen, die sie fest auf ihn heftete, lag ein gewisser Ausdruck jugendlicher Schlauheit, als sie erwiderte:

»Das wißt Ihr doch!«

»Nein, wirklich nicht. Sagt mir den Grund.«

Da legte sie die Hände auf den Rücken und richtete sich nicht ohne kindlichen Stolz empor:

»Solche Sorte Mädchen bin ich nicht,« sagte sie einfach.

Jarman stieg alles Blut ins Gesicht. Er hatte ein wüstes, ausschweifendes Leben geführt und die Weiber wenig geachtet, aber – dies verletzte sein Ehrgefühl und empörte ihn auch, weil er wußte, daß er mit ganz andern Dingen beschäftigt war und an nichts Arges gedacht hatte.

»Nun so laßt's bleiben,« entgegnete er kurz und trat wieder in die Hütte. Aber schon im nächsten Augenblick besann er sich, daß er ein Thor gewesen war seinen Aerger zu zeigen, der falsch ausgelegt werden konnte. Er kam wieder heraus, warf aber kaum einen Blick auf das Mädchen, das sich langsam entfernen wollte.

»Soll ich Euch erklären wie man das Ding handhaben muß?« fragte er in gleichgültigem Ton. »Zeigen kann ich's Euch nur, wenn gerade ein Schiff vorbeifährt.«

In den Augen des Mädchens, die sie ihm jetzt wieder zuwandte, schimmerte ein sanfter Glanz. »Bitte,« erwiderte sie mit freundlichem Lächeln, wobei ihre weißen Zähne blitzten, »wenn Ihr so gut sein wollt.«

Sie war doch sehr hübsch und voll kindlicher Einfalt, obgleich sie ihm jene Antwort gegeben hatte. Während ihr Jarman kurz und bündig auseinandersetzte, was die verschiedenen Bewegungen der Arme des Semaphors bedeuteten, hielt sie den Kopf, auf dem das bunte Käppchen saß, gleich einem aufmerksamen Vögelchen ein wenig zur Seite geneigt und machte unwillkürlich mit ihren Armen alle Zeichen nach. Ihr Gebärdenspiel war entschieden italienisch, wenn sie auch ganz wie eine Amerikanerin sprach.

»Und wenn die Schiffer das Zeichen sehen,« rief sie triumphierend als er schwieg, »dann wissen sie, daß sie in den Hafen kommen!«

Jarman lächelte – das hatte er so lange er dort war noch nie gethan. Er berichtigte den Irrtum, in den sie im Eifer ihr Verständnis zu zeigen verfallen war und ließ sie durch das Teleskop nach dem zweiten Semaphor schauen, das landeinwärts wie eine dünne schwarze Linie auf dem fernen Hügel stand. Dann erklärte er ihr auch, daß dies Instrument seine Zeichen nach San Francisco weiter schicke.

»Wirklich! Und ich dachte immer es wäre ein Kreuz, das man auf dem einsamen Bergkirchhof aufgerichtet hat.«

»Ihr seid katholisch?«

»Jawohl.«

»Und eine Italienerin?«

»Vater stammt aus Italien; doch ich bin Amerikanerin, wie meine verstorbene Mutter.«

»Der Fischer dort drüben ist wohl Euer Vater?«

»Ja – aber sein Boot ist größer als alle anderen,« entgegnete sie nicht ohne Stolz.

»Und nur Ihr seid hier am Ufer und Eure Angehörigen?«

»Manchmal kommt Mark auch,« sagte sie mit halb verlegenem Lachen.

»Mark? Wer ist denn das?« stieß er rasch hervor.

Er dachte nur an die Möglichkeit einer Entdeckung durch die Fremden und des Mädchens verschämtes, etwas geziertes Gebahren entging ihm gänzlich.

»Eigentlich heißt er Marco Franti – aber ich nenne ihn ›Mark‹; es ist derselbe Name, wißt Ihr, und es ärgert ihn.«

»Also auch ein Italiener,« sagte Jarman sichtlich erleichtert, ohne auf ihre kokette Schalkhaftigkeit zu achten. »Und Euer eigener Name – den weiß ich noch nicht.«

»Cara,« antwortete sie und wandte sich etwas verlegen beiseite.

»Cara – nicht wahr, das heißt ›lieb‹ auf Italienisch.«

Seine früheren Opernbesuche fielen ihm ein.

»Ja, aber es ist nur eine Abkürzung von Carlotta, oder Charlotte. Manche Mädchen nennen mich auch ›Charley‹,« fügte sie rasch in wegwerfendem Ton hinzu.

»Also Cara oder Carlotta Franti.«

Zu seiner Verwunderung brach sie in ein lustiges Gelächter aus.

»Oho, soweit ist's noch nicht. Franti ist Marks Name. Ich heiße Murano – Carlotta Murano. Lebt wohl.« Sie eilte fort, stand dann plötzlich still und rief: »Ich komme noch mal wieder, wenn das Ding in Bewegung ist.« Nach einem flüchtigen Kopfnicken sprang sie davon und Jarman schaute ihr nach. In der feuchten Seeluft schmiegte sich das dünne Kattunkleid dicht an ihre schlanke Gestalt, auch kamen dann und wann die nackten Knöchel zum Vorschein, da ihre Füße ohne Strümpfe in Schuhen aus Segeltuch steckten.

Als er wieder in die Hütte trat, nahm ein näherkommendes Fahrzeug seine Aufmerksamkeit sofort in Anspruch. Während er das Signal gab, erwartete er jeden Augenblick, daß das Mädchen zurückkehren und ihm zusehen werde. Allein vergebens – sie war schon hinter den Sanddünen verschwunden. Doch glaubte er noch immer den Wiederhall von seiner und ihrer Stimme in der Hütte zu hören, wo so lange dumpfes Schweigen geherrscht hatte; bei jedem Laut, den er vernahm, fuhr er erschreckt zusammen. Zum erstenmal fiel ihm jetzt auch die entsetzliche Unordnung und Unsauberkeit in dem Raum auf, wo er allein schaltete. Es kam ihm unbegreiflich vor, daß er bisher in einem Winkel gewohnt hatte, wo Bett und Ofen standen und alle Küchengeräte umherlagen. Sofort begann er die scheunenartige Stube aufzuräumen und alles in eine bestimmte Form und Ordnung zu bringen, wie er es als Sträfling gewohnt gewesen. Aus der Bettdecke machte er eine harte Rolle am Kopfende des Lagers; die Pfannen und Tiegel kratzte er aus und scheuerte sogar den Fußboden, worauf er die noch halb nassen Dielen mit reinem trockenen Sand bestreute, der von der Mittagssonne durchwärmt war. Bei diesen häuslichen Verrichtungen mußte er auch den kleinen Spiegel umhängen; da warf er zum erstenmal seit langer Zeit einen Blick hinein und sein wirrer, zottiger Bart mißfiel ihm. Während der Fahrt von Australien hatte er ihn wachsen lassen und ihn seitdem nicht abgenommen, um sich unkenntlich zu machen. Doch jetzt rasierte er sich mit Sorgfalt und ließ nur den Schnurrbart stehen. Aus dem Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war bei dem monatelangen gesunden Leben im Freien jede Spur seiner früheren Ausschweifungen und Laster verschwunden.

Den ganzen folgenden Tag dachte Jarman an seine schöne Besucherin und wiederholte sich im stillen oft mit bedeutungsvollem Lächeln ihre sonderbare Aeußerung, daß sie nicht ›solche Sorte Mädchen‹ sei. Sie mochte wohl gelernt haben, für sich selbst zu sorgen, denn bei ihrer wunderhübschen Erscheinung war sie ohne Zweifel häufig lästigen Aufmerksamkeiten seitens der Fischer oder der rohen Menge auf der Werft von San Francisco ausgesetzt. Vielleicht hatte ihr Vater sie aus diesem Grunde hergebracht. Als der Tag verfloß ohne daß sie wiederkam, ging es ihm im Kopf herum, ob er ihr am Ende unhöflich begegnet wäre. Er hatte ihre unschuldige Aeußerung doch wohl zu ernsthaft genommen, statt wie sie erwartete, darüber zu lachen; sie mußte ihn für dumm und schwerfällig halten, daß er die günstige Gelegenheit so verscherzte. – Aber nein, nein – das alte Leben und Treiben wollte er um keinen Preis wieder anfangen. Die Schrecken seiner Gefangenschaft und seiner Flucht waren ihm allzufrisch in der Erinnerung; er fühlte sich noch durchaus nicht sicher. Möglich, daß er in seiner Einsamkeit und Verlassenheit ein einfältiger Hasenfuß geworden war! –

Tags darauf spähte er durch das Fernglas nach ihr aus und sah sie mit den Kindern am Strande spielen; sie kam ihm wie eine Nymphe, wie das Bild kindlicher Unschuld vor. Vielleicht hatte sie gerade deshalb besondern Reiz für ihn, weil sie nicht ›solche Sorte Mädchen‹ war. Er lachte bitter. Es war ja auch komisch, daß er, ein entflohener Sträfling, sich zu der ehrlichen Einfalt und Unschuld hingezogen fühlte. Doch wußte er ganz bestimmt, daß er nichts Böses im Sinn gehabt hatte, als er sie anredete. Das sagte er sich immer wieder; es erfüllte ihn mit seltsamem Stolz und er machte sich ein ganz lächerliches Verdienst daraus. Woran hatte sie denn aber Anstoß genommen? – Etwa an seiner Person? – Zum Henker! Stand ihm denn seine Vergangenheit im Gesicht geschrieben? Würde man sie immer aus seinem Benehmen, seinen Worten herauslesen können? – Der Gedanke verdroß ihn sehr und er nahm sich vor, den ganzen folgenden Tag keinen einzigen Blick nach dem Ufer zu werfen. Es war merkwürdig, wie ihn diese Selbstüberwindung zugleich aufregte und befriedigte; die Stunden, die ihm so leer erschienen waren, erhielten auf einmal eine besondere Bedeutung, ohne daß er wußte wieso oder wodurch. Er fühlte sich gekränkt, doch empfand er das nicht unangenehm.

In der Nacht kam er plötzlich auf den Einfall, sie könne nach San Francisco zurückgekehrt sein, und er lag schlaflos da und sehnte sich nach dem Frühlicht, um Gewißheit zu erlangen. Doch als sich dann der Nebel verzog und er von einem näheren Punkt hinter der Düne aus mit Hilfe des Fernglases sah, daß sie auf dem warmen Sande saß und wie eine Seejungfrau ihr langes Haar kämmte, ging er gleich wieder in seine Hütte zurück und schaute den ganzen Morgen nicht mehr nach jener Richtung hin. Am Nachmittag waren keine Segel in Sicht; er wandte daher der Bai den Rücken und machte einen Gang nach Westen, dem Meere zu, bis wo sich die weiße Schaumlinie meilenweit hinzieht und die Brandung der Sturzwellen verkündet. Zu seiner Ueberraschung sah er vor sich ein kleines halbnacktes Kind, das barfuß hinter den Silberwellchen herlief oder die Schaumflocken zu fangen suchte, die bald hier bald da über den nassen Sand huschten. Nicht weit davon erblickte er Cara selbst. Mit den Ellenbogen auf den Knieen, das runde Kinn in die Hand geschmiegt, saß sie da und schaute hinaus auf die weite Wasserfläche. Auf einmal befiel ihn eine unerklärliche Schüchternheit; er zauderte noch eine Weile und trat dann in eine Vertiefung zwischen den Sanddünen, die ihn halb verbargen.

Bis jetzt war er noch unbemerkt geblieben. Das junge Mädchen rief das Kind zu sich, stand plötzlich auf, warf ihre rote Kappe und den Shawl fort und fing langsam an sich zu entkleiden. Jarman begriff sofort, daß sie mit der Kleinen baden wollte. In dieser Einsamkeit glaubte sie natürlich das ganz ungestört thun zu können, denn weder von dem Ufer der Bai her, noch auf dem verödeten Pfad, welcher landeinwärts führte, konnte irgend jemand in ihre Nähe gelangen, ohne daß sie es gewahrte. An seine Nachbarschaft hatte sie offenbar nicht gedacht, da sie ihn in seiner Hütte bei dem Telegraphen sicher untergebracht wußte. Jetzt hob sie die Hände empor, schüttelte ihr Haar, daß es ihr wie ein Mantel über den Rücken fiel und ließ zugleich die lose Bluse von den Schultern gleiten. Da wandte sich Jarman rasch ab und eilte geräuschlos davon, bis ein kleiner Hügel den Strand vor seinen Blicken verbarg.

Wie er ganz zufällig dorthin geraten war, so bewerkstelligte er auch seinen schnellen Rückzug ohne Vorbedacht und Ueberlegung. Er erkannte sich selbst kaum wieder, und doch war sein Thun so natürlich und instinktmäßig gewesen, als sei die Badende seine Schwester. In der Südsee hatte er oft eingeborene Mädchen neben den Schiffen untertauchen sehen, um Münzen heraufzuholen, doch hatten sie nie das Gefühl in ihm erweckt, das ihn jetzt beherrschte. Er musterte sogar den Horizont nach beiden Seiten hin mit grimmigen Blicken; dann bestieg er eine entfernte Anhöhe, von wo aus das Ufer ebenso wenig sichtbar war, um dort Wache zu halten. Von Zeit zu Zeit trug der starke Seewind allerlei Laute zu ihm herüber, des Kindes Geschrei oder des Mädchens helles Lachen; aber er wandte den Kopf nicht und spähte nur um so schärfer und argwöhnischer, ob nicht irgend ein unbefugter Wanderer des Weges käme. Wohl eine halbe Stunde lag er dort oben, und erst als der Lärm verstummte stand er auf und schritt langsam seiner Hütte zu. Er war noch nicht weit gegangen, da hörte er hinter sich Stimmengemurmel und unterdrücktes Lachen. Als er sich umkehrte, sah er Cara mit einem etwa sechsjährigen Kinde daherkommen. Caras Gesicht war rosig angehaucht, vielleicht von dem Bade oder auch von mädchenhafter Scham. Er stand still und als sie in seiner Nähe waren wünschte er ihnen ›Guten Morgen.‹

Cara hielt nur mühsam ihr Lachen zurück. »Ihr seid es! Ach wir wußten ja gar nicht, daß Ihr hier herumspaziert; wir dachten, Ihr hättet immer bei dem Telegraphen zu thun, nicht wahr, Lucy?« Die Kleine kicherte vor Vergnügen und Blödigkeit. »Wir haben nämlich im Meer gebadet,« fuhr Cara fort und nahm ihr langes Haar zusammen, das offen über ihre Schultern hing, damit die Sonne es trocknen sollte. Sie machte sogar einen schwachen Versuch die nassen Handtücher zu verbergen, welche sie trugen.

Jarman lachte nicht. »Wenn Ihr es mir gesagt hättet, würde ich unterdessen mit meinem Glas aufgepaßt haben,« sagte er ernsthaft. »Ich könnte weiter sehen als ihr.«

»Konntet Ihr uns sehen?« fragte das Kind mit lebhafter Neugierde.

»Nein,« war Jarmans entschiedene Antwort. »Die kleinen Sandhügel lagen dazwischen.«

»Dann hätten uns doch auch die andern Leute nicht gesehen,« beharrte die Kleine.

Jarman merkte dem älteren Mädchen die Verlegenheit an und gab ihrem Gespräch eine andere Wendung. »Ich gehe manchmal etwas spazieren,« sagte er, »wenn keine Schiffe in Sicht sind und nehme das Fernglas mit. Um die Signale zu machen kann ich immer noch rechtzeitig zurück sein. Vielleicht,« fügte er hinzu als er sah wie Caras Gesicht sich erhellte, »komme ich am Ufer entlang sogar einmal bis zu Euerm Hause.« Sie erwiderte nichts darauf und ihre Befangenheit wuchs, wie er zu seiner Ueberraschung bemerkte. Gleich darauf fragte sie plötzlich:

»Habt Ihr schon einmal die Seelöwen gesehen?«

»Nein,« entgegnete Jarman zu Caras höchlicher Verwunderung.

»Ich meine die großen auf dem Seehundsfelsen jenseits der Klippen.«

»Nein, nach der Richtung gehe ich nie.«

Ihm fiel jetzt ein, daß das eine Sehenswürdigkeit war, die von allen Fremden regelmäßig besichtigt wurde, und daß er deshalb den Ort vermieden habe.

»Ich bin schon einmal in Vaters Barke um den ganzen Felsen herumgesegelt,« fuhr Cara mit wichtiger Miene fort. »Vom Meer aus sieht man es am allerbesten, deshalb machen die Leute von Frisco auch oft eine Bootfahrt dahin; zu Wagen oder zu Fuß kommt man nicht durch den tiefen Sand. Aber von hier aus sind es nur ein paar Schritte. Wißt Ihr was,« rief sie und sah ihm mit ihren schönen Augen offen ins Gesicht, »morgen will ich es Lucy zeigen, wollt Ihr mitkommen?« Jarman fühlte, daß er vor Vergnügen rot wurde und das setzte ihn in Verlegenheit. »Wir halten uns nicht lange auf,« sagte Cara, die sein Zögern mißdeutete. »Ihr könnt den Telegraphen unterdessen ruhig allein lassen. Es wird kein Mensch da sein und so sieht und erfährt niemand etwas davon.«

Er wäre unter allen Umständen mitgegangen, das wußte er wohl; doch war es ihm bei seiner lächerlichen Befangenheit lieb, daß sie ihm durch ihre letzten Worte die Sache erleichtert hatte. So willigte er denn mit Freuden ein. Nun nahm sie ebenso plötzlich Abschied wie das erstemal. Sie winkte ihm rasch ein Lebewohl zu, ihre weißen Zähne blitzten, und Lucy bei der Hand fassend lief sie mit ihr heimwärts voll ausgelassener Lustigkeit. Jarman folgte ihr nachdenklich. Ihm lag gar nicht besonders viel daran das Haus ihres Vaters aufzusuchen, aber was konnte sie wohl dagegen einzuwenden haben? Es freute ihn, daß sie gleicher Meinung waren, aber trotzdem regte sich ein leiser Argwohn in ihm.

Jedes Mißtrauen wich jedoch aus seiner Seele, als er sie mit Lucy am anderen Morgen strahlend wie die Sonne vor seiner Thür fand. Ihre frühere Befangenheit war plötzlich auf geheimnisvolle Weise verschwunden und unter fröhlichem Plaudern schlugen sie den Weg nach den Klippen ein. Cara fragte ihn ganz offenherzig allerlei, warum er hergekommen wäre und ob er sich nicht sehr einsam fühle; sie antwortete ihm auch freimütig – wahrscheinlich weit freimütiger als er ihr – auf die vielen Fragen über sie selbst und ihre Familie, die er an sie stellte. Bei den Klippen angelangt, stiegen sie zum Strand hinunter, den sie ganz einsam fanden. Vor ihnen, anscheinend kaum in Schußweite vom Ufer, erhob sich ein hoher, breiter Felsen, an dem die Wellen des stillen Ozeans brandeten. Unförmliche Tiere tummelten sich dort in großer Zahl oder lagen bequem in der Sonne. Es war der Seehundsfelsen, das Ziel ihrer Wanderung.

Nach wenigen Minuten warfen sie jedoch keinen Blick mehr dorthin, sondern setzten sich auf den Sand, während Lucy am Ufer Muscheln sammelte, und fuhren in ihrem Gespräch fort. Die Mitteilungen nahmen einen immer vertraulicheren Charakter an – von Zeit zu Zeit entstanden auch lange und gefährliche Pausen, die beide durch allerlei Zurufe an die kleine Lucy auszufüllen trachteten. Nachdem sie wieder einmal eine Weile geschwiegen hatten, sagte Jarman:

»Gestern schien es mir, als wünschtet Ihr nicht, daß ich nach Eures Vaters Hause käme. Weshalb denn nicht?«

»Weil Marco da war,« versetzte das Mädchen offenherzig.

»Was geht denn ihn das an?«

»Er will mich heiraten.«

»Und wollt Ihr ihn zum Mann nehmen?«

»Nein,« entgegnete sie leidenschaftlich.

»Warum schickt Ihr ihn dann nicht seiner Wege?«

»Das darf ich nicht – er muß sich verbergen – Vater ist sein Freund.«

»Warum verbirgt er sich? Was hat er gethan?«

»Er hat den Bergleuten Goldstaub gestohlen. Ich habe mir sowieso nie etwas aus ihm gemacht. Und ein Dieb ist mir verhaßt!«

Sie blickte rasch in die Höhe. Jarman war plötzlich aufgesprungen – er schaute ins Meer hinaus.

»Seht Ihr dort etwas?« fragte sie verwundert.

»Ein Schiff,« erwiderte er mit seltsam heiserer Stimme. »Ich muß rasch zurück und das Zeichen geben. Wenn ich mit Euch ginge, würde es zu spät werden, fürchte ich. Lebt wohl, ich werde laufen müssen.«

Er kehrte sich ab ohne ihr die Hand zu reichen und lief spornstreichs in der Richtung des Semaphors davon.

Bestürzt wandte Cara ihre dunkeln Augen dem Meere zu; aber sie sah weder Masten noch Segel auf der weiten Fläche, auch der Horizont schien leer. Nur aus dem Goldenen Thor kam langsam ein kleiner Schoner gefahren. Was half's! Es war ohne Zweifel irgendwo, jenes Schiff – wenn sie es auch nicht sehen konnte. Wie klar und scharf seine hübschen ehrlichen Augen doch waren! Sie seufzte ein wenig, rief die kleine Lucy und machte sich auf den Heimweg. Dabei schaute sie aber immer wieder nach dem Semaphor hin, das war doch wenigstens etwas, das zu dem Manne gehörte, für den sich in ihrem Herzen die Liebe zu regen begann. Sie wartete, daß die schwarzen Arme das Schiff signalisieren sollten, welches er gesehen hatte, aber merkwürdigerweise bewegten sie sich nicht. Er mußte sich wohl geirrt haben.

Doch das alles war bald vergessen, als sie zu Hause angekommen, ihre Familie in der größten Aufregung traf. Sie hatten inzwischen Nachricht erhalten, daß Häscher in einem Polizeiboot von San Francisco nach der Bucht abgeschickt worden seien. Zum Glück war es noch gelungen, den flüchtigen Franti an Bord eines Küstenfahrers zu schaffen, so daß er sich jetzt außer Gefahr befand. Cara fiel der Schoner wieder ein, den sie hatte aus der Bai fahren sehen; sie atmete erleichtert auf und als sie merkte, welche Herzensfreude sie empfand, stieg ihr alles Blut in die Wangen. Nicht an den geretteten Marco dachte sie, sondern an Jarman. Später, als das Polizeiboot ankam, begnügten sich die Häscher, die vielleicht schon von Marcos Flucht unterrichtet waren, mit einer oberflächlichen Durchsuchung der kleinen Fischerhütte, worauf sie wieder abfuhren. Doch blieb ihr Boot in der Nähe des Ufers liegen.

In jener Nacht wälzte sich Cara schlaflos auf dem Lager umher. Es reute sie, daß sie mit Jarman überhaupt von Marco gesprochen hatte. Das wäre nun gar nicht nötig gewesen, und er mißtraute ihr vielleicht und glaubte, daß sie Marco dennoch liebe. Am Ende war er aus diesem Grunde am Nachmittag so urplötzlich von ihr gegangen! Wenn nur erst der Morgen käme – jetzt konnte sie ihm ja alles sagen.

Zuletzt fiel sie in einen unruhigen Schlummer, aus dem sie der Laut mehrerer Stimmen weckte, die sich auf der Düne, draußen vor der Hütte vernehmen ließen. Durch die Ritzen und Spalten der dünnen Bretterwände, welche die Sonnenglut tagüber ausdörrte, konnte sie nicht nur die Stimmen der Polizisten erkennen, sondern auch jedes ihrer Worte deutlich verstehen. Plötzlich traf Jarmans Name ihr Ohr. Sie richtete sich im Bett in die Höhe und lauschte atemlos.

»Sind Sie sicher, daß es derselbe Mensch ist?« fragte einer der Sprecher.

»Versteht sich,« lautete die Antwort. »Bis Frisco hat man seine Spur verfolgt und sie erst bei der Landung verloren. Doch wissen wir durch unsere Agenten, daß er die Bai nicht verlassen haben kann. Sobald wir nun erfuhren, daß ein Mann auf den die Beschreibung paßt, als Wächter bei dem optischen Telegraphen hier draußen angestellt ist, unterlag es keinem Zweifel mehr, daß wir unsern Flüchtling entdeckt hatten und die zweihundert fünfzig Pfund Belohnung uns gehörten, die auf seinen Kopf gesetzt sind.«

»Aber das ist ja schon fünf Monate her. Weshalb habt ihr euch seiner nicht gleich bemächtigt?«

»Wir konnten nicht. Erst mußten wir die zu seiner Auslieferung erforderlichen Papiere aus Australien haben. Geschrieben ist längst danach, und heute früh sollen sie mit dem Postdampfer eintreffen.«

»Er hätte doch aber jeden Augenblick auf und davon gehen können.«

»Nicht ohne unser Wissen. So oft sein Signal erschien galt das uns in San Francisco als Beweis, daß wir ihn sicher auf seinem Posten hatten. Dort draußen zwischen den Sandhügeln war er so gut aufgehoben, als hätten wir ihn in Frisco in festem Gewahrsam gehalten. Er war sein eigener Gefangenenwärter und meldete sich täglich selbst.«

»Da ihr nun einmal hier seid und die Papiere diesen Morgen erwartet, so könntet ihr ihn doch gleich jetzt mitnehmen.«

»Das geht nicht. Kein Richter in San Francisco würde ihn in Haft behalten, wenn man ihm nicht zugleich die Auslieferungspapiere vorlegt. Er würde entlassen werden und entkommen.«

»Wie wollt ihr's denn aber anfangen?«

»Sobald der Postdampfer in Frisco signalisiert ist, gehen wir hier in der Bai an Bord, holen uns die Papiere und fallen dann über ihn her.«

»Ja so – und da er das Signal aufhißt – so giebt der einfältige Narr –«

»Selber das Zeichen! Hahaha!«

Dem Mädchen schauderte, als sie das grausame Gelächter hörte. Aber schon im nächsten Augenblick sprang sie vom Lager und stand hochaufgerichtet, bleich und entschlossen da.

Die Stimmen schienen sich allmählich zu entfernen. Sie kleidete sich hastig an, glitt geräuschlos durch das Zimmer ihres noch schlafenden Vaters und trat ins Freie. Langsam hob sich der graue Nebel von den Sanddünen und dem Meere – das Polizeiboot war fort. Nun zögerte sie nicht mehr, sondern eilte flüchtigen Fußes auf Jarmans Hütte zu. Während sie lief, entschwanden ihr alle täuschenden Phantasiegebilde; was geschehen war stand klar und deutlich vor ihrer Seele. Sie begriff das Rätsel, weshalb Jarman sich hier aufhielt – das Geheimnis seines Lebens – und wie furchtbar verletzend die Worte gewesen waren, welche sie dem Manne gesagt hatte, von dem sie jetzt wußte, daß sie ihn liebte.

Die Sonne vergoldete schon die schwarzen Arme des Semaphors, als Cara sich mühsam durch die letzte Strecke des tiefen Sandes hindurchgearbeitet hatte und laut an die Thür klopfte. Es kam keine Antwort. Sie klopfte wieder, aber in der Hütte blieb alles still. Sollte er schon geflohen sein – ohne sie noch einmal wiederzusehen und alles zu erfahren? Rasch drückte sie auf die Klinke, die Thür ging auf; sie trat kühn ins Zimmer, seinen Namen rufend. Jarman lag völlig angekleidet auf dem Bett; hastig lief sie zu ihm hin und blieb plötzlich stehen. Ein einziger Blick in sein aufgedunsenes Gesicht hatte genügt sie zu überzeugen, daß der Mann, der dort mit offenem Munde schwer atmend dalag, ohne alle Frage sinnlos betrunken war.

Doch selbst in diesem Augenblick dachte sie einzig und allein an die Gefahr und seine Hilflosigkeit; es kam ihr auch nicht in den Sinn, daß es ihre grausame Aeußerung war, die ihn getrieben hatte, Gram und Reue auf so thörichte Art zu betäuben. Vergebens versuchte sie ihn zu wecken; er murmelte nur einige unzusammenhängende Wörter und sank wieder auf das Lager zurück. Verzweiflungsvoll sah sie sich in dem Raume um; etwas mußte geschehen – der Dampfer konnte jeden Augenblick in Sicht kommen. Ach – da war ja das Fernrohr! Sie griff danach und durchforschte den Horizont. Ein schwacher Dunststreifen erschien dem Goldenen Thor gegenüber auf der Linie, wo Meer und Himmel in einander fließen. Jarman hatte ihr damals gesagt, was das bedeutete. Es war das Dampfschiff. – Da fuhr ihr plötzlich ein Gedanke durch den klaren, lebhaft erregten Sinn: Wenn man vom Polizeiboot aus zufällig auch den Dunst sah und das Semaphor kein Zeichen gab, würde man Argwohn schöpfen. Ein Signal mußte gemacht werden, aber nicht das richtige. Rasch rief sie sich ins Gedächtnis zurück, wie Jarman ihr den Unterschied der Zeichen erklärt hatte. Um den Postdampfer zu signalisieren mußten sich beide Arme des Semaphors im rechten Winkel ausstrecken, für den Küstendampfer dagegen der linke Arm sich etwas abwärts neigen. Sie lief zur Winde hinaus und griff nach der Kurbel. Zuerst hatte sie nicht Kraft genug, dieselbe zu drehen, doch als sie ihre Anstrengung verdoppelte, begann ein Kreischen und Stöhnen, die großen Arme fuhren langsam in die Höhe und das Signal war fertig.

Durch das ihm wohlbekannte Geräusch der in Bewegung gesetzten Maschine wurde Jarman aus seiner dumpfen Bewußtlosigkeit aufgeschreckt; kein anderer Laut, weder im Himmel noch auf Erden hätte das gekonnt. Doch die Macht der Gewohnheit ist allgewaltig, sie weckte ihn zur Erfüllung der Pflicht. Cara hörte wie er sich mit einem Fluch vom Bett herabrollte und zur Thür hin schwankte; sie sah ihn mit entsetztem Gesicht herausstürzen und den Kopf in einen Eimer voll kalten Wassers tauchen. Triefend zog er ihn wieder heraus, aber in sein bleiches Antlitz war das Bewußtsein zurückgekehrt und klare Besonnenheit sprach aus seinen Blicken. Er fuhr zusammen als er ihrer ansichtig wurde, doch da sie zu fliehen versuchte, hielt er sie am Handgelenk fest.

Hastig und mit bebender Stimme sagte sie ihm nun alles und jedes. Er hörte ihr schweigend zu; nur als sie geendet, drückte er seine Lippen feierlich auf ihre Hand.

»Und nun müßt Ihr fliehen,« rief sie voll Angst und Zittern, »auf der Stelle, so rasch Ihr könnt, sonst ist es zu spät!«

Allein Richard Jarman schritt langsam auf die Thür seiner Hütte zu; er hatte ihre Hand nicht losgelassen und sagte jetzt auf seinen einzigen Stuhl deutend:

»Setzt Euch – wir müssen erst mit einander reden.«

Was zwischen ihnen gesprochen wurde, hat niemand je erfahren; als sie jedoch nach einigen Minuten die Hütte verließen, trug Jarman all sein Hab und Gut in einem kleinen Bündel und Cara stützte sich auf seinen Arm. Eine Stunde später erging an den Priester in der Dolores-Mission die Aufforderung, er solle einen Seemann mit ehrlichem, offenem Gesicht und ein Mädchen, das wie eine italienische Zigeunerin aussah, ehelich verbinden. In jenen Tagen wurde manches übereilte Bündnis auch ohne den Segen der Kirche geschlossen und diese war deshalb gern bereit einer Ehe die gesetzliche Weihe zu geben. Dem guten Pater that jedoch der treuherzige Seemann ein wenig leid und so versäumte er nicht dem Mädchen eine ernstliche Ermahnung mit auf den Weg zu geben.

Am nächsten Morgen warfen die Zeitungen von San Francisco ein etwas zweifelhaftes Licht auf die Angelegenheit. Denn da stand zu lesen:

Abermals ein Fiasko der Polizei.

»Wie wir hören, hatte ›die unermüdliche Polizei‹ von San Francisco in Erfahrung gebracht, daß sich der berüchtigte Golddieb Marco Franti nicht weit vom Presidio am Strande verborgen hielt. Als sie sich mit großer Feierlichkeit dorthin begab, kam sie wie gewöhnlich erst an, nachdem der Verbrecher schon seit einigen Stunden in Sicherheit war. Aber ihre ganze Unfähigkeit offenbarten die Herren Polizisten erst als, wie berichtet wird, die Geliebte des flüchtigen Franti, eine hiesige Fischerstochter, später unter den Augen der Polizei entfloh und jedenfalls vereint mit ihrem Liebhaber das Weite suchte. Um ihren Mißgriff zu erklären, entschuldigten sich die klugen Sicherheitswächter im Hauptquartier damit, daß sie gleichzeitig auf der Fährte eines aus Sydney entsprungenen Sträflings gewesen wären. Doch ernteten sie nur den verdienten Spott und Hohn, als sich herausstellte, daß die helläugigen Biedermänner das Postschiff, welches die Auslieferungspapiere, die sie bedurften, an Bord hatte, vorbeifahren ließen, weil sie es für einen Küstendampfer gehalten hatten.«

 

Erst vier Jahre später hatte der Fischer Murano die Freude, den Gatten seiner lange verloren geglaubten Tochter, einen reichen Herdenbesitzer in Süd-Kalifornien, Namens Jarman, kennen zu lernen. Er erfuhr jedoch nie, daß sein Schwiegersohn ein entflohener Sträfling aus Sydney war, der erst kürzlich auf Verwendung mehrerer hochangesehener Leute in Australien, die volle Begnadigung erhalten hatte.


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