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Zweiter Teil.

Wir fuhren damals direkt bis Neu-Bellin. Es hätte keinen Zweck gehabt, im heißen Sommer in der Großstadt unnötig Geld auszugeben. Zudem war Marianne ausnahmsweise auf ihrem Gut. Der Graf kreuzte mit einem Freunde auf einer Jacht in der Nordsee, und es würden noch einige Wochen vergehen, bis er sie abholte. So war es fast wie in alten Zeiten. Die Fahne wehte von dem kleinen Türmchen des Schlosses über die Kiefern der Mark, auf dem Waldsee schwammen die weißen Wasserrosen und die wilden Enten. An dem kleinen Weg durch die Tannenschonung über die Heide, die erst knospete, herüber nach Dittmarshof waren die Tannen höher geworden. Die Zeit schien hier geschlafen zu haben, und nur das Schloß Neu-Bellin hatte all seine Fensteraugen offen und die Tür zur Halle auch, so daß in dem frischen Zugwind, den Marianne liebte, die dünne Seide der zerschossenen Fahne knisterte.

Drüben in Dittmarshof herrschte lange eine zweite Frau, und die schöne sündige Herrin war zur Sage geworden. Herr von Dittmar trank noch immer und war ein wenig stumpf. Seine Frau, eine ältere Cousine, machte das Beste aus der günstigen Position, die ihr spät und wie vom Himmel herunter – der Himmel war die energische Vermittlung der alten Frau von Dittmar gewesen – in den Schoß gefallen war. Der ganze Anstrich des eleganten Hauses hatte etwas Spießbürgerliches bekommen, worüber Marianne spottete, und schön und fremd stand Bettina darin, die nun als ein erwachsenes Mädchen in diesem Kreise das geworden war, was einst Marianne gewesen. Von ihrer Mutter her war sie eine reiche Erbin, und sie wußte das, wie Marianne es gewußt hatte. Wie die einst, ließ sie schwer jemand an sich herankommen; aber nicht aus dem Stolz und der Verachtung Mariannens, sondern aus der Scheu eines einsamen, leidenschaftlichen Herzens.

Als Bettina zum erstenmal bei mir war, hatte sie sich still neben mich gesetzt; aber dann war in ihrem schönen Gesicht die Freude aufgegangen. Volles Vertrauen gab sie nicht. Die Wunden ihrer ersten Kindheit waren nie vernarbt. Aber offenbar machte es sie glücklich, mit mir von ihren Plänen sprechen zu dürfen.

Sie wollte einmal, wenn sie mündig wäre, ein Haus für verwahrloste Kinder gründen, irgendwo auf dem Lande. Davon sprach sie, als wären es ihre süßesten Zukunftsträume. Und dann liebte sie Ilse und sagte, alles wäre anders geworden, seit in Neu-Bellin wieder die Fenster offen wären, und sie wolle oft kommen. Das tat sie auch. Es war ein freundliches Hinundher und ein Kommen und Gehen auf dem Fußsteig am See, und es wären ganz glückliche Sommerwochen gewesen, hätte nicht in Marianne eine so seltsame Unruhe gesteckt, die sie ganz aus dem Gleichgewicht brachte. Sie ritt täglich viele Stunden, und ich meinte, sie müßte so müde sein, daß sie traumlos schliefe. Aber dann hörte ich sie nachts, da mein Zimmer unter dem ihren war, auf- und abgehen. Ich schlief ja doch nicht in diesem Sommer, sondern begrub meine Toten. Sie war in das Turmzimmer nach oben gezogen, weil sie dort mehr Luft hätte, wie sie sagte, und ich begriff wohl, daß die kleinen, stickigen Räume, denen immer etwas von Modergeruch anhaftete, auf ihre freie Seele fallen mußten, so ängstlich sie auch all den verschossenen Plunder alter Tage hütete. Dann kam mir eines Nachts der Gedanke, daß es die Sehnsucht nach ihrem Manne sei, die sie so von Ort zu Ort trieb.

Ich setzte mich plötzlich im Bett auf, als ich das fühlte, und nun begriff ich vieles. Sie hatte überwunden, was ihr Wulf von Willich einmal gewesen, weil sie ihren Mann liebte.

Dann ist allmählich die Eifersucht in ihr stolzes Herz gekommen auf jene andere, die noch immer in des Grafen Herz lebte und verhinderte, daß sie ganz ihren Platz dort ausfüllte. Auch die war jetzt tot, und nun rang sie mit dem eigenen Stolz und mit eigenem Glücksverlangen. Deshalb war sie in die Einsamkeit zurückgekehrt, in das kleine Schloß, an dessen Vornehmheit sie sich klammerte, als müsse es ihr helfen gegen den stolzen Mann. Hier wollte sie ihn empfangen.

Ich hatte sie neulich mit dem silbernen Handspiegel in der Hand gefunden, wie sie an dem kleinen rebenumwachsenen Fenster des Turmzimmers stand und prüfend in das Glas sah. Als ich kam, hatte sie die Hand sinken lassen. »Der Reithut drückt mich,« sagte sie, »siehst Du den roten Streifen auf meiner Stirn?«

Nun aber wußte ich, daß es nicht der rote Streifen gewesen war, sondern daß sie ihre Schönheit geprüft hatte. Und ich wunderte mich, wie sie an ihr zweifeln konnte, denn sie war so stolz, als stiege sie eben in einem Fürstenschloß aus dem Rahmen eines Ahnenbildes herab. Wieder ein paar Wochen später, als der Graf angekommen war, habe ich das Glück gesehen, das Glück von zwei großen Menschen, und so demütig hat es mich gemacht, daß ich am nächsten Tage zu Marianne ging und ihr sagte, ich wolle fort.

Am Abend, als ich noch spät vom Waldsee kam, hatten sie auf der kleinen Terrasse vor dem Schlosse, gestanden, eng aneinander geschmiegt. Ganz leise war ich zur Pforte geschlichen; aber mein Schatten muß mich doch verraten haben, denn Marianne wurde dunkelrot, als sie mir antwortete. »Warum willst Du fort, Franzine? Die Berliner Familien, denen ich Dich empfehlen will, sind doch noch auf Reisen.«

Da habe ich sie angesehen und gesagt: »Ich will fort, Marianne, weil Du jetzt keine Königin mehr bist, sondern nur noch ein Weib. Da will ich mit Ilse nicht die Dritte sein bei euch, und Du kannst gar nicht glauben, wie innig ich dem Leben gedankt habe, bevor ich gestern nacht eingeschlafen bin.«

Sie ist an den Tisch getreten und hat die Blätter des Buches, das dort lag, durch ihre Finger gleiten lassen, und es war fast, wie schon einmal vor Jahren, als sie in einem bitteren Ausbruch sich darüber beklagte, daß wir Frauen die Fesseln einer niedrigen Liebe tragen könnten. Diese Fesseln hatte sie nun zerbrochen. Ihre Stimme klang ganz weich, und sie sah sich nicht um nach mir, die ich da in meinem Trauerkleid stand und auf ihr Glück sah. »Geh, Franzine, und nimm das Kind mit. Wir wollen hier bleiben für diesen Herbst, der Graf und ich; und ich glaube wirklich, wir können jetzt keinen Dritten brauchen.«

Ich bin an demselben Tage übergesiedelt zu Bettina, aber der Waldweg hat mich noch oft gesehen, wenn ich zur Teestunde nach Neu-Bellin kam. Da ist mir denn wirklich klar geworden, daß Marianne nun keinen Dritten brauchen konnte, wenn sie auch in jenem ersten Augenblick der Weichheit sich noch nicht entschlossen hatte, »mein Mann« zu sagen. –

Vier Wochen später hatte ich eine kleine Wohnung im Westen Berlins. Gar nicht so weit von jenem Hause, in dem ich die schönsten und auch die bittersten Stunden meines Lebens verbracht habe. Eine Gartenwohnung, drei Treppen hoch, aus der ich auf ein Rasenviereck und Stangen zum Teppichklopfen sah. An meiner Tür und an dem großen Eingangstor des Hauses war ein Schild befestigt, auf dem französische Stunden angezeigt wurden. Das hätte mir aber wenig genützt, denn solche Schilder finden sich in den Straßen Berlins, als schütte man einen Sack mit Häcksel aus eine Tenne. Doch Marianne hielt ihr Versprechen, und dann traf es sich so günstig, daß ich in einer der Privatschulen den französischen Unterricht für zwei Klassen bekam. Das war etwas Festes und hinderte mich nicht in meiner Zeit, weil der Unterricht in die Morgenstunden fiel. Ich war an eine gute Arbeitseinteilung von Frankreich her gewöhnt, und als Marianne mit dem Grafen im Spätherbst für einige Zeit nach Berlin kam, lag schon ein gewisses Gefühl der Sicherheit über dem Anfang meiner neuen Existenz.

In dieser kleinen Wohnung, die sich Gartenwohnung nannte und eine Hofwohnung war, habe ich die letzten zwölf Jahre meines Lebens verbracht, und Ilse ist in ihr herangewachsen. Von den Kämpfen und Enttäuschungen der ersten beiden Jahre, in denen ich immer an das Wort dachte, mit dem die Pariserin das Los der Mädchen bezeichnet, die sich mühselig ihr Brot verdienen: battre le pavé! hat sie wohl keine Erinnerung behalten. Es kamen mancherlei Sorgen, denn natürlich wollte ich von Mariannens Hilfe so wenig als möglich Gebrauch machen. Daß ich sie aber überhaupt hatte, gab mir ein Übergewicht über alle die anderen Mädchen, die dort in der großen Stadt ums Leben ringen.

Ich habe sie gesehen, wenn es galt, mich um eine Stunde, um eine Schülerin zu bewerben, wenn zu der in der Annonce festgesetzten Zeit die Klingel in dem vornehmen Hause unaufhörlich ging, und der Diener mit dem gleichgültigen Gesicht die endlose Zahl der Bewerberinnen in das Zimmer eintreten ließ, in dem man auf das Erscheinen der gnädigen Frau wartete. Ich habe sie gesehen, wie ängstlich sie waren, schon Vorgängerinnen zu finden, wie oft sie solche, die durch ihre äußere Erscheinung glücklicheren Verhältnissen anzugehören schienen, anflehten, sie vorher hineingehen zu lassen, sie hätten es so unendlich nötig. Ich habe die Enttäuschung und den Gram gesehen und zuweilen auch die Verzweiflung. Auf diesem Wege habe ich keine Schüler bekommen, denn so reich, so unendlich reich kam ich mir vor gegen die, die hier um nichts kämpften als um das nackte Leben, vielleicht noch um die Existenz einer Mutter, daß ich mich scheu zurückzog.

Ich habe dann Ilses Studiengang verfolgen können. Da ist mir deutlich geworden, was die letzten zwanzig Jahre für den Existenzkampf der Frau bedeuten. Wie aus einem Fluch ein Stolz geworden ist, wie sie aus dem Druck emporgestiegen ist zur freien Selbstbestimmung und zu einem vertiefteren Genuß des Lebens.

Mein eigenes Leben, das mich immer wieder in die Stille und immer wieder zu mir selbst führte, wenn es scheinbar auch bunt und abwechselungsreich genug war, hatte mich unfähig gemacht, an dem Kampf der Mitschwestern teilzunehmen. Aber ich begriff sie, und meine Wünsche folgten ihnen bei ihrem tapferen Vordringen. Ich verstand auch hier die Tradition, dieses langsame, stille, ständige Anhäufen von Entbehrungen geistiger Entwickelung; von all den Entbehrungen, die sich angesammelt hatten in allen Kreisen, und die nun geleitet durch die neue Philosophie und die neuen Dichter sich Bahn brach – wie einmal Rousseau und Voltaire die Revolution vorbereiteten, tief innerlich, aber wie jene begründet durch eine neue Auffassung der Menschlichkeit.

Ich beschäftigte mich so viel mit all diesen Fragen, weil da neben mir ein neues Geschöpf heranwuchs, eine neue Trägerin des Glücks, und weil ich hoffte, die Wege, die sie einmal zu gehen hatte, würden leichter sein, und ihr Fuß würde freier schreiten können.

Für meine Ilse bin ich an Abenden, an denen ich todmüde von meinem Tagewerk nach Hause kam, noch in Versammlungen gegangen und habe ausgehalten in der stickigen Luft der überfüllten Säle, und habe ausgehalten in dem Wust von Unverstand, von Übertreibung und Bitterkeit, der oft in großen Volksversammlungen wie ein Sturm, der Spreu und zerknittertes Papier mit sich bringt, um jene Frauen tobte, die fest und ruhig auf dem Podium standen. Ich habe nicht vertrocknen wollen in dem Druck meines Berufs, wie so viele andere. Mein Herz sollte frei sein, und meine Quellen sollten nicht versiegen.

Ilse hat mein Leben so ausgefüllt, daß es reich geworden ist. Die Melodie des Todes, die so oft um meine Jugend ging, jenes süße Lied der klingenden Geige, das ich zum erstenmal vernahm in der kahlen Stube des Stifts bei Großtante Meta, da ich mich meiner Mutter ähnlich fühlte und ein gleiches Los erhoffte, jenes Lied, das mir zum Bewußtsein kam, als ich dann später vor Böcklins Selbstporträt mit dem geigenden Tod stand, ist verklungen zu einer fernen Weise, deren Klänge manchmal noch von weitem durch den Lärm der Großstadt tönten oder durch das Föhrenrauschen von Neu-Bellin. Wie eine Erinnerung daran, daß wir die Rätsel dieses Lebens nicht lösen können, das Leid nicht schlichten, die Ungerechtigkeit nicht glätten.

Ich habe lange gezögert, Ilse kirchlich fromm zu erziehen. Ich mochte ihr schon die Sonntage nicht nehmen, jene einzigen Gelegenheiten, da wir beide den ganzen Tag für uns hatten, früh aufbrechen konnten und hinausgehen, an den träumerischen Seen des Grunewalds entlang zu irgend einem versteckten Plätzchen an der Havel, wo uns die Menschen und ihr Lärm und ihre Butterbrotpapiere nicht störten. Aber das Bild des Heilandes habe ich ihr doch früh gegeben, weil ich sie der großen ruhigen Zuversicht nicht berauben wollte, die ich mir erst später errungen habe. Ich wollte ihr den langen mühseligen Irrweg der Seele, bis sie zum Bewußtsein einer ewigen Zusammengehörigkeit mit dem All kommt, ersparen. Und ich wußte, daß niemand so gut als der Heiland ein Kind an die Hand nehmen kann und es führen durch die Irrungen und Wirrungen, sanft, bis zu jenem Kreuzweg, an den doch jeder einmal tritt, und wo er es dann freundlich entläßt, daß es seinen eigenen Weg nehme zu den großen Leitbildern des Lebens und darüber hinaus.


Als ich zwei Jahre in Berlin war, hatte sich alles äußerlich so gefestigt und verhältnismäßig günstig gestaltet, daß in mich selbst Ruhe und Frieden eingekehrt waren. Ilse besuchte dieselbe Schule, an der ich französische Stunden gab, und es traf sich öfters so, daß wir zusammen fertig waren und sie an meiner Hand nach Hause ging. Es war wunderschön für uns beide, wenn wir so aufmerksam nach einem bequemen Straßenübergang spähten und glücklich waren, wenn wir das Ufer des Kanals erreicht hatten, an dem entlang wir dann nach unserer Wohnung gehen konnten, vor allem wenn die Kastanien blühten, die über dem Wasser der Großstadt stehen, als hätten sich die Frühlingswolken selber zu ihm herabgelassen.

Scheinbar führte ich das Kind, und doch fühlte ich so, wie die kleine Hand mich zog und führte, und wie ich ihr folgte auf einem neuen Lebensweg.

Ilse war kein lautes Kind, oder vielleicht war sie es nicht mehr. Der große Lebenswechsel in ihrer ersten Kindheit mochte einen Teil des Strahlenden von ihr genommen haben, das in meiner Erinnerung um sie lag, wenn ich an die Klippe in der Normandie dachte. Vielleicht war das nur ein Abglanz von ihrer Mutter Wesen gewesen, und vielleicht wurde sie jetzt so wie ich selber war. Ich habe das oft genug gefürchtet. Ich kannte meine weiche Art und wußte, was sie mich im Leben gekostet hatte. So sah ich oft mit Sorge auf meine kleine Tochter, wenn sie so still bei ihren Schularbeiten oder bei ihren Puppen saß und einen so ernsten Blick in ihren grauen Augen und ein so sorgliches Lächeln um ihren Kindermund hatte.

Es war scheinbar unrecht, daß ich über diese Art nicht glücklich war, denn sie fügte sich gut in den kleinen Haushalt der französischen Sprachlehrerin, in der sogenannten Gartenwohnung drei Treppen hoch. Und dennoch hätte ich lieber gehabt, Ilse hätte mit lauter Lustigkeit meine Stuben gefüllt. Selbst daß sie so viel mit Puppen spielte, machte mir Sorge. Ich wollte kein einseitiges Betonen hausfraulicher Instinkte in diesem Kinde, das das Schicksal vielleicht einen Weg führen würde, ähnlich wie meinen eigenen, und es war mir fast eine Beruhigung, daß sich Ilsens Puppenspiel auch nicht in verschwenderischer Zärtlichkeit erschöpfte. Hier wenigstens brach offenbar ein Erbteil ihrer Mutter durch, denn Ilse wurde die leidenschaftlichste Puppenschneiderin und hatte so viel Geschick, daß mir Ilsebills ganzes Theatergenie bei der Verwendung der Maria-Stuart-Robe, deren letzte Reste ich noch als Samtaufschläge auf einer Winterjacke bewundert hatte, in die Erinnerung kam.

Es war in dem Winter, in dem Bettina, die nun mündig war, nach Berlin übersiedelte, um im Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhaus in Reinickendorf die Krankenpflege gründlich zu erlernen, daß sich durch einen Zufall alte Beziehungen wieder anknüpften. Bettina war gleich an einem ihrer freien Sonntage zu mir gekommen und hatte sich bei mir mit ihrem Bruder Hans getroffen, der in Lichterfelde im Kadettenhaus war. Da wurde viel von alten Zeiten gesprochen und von Dittmarshof, das jetzt für Hans von Dittmar verwaltet wurde, weil er sich erst bei seiner Mündigkeit schlüssig machen sollte, ob er das Gut verkaufen wolle oder nicht. Ich war die einzige, gegen die sich die Geschwister etwas mehr aussprachen. Und auch in den folgenden Jahren bis zu seinem Offiziersexamen kam Hans von Dittmar an seinen freien Tagen lieber zu mir, als zu den wenigen Verwandten seines Vaters, deren kalte Augen in beiden Kindern immer nach dem geistigen Erbteil der Mutter zu suchen schienen.

Natürlich hatten wir auch von Volckmanns gesprochen. Die Mutter war in diesem Winter, noch während Bettina zu Hause war, gestorben, und eine der jüngeren Töchter führte dem Kantor das Haus. Die beiden Ältesten aber hatten sich jetzt selbständig gemacht. Bettina erzählte, daß Anna und Minna bald gemerkt hätten, wie die Geschicklichkeit im Schneidern, die sie sich in der benachbarten Stadt erworben hatten, weit über die Bedürfnisse ihrer Dorfkunden hinausging. Mit dem Mut, der oft die Sprößlinge kinderreicher Familien reizt, das kleine schwanke Lebensschifflein aus einem glücklichen, eng begrenzten Hafen in die wildeste See hinauszusteuern, waren beide Schwestern nach Berlin gegangen und hier in ein Schneideratelier eingetreten. Aber etwas von dem unterdrückten Genie des Vaters, dieser wie der Kantor selbst meinte mit Stumpf und Stiel ausgerissenen Blume, war offenbar auch in das Herz dieser beiden Mädchen gefallen. Die kunstgewerbliche Strömung hatte sie ergriffen, und sie hatten nun ein eigenes Atelier eingerichtet, in dem sie nach künstlerischen Entwürfen für die Eigentracht arbeiteten.

»Wer hat ihnen denn das Kapital vorgestreckt,« fragte ich, »Du, Bettina?«

Sie nickte lächelnd. »Und glaube mir, in diesen Volckmännern steckt Kraft. Nikol haben sie ganz und gar zu sich genommen. Daß der Alte den Jungen hergegeben hat, beweist, wie fest er auf seine Zukunft baut. Er hat mit mir darüber gesprochen. ›Durch, durch, Fräulein Bettina,‹ sagte er zu mir, während seine Hand sich bewegte, als hielte sie den Taktstock. ›Glauben Sie mir, er zwingt es.‹«

Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, die Schwestern aufzusuchen, deren Adresse Bettina mir gegeben hatte; aber dann war alles mögliche dazwischen gekommen, und ich hatte es vergessen. Da ging ich an einem Wintertage mit Ilse auf die Eisbahn. Sie sollte Schlittschuhlaufen lernen, denn ich fürchtete immer, daß sie sich zu wenig Bewegung machte. Es war eine leichte Kälte. Für die Berliner an und für sich schon ein Grund, lustig zu sein und mit den Eisen zu klappern. Ich schnallte meinem Kinde die Schlittschuhe an und gab ihm die Hand. Aber es war schwer genug für die kleine Anfängerin auf der vollen Bahn, und bald waren wir ziemlich in die Ecke des Zauns gedrückt, der die künstliche Eisbahn umgab, die nichts anderes war als der Grund und Boden eines noch zu bauenden Hauses draußen hinter der letzten Häuserreihe von Wilmersdorf.

Da standen wir ein wenig hilflos und außer Atem, Ilse ängstlich an meine Hand geklammert, und sahen zu, wie die Jungen eine künstliche Erhöhung in unserer Nähe erklommen hatten, sich hier reihenweise aufstellten und mit Hallo herabsausten. Eben waren sie in langer Kette an uns vorübergeflogen, als noch ein Nachzügler folgte. Ein großer, schlanker Bengel, vielleicht vierzehnjährig, die Mütze nach hinten geschoben, in einer Flauschjacke. Er flog von dem Eisberg herab, machte einen Bogen und kam so dicht auf uns zu, daß er die Hände auf meine Schultern legen mußte und Ilse mit einem leichten Schrei zu Boden fiel. Er nahm das kleine Mädchen auf und stellte es auf seine Füße. »Hast Dir weh getan?« fragte er, indem er mit einem Blick auf mich die Mütze lüftete.

Ilse schüttelte den Kopf und sah ihn groß an. Gutmütig nahm er ihre beiden Hände in die seinen und sagte: »Komm, wir wollen ein bißchen zusammen laufen.«

»Sie kann noch nicht,« sagte ich, »sie versucht eben erst.«

Und Ilse, mit dem Eifer des Neulings auf ihre schönen Nickelschlittschuhe weisend, sagte stolz: »Tante Bettina hat sie mir geschenkt.«

»Bettina?« fragte der Knabe und sah mich noch einmal forschend an. Dann schoß ein heißes Rot in sein Gesicht. »Bettina von Dittmar, und – und –«

»Nikolas Volckmann,« sagte ich lachend, denn nun wurde mir klar, wer der Junge war. Er nahm noch einmal seine Mütze ab.

»O Fräulein Wahrenburg, ich hätte Sie doch gleich erkennen müssen. Wie werden sich die Schwestern freuen, wenn ich es ihnen erzähle. Minna wollte schon immer zu Ihnen kommen; aber sie hat wirklich zu viel zu tun. Gestern sind wieder zwei Kleider bestellt, darum kam ich auch heute auf die Eisbahn. Denn das ist nicht so wie in Dittmarshof, wo der Weiher uns allen gehört, und der Waldsee auch. Hier kostet es dreißig Pfennige.«

Ich lachte und nickte, und dann übernahm er die Kavalierdienste bei der kleinen Ilse, und ich konnte mit einem Aufatmen zusehen, ein wenig doch die Henne, die ein Entlein auf das Eis geführt hat. Als aber mein Kind mit strahlenden Augen nach einer Stunde abschnallte, da erklärte ich Nikolas, daß er sich wegen der dreißig Pfennige keine Sorge machen solle. An den schulfreien Nachmittagen würde ich sie gerne zahlen, wenn er Ilses Lehrmeister sein wolle. So ist Nikolas Volckmann mit seinen klirrenden Schlittschuhen zum ersten Male über den Hof des Gartenhauses gekommen und hat nach unseren Fenstern emporgeschaut. Ilse aber saß schon und wartete auf ihn. Ich habe sie dann sogar allein gehen lassen, und wenn er sie mir zurückbrachte, hat er heißen Kaffee und warme Pfannkuchen bekommen. Die verstand er zu würdigen, denn die Volckmänner hatten sich in Berlin sogar die Milch zum Kaffee abgewöhnt.

Ich war nun selbstverständlich auch in das Atelier für Eigenkleidung gekommen, wie Minna und Anna Volckmann mit dem kühnen Wagemut der Strebenden ihr Unternehmen nannten. Die Rücksicht auf das Publikum brachte es mit sich, daß es ein paar hübsche Zimmer in guter Lage des Westens waren, in der Nähe des Lützowplatzes. Vorläufig arbeiteten sie noch hauptsächlich selbst mit wenigen Gehilfinnen, aber beide hatten große Pläne. Nebenbei stickten sie Kissen und Tischdecken im neuen Stil, und ihre Lampe ist wohl nie vor Mitternacht ausgelöscht worden.

Sie selbst hatten sich auf die kleinen Hinterräume der Wohnung beschränkt, und Nikolas, der ihr Pensionär war, ohne doch Pension zu zahlen, – ein ganz eigenartiges Verhältnis, über das sie in ihrer fröhlichen Kraft spotteten, und das sie ihren sicheren Anteil an dem einstigen großen Lose dieses Lieblingsbruders nannten – schlief sogar in der kleinen Küche. Minna besorgte nebenbei noch den Haushalt, und Nikol scheute sich gar nicht, den Ascheimer auf den Hof zu tragen oder die Kohlen herbeizubringen.

»Wenn mein nächstes Kleid zur Zufriedenheit ausfällt,« sagte Minna, »bekommt er ein Paar Reservestiefel und einen zweiten Anzug.«

»Was reine Verschwendung ist,« erklärte der Junge, »das heißt der Anzug. Ich wachse ihn ja doch aus, seht.« Und er streckte seine Arme vor sich, die bedenklich aus den Ärmeln der Jacke heraussahen. Er wuchs tüchtig und reckte sich.

Nikol besuchte eine Realschule. Die freie Zeit aber, und es war erstaunlich viel freie Zeit, die der Junge hatte, saß er am Klavier. Das war der einzige Luxus, den sich die Kolonie der Volckmänner in Berlin leistete: sie hatten sich einen Flügel geborgt und zahlten die monatliche Miete nicht ohne Schwierigkeit, aber ohne Seufzen.

So spielte Nikolas Volckmann, umgeben von den Rohrpuppen, auf denen die künstlerischen Erzeugnisse seiner Schwestern in der Form von Eigenkleidern standen, und so hatte er ein wirklich geduldiges und geruhiges Auditorium für die ersten Träume seiner erwachenden Künstlerseele.

Oft genug aber saß zwischen diesen weichen Schleppen und fließenden Stoffen Ilse, die hier aus- und einging, sammelte Flicken, ordnete sie, blickte prüfend von den Kleidern der Schwestern zu dem Jungen am Flügel, stützte ihren Blondkopf in ihre Kinderhände und lauschte. So fand ich sie, wenn ich von meinen Stunden kam, um sie abzuholen. Und oft, wenn sie daheim das Gesehene mit sicherer Geschicklichkeit für ihre Puppenkinder verwertete, ließ sie die Nadel sinken und träumte vor sich hin. Wenn ich sie fragte: »Was denkst Du, Ilse?« dann sah sie mich an und sagte:

»Ich höre noch, wie schön der Nikol spielt.«


Es ist sonderbar im Leben: jeder Tag scheint neu und ein Ganzes, und wenn er zu Ende ist, taucht er doch so still unter, wie die Sonne am Horizont. Und wenn er gut war, steht ein schönes Abendrot am Himmel, und war er bös, so brauen die Wetter. Er selbst aber ist dann wie versunken und ruht auf dem Grunde, und oben wird es still. So gehen Tage nach Tagen, und Jahre nach Jahren. Und wenn man sich zurückwendet und auf den See des Lebens sieht, so tauchen einige aus der dunkeln Flut wieder hervor und stehen über dem Wasser und leuchten wie Vineta, oder drohen noch aus der Ferne, nur daß ihre Drohung dann keine Macht mehr hat.

So kann ich auch jetzt schwer auseinanderhalten, wie alles kam, wie es wurde, was dem einen voranging. Mein Tag war ja ein Tag der Arbeit, einer gleich dem anderen bis zu dem allabendlichen Zusammensein mit meinem Kinde. So wächst aus zurückschauender Erinnerung Ilsens Kinderzeit hervor, als höbe sie sich über das Wasser der Vergangenheit wie eine lichte, klare Gestalt. Erst zart noch mit den offenen Haaren, die die weißen Schleifen an den Schläfen zurückhielten, dann zag sich reckend und dehnend, mit einem tieferen Blick der Augen und einem dunkleren Hauch auf dem Haar, das nur an den Schläfen in leichtem Gekräusel so blond schimmerte, wie das der Mutter. Als hätte das Leben, so meinte ich immer, das stille Leben bei der französischen Sprachlehrerin in dem Hinterhause diesen dämpfenden Hauch auf das strahlende Kind vom Montmartre gelegt. In den Stunden, da ich nachdenken konnte, machte ich mir Vorwürfe deshalb, denn ich sah wohl, daß ringsumher das Geschlecht anders wurde. Rauher und stärker, fröhlicher und siegesgewisser, und meine Ilse, so gut sie mit all den Kameradinnen auch auskam, schien mehr von meiner eigenen Art zu haben als von der ihrer Mutter. Und nie hörte ich aus dem lachenden Kreis der Jugend heraus jenes Wort, in das Gerhard einmal die frische Kraft seines Weibes gegenüber der eigenen Schwäche zusammengefaßt hatte: Mine Fru de Ilsebill, will nich so as ick woll will.

Aber wie das alles jetzt in meiner Erinnerung langsam und allmählich wächst, so blieb doch als plötzliches großes Ereignis der Tag, an dem ich Ilse von meinen Ersparnissen die Geige kaufte, die sich das Kind wünschte.

Eine alte Erinnerung aus Paris her knüpfte hier an eines jener Weihnachtsfeste, die ich mit meinen Geschwistern verleben durfte. In dem bunten Vogelhaus auf dem Montmartre hatte auch ein junger Geiger gelebt, still, scheu, wenig zugängig. Nur um die Dämmerstunde waren aus seinem kleinen Gelaß süße, zitternde Töne durch die dünne Decke nach all den Kammern und Stuben ausgestrahlt. Und dann hatten Türen geklappt, und Schritte waren über die Treppen gehuscht, und drinnen bei dem jungen Künstler hatte sich ein andächtiges kleines Auditorium versammelt, das lautlos und wunschlos zugehört hatte und mit dem letzten Ton davongeflogen war. Auch wir waren einmal hinuntergegangen und hatten Ilse, die damals vierjährige, mitgenommen. Auf meines Bruders Schoß hatte sie gesessen, das Köpfchen dicht an seine Brust geschmiegt, und in dem blassen Schein, den die Straßenlaternen heraufsandten, hatte ihr Kindergesichtchen seltsam verklärt ausgesehen. Dann wünschte sie sich eine Geige, und Gerhard, der damals gute Zeit hatte, schenkte sie ihr zum Weihnachtsabend. Das kleine Mädchen setzte sie an und strich mit dem Bogen über die Saiten. Ob es gedacht hatte, in dem braunen Kasten säßen all die süßen Melodien gefangen, und es brauche sie nur hervorzulocken? Bei dem ersten harten schrillen Strich war ein Zittern durch den kleinen Körper gelaufen, und plötzlich hatte das Kind, in einer Enttäuschung, die über seine Kraft ging, die Geige auf den Boden geworfen und zertreten. Der Ausbruch der Heftigkeit und Wildheit war etwas so Fremdes an ihr, daß die Eltern ohne zu strafen sie erschreckt in die Arme schlossen. Nie wieder hat Ilse nach einer Geige verlangt, war auch nicht wieder hinuntergegangen zu dem jungen Zauberer. Der verließ bald nachher das Haus. Nur einmal, als wir von unten heraufkamen, hatten wir das Kind auf der Erde liegend gefunden, die Ohren an die Dielen gedrückt, um den Tönen zu lauschen.

Ich selbst hatte mir wohl zuweilen Gedanken gemacht, was einmal aus meiner kleinen Ilse werden sollte, deren Zeugnisse immer etwas unter dem Durchschnitt zurückblieben. Nur Betragen und Aufmerksamkeit waren tadellos, und die Liebe der Lehrer gehörte der kleinen Träumerin. Ich hatte dann immer an ihre geschickten Finger gedacht und an die fleißige, lustige Frau, die an ihrer Wiege gesessen hatte. Aus diesem Grunde war mir der Umgang mit den Volckmännern, wie wir die Geschwister nannten, doppelt recht gewesen; denn ich sah, daß sich in allem Künstlerischen, Verfeinerten ein neues reiches Feld für die Arbeit der Frau auftat, und ich selbst, die so ganz auf das Theoretische angewiesen war, schätzte doch jene praktische Verbindung von der Arbeit der Hände und der Schönheitsfreude des Herzens.

Ich bewunderte Ilsens Puppenkleider, in denen sie geschickt nachahmte, was sie in dem sich immer erweiternden Atelier der Volckmänner sah, und hatte mich schon an den Gedanken gewöhnt, mein Kind seine feinen, zierlichen und anmutigen Gedanken, die ganze süße Schlichtheit seines Wesens in Zeichenstift und Nadel und Schere ausdrücken zu sehen. Aber unmusikalisch, wie ich selbst bin, hatte ich das Weben der Töne vergessen, die dort zwischen Stoffen und Falten hin- und herflatterten wie singende Vögel. Und erst als Ilse mich in ihrem zwölften Jahre um eine Geige bat, kam mir eine Ahnung, wohin diese junge Seele eigentlich verlangte.

Nikol half sie mir aussuchen, brachte sie mit mir nach Hause und kaufte selbst von seinem knappen Stundengelde – denn er gab damals schon lange Stunden und steuerte nicht nur als »Kohlenbunker« zum Haushalt bei – ein feines, seidenes Tüchelchen in einem zarten Violett, in einer musikalischen Farbe, wie er sagte, in das er die braune Geige einhüllte. Nikol war dabei, als Ilsens schlanke Kinderfinger dieses weiche Kleidchen abzogen und scheu und ehrfürchtig über die Saiten der Geige strichen. Das gab einen weichen, zarten Klang. Dann sah sich das Kind nach ihm um, und in seinen Augen standen Tränen. Und der damals achtzehnjährige Jüngling nahm sie in die Arme, hob sie hoch und sagte jubelnd: »So hoch, Ilse, so hoch.«

Ein seltsamer Zufall ermöglichte es mir, für Ilse den besten Lehrer vom ersten Tage an bezahlen zu können. Tante Meta starb und setzte mich zur Erbin des kleinen Kapitals ein, das sie außer ihrer Stiftsstelle besaß. Ihr Testament war ihrer würdig, und die Bevorzugung meiner Person beruhte eigentlich auf einem Irrtum. Sie schrieb, sie sehe ein, daß sie sich in mir geirrt habe. Sie hätte gedacht, ich würde es machen wie die anderen und mich dem ersten besten Mann an den Hals werfen, der meinen Lebensweg kreuzte. Statt dessen hätte ich versucht, auf eigenen Füßen zu stehen und ein vernünftiges Frauenzimmer zu sein, soweit das bei meinen beschränkten Fähigkeiten möglich wäre. Darum hinterließe sie mir das kleine Kapital. Ihre Prophezeihungen seien noch immer in Erfüllung gegangen, mein Bruder Gerhard sei der beste Beweis dafür. In ihrer alten Rabensehnsucht schien sie ihn gesucht zu haben, wie wir selber es alljährlich taten. Sie meinte freilich, ich hätte besser getan, sein Kind in Paris in einem Findelhaus zu lassen. So läge irgend eine sentimentale Torheit, wie es schien, in der Wahrenburg'schen Familie, und selbst sie wäre ihr unterworfen, indem sie so gewissermaßen in mir das Kind des Leichtsinns unterstütze. Mit dem Nachsatz war Ilse gemeint, und ihr in der Tat sollte das Geld zugute kommen. Mit einem ruhigen Herzen bin ich damals in meine Sommerferien nach Neu-Bellin gegangen, zum letztenmal.

Marianne hatte nach der Geburt von ein Paar kräftigen Zwillingsjungen ihren Stolz und ihre Lebenskraft auf ein anderes Gebiet gelegt. Nur selten und flüchtig war sie noch nach dem alten Jagdschloß gekommen, das ein Verwalter für die Herrschaft in Ordnung hielt. Ich selbst hatte mit Ilse wenig Gebrauch von ihrer Erlaubnis machen können, die Ferienzeit dort zu verleben, denn die ersten Iahte meines Lebenskampfes in Berlin waren hart gewesen. Nun hatten sich Oldenburgs entschlossen, bas Gut zu verkaufen. Dem Grafen, der ein echter Welfe war, sagten die preußischen Verhältnisse wenig zu, und Marianne, deren Stolz jetzt sein Stolz geworden, brauchte nicht mehr das Knistern der alten Reichsfahne und die steiflehnigen Stühle in ihrem Turmzimmer, um ihren Hochmut damit zu schmücken. Das Schloß hatte einen Käufer gefunden um dieselbe Zeit, um die der alte Herr von Dittmar gestorben war. Und so benutzte ich in diesem Jahre gern die Erlaubnis, die Sommerferien dort zu verbringen, da es das letztemal war.

Auch Bettina und Hans von Dittmar kamen herüber. Hans war als Fahnenjunker bei den Potsdamer Garde-Ulanen eingetreten. Bettina hatte gelernt, was Kinderpflege und Krankenhäuser sie lehren konnten, und hatte die Absicht, ehe sie ihre eigenen Pläne verwirklichte, noch einige Jahre in England sich in den Musteranstalten für verwahrloste und verwaiste Kinder umzusehen.

So war es für uns alle ein Abschiednehmen. Hans von Dittmar wollte sich noch nicht schlüssig machen, ob er das Gut verkaufen oder behalten solle. Der alte Verwalter war ausgezeichnet, und der bunte Rock reizte ihn noch. Ich fühlte wohl, daß für beide Geschwister in den Räumen des stolzen Herrenhauses jetzt wirklich das Gespenst umging, das ihre leichtsinnige Mutter einmal so geschickt in Umlauf gesetzt hatte, und ich wunderte mich nicht, daß sie fast täglich den Weg am See entlang kamen, um die Abende bei Ilse und mir zu verbringen.

Zuweilen fand sich auch der alte Kantor ein. Ilse hing besonders an ihm, ging oft mit ihm in die kleine Dorfkirche und trat die Bälge an der Orgel, wenn er spielte. Orgelspiel sagte meinem Herzen noch am meisten zu. Es ließ sich dann leichter hinauftragen auf der mächtigen Fülle dieser Töne, in der einfachen, schlichten Umgebung der Dorfkirche.

So saß ich denn und hörte zu, während die Türen nach dem Kirchhof weit geöffnet waren, damit Luft in das Gotteshaus käme, und mit der Luft zusammen die Sonne, die in breiten Streifen und flimmernden Stäubchen auf die roten Ziegel fiel. Später gingen wir wohl an den Gräbern vorüber, standen eine Weile an dem schlichten Holzkreuz mit dem Namen von Volckmanns Frau und traten noch auf ein paar Augenblicke in die Kantorei.

Auch hier überall Luft und Licht. Die Fenster der Schulstube und die Tür weit offen, und an der schwarzen Wandtafel die abgeteilten Endungen der Deklination. Auf der Schwelle des Hauses, im Grasgarten oder in der Küche die frische Stimme Mariechens, der zurückgebliebenen Tochter, denn nun war das ganze Nest leer. Die Knaben waren in der Welt verstreut, je nach ihren Fähigkeiten, im Seminar oder als Inspektoren auf dem Lande. Eine Tochter war an einen benachbarten Dorfschullehrer verheiratet, und auch Mariechen wußte schon, wohin sie gehen würde, wenn der Vater sie nicht mehr brauchte. Nicht weit, wie Bettina sagte, nur hinüber nach Dittmarshof zu dem jungen Rechnungsführer.

So war es leer geworden um den Alten, und er hatte den Platz an dem dünnstimmigen Instrument für sich selbst. Er meinte auch, diese feinen, spinettartig dünnen Töne paßten gut zu seiner älter werdenden Stimme.

Wir sprachen viel von seinem Jungen. Viel Gutes und auch viel Zaghaftes, denn Nikolas Volckmann hatte nun lange die Zeit hinter sich, da es ihm genügte, den kopflosen Zuhörerinnen auf den Rohrpuppen vorzuspielen. Zwar schlief er noch in der Küche und trug auch noch den Ascheimer hinunter, früh morgens oder spät abends. Zwar reckte er noch die Arme in den immer ausgewachsenen Joppen und lachte; aber dazwischen schüttelte er auch die Fäuste und trotzte, und neben der Sonne ging der Sturm durch seine Augen. Den ließ er aus an dem Flügel, den die beiden Schwestern nun wirklich erb- und eigentümlich erworben hatten. Grade als er für Ilse die kleine Geige gekauft hatte, in dem Frühling, der diesem Sommer in Neu-Bellin voranging, hatte er das Konservatorium, auf dem er eine Freistelle besaß, verlassen. Wegen künstlerischer Differenzen mit seinen Lehrern, denen sich der junge Trotzkopf nicht fügen wollte. Und bittere Tränen waren von den Schwestern geweint worden, vorsichtig, wie arme Mädchen weinen müssen, wenn jeder Tropfen, der auf ein kostbares Kleid fällt, die Arbeit langer Tage vernichten kann.

Eines Tages, als wir zusammensaßen, die aus Dittmarshof und Ilse und ich, in der Halle des efeuumsponnenen Schlößchens, kam Nikolas zu Fuß von der Bahn her, einen Rucksack auf dem Rücken und einen derben Stecken in der Hand. Ilse sah ihn zuerst und sprang auf und rief ihn. Er kam ohne Scheu herein, gab seinen Rucksack an den alten Diener, der hier eine Art Ruheposten versah, und setzte sich zu uns. Es fiel mir in dem Augenblick wieder auf, wie ganz unabhängig von seiner Umgebung er war, wie wenig ihn die Ritter in ihren Rüstungen in den Ecken, die Fahne, das vornehme Interieur beunruhigten. Es lag so viel Stimmung in dieser Halle, auf deren Ausstattung Marianne immer ganz besonderen Fleiß verwandt hatte. Aber Nikolas Volckmann stand so fest auf der Schwelle, als er aus diesem staubigen Tage kam, den er noch an seinen Stiefeln mitbrachte, und setzte sich so ruhig an den Tisch, als hätte er hier ewig Heimatrecht gehabt. Er nahm seinen Strohhut ab und strich sich die feuchten, blonden Haare aus der hohen Stirn.

»Ja, nun bin ich wohl so weit. Wissen Sie, was ich hier will, Fräulein Wahrenburg?«

»Nichts Gutes,« sagte ich in meiner Ängstlichkeit.

Da lachte er und schüttelte den Kopf. »Doch etwas Gutes. Mich selbst will ich, und mit dem Vater darüber sprechen. Es geht nicht länger mit mir auf den Schulen für Kunst. Mein eigener Lehrer sein will ich für eine Zeit. Und nicht in Berlin, wo sie mir in den letzten Jahren alles verstaubt haben. Schlimmer als es die Räder der vorüberrollenden Wagen mit den Blättern der Bäume an der Landstraße getan haben. Da bin ich eben vorübergekommen. Die Ebereschen sind grau und die Hecken am Wege wie Besen. Es ist Zeit, daß ein Gewittersturm kommt und alles abwäscht. Helfen kann ich meinem Vater nicht, wenn ich ihm das Gewitter in seine Ferienschulstube bringe.«

Wir sprachen noch hin und her. Er sagte, er wolle es mal in einer anderen Stadt versuchen, an Weimar dachte er oder gar an Paris. Und Bettina, die immer so gern half, bot ihm freundlich an, ihn für die nächste Zeit mit Geld zu versorgen. Da lachte er und schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er, »lieber nicht. Ja, wenn Ihnen die Musik wäre, was sie mir ist, und Sie verstünden, was ich will und warum ich ringe, dann würde ich mit Freuden nehmen, dann wäre es wie von einem Kameraden. Aber ich habe ja als Knabe zugehört, wenn Sie bei Vater spielten. Guter Wille, mehr nicht. Ich weiß ja, daß hier alle,« – er sah flüchtig nach Ilse hin und hob die Hand, »Du bist noch ein Kind, Ilse – daß hier alle anderen nur den Menschen sehen, dem sie helfen wollen, und nicht die Sache. Auf den Menschen aber kommt's nicht an.« Er legte seine schönen, langen, starken Hände auf den Tisch. »Auf mich kommt's nicht an, nur auf das, was in mir klingt. Kann ich das nicht herausbringen, so mag's um das Gefäß geschehen sein, dem soll nicht geholfen werden.«

Und als er unsere ernsten, beschämten Gesichter sah – denn wir wußten alle, er hatte recht, wir verstanden wirklich nichts von dem Klingen in seinem Herzen –, da nahm er Ilses Hände in die seinen und sagte, wieder mit dem alten Siegesausdruck: »Aber fürchte Dich nicht, Ilse, das Klingen siegt, und wenn mich einer begreift, so wird's der Vater sein.«

»Übrigens,« meinte er, als er ging, »es ist auch nicht so arg mit dem Verhungern. Wir Volckmänner haben Fortunas Säckel. Wir haben ihn in acht Teile geteilt, darum ist er nicht üppig; aber ausreichen tut das achtmal dividierte Beutelchen für jeden von uns. Ich habe mir sogar einen kleinen Zehrpfennig gespart. Jetzt gehe ich zu Fuß nach Weimar, und im Notfall fiedele ich auf den Kirmessen.«

Dann stand er wieder auf der Schwelle, da, wo sich Licht und Schatten teilten, und schwenkte seinen Hut. Wir gingen ihm aber nach und sahen von der Rampe nach dem See hinunter, wie er unter den Kiefern dahin schritt. Und wenn ihn auch keiner von uns begriff, unruhig über sein Schicksal konnten wir doch nicht sein.

»Närrische Käuze, die Künstler,« sagte der Garde-Ulan, »närrische Käuze. Da reite ich lieber den tückischsten Gaul, mit dem mich mein Rittmeister in Versuchung führen will. Er hat das neulich getan, und nach fünf Minuten saß ich auf der Erde, aber die Sporen hatte ich dem Racker doch gegeben, und der Rittmeister war zufrieden. Da weiß ich doch, daß ich Fleisch und Blut unter mir habe. Aber so 'n musikalischer Pegasus, na, ich danke.«

Bettina lachte, aber Ilse sah nachdenklich aus. Und an dem Abend, als ich noch spät an ihr Bett kam, lag sie mit offenen Augen.

»Warum schläfst Du nicht, Kind?« fragte ich sie.

»Mutter Franzine,« sie nannte mich schon lange so, »muß er nun zu Fuß gehen, den weiten Weg bis Weimar, und muß er nun wirklich in den Dörfern spielen, wenn er kein Geld hat? Die Leute verstehen ja gar nicht, was er spielt. Ich weiß es ja, ich habe ihm ja immer zugehört in diesem Frühling. Es ist so wild, Mutter Franzine, ich habe oft gedacht, er versteht es selber nicht. Sie werden ihm kein Geld geben, und dann wird er hungern.«

Ich strich über ihre Stirn und beruhigte sie.

»Laß nur, Kind,« sagte ich, »er wird schon seinen Weg finden, und es wird schon die Zeit kommen, wo er und die anderen verstehen werden, was seine Töne sagen.«

Acht Tage später sind wir dann nach Berlin zurückgekehrt, in ein neues Leben hinein. Denn vom Herbst an hatte ich meine Stelle an der Schule aufgegeben, weil sich so viel Privatzirkel fanden, daß sie besser und einträglicher für mich waren.


In den Jahren, die dann noch bis zu Ilsens Konfirmation vergingen, lebte sie schon mehr und mehr für ihre braune Geige. Ich wollte nur, daß sie die Schule beendigte. Sie hatte gebeten, dann dasselbe Konservatorium besuchen zu dürfen, auf dem Nikolas gescheitert war. Denn als einen Gescheiterten betrachteten ihn dort seine Lehrer. Als einen, der seinem eigenen Kopfe nachgegangen war, als einen Besserwisser und Stürmer, von dem man nichts mehr hören würde in der Welt der Kunst. Und das Schlimmste war, daß auch die Geschwister und der Vater nicht viel von ihm hörten. Hin und wieder ein paar Worte, die ängstlich vermieden, von seinen eigenen Kämpfen zu sprechen, und nur die Sorgen von den Seinen nehmen sollten.

Einmal lag in solch einem Brief an die Schwestern ein Zettelchen an Ilse, aus dem stand nur: »Grüß' Deine kleine Geige, Ilse, und erzähle ihr, daß es immer lauter in mir klingt und immer voller. Ich weiß aber jetzt, was ich mit den wilden Pferden anfangen soll und lerne, sie im Zügel zu halten.«

Wir anderen wußten nichts mit den Worten anzufangen, Ilse aber sah uns strahlend an und sagte: »Das habe ich immer gewußt, daß Nikolas einmal ein Tondichter wird.«

Mir war sogar das Wort fremd, das sie da für den Komponisten anwendete, und ängstlicher als je, wenn ich an den lieben Jungen da draußen dachte, schüttelte ich mit dem Kopf.

Die Briefe waren von verschiedenen Orten datiert. In Weimar hatte er es nicht lange ausgehalten, dann kam München, Mailand, Paris und einmal sogar eine selig jubelnde Sommernotiz aus Bayreuth. Er schien sich wirklich mit dem Leben da draußen herumzuschlagen, wie Don Quixote mit Windmühlenflügeln, dachte ich einmal. Aber wenn ich mir auf diesem Gebiete, das mir fremd blieb, bei meinem Kinde Rat holen wollte, sah ich immer in ein Paar ruhig leuchtende Augen. Ihr schien wirklich die äußere Not seines Lebens, die Sorge um Hunger und Durst und durchgetreten Stiefel und schlechte Wäsche viel wichtiger gewesen zu sein, als die Sorge um seine Entwickelung. Da hatte sie ein abgrundtiefes Zutrauen.

Und doch hätten die beiden Volckmänner ihrem Bruder jetzt gerne Unterstützungen gesandt, hätten die Briefe nicht jede nähere Wohnungsangabe ängstlich vermieden, denn in dem Atelier für Eigentracht am Lützowplatz war es geräumiger geworden, je mehr Kleider auf die Rohrpuppen kamen in dem Empfangssalon, in dem noch immer der Flügel stand. Den behielten sie als ein teures Andenken an den Bruder, und nur Ilse saß zuweilen daran und fuhr liebkosend mit den Fingern über die Tasten oder spielte eine einfache Melodie, ein wenig zaghaft, als mache eine Prinzessin aus ihrem eigenen Reiche einen Ausflug in ein Nachbarland, mit dessen König sie befreundet, und das ihr doch fremd ist. Denn fest und sicher wie eine junge Herrscherin führte Ilse ihren Bogen, und die Aufnahmeprüfung in das Konservatorium stellte ihrer Zukunft ein so gutes Zeugnis aus, daß ich selbst anfing, die kleine Geige in ihrem blaßvioletten Seidentuche, das Ilse immer noch zärtlich um sie wickelte, für den heimlichen Schatz unserer Hinterwohnung zu halten.

Bettina war aus England zurückgekommen und hatte in dem kleinen Dörfchen Stolpe am Wannsee ein Grundstück erworben, das sie zu dem so ersehnten Heim für vernachlässigte Kinder umbaute. Sie war nun sicher und bewußt in ihrem Wollen, und der Aufenthalt in England, wo sie lange in Dr. Bernardos Home gewesen war, in jener Musterheilstätte für verwahrloste Kinder, hatte ihr die letzte praktische Sicherheit gegeben. Bettina war durchaus keine entsagende Vorsteherin. Sie war frischer und fröhlicher geworden in diesen Jahren, und ihr schönes, sanftes Gesicht strahlte vor Befriedigung.

Im Kinderheim Stolpe aber fand ich Kantor Volckmann wieder.

Mariechen und ihr Rechnungsführer hatten nicht mehr warten wollen, und der Alte hatte selbst gesagt, es sei nicht gut, daß die Jugendjahre der Liebe unter der Hand fortliefen, wie Dünensand. Aber dann hatte er es in dem leeren Schulhause nicht mehr ausgehalten, und die Bienen und die Gravensteiner sind ihm kein Trost gewesen. Als daher Bettina ihn zu sich rief, daß er der Hausvater würde in dem Kinderheim, da war er gerne gekommen. Das wichtigste Stück seines Gepäcks war das Mozartbild gewesen. Das hatte Bettina in dem großen Saal aufhängen lassen, wo das Harmonium stand. Da spielte der alte Kantor den Kindern die frommen Volkslieder, von der armen Seele, die an der Himmelstür wartet, und es klang wunderbar hinaus nach dem See und nach den Kiefern, wenn der dünne kleine Chor fragte, wo die Seele die Heimat, die Ruhe fände?

Vorläufig hatten der Alte und die Junge Genüge in Stolpe gefunden, und es machte sich ganz von selbst, daß auch Ilse und ich in den nächsten Fahren, in denen das Kinderheim wuchs und sich ausbreitete, hier einen Ersatz für Neu-Bellin fanden. Ich sollte aber hier noch einen anderen wiedersehen.

Bettina hatte mir schon gesagt, daß der Pfarrer, der in der benachbarten Kirche predigte, Käsebier heiße. Und als ich ihn zum ersten Male am Nachmittage in der Kirche predigen hörte, wußte ich gleich, daß er der gute Käsebier aus meiner Jugendzeit sei. Ein wenig unruhig hatte ich der Predigt gelauscht, denn zu viel ist bei seinen Worten auf mich eingestürmt. Nicht einmal seinen westpreußischen Dialekt hatte er überwunden in den Jahren. Als ich das hörte, fragte ich mich in meinem Herzen, warum wir Menschen denn überhaupt immer von Überwinden und Vergessen und Anderswerden sprechen, wenn in einem langen Leben nicht einmal der Tonfall sich ändert, mit dem wir einst unsere Mutter um Brot baten.

Wunderbar weich war ich, als beim Verlassen der Kirche Käsebier auf mich zutrat und mir die Hand gab. Zwei Ringe steckten an seinem Finger, er war Witwer. Seine Frau war vor zwei Jahren gestorben, und eines seiner Kinder besuchte sogar die Schulstunde im Kinderheim, für das er warmes Interesse hatte. Er kam an diesem Abend mit zu uns. Mancher Name fiel, der lange nicht genannt war, und manches Bild stieg vor uns auf, vor ihm und vor mir.

Wir haben uns dann in dem Sommer und in dem folgenden Winter oft da draußen getroffen, und ich wunderte mich nicht, als an dem Weihnachtsfeste im Kinderheim er mich hinter dem abgebrannten Weihnachtsbaum, als die anderen mit den Kindern den Raum verlassen hatten, noch einmal fragte, ob ich seine Frau werden wolle? Daß es Ilse bei ihm gut haben würde, wüßte ich ja, wie er mir gern seine Kinder anvertrauen wollte. Nur sollte ich nicht denken, fügte er hinzu, daß diese Erwägungen ausschlaggebend seien. Ich wüßte wohl selbst, daß ich heute noch als Frau begehrenswert sei. Es würde Unrecht an einer Toten sein, wenn er mir sagte, daß er nicht glücklich gewesen wäre. Er sei wohl glücklich gewesen, ruhig und still; aber das, was er damals auf dem Ball bei Amtsrats empfunden, und in den Tagen nachher und vorher, das sei doch das einzige gewesen, was sein Leben hoch über sich selbst herausgehoben, zu dem fernen Wunderland, nach dem sich die Jugend sehnt. Und das sei auch heute so; was er mir vorschlüge, sei heute noch eine Liebesheirat und nichts anderes.

Das hat mich dann grad gehindert, diese treue Männerhand zu ergreifen. Oder es war vielleicht nur der Vorwand für mich, denn ich brauchte ja auch keine Versorgung und auch keinen Pflichtenkreis. Das hatte ich mir ja alles selbst geschaffen. Aber zwischen ihm und mir stand immer noch der Mann, der nun so viele Jahre ein unbekanntes Grab hatte, fern in den Fiebergrüften Javas, daß nicht einmal meine Gedanken es finden konnten, wenn sie es suchten. Und das sagte ich ihm auch. Ich sagte ihm, daß Wulf noch immer bei mir sei, bei allem, was ich in meinem Leben täte, und daß ich darum gar keinen anderen Mann haben könnte, weil jener immer zwischen mir und ihm stehen würde, nicht wie ein Schatten, sondern gegenwärtig. Und als er sich ereiferte, mir beweisen wollte, daß das Torheit sei, gab ich es ihm gern zu, denn ich wußte freilich, daß es nie eine Weisheit war. Noch einmal reichten wir uns die Hand über einer Hoffnung, die ich ihm zerstören mußte.

Doch hielt mich das nicht viel auf und nahm meine Gedanken wenig in Anspruch. Die gingen in dieser Zeit um Ilse herum. Und wie eine echte, rechte, eitle Mutter spann ich Träume und Hoffnungen, wenn ich sah, wie Hans von Dittmar immer öfter die Sonntage in Stolpe verbrachte und auch wieder bei mir in der kleinen Hinterwohnung vorsprach, die einst dem Kadetten vertraut gewesen war.

Ich fand es ganz natürlich, daß Ilse ihn reizte. Hingen doch selbst die Augen, der blassen Kinder in Stolpe an ihr wie an etwas Feinem, Zartem, Wunderbarem, wenn sie neben dem Harmonium stand und den Bogen führte, wenn es so weich und rein aus der kleinen Geige quoll. Ich meinte auch, sie würde geborgen und glücklich sein bei Hans von Dittmar, der alles hatte, was die Jugend wünscht, der stürmisch und kraftvoll war und sein Leben schon zügeln würde wie seine Pferde. Denn im Herzen mißtraute ich der Kraft meines Kindes, sich durch die verschlungenen Pfade hindurchzufinden, die der Künstlerberuf gibt, und meinte, sie hätte nur die Seele, aber nicht den Charakter, der dazu gehörte.

Viele Stunden haben die beiden miteinander gesprochen. Im Garten in Stolpe, oder in meinem Zimmer. Und zu der großen Jahresprüfung im Konservatorium kam der Garde-Ulan auch, und sein Säbelklirren ließ die jungen Mädchen auf dem Podium leise lächeln und sich höher aufrichten. Das war der Tag, an dem Ilse so wunderschön spielte, daß ich nachher nicht einmal den Namen des Stückes wußte, so oft ich ihn auch gehört, weil die Töne mich fortgetragen hatten in eine andere Welt. Da hatte sie in ihrem glatten Hänger von braunem Samt oben gestanden und ihren Kopf mit den hellblonden Scheitelhaaren, bei denen ich immer denken mußte, es fiele Sonne auf ihr Haupt, gegen die kleine Geige geschmiegt. Wie ein feiner Strich aber hatte das violett blasse Tüchelchen aufgeleuchtet, das sie sich unters Kinn geschoben hatte. Ordentlich siegesgewiß war ich an diesem Tage.

Und ich sah Ilse in Dittmarshof vor dem Kamin, in dem das Feuer des Herdes nun so lange erloschen war und an dem ich selbst einst meines Lebens schönste Stunde verbracht hatte. Und ich fragte mich nicht einmal, ob sie Hans Dittmar liebe, so selbstverständlich schien mir das, da sie ihn schon so lange kannte und schon ihr kleines Kindergesicht in den blanken Knöpfen seiner Kadettenuniform gespiegelt hatte.

Die Prüfung, bei der Ilse so gut abgeschnitten hatte, war wie immer im Frühling gewesen. Der Sommer, der dann folgte, gab uns beiden nur kurze Freistunden, und mein heimlicher Plan, mit meinem Kinde vielleicht an die See zu können, zerschlug sich, denn wichtige, gut bezahlte Stunden, die sich zufällig gerade in die sonst stillen Sommermonate schoben, gaben mir nur vierzehn Tage frei. Die verlebte ich draußen in Stolpe im Kinderheim, wohin Ilse schon vorher gegangen war. Auch sie war in diesen Ferienwochen stärker beschäftigt als sonst, denn bei den Volckmännern gab es das erste richtige Ereignis ihres Atelierlebens, eine vornehme Ausstattung. Ilse hatte den beiden Mädchen so viel bei den Entwürfen geholfen, daß sie fast mehr über dem Zeichenbrett saß, als ihr gut war. Borten mit stilisierten Narzissen und Säume, in die sie griechische Muster einnähte, nahm sie auch mit herüber zu Bettina, wo sie fast die ganzen Ferien verlebte. Wenn ich sie am Sonnabend dort aufsuchte, fand ich sie immer ein wenig zarter, in den Händen eine dieser langen feinen Arbeiten, deren Geschmack und Stil allmählich das Volckmann'sche Atelier in den Vordergrund des Interesses gebracht hatte. Ich schob aber auch das auf eine erwachende Neigung zu Hans von Dittmar. Doch rührte ich nicht daran und dachte an die bitteren Stunden meines jungen Herzens, als Mama mit ihren harten Händen die Knospenhüllen von meiner Liebe zu Wulf abgestreift hatte.

Ilse war glücklich da draußen bei Bettina, am glücklichsten vielleicht mit dem alten Kantor. Da kauerte sie auf den Stufen des Harmoniums, wenn er spielte, oder begleitete ihn auf ihrer Geige und ging auf weiten Wanderungen mit ihm unter den Kiefern des Grünewalds. Man wußte dann nicht recht, wer von den beiden der Glücklichere, Genußfähigere sei, der alte Mann oder das junge Mädchen. Einmal wanderte ich mit ihnen die Havel hinauf, bis zur Fähre, die nach der Pfaueninsel führt, und wir ließen uns übersetzen. Das kleine Gärtnerhaus war ganz vergraben in Klematis und Rankenrosen, und die Gänge, die von allen Seiten zu ihm führen, bewachsen und bewuchert mit Jelängerjelieber. Der hatte an dem Juliabend seine Blütendolden aufgemacht und goß den Duft wie aus feinen Brausen auf uns hernieder. Wir waren durch die Insel gewandert zu den wunderbaren alten Eichen und dann zurückgekommen und warteten am Gärtnerhaus auf die Fähre.

Ganz nachdenklich waren wir alle drei. Wie das Wasser so plätscherte, und der breite schöne Fluß majestätisch und doch still auf uns zu kam, und sich drüben vom Ufer der Kahn mit dem Fährmann löste, der in dieser Beleuchtung und in dieser Stimmung immer nur eine Deutung für das Herz des Menschen hat. Der Kantor aber sagte, indem er auf das nahende Boot deutete: »Charon kommt.«

Wir sahen beide zu ihm hin, wie sich sein Profil gegen den Abend abhob, mit dem langen, weißen Haar und der scharfen Linie, und zum erstenmal entdeckte ich in diesem Gesicht unter den tausend Fältchen des Lebens die der Sorge. Ilse mochte sie besser kennen als ich, denn sie neigte ihr weiches Gesicht auf die Hand des Alten und sagte leise: »Noch nicht. Vor Charon kommt noch das Glück.«

Da strich er über ihre Haare und meinte lächelnd:

»Ja, Du Kind, Du glaubst es.«

Und sie lauschte nach dem Wasser, und der Duft von den Rosen und dem Jelängerjelieber hüllte sie ganz ein. »Ich glaube, weil ich es weiß,« sagte sie ruhig.

Aber all diese Worte habe ich erst später verstanden.

Im Herbst richteten wir uns dann wieder in Berlin ein. Und eines Tages legte Ilse ein Konzertprogramm vor mich hin. Evertbusch sang, der Liebling der Berliner. Sein erster Liederabend war angezeigt, und über dem letzten Teil stand: »Ungedruckte Kompositionen von Niklas Volckmann.«

Ich sah auf und Ilse an. Sie strahlte wie eine kleine Sonne.

»Ja,« sagte sie, »lies es nur. Keiner von uns hat es gewußt. Nicht die Schwestern, nicht der Vater. Und nun singt ihn der erste Sänger im Beethovensaal. Nicht übel fängt er an, nicht wahr?«

Wir gingen natürlich alle hin. Die aus Stolpe kamen, die Volckmänner vom Lützowplatz, und wir saßen in einer der ersten Reihen, denn jeder wollte es sich etwas kosten lassen und beweisen, wie wichtig ihm das sei, was sich da heute ereignete.

Evertbusch war der vom Publikum bevorzugte Liedersänger. Und weil er wirklich ein Künstler war und nicht nur von einer Mode auf den Schild gehoben, so versuchte er oft, dem Publikum eine Gabe zu bieten, nach der es noch nicht von selber griff. Für die jungen Liederkomponisten war er wie eine Säule und wie eine Hoffnung.

Aber wir hörten kaum, was er mit seiner wundervollen Stimme über sein Auditorium ausgoß. Wir hatten alle in den Händen das Programm, auf dem stand: Lieder aus des Knaben Wunderhorn. Komponiert von Niklas Volckmann. Der alte Mann saß zwischen seinen Töchtern, aber in der letzten Pause vor den Liedern stand Minna auf und wechselte den Platz mit Ilse. Die schob nun ihre Hand in die seine. Und dann sang Evertbusch ein Lied nach dem anderen, sang mit Begeisterung und Hingabe, ja als seine Zuhörerschaft immer kühler wurde, fast mit der Wärme eines Lehrers, der seine Schüler überzeugen will, die Worte, die Wendungen der Melodie hervorhebend. Aber als er geendet, konnte niemand darüber im unklaren sein, daß der Beifall des Publikums dem Sänger galt und nicht dem Komponisten; der eine und der andere von den Kritikern, die um uns herumsaßen, betonte das auch und mischte in das Klatschen den Namen »Evertbusch«, und als einer schüchtern »Volckmann« rief, zischte es um ihn her. Evertbusch zuckte die Achseln und machte eine liebenswürdige Bewegung der Entschuldigung mit den Händen, und dann schüttelte er den Kopf und gab zuerst noch einmal mit dem Eigensinn des Entdeckers eines von den Volckmannschen Liedern zu, das letzte, was er gesungen: »Laß rauschen, Lieb, laß rauschen.«

Dann aber, dem Drängen des Publikums nachgebend, sang er das, was alle von ihm hören wollten, was er hundertmal gesungen hatte. Und still, ganz still sind wir an diesem Abend nach Hause gegangen. –

Ich wollte gern mit Ilse sprechen, aber das war nicht möglich. Sie ging auf nichts ein. Sie, die sonst immer weich war und jedermann entschuldigte, schüttelte den Kopf und sagte: »Dumm ist das Publikum, Mutter Franzine. So ist es immer gewesen und wird immer so bleiben. Und morgen gehe ich zu Evertbusch.«

Es war sonst gar nicht ihre Art, Künstler persönlich aufzusuchen. Von all dem Drum und Dran eines Kunststudiums, das ich am Anfang so gefürchtet hatte, war nie etwas an sie herangetreten. Wenn sie mit den Kameraden, mit denen sie verkehrte, zusammen ging, so sah ich immer, wie anders man sie behandelte, als die Kameradinnen. Wohl schob einer der jungen Leute einmal seinen Arm in den ihren, und sie schien nicht einmal zu wehren; aber nach kurzer Zeit ließ er sie los und ging lebhaft sprechend neben ihr.

Ich hatte anfangs gemeint, sie in jedes Konzert begleiten zu müssen. Ich hatte so viel gesehen, was mich abstieß. Das Zusammensitzen auf den Treppen der Philharmonie; das halbe Lagern in dem vierten Rang der Oper, wenn Wagner gegeben wurde; den ganzen freien ungezwungenen Ton unter diesen jungen Mädchen und jungen Leuten.

Es war ein Opfer für mich gewesen, nach meinem anstrengenden Arbeitstage am Abend noch Musik zu hören. Dann hatte Ilse selbst gesagt, ich möchte sie doch allein gehen lassen. Und als ich sie eine Weile beobachtet hatte in diesem oft mänadischen Reigen, in dem ich mich immer fremd fühlte, gab ich ihr recht. Sie ging freilich auch in diesem Opferzuge, aber wie eine der Korbträgerinnen der griechischen Tempelfriese, die ihr Weihgeschenk auf dem Kopfe tragen und ganz sicher und still schreiten.

Darum war ich erstaunt und fast erschrocken, als sie zu Evertbusch ging. Doch mußte sie sich noch am Konzertabend mit dem Kantor verabredet haben, denn er kam sie am nächsten Tage holen, aufgeregt, ein wenig verwirrt.

Ich blieb ganz unruhig zurück und war froh, daß Hans von Dittmar kam, der an diesem Abend in Berlin eine Gesellschaft mitmachte und vorher bei uns vorsprach. Ich erzählte ihm, wie wenig Beifall die Volckmannlieder gefunden hätten, wie sich das Publikum gegen ihre Vertonung gewehrt hatte und dem beliebten Sänger, so gut das ohne Kränkung ging, seine Mißbilligung ausgesprochen hatte.

Hans sagte achselzuckend und ein wenig überhebend: wir müßten doch nun wissen, daß Niklas Volckmann ein verbummeltes Genie sei und nichts anderes. Die Volckmänner seien ja tüchtig, und er hätte gewiß nichts gegen sie. Entzückender angezogen als Ilse ginge niemand, auch nicht in seinen Kreisen. Das Genie der Schwestern säße in den Fingerspitzen. Aber bis zum Künstler, der die Welt zwingt, sei doch noch ein weiter Weg, und er wünsche nur, der Alte stürbe und erlebe die Enttäuschung nicht. »So ein verbummelter Musikant, Fräulein Wahrenburg!« – und er riß an seinem blonden Schnurrbart.

Ein wenig mußte ich lachen. »Ach, Hans, Sie meinen es ja gar nicht so, wie Sie es sagen.«

Da nahm er meine Hand und sah mich an, und in seinen Blick kam etwas Dunkles. »Ich meine es doch so. Hüten Sie die Phantasie des Kindes. Ein verbummeltes Genie kann seinen Reiz haben für eine Siebzehnjährige.«

Nun lachte ich wirklich. Da fiel der Gardeleutnant von ihm ab, als würfe er seinem Burschen den Mantel zu. Er küßte meine Hand und lachte auch. »Übrigens, Hans von Dittmar fürchtet sich nicht.« Und nun waren wir einig.

Ilse kam noch zurück, während er da war. Ganz aufgeregt, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie erzählte von ihrem Besuch bei Evertbusch, so lebendig, so anschaulich, daß es mir schien, ich wäre dabei gewesen.

Evertbusch war im Sommer in Bayreuth gewesen und nachher für einige Zeit ins Fichtelgebirge gegangen. Ilse schilderte uns die Felsen des Fichtelgebirges, die uralten Tannen mit ihren langen Flechtenbärten auf der Windseite, die Einsamkeit, die Poesie, als käme sie eben von dort zurück und hätte alles gesehen. Und hier auf seiner Wanderung an diesen dunklen Bächen, wo die Felsen standen, als hätten Riesen gespielt, hier hatte Evertbusch, noch ganz unter dem Eindruck des in Bayreuth gehörten Nibelungenrings, gelegen und die fabelhaften Kulissen der Vorzeit bewundert, als plötzlich unter den Bäumen hervor das Siegfriedmotiv an sein Ohr drang, wieder und wieder, hell und triumphierend wie Fanfarengeschmetter. Wie ein Märchen sei es gewesen. Und verführt von dem Reiz der Stimmung, hatte er sich aufgerichtet und Mimes Worte gesungen:

»Wer ist's, der im wilden Wald mich sucht?
Wer verfolgt mich im öden Forst?«

Da war ein Jüngling unter den Bäumen hervorgekommen, auf ihn zu, und hatte ihn angelacht und ihm die Hand gegeben. Und so hatten sie ihre Bekanntschaft gemacht: Evertbusch, der berühmte Sänger, und Niklas Volckmann, der arme Musikant. Sie sind dann zusammen ein paar Tage lang durch jenes wilde Gebirge gegangen und sind Freunde geworden.

Niklas hat ihm seine Lieder gesungen und seine Träume vorgespielt, wo sie ein Klavier fanden, wenn sie einkehrten, und Evertbusch hat an ihn geglaubt.

»Ja,« sagte Ilse, und ihre Augen leuchteten uns an, »er hat es uns gesagt, seinem Vater und mir, daß er an ihn glaube. Und das Publikum ist dumm, hat er gesagt, Mutter Franzine, gerade wie ich, und der Niklas wird es ihm noch beweisen. Die Lieder läßt er jetzt verlegen. Denn wenn er sie singt und noch einmal singt, kommt der Verleger ja doch. Nicht weil Niklas die Töne gedichtet hat, sondern weil Evertbusch sie singt; so ist es in der Welt. Und dann schickt er ihm das Geld. Denn umsonst gibt er sie nicht fort, sagt er. Und wißt Ihr, was der Niklas tut? Er schreibt eine Oper.«

Sie warf das letzte wie einen Triumphruf hin, und dann strich sie sich die Haare aus der Stirn.

Es kam nun wie eine große Erschöpfung über ihre stille Natur, und ich war fast erschrocken, sie so aus sich herausgehn zu sehen.

Hans von Dittmar aber nahm in Gedanken seinem Burschen den Mantel seines Stolzes wieder ab und hüllte sich hinein, das heißt, er schlug die Sporen zusammen, näselte etwas von Verspätung, und daß das gnädige Fräulein heute wohl keine Zeit für ihn habe, und klirrte davon. Ilse aber blieb den ganzen Abend still, und dann suchte sie auf ihrer Geige die Melodie des letzten Liedes zusammen, das Evertbusch am Abend vorher gesungen hatte:

»Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,
ich weiß nicht, wie mir wird.
Die Bächlein immer rauschen
und keines sich verirrt.«

In den nächsten Tagen durchblätterte sie ihre alten Schulbücher nach allem, was sie über das Fichtelgebirge fand. Es war aber nicht viel. Ich konnte mich nicht enthalten, ihr die schlechten Kritiken vorzulegen, die nach dem Konzert kamen. Man nannte es eine geniale Verirrung Evertbuschs, sich des jungen Komponisten angenommen zu haben, man zog auch die alten persönlichen Streitigkeiten wieder ans Licht und wiederholte, daß Volckmann schon in seiner Schülerzeit seine eigenen Wege gegangen sei und durch denselben Eigensinn, der aus seinen Kompositionen spräche, die Teilnahme seiner Lehrer an seinem ursprünglichen Talent verloren hätte.

»Das ist häßlich und abscheulich,« sagte Ilse. »Über seine Kompositionen können sie urteilen, so gut oder so schlecht sie wollen; aber den armen Jungen selbst sollten sie aus dem Spiel lassen, der hat wirklich sein Brot ...« Sie schwieg.

»Mit Tränen gegessen, willst Du sagen, nicht, Ilse?«

Da schüttelte sie den Kopf.

»Ach nein, das nicht. Das ist nicht die Art der Volckmänner, aber trocken war es, und oft war es gar nicht da. Dann sangen sie immer alle drei, besinnst Du Dich, Tante Franzine? Singen hilft gegen den Hunger, sagten sie.«

Sie ging jetzt öfters zu Evertbusch, der großen Gefallen an ihr gefunden hatte, und dessen Frau mir in den nächsten Tagen einen Besuch machte. So kam sie in ein feines, vornehmes Künstlerhaus, und ich hätte es wohl zufrieden sein können, wenn nicht meine Herzenspläne mit ihr andere gewesen wären, und ich nun zuweilen fast unruhig wurde, wenn sie in eines ihrer weißen Gesellschaftskleider schlüpfte, dessen Falten von dem kurzen Mieder herab sie so weich einhüllten.

Zuweilen nahm sie ihre Geige mit, und zuweilen habe ich sie auch begleitet. Dann sah ich, wie viel Boden mein Kind in diesen Kreisen gewann, in denen ich nie heimisch wurde, wie man sie bewunderte, und wie Evertbusch alles dazu tat, um zu zeigen, daß hier etwas Besonderes heranwüchse. Nicht nur in bezug auf die Lieblichkeit der Erscheinung, sondern auch als Künstlerin. Sie blieb sich aber immer gleich, still und zurückhaltend. Nie wieder kam ein Ausbruch, wie der nach ihrem ersten Besuch bei dem Künstler. Nur öffnete sie, als ich das erste Mal da war, den großen Kasten mit Photographien, der in dem Bibliothekzimmer stand, drückte mich in einen der Ledersessel und breitete die Bilder des Fichtelgebirges vor mir aus. Die bizarren Felsen von Luisenbad, die Waldpartie, die Ausblicke nach Franken, und die Burgruine des kleinen Städtchens Wunsiedel, wo Jean Paul geboren ist.

»Da,« sagte sie leise, »da hat Niklas gewohnt, damals als Evertbusch ihn gefunden hat, lange schon. Da schreibt er an seiner Oper. Ein ganz kleines Städtchen ist es im Frankenland, und der große Findlingsblock auf Jean Pauls Grab in Bayreuth, um den der Efeu wächst, wie Evertbusch sagt, ist aus der Geburtsstadt des Dichters. Und viele, viele so mächtige Steine liegen herum in den Wäldern verstreut. Aber es ist ein freundliches Land, unendlich lieblich, so als stünde immer ein Regenbogen darüber. Da hat Niklas gearbeitet.«

Ich seufzte ein wenig, denn ich gab Hans von Dittmar nicht unrecht in meinem Herzen; aber ich nahm es doch nur für das Mitempfinden der Künstlerin und rechnete es Ilse hoch an, daß sie jetzt, da sich die Zukunft vor ihr auftat wie ein blühender Garten, nicht den armen Kameraden vergaß, und nicht den alten Mann an dem Harmonium im Kinderheim.

Daß Hans von Dittmar bald Ernst machen wollte, sah ich auch daraus, daß er bei Evertbusch Besuch gemacht hatte, so wenig ihm diese Künstlerkreise sonst lagen. Und als in der Fastenzeit bei dem Sänger ein Kostümfest sein sollte, nahm er die Einladung an, obgleich es sich so traf, daß er dafür einen großen, glänzenden Ball absagen mußte. Er wollte das als ein kleines Opfer hinstellen; aber Ilse redete ihm freundlich zu, doch ja ihretwegen nichts zu versäumen, und da kam er erst recht.

Wir wollten uns alle bei den Volckmännern im Atelier treffen, wo Ilsens Staat gemacht wurde, denn ich ging nicht mit. Es war mir lieb, wenn Hans sie holte und zurückbrachte, und bei Frau Evertbusch wußte ich sie gut aufgehoben. Sie hatte wegen des Kleides in der letzten Zeit noch öfter bei den Schwestern gesessen als sonst, und lustiges junges Lachen ist von den Wänden widergetönt, wenn sie gemeinsam den mächtigen grünen Frosch ausstopften, den Ilse an einem Seidenbande hinter sich herziehen sollte. Sie wollte die jüngste Königstochter sein, und eine große goldene Kugel war besorgt, die sie im Arm tragen wollte.

Am Nachmittag des Festtages waren wir alle da versammelt. Auch Bettina war hereingekommen und hatte ihre Kinder dem Hausvater überlassen. Ilse hatte einen ordentlichen kleinen Hofstaat, und jeder zupfte noch an ihr herum, an dem Kleidchen aus dünner, grünblauer Seide und an den losen weichen Haaren, die vorn ganz glatt von den Schläfen herniederhingen, während ein feiner goldener Reif sich um die Stirn legte und die schöne Form des kleinen Kopfes sichtbar machte. Bettina hatte ein Perlenkettchen mitgebracht, das sie ihr um den Hals befestigte. Und dann banden wir das Band um den Frosch, der mit wunderbarer Naturtreue gearbeitet war und dessen gestielte Perlenaugen verliebt zu der kleinen Märchenprinzessin in die Höhe starrten. Wir waren alle ein wenig wie Kinder, lachend und lustig, als es schellte.

»Das ist Hans,« sagte Bettina, während Anna die Tür öffnete. Es kam aber niemand herein, und Minna wurde ungeduldig und rief nach dem Flur:

»Kommen Sie rasch herein, Herr von Dittmar, und sorgen Sie dafür, daß heute eine Schönheitskonkurrenz ist und unser Atelier den ersten Preis bekommt. Wobei ich gar nicht einmal an die Trägerin denke, die freilich –«

Aber dann verstummte sie, denn auf der Schwelle stand Nikolas und sah mit seinen großen, strahlenden Augen gerade auf das jüngste Königskind. Das ließ vor Schrecken den goldenen Ball fallen, der dicht vor seine Füße rollte.

Das gab freilich eine Überraschung, und so viel Fragen und Lachen und Tränen, daß Hans von Dittmar, der in klirrendem Ritterpanzer kam, ganz um den Erfolg seiner Erscheinung gebracht wurde. Dann erklärte Ilse, Nikolas müsse mit, eine größere Freude könnten sie Evertbusch ja gar nicht machen, und so viel Geschick würden sie wohl haben, aus all den bunten Lappen, die hier herumlägen, ihm ein Kostüm zu stecken. Nikolas war auch gleich bereit; er war so frisch und fröhlich und so voll Leben, daß er alles für selbstverständlich hielt. Und so steckten sie denn eine Art Kutte mit Nadeln und Heftstichen zusammen, und er schlüpfte hinein, und die drei gingen fort.

Es war alles so schnell gegangen, in einem solchen Hinundher in dem doch beschränkten Raum, in dem wieder die Rohrpuppen mit den Kleidern standen, daß wir uns fast erschrocken ansahen, als unten der Wagen fortfuhr. Zuerst machte Minna den Flügel zu, den Nikolas geöffnet, und über dessen Tasten seine Melodie zum Volkslied »Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,« dahingezogen war, während die Schwestern noch an der Kapuze nähten. Und dann sagte ich:

»Ja, aber warum ist er denn gekommen?«

»Warum?« Minna zuckte die Achseln. »Weil Evertbusch wirklich seine Lieder angebracht und der Verleger ihm ein paar hundert Mark geschickt hat. Das hat er mir draußen gesagt, als er den Mantel ablegte. Die Sehnsucht hat ihn auf einmal gepackt, und auch der Ehrgeiz. Ja, und nun ist er hier.«

Ganz still gingen Bettina und ich nach Hause, und am liebsten hätte ich mir selber noch von den Fingern der Schwestern einen Domino stecken lassen und wäre den dreien nachgegangen auf das Fest, so unruhig war mein Herz. Bettina merkte es auch und ging früher, als sie gewollt hatte. Aber über all das, was damals zwischen uns stand, sprach sie nicht, denn auch sie hatte gelernt, nach innen zu leben.

Ich aber blieb auf, was ich noch nie getan hatte, wenn Ilse fort war. Ich ließ die Lampe mit dem grünen Schirm in dem Zimmer brennen, das zugleich Eßzimmer und Wohnzimmer war, und wo Ilse nun fast zehn Jahre an dem runden Tisch gesessen hatte, mit Hans von Dittmar und mit Nikolas Volckmann. Und viele andere hatten dort gesessen. Meine Schüler und Schülerinnen, die Volckmänner, der alte Kantor und Bettina und zuweilen, aber immer seltener im Laufe der Jahre und des sie ganz erfüllenden Glückes, auch Marianne, wenn sie flüchtig die Hauptstadt berührte.

Ich sah aber jetzt nur Ilse zwischen den beiden Jünglingen, versuchte, in ihr Herz zu dringen, und konnte es nicht. Stunde um Stunde verging. Gleichmäßig brannte das Gas in der Lampe unter dem grünen Schirm, gleichmäßig hell war der Kreis auf der Decke. Die Wärme des Ofens war vergangen, und fröstelnd hüllte ich mich in das große, weiche Tuch, das ich noch aus Frankreich mitgebracht hatte. Zu meinem Bruder, von dem ich nach den ersten Jahren nichts wieder gehört, trotz aller Versuche, waren die Gedanken gegangen, in die harte Totenstadt in Paris – und zum erstenmal fragte ich mich, ob ich denn wirklich recht getan hatte, Ilse so aufwachsen zu lassen, wie die Blumen im Garten.

Ich weiß nicht, was ich darum gegeben hätte, wenn sie in dieser Nacht zu mir gekommen wäre und die Arme um meinen Hals gelegt hätte: ich bin Hans von Dittmars Braut! Aber als sie dann wirklich in der Tür stand, wußte ich, daß das nicht sein könne und niemals sein würde. Und als sie sich dann zu mir setzte und mir alles sagte, nickte ich, als erzähle sie mir nichts Neues.

Hans von Dittmar hatte wirklich um sie angehalten auf dem Ball, und sie hatte ›nein‹ gesagt. Aber er war trotzig gewesen und hatte dieses »nein« nicht angenommen, sondern es eine Laune genannt.

»Er wird wiederkommen, Mutter Franzine; aber er kennt mich nicht. Es ist keine Laune. Ich kann eben nicht seine Frau werden, und ich habe ihm auch niemals Hoffnung gegeben, er hätte es wohl sehen können. Ich bin auch kein Mädchen, das sein Herz nicht kennt und sich bereden läßt. Nicht wahr, das weißt Du?«

Sie hatte den Mantel abgenommen und saß auf einem Schemel zu meinen Füßen, und die goldene Kugel und der Frosch lagen auf der Erde neben ihr. Sie war noch so kindlich, wie sie diese Worte sagte. Ihre Worte aber waren so fest, daß ich ganz verwirrt wurde. Ich hatte sie ja immer für meinesgleichen genommen, eine Seele, die nur zurückweichen kann und nicht vorwärts ging. Und jetzt kauerte sie da vor mir, als hätte man federnden Stahl gebunden, und wenn man die Fessel löste, würde er sich aufrecken und zurückschnellen.

»Es will Dich ja niemand überreden, Ilse,« sagte ich leise. »Unendlich glücklich wäre ich gewesen, wenn Du zu Hans von Dittmar Ja! gesagt hättest, so jung Du auch noch bist, und so gern ich Dich behalte. Denn ich kenne sein Herz, das ist treu und fest. Das bißchen Schnickschnack an ihm aber mußt Du seiner Jugend zugute halten. Es soll aber sein, wie Du willst. Du kannst ruhig warten, bis der Mann kommt, dem Du Dich anvertrauen willst.«

Ich konnte es nicht hindern, daß meine Stimme bei den letzten Worten zitterte. Sie hob ihren Kopf, stützte die Arme auf Meine Knie und sah mich an, fast als wolle sie etwas sagen, – aber sie schwieg. Nur das Blut stieg in ihr Gesicht. Ich fügte noch hinzu, halb über sie hinweg: »Ich hätte mich auch über die große Sicherheit Deines Lebens gefreut, Ilse, denn wir alle hier, Du und ich und die Volckmänner, wir sind wie treibende Reiser im Strom. Und es ist etwas anderes, festen Boden unter den Füßen zu haben und sich an das Feuer des Kamins von Dittmarshof zu setzen als die Herrin.«

»Nein, Mutter Franzine,« sagte Ilse, »da hast Du nicht recht. Wir sind nicht wie Reiser im Strom, wir sind wie Schwimmer. Wenn wir starke Arme haben, so trägt es uns. Und ich möchte kein Glück, das ungefährdet ist und jeden Tag dasselbe. Vielleicht, weil ich auf dem Montmartre geboren bin, da oben, wo der Sturm weht. Du kennst mich schlecht, wenn Du meinst, daß ich nach einer sicheren Zuflucht Umschau halten würde. Die Tage sind die schönsten, die man sich erobern muß.«

Ich seufzte und sagte ihr, ich sei müde, und erst als wir das Licht ausgelöscht hatten, fragte ich, was denn Evertbusch zu Niklas gesagt habe. Ein leises, glückliches Lachen klang zu mir herüber. Es wäre lustig gewesen, wie sie den Meister geneckt hätten. Und dann hätte Niklas seine Kutte abgelegt, oder vielmehr, sie sei von selber von ihm abgefallen, denn allzuviel gehalten hätte sie nicht, und er hätte eine Geige genommen und den fahrenden Schüler gemacht. Das sei das Allerschönste an dem Abend gewesen. Da wußte ich ja nun, wie alles stand, und die anderen haben es wohl auch gemerkt.

Mit Bettina sprach ich mich aus, als Hans von Dittmar bei mir gewesen war, ganz voll Zorn und verletztem Stolz. Gegen einen fahrenden Musikanten zurückgestellt! Er, Hans, zurückgewiesen von einem kleinen Mädchen, dem er seine Hand hatte geben wollen, und, was das Allerschlimmste war, noch immer geben wollte, denn im Grunde nahm er das alles nicht ernst, hielt es für eine Künstlerlaune, nicht für mehr.

Bettina sah ihm zu, wie er in dem Eßsaal des Kinderheims auf- und abschritt, daß die Sporen klirrten; seine Augen sprühten Funken. Dann sagte sie: »Wehr Dich doch nicht so gegen das Leben, Hans, es ist doch stärker als Du.«

Aber Hans von Dittmar hat sich noch eine lange Zeit gewehrt, bis es ihn forttrieb nach Südwest-Afrika, in den Kampf mit Tücke und Hinterlist und Dornen und Durst. Dort wird er sich die Liebe zu Ilse, die sein Stolz brennend erhielt, seit er die Hoffnung verloren, aus dem Sinn schlagen. Er hat auch schon einmal abgegeben von diesem trotzigen Blut. Tüchtig ist ihm zur Ader gelassen worden, und im Lazarett zu Swakopmund hat er gelegen, dann ist er wieder ins Feld gegangen. Seine Briefe, die Bettina und ich mit Herzklopfen lesen, zeigen, daß er da unten ein Mann wird und ein Held, und daß er die rechte Art lernt, sich mit dem Leben abzufinden.

Während mein Leben hier so an mir vorbeigezogen ist, hat sich in den vollen weichen Sommerton der Landschaft der erste Schatten des Herbstes gemischt. Noch ranken um den Staketenzaun die weißen Winden; aber in den schmalen Beeten des Gartens stehen schon die Malven und die großen Sonnenblumen, die mir immer vorkommen wie richtige Sonnenuhren. Das dunkle innere Rund ist das Zifferblatt, und die Blätter sind die glänzenden, leuchtenden Strahlen.

Seit ich Fikens Vertraute bin, habe ich versucht, mich den Alten zu nähern, um Einfluß auf sie zu gewinnen. Ich mußte vorsichtig sein, denn die Leute, denen jedes Entgegenkommen fremd ist, sind mißtrauisch gegen den, der sich um ihre Angelegenheiten kümmern will. Ich blieb aber immer länger bei ihnen sitzen am Abend auf der einfachen Bank vor ihrer Tür, oder wenn es regnete, drinnen an dem offnen Feuer. Und wenn ich vorsichtig Fiken rühmte und ihre treue, feste Art, dann nickten sie wohl. Und schließlich fing die Alte auch an von den Kindern draußen, weil ich ja auch meine Kinder dort drüben über dem Wasser hatte. Das gab ein Band, das ich immer wieder aufnehmen konnte. Und ich sagte, daß fürs Leben nichts hält als die Liebe. Darüber schüttelten sie den Kopf. Und wunderbar war dieses Verneinen des Lebenstriebes bei den beiden, die wie Symbole des Alters und Vergehens in sich selbst dunkel an ihrem Torffeuer saßen, so eins, daß sie durch ein Leben den Löffel in die gleiche Schüssel getaucht und das gleiche Lager geteilt, daß sicher jedes dahingewelkt wäre, wenn ihm das andere genommen ward, und doch so unbewußt durch die Gewohnheit des Triebes, der das allein möglich machte.

Es ist mir aber Hilfe gekommen aus diesem Leben selbst, das bei der alten Frau erlöschen wollte. Sie hatte sich erkältet in einer Reihe von nassen Tagen, als der Wind durch die Fugen der Tür zog, und eine schwere Lungenentzündung war die Folge gewesen. Der Alte hatte in dieser Zeit ganz stumpf gesessen, kaum daß er die nötigen Tagesarbeiten machte. Fiken und ich aber haben sie gepflegt. Sie hatte sich gegen den Doktor gewehrt und gegen die nassen Umschläge, die wir ihr Tag und Nacht machten. Sie wollte Medizin haben und einen alten Doktor, nicht den jungen, den ich aus Bremen besorgt hatte. Und sie mißtraute uns und dem Wasser und stieß böse Worte gegen Fiken aus. Ich brauchte das Übergewicht meiner Kultur, die im Falle der Not den Leuten wie etwas Feindliches gegenübersteht, dem sie sich aber beugen. Und als es besser war und das Fieber gebrochen, da wurde sie weicher.

Vorsichtig, wie zu einem Kinde redend, habe ich da Fikens Lebensschicksal ihr abgebettelt. Und am Sonntag, an dem sie ihren ersten Kirchgang hielt, saß Fikens Schatz wirklich mit bei ihnen am Mittagstisch und tauchte seinen Löffel in dieselbe Schüssel mit Buchweizen, wie Fiken, und es gab gerösteten Speck dazu.

So hat sich das ewig wechselnde Menschenleben in meinen Aufzeichnungen gerade da eingedrängt, wo ich von der letzten großen Angst meines eigenen Lebens sprechen muß.

Nikolas wohnte anfangs in Stolpe im Kinderheim bei seinem Vater. Ilse und ich sind in dieser Zeit kaum hinausgekommen, aber wir sahen uns in der Stadt bei den Volckmännern, und Niklas kam auch zu mir. Sie waren nicht wie ein Liebespaar. Es war ja auch zwischen ihnen kein Wort von Liebe gefallen. Er saß an meinem Tisch, und wir sprachen von der Welt draußen, von der er nun so viel gesehen hatte, von den Schwestern und dem Vater, aber niemals von der Zukunft. Ich hörte am liebsten von seinem Aufenthalt in Paris. Er hatte auf dem Montmartre gewohnt, ihr zuliebe. Und dann hatte er Monsieur und Madame Bertouche aufgesucht. Die waren nun reich und berühmt. Die »Treue« stand im Palais Luxemburg. Künstler waren im Salon der eleganten Madame Bertouche immer willkommen. Und nun gar ein Freund der kleinen Ilse! Wie sie sich gefreut hatten, von ihr zu hören: »Du mußt einmal bei ihr wohnen, Ilse, wenn Du in Paris Konzerte geben wirst.« Sie nickte lächelnd. Es schien ihr ganz natürlich. Aber dann suchten wir beide, Ilse und ich, in seinen Augen. Hatte man bei den Bertouches sonst nichts gesagt – kein Wort – von Gerhard? – Nein, nichts!

So sprachen wir, und Ilse spielte und zeigte ihm lächelnd das Tüchlein an der Geige und zeigte die Zeichnungen, die sie für das Atelier der Schwestern machte, und mit denen sie sich einen kleinen Nebenverdienst erwarb. Die Stunden gingen so hin, und zuweilen sind wir alle drei still gewesen. Vor allem, als der Frühling kam, und draußen auf dem Hof die Portierskinder Kreidestriche auf die Erde zeichneten und Himmel und Hölle spielten. Da ist das jauchzende Rufen dann wohl bis zu uns herauf gedrungen, und junge Augen haben sich gesucht und gefunden darüber.

Ich wußte aber von den Volckmännern, daß es nicht gut stand um Nikolas, und daß er selbst mit Evertbusch zerfallen war, mit seinem besten Freund und Beschützer. Evertbusch hatte für den April noch einen Liederabend angesetzt und noch einmal die Volkslieder in sein Programm nehmen wollen, wenn der Tondichter selbst sie begleite. Nikolas aber hatte es ihm abgeschlagen. Er war hierher gekommen, um in Berlin ein Konzert zu geben. Eigene Kompositionen wollte er spielen. Aber es war ihm nicht möglich gewesen. Keine Tür hatte sich ihm aufgetan, kein Unternehmer sich gefunden, weil sich niemand etwas von ihm versprach.

Ich hatte Ilse getroffen, wie sie über ihrem Sparkassenbuch saß und rechnete, und ohne Frage hatte ich gewußt, daß sie überlegte, ob sie die paar hundert Mark Unkosten für das Konzert zusammenbrachte. Und rote Augen hatte sie an dem Abend gehabt, weil ich ohne ein Wort von ihr wußte, daß das nicht ging. Nikolas hätte es auch nicht angenommen. An Bettina aber mochte er sich nicht wenden. In seiner Kunst waren wir ihm ja alle noch heute Fremde. Er wohnte auch nicht länger in Stolpe, sondern bei den Schwestern, so sehr sein Vater unter dieser Trennung litt. Der und Ilse müssen aber in dieser ganzen Zeit die einzigen gewesen sein, die ihm Kraft gegeben haben, daß immer wieder das alte Leuchten in seinen Augen stand, wenn er kam. Bis eines Tages der letzte Schlag ihn traf und seine Oper, die er in München eingereicht hatte, ihm zurückgegeben wurde.

Das ging dann noch so durch vierzehn Tage. Dann schrieb Bettina, wir möchten doch am Sonntag herauskommen, schon zum Mittagessen. Da trafen wir außer Käsebier, der oft am Sonntag in dem Kinderheim aß, auch die Schwestern und Niklas. Und nach der Suppe nahm Bettina ihr Glas, hob es gegen den jungen Künstler und sagte freundlich: »Nikolas Volckmann soll uns verlassen. Er hat einen Ruf als Kapellmeister nach Königsberg, und er will ihn annehmen. In unser aller Namen sage ich ihm Glückauf.«

Das hat aber Ilse noch nicht gewußt gehabt, und das Glas hat in ihrer Hand gezittert, als sie mit uns anstieß. Und in dem Hinundher ist's dann herausgekommen, daß die Nachricht erst gestern gekommen war. Niklas war nach Stolpe hinausgefahren, um es mit seinem Vater zu besprechen. Der strahlte und sagte wohl zehnmal im Laufe des Mahles: »In Königsberg hat Richard Wagner angefangen. Da ist er Kapellmeister an der Oper gewesen. Es schadet nicht, daß der Junge fort muß, es ist zu seinem Heil.«

Ilse muß sich aber furchtbar gekränkt haben, daß Nikolas mit der Nachricht nicht zuerst zu ihr gekommen ist, denn sie blieb am Nachmittag an meiner Seite, so viel Versuche er auch machte, sie hinaus in den Wald zu bringen.

Es war ein Vorfrühlingstag, die Türen zur Terrasse standen offen, die Aprilsonne lockte, und draußen im Garten, in den Beeten der armen Kinder, standen die ersten Schneeglöckchen, schüchtern und erfroren und doch hoffnungsfreudig, gerade wie die Kleinen, denen sie gehörten.

Bettina und der Kantor wollten uns zur Bahn nach Wannsee bringen, und so gingen wir unter den Kiefern hin, in deren Nadeln es sauste und klirrte von erwachendem Lebenstrieb, über das fahle Gras, entlang am See, wo die Haselbüsche wieder ihre Kätzchen trugen. Wir hatten uns in Gruppen geteilt und versprochen, uns an Kleists Grab wiederzufinden. Die Volckmänner hatten nach Tisch draußen einen Kranz von Kieferzweigen für ihn geflochten und ein Sträußchen Schneeglöckchen hineingesteckt, denn sie hatten immer offene Herzen für alles Große, vor allem für das, was durch Leid gegangen war.

Als wir aber an dem kleinen eisernen Gitter standen, oben unter der Eiche am Wannsee, die noch ihr braunes Winterlaub festhielt, wie in Trotz und Hader um die jungen Frühlingslüfte, da fehlten Ilse und Niklas. Die Mädchen befestigten ihren Kranz und freuten sich, daß eine dankbare Hand Veilchen über das Grab gestreut hatte. Die lagen zwischen dem Efeu, schon welk, aber doch noch wie eine Erinnerung.

Meine Gedanken aber waren immer bei Ilse, und eine große Angst war in mir. Doch als sie und Niklas kamen, da waren beide hoch aufgerichtet, und ihre Augen strahlten. Ich wußte gleich, was geschehen war, und wunderte mich nicht, daß Niklas nicht mitkam mit uns, sondern mit dem Vater und mit Bettina zurück wollte. Und als der Zug der Wannseebahn sich in Bewegung setzte, ging er noch mit seinen leichten, federnden Schritten neben unserem Abteil her und grüßte; in seinen Augen aber stand der Sieg.

Das Abteil war so voll von Sonntagsausflüglern, die draußen den Frühling gesucht hatten, daß wir nicht miteinander sprachen, und auf dem Wannseebahnhof trennten wir uns, denn die Schwestern gingen zu Fuß, und Ilse und ich benutzten die Straßenbahn.

Aber dann zu Hause hat sie einfach die Arme um mich gelegt und gesagt:

»Ich lasse Niklas nicht allein nach Königsberg gehen, Mutter Franzine, ich gehe mit als seine Frau.«

Das war aber noch viel schlimmer als ich erwartet hatte, die ich mich schon vor einem Verlöbnis gefürchtet, oder vor etwas Bindendem. Und fast hastig habe ich ihre Hände von meinen Schultern genommen und gesagt: »Das ist unmöglich, Ilse.«

Da hatte sie vor mir gestanden und mich angesehen und nur gesagt: »Warum?« Und dann habe ich alles über sie ausgeschüttet. All die Angst, die in mir gewachsen war in diesen Wochen, die Lebensangst und auch die Furcht vor dem Glück. Was sie sich denn dächte, und wovon sie leben wollten, und was das für eine Kinderheirat sein würde mit einem Glück, so flüchtig wie Rauschgold. Und ob sie nicht wüßte, daß sie ihm nicht einmal helfen könne, sondern nur eine Last für ihn sein würde, nichts weiter, nur eine Last. Und dann habe ich angefangen zu weinen, ganz hilflos, denn je mehr ich sprach, je deutlicher fühlte ich, daß das alles vergeblich sei. Und ruhig hat sie mich ausweinen lassen und neben mir gestanden, als hätten wir die Rollen vertauscht, und ich wäre das Kind, für das sie sorgen müsse.

Dann aber hat sie das Wort gesprochen, das ich nie mehr vergessen habe:

»Mutter Franzine, kennst Du denn nicht den Mut zum Glück? Du magst ja nicht unrecht haben mit dem, was Du sagst, und für viele mag es passen, aber für Niklas und mich paßt es nicht. Wir haben den Mut zum Glück, und wir werden durchkommen.«

Ja, der Mut zum Glück. Als sie mir das sagte, stand Wulf wieder vor meinen Augen, und meine Kindheit und mein Leben.

In all' den Wochen, die nun folgten, und die bunt genug waren, ist das Wort mit mir herumgegangen. Und es ist bei mir geblieben, als sie schied, wie ein Tröster, und nichts mehr habe ich ihr in den Weg gelegt, seit sie das gesagt hat.

Wie Niklas am nächsten Morgen gekommen ist und mir seine Pläne auseinandergesetzt hat, habe ich zugehört und genickt und gelächelt. Als er gefordert hat, daß das Aufgebot gleich bestellt würde und die Hochzeit in ein paar Wochen sei, habe ich es natürlich gefunden.

Die Opernsaison in Königsberg war vorbei, aber er hatte für den ganzen Sommer die Leitung der Konzerte dort, die täglich im Tiergarten stattfanden, darunter wöchentlich ein Sinfoniekonzert, das bei dem entwickelten Geschmack des musikalischen Publikums der östlichen Hauptstadt sorgfältig vorbereitet sein wollte.

Es mußte schnell gehen. Ilse wollte ihn nicht in das neue Leben lassen ohne ihre Begleitung. Ich habe ›ja‹ gesagt, als sie erklärte, keine Ausstattung zu brauchen, denn sie würden sich mit ein paar möblierten Zimmern begnügen, und sie begriff nicht, warum sie jetzt mehr Wäsche brauchen sollte, denn als Mädchen. Ich habe Niklas ein Zutrauen gezeigt und eine Hoffnungsfreudigkeit, von der nichts in meinem Herzen war, und ich bin mit Ilse zu den Volckmännern gegangen, wenn sie das einfache weiche Mullkleid anpaßte, das die Schwestern für sie arbeiteten, und dessen Saum sie mit Myrten besteckten.

Käsebier hat die beiden getraut, draußen in Stolpe, und an Bettinas Tisch im Kinderheim haben sie gesessen, als wir das letzte Mal mit ihnen aßen. Es war in den ersten Tagen des Mai, die Birken sahen selber aus wie Bräute, und die frischesten von Bettinas Schützlingen hatten Narzissen vor das junge Paar gestreut. Ilse hatte den Tüllschleier ganz schlicht über die dunkelblonden Haare gelegt und ein schmales, feines Myrtenkränzchen um ihre Stirn gewunden, daß es mich an den goldenen Reif erinnerte, den sie an dem Abend getragen, als ihre Prinzessinnenkugel dem Wanderer vor die Füße gerollt war. Wenn ich ihr lächelnd zunickte, so lächelte auch sie. Und als sie sich umgezogen hatte und in ihrem gewöhnlichen Straßenkleidchen zu mir trat, in dem sie in ihre Musikstunden gegangen war, und ich sie zum letztenmal in die Arme schloß, lächelte ich immer noch.

Aber dann ließ mich Bettina nicht nach Hause, weil Pfingstferien waren, wie sie sagte. Doch wurden es lange Pfingstferien für mich, denn draußen in dem Kinderheim habe ich krank gelegen, müde und erschöpft. Nur dafür konnte ich noch sorgen, daß die Kinder nichts davon erfuhren und sich begnügten mit den Grüßen und Nachrichten, die die anderen über mich schickten. Vielleicht, daß Ilse glaubte, es wäre zu viel Scheu in mir und zu viel Ehrfurcht vor ihrem jungen Glück, daß ich ihr jetzt lange Briefe schriebe. Es war aber gut, daß Bettina da war, und die kleinen armen Kinder um mich her, sonst hätte ich wirklich geglaubt, ich wüßte nicht, warum ich wieder aufstehen sollte und nach meiner kleinen Wohnung gehen, um französische Stunden zu geben. So nutzlos kam mir damals alles vor, so nutzlos auch ich selber. Ja, das ist wohl seit Wulfs Tode die traurigste Zeit in meinem Leben gewesen.

Auch in diesen Sommerferien blieb ich bei Bettina, und bin dann allmählich genesen, auch innerlich. Vielleicht an Ilsens jubelnden Briefen, vielleicht auch an dem alten Kantor, den ich nun erst wahrhaft kennen lernte, und neben dem ich mich so schämte. Denn in seine Seele kam nie ein Zweifel. Und er, der an den alten Klassikern der Musik groß geworden war, hatte mühelos mit seinem Sohn die Schwenkung von Bach zu Wagner gemacht. Dessen Schriften lagen auf seinem Tisch, und die Partitur der Meistersinger stand auf dem alten, dünnstimmigen Klavier, das Bettina damals bei der Auktion im Kantorhause heimlich gekauft und in sein Zimmer gestellt hatte. Die alten Hämmer klapperten dann die Beckmesserweisen, und die gelben Tasten zitterten unter Walter Stolzings Preislied. Es war das Kantor Volkmann aber alles natürlich und mußte so sein, weil es ja eben seines Kindes Leben und Zukunft war. Da habe ich mich ergeben und habe angefangen, den Glücksglauben zu lernen.

Viel schrieb Ilse nicht aus Königsberg. Sie hätte zu tun, sagte sie, sie gäbe Stunden und führe ihre Wirtschaft. Aber lustig war alles, was sie schrieb, durch den ganzen Sommer und Winter hindurch. Im nächsten Sommer aber hatte ich ihr meine Ferien versprechen müssen. Es sei meine Pflicht, schrieb sie.

So packte ich denn meinen Koffer und fuhr. Wegen der glühenden Hitze hatte ich einen Nachtzug gewählt, und gerade als die Sonne aufging, brauste mein Zug über die Dirschauer Brücke, und die Weichsel wälzte mir ihre gelben Wasser entgegen. Ich ging nun nicht mehr vom Fenster fort. Da kam wieder ein mächtiges Wasser, und wieder eine donnernde Brücke. Jenseits der Nogat aber stand, stolz in seinen Zacken und Türmen, und in der roten Frühsonne rotleuchtend, das Marienburger Schloß, und die weißen Morgenwolken segelten darüber hin, wie die Mäntel der Deutsch-Ritter. Das kolossale Muttergottesbild glänzte und gleißte, und der Schnellzug fuhr von hier dann durch die fette Erde der Niederung, hinein in die grünen Weiden Ostpreußens, wo das Vieh in den Koppeln stand, und die Mutterpferde mit den Fohlen grasten, und aus den großen, stillen Laubwäldern die Rehe zur Frühäsung traten. Weiter und weiter, daß das Haff bis dicht an die Bahn kam, und die weißen Segel der Fischerboote wie Möwenflügel schienen, und dann noch eine Stunde, bis der Zug hindurchbrauste durch die Festungswälle der alten Krönungsstadt.

Ilse stand auf dem Bahnsteig, und ein Dienstmann nahm meine Sachen, denn eine Droschke sei eine unnötige Ausgabe, erklärte sie. Durch die langen Schatten des Morgens, die den Straßen Kühle und Frische gaben, schritten wir beide hinab, über die Pregelbrücke in die alte Insel des Kneiphofs, in eine enge Gasse, vorbei an Frauen, die mit lauten, sonderbaren Rufen – Ei Streemling!! ei Dersch!! – Körbe mit Bücklingen, mit Gemüse und Obst durch die Straßen trugen, traten in einen dunklen Flur, erkletterten eine für die Großstädterin wahrhaft unmögliche Treppe und standen in einem hellen, niedrigen Zimmer, in dem Nikolas gerade den Frühstückstisch zurecht machte und den Kaffee kochte. Da haben wir uns erst begrüßt, so gut das ging in der Erregung, die in uns allen zitterte, und da habe ich Ilse sagen können, wie frisch sie aussähe.

Sonderbar sind diese vier Wochen für mich gewesen. Fern am Ausgang des Reiches, und doch in einem Zentrum lebhaft wachsender Kultur. Zuerst wollte ich ihnen alle Mühe abnehmen, die ein Logierbesuch mit sich brachte. Aber dann fand sich's, daß ich ungeschickt war und nicht gewöhnt an die häuslichen Arbeiten. So ließ ich mich von den Kindern bedienen, wie sie es wollten.

Niklas schlief nachts auf dem harten Sofa in dem Eßzimmer, das zugleich Wohnzimmer war, und ich wohnte bei Ilse in dem kleinen Schlafzimmer, das hinaussah auf den Pregel.

Sie hatten eine Aufwartefrau, die des Morgens kam und die gröbsten Arbeiten machte. Aber das Mittagessen besorgte Ilse selbst auf dem kleinen Herd, und ich wunderte mich, wie flink ihr alles von der Hand ging, was sie doch nie gelernt hatte. Am meisten erstaunt war ich, als ich sie einmal auf den Markt begleitete, an all die offenen Stände unter dem trotzigen alten Schloß, das so vornehm und unnahbar aussah, und unter dem in buntem Gewirr Fleisch und Fische, Pilze, Mairübchen und Obst verkauft wurden. Ilse aber wand sich durch die Kübel und Stände und handelte mit den Frauen und nickte ihnen zu und lachte. Ich begriff gar nicht, daß in ein Netz so viel hineingehen konnte, und trug die Eier, die sie mir in mein Körbchen gelegt hatte, vorsichtig und behutsam, während sie nicht vergaß, noch ein paar Bund Vergißmeinnicht mitzunehmen.

Meine Tage waren doch immer voll gewesen mein Leben lang, aber immer, wenn ich abends zur Ruhe ging, glaubte ich, der Tag hätte hier noch einmal so viel Stunden. Denn zwischen all das Leben und Weben des Hauses kamen die Schüler zu ihren Stunden, die ebenfalls im Eßzimmer gehalten wurden, und doch waren wir am Nachmittag fertig, um hinauszufahren auf die Hufen und das Konzert im Tiergarten zu hören, das Nikolas dirigierte, und Ilse sah in ihrem schlichten Kleidchen dann immer wieder aus wie das Königskind im Märchen. Aber schon nach acht Tagen wunderte ich mich über nichts mehr. Da schien es mir oft, als grüßte mich aus ihrer zarteren Form ihre Mutter. Das ganze Leben auf dem Montmartre damals in den glücklichen Jahren wurde wieder in mir lebendig. Als einmal Niklas über den beabsichtigten Sonntagsausflug mit ihr verhandelte, sie anderer Meinung war als er und sie in ihn hineinsprach, während sie ihre beiden schmalen Hände auf seine breiten Schultern gelegt hatte und ihn leise schüttelte, da hörte ich auch das alte Wort wieder. Er wendete sich zu mir um und sagte lachend:

»Hörst Du, Mutter Franzine? Mine Fru, de Ilsebill, will nich so as ick woll will.«

An dem Tage ist der letzte Schatten einer Sorge von mir abgefallen, und ich habe die Wochen da oben in Preußen und die Abende, in denen das Dämmern immer in der Luft schweben blieb, daß die Nächte weiß und bleich wurden, genossen, wie die erste wahre Ferienzeit meines Lebens, so sorglos und wunschlos.

Es hat mich dann auch gar nicht gewundert, daß eines Tages Niklas heraufgestürmt ist mit einem Brief, in dem stand, daß man in Weimar seinen »König Rother« angenommen habe und ihn noch in diesem Winter aufführen wolle. Ich hätte mich über nichts gewundert, denn wie immer bei schwachen Naturen, war ich nun in eine Zuversicht gekommen und in einen Eifer, der mir für meine Kinder nichts unerreichbar erscheinen ließ. An dem Abend haben wir aber ein Fest gefeiert. Wir haben uns eine Erdbeerbowle gemacht, und Ilse hat einen Kranz von roten Rosen getragen und ihr weißes Brautkleid, das sie grad am Morgen frisch gebügelt hatte zum nächsten Sinfoniekonzert. Als sie aber in dem Eifer und der Freude den Schlüssel zu ihrem Wirtschaftsschrank verlegt hatte und ich meinen Hut holte, um rasch für ein wenig Abendbrot zu sorgen, denn ich glaubte nicht, daß sich der Schlüssel noch finden würde bei der Stimmung, in der wir alle waren, da saß Niklas am Klavier und spielte mit Vollendung jenes hinreißende Capriccio in G-dur von Beethoven mit dem Titel: »Die Wut über einen verlorenen Groschen, ausgetobt in einer Caprice,« und kam sich offenbar wie Beethoven selber vor, nur glücklicher.

Als ich dann mit meinen geräucherten Bücklingen und ein paar Bund Radieschen die Treppe wieder heraufstieg, hatte sich die Wut über den verlorenen Groschen gelegt, und eine sanfte Weise erklang. Ilse stand neben ihm und legte den Finger an die Lippen, als ich eintrat. Ich war aber nun schon so gut erzogen in musikalischen Dingen, daß ich ruhig an der Tür stehen blieb, bis der letzte Ton verklang.

»Weißt Du, was das war, Mutter Franzine?« fragte sie. »Das war die Stelle aus seiner Oper, da der verkleidete König Rother seiner Prinzessin die Schuhe anprobiert. So zart ist sie und so keusch.« Niklas aber, dessen Hände noch auf den Tasten lagen, sang leise: »Nun befehle ich mein Leben Gottes Gnade und Deiner: Deine Füße stehn in Rothers Schoß.« Sie sahen sich an, und mehr denn ein Geheimnis der Liebe sprach aus ihren Augen.

Sie behandelten mich an diesem glücklichen Abend wirklich wie einen musikalischen Menschen und taten mir die Ehre an, bei der Erdbeerbowle und den Radieschen nur über Musik zu sprechen. Über den König Rother und die Volkslieder, die es unter der Hand wirklich zu einer zweiten Auflage gebracht hatten, bis Ilse ihre Geige nahm und spielte. Das hörte aber auch ich, wie viel voller der Ton geworden und wie viel sicherer der Strich.

»Ich wünschte nur, Evertbusch könnte mich wieder hören,« sagte sie und warf einen schnellen Blick auf Niklas. Da verstand ich ohne Worte, daß sie heute, an dem Tage der Erfüllung, den Namen des Freundes zum erstenmal wieder nannte, und daß hier noch immer eine Wolke und ein Schatten war. Wie aber das Glück nie geizig ist, sondern Hände voll Edelsteine herniederwirft, wenn es ihm paßt, so wunderte ich mich gar nicht, daß bald nach der Erwähnung Evertbuschs dieser eines Tages selbst unsere Treppe heraufpolterte und wirklich in des Wortes Bedeutung in den dunklen Flur fiel, so daß Ilse erschrocken die Tür von der kleinen Küche öffnete, wo sie saß und Gemüse putzte. Und dann ist sie dem Meister einfach um den Hals gefallen.

Es war natürlich gar kein Wunder dabei. Evertbusch war auf seiner Ferienreise im Osten, ganz zufällig, wie er sagte, während er mich verständnisvoll bei den Worten ansah, als ob die masurischen Seen und das Samland schon auf der Karte eines jeden Weltenbummlers ständen. Er hatte seine Frau mit und die Kinder und wollte nach Rauschen für ein paar Wochen, und von da weiter auf die Kurische Nehrung. Und vorher wollte er natürlich aus Neugier in die junge Ehe blicken.

Heimlich glaube ich, daß Evertbusch um die Annahme der Oper in Weimar gewußt hat, denn der Intendant war sein Freund. Er tat aber ungeheuer erstaunt, als er davon hörte, und konnte sich gar nicht genug verwundern und Niklas Glück wünschen. Zur Aufführung ginge er hinüber. Er bestellte sich bei Niklas einen Logenplatz, das heißt er knüpfte eine Bedingung daran: Daß das junge Paar mindestens für acht Tage in Rauschen bei ihm zu Gast sei. Den Flügel wolle er stellen, aber die Geige der jungen Frau müsse mit hinaus an die Ostsee.

Es waren das die letzten Tage meines Königsberger Aufenthalts. Ich bin noch mit ihnen hinausgefahren auf der Samlandbahn, die durch das grüne Land geht, wo jeder Hügel für den Wissenden von den alten Zeiten spricht, da hier ein trotziges Volk seinen Heimatboden bis zum letzten Tropfen mit seinem Blute düngte, und unterging und zertreten wurde unter den Rossen der Weißmäntel. Ein Boden, teuer erkauft für die Kultur, und noch heute ihr nicht ganz gewonnen; aber voll unerschlossener Kräfte der Erde, in die jenes trotzige, tapfere Blut eingedrungen ist.

Für mich, die ich nur die Mark kannte und die stille Vendée, war das Land hier mit seinen Laubwäldern und grünen Wiesen, hingebreitet an den Strand der Ostsee, immer wie ein Lied auf Ilsens Geige. Und Rauschen selbst auf der hohen Düne am Meer, mit dem füllen Teich in seinem Walde, blieb mir in der Erinnerung wie ein Gruß von Ilsens Glück. Hoch und frei vom bernsteinbestreuten Strand bis zu den Sternen reichend, und doch innig und ruhig, wie der Teich im Waldesschatten.

Es war eigentlich gar kein Abschiednehmen gewesen dieses Mal, denn natürlich würde auch ich im Winter nach Weimar kommen. Aber sonderbar erschien es mir selbst, welches Interesse ich auf einmal hatte für Sänger und Inszenierung, für Kulissen und Orchester.

Der alte Kantor war dabei mein Lehrmeister. Er hatte sich natürlich schon lange orientiert. Hatte auch die Partitur des »König Rother« eingesehen und sprach von der Szenerie, von Bari am Mittelmeer, wo Rother geherrscht, und Konstantinopel, woher er seine Königin geholt, mit einer Sachlichkeit, als hätte er die ganze Welt durchreist und sich gerade hier auf dem Boden alter deutscher Heldensagen aufgehalten, bis er heimisch geworden.

Man versprach sich etwas von der Oper. Die Ausstattung wurde mit Fleiß vorbereitet, die Kostüme, die die Volkmänner entworfen, in Berlin bestellt. Wir gingen alle hin, sie zu besehen, in die Alte Jakobstraße, die ich noch nie betreten hatte. Das mächtige Haus der Ausstattungsfirma wirkte wie ein Basar aller Zeiten und aller Länder.

Wie ein Tröpfchen Leichtsinn kam es in mein schweres Blut bei all diesen Vorbereitungen. Als ich die Kinder von der Bahn abholte, – sie waren die Nacht hindurch gefahren, und noch am selben Tage wollten wir weiter nach Weimar, da Nikolas wenigstens den letzten Proben beiwohnen wollte – fand Ilse, daß ich viel jünger aussähe und viel frischer. Nie ist auch eine Sprachlehrerin von ihrer Grammatik und ihrem Corneille hinweg mit einem froheren Herzen in eine ganz ungewisse Zukunft gefahren. Denn ungewiß wie König Rothers Heldenfahrt war die unsere. Nicht einmal die Riesen Asprian und Widolt begleiteten uns. Nur ihre wilden Schlachtrufe waren in die Partitur eingeschlossen, um die hatte Ilse das violette Tüchelchen gelegt, zum guten Omen. Aber ich hatte gelernt im Sommer, und wirklich etwas von dem Mut zum Glück war in meinem eigenen Herzen.

Er sollte auch gleich auf eine Probe gestellt werden. Denn schon in den ersten Tagen in Weimar machte es Niklas möglich, mit mir allein durch den Park zu gehen. Da sagte er mir, daß er Nachricht aus Paris bekommen hätte, von Bertouche. Er habe aber noch gar nicht gewagt, sie Ilse mitzuteilen, er wollte erst mit mir sprechen. Es sei ein glücklicher Zufall, daß bei dem starken Briefwechsel der letzten Wochen sie die fremde Marke nicht beachtet und gefragt hätte.

Mein Herz wurde ganz schwer, denn ich wußte sofort, worum es sich handelte, und sprach leise Gerhards Namen aus.

»Ja,« sagte er und ergriff meine Hand, »nun ist es doch so weit, Mutter Franzine.«

»Er ist tot, nicht wahr, Niklas?«

Er nickte nur, und still gingen wir eine Weile nebeneinander.

»Bertouche hat es mir geschrieben. Sonderbar, wie sie alle noch zusammenhängen, die Kinder vom Montmartre, so verschieden ihr Lebensweg auch geworden ist. Er mag wohl hin und wieder in Paris aufgetaucht sein und wird Bertouche, der ja für ihn mit Ilse zusammenhing, immer im Auge behalten haben. Aber er hat sich nie gemeldet, nie um Hilfe gebeten, ob ihm die Wasser auch oft an den Hals gegangen sind und darüber. Nur zuletzt, als er dann im Hospital lag, demselben Hospital, in dem Ilsens Mutter gestorben ist, da hatte er an Bertouche geschrieben. Sie sind beide hingekommen, der Meister und seine Frau, Du wirst den Brief lesen, Mutter Franzine. Derselbe Aberglaube in ihnen, der sie einmal gezwungen, das Kind zu behalten, hat sie nun an das Bett des Todkranken geführt.

»Sie sind bei ihm gewesen und haben in seine letzte Stunde das Glück bringen können, denn durch mich waren sie ja immer unterrichtet von unserem eigenen Schicksal. Und sogar von König Rothers naher Aufführung hat Ilses Vater noch erfahren, ehe er gestorben ist. Er hat uns Grüße geschickt und Lebewohl sagen lassen. Er hat Ilse nie vergessen, niemals auch Dich, Mutter Franzine. Aber es ist besser gewesen, daß er euern Weg nie gekreuzt hat, auch Bertouche sagt es. Es sind seine eigenen Worte gewesen: ›Es war das einzige, wodurch ich Ilse meine Liebe beweisen konnte‹ Was soll ich nun tun, Mutter Franzine?«

Da stand ich unter den schneebeladenen Bäumen des Weimarer Parkes. Die rauschende Ilm war eingefangen unter der Eisdecke, und drüben lag Goethes Gartenhaus, so ruhig und weltverlassen. Es war kein herber Schmerz, denn um Gerhard hatte ich immer getrauert, auch da ich ihn noch am Leben dachte, und wenn Ilse und ich von ihm gesprochen, hatten wir ihm immer schon die Verklärung gegeben, die man so gern den Toten gönnt. Darum beruhigte ich Niklas. Als wir nach Hause kamen, haben wir Ilse den Brief von Bertouche gegeben, und ich habe ihr gesagt, daß das Leben vielleicht ein Recht hätte, da, wo es so viel Freude gäbe, auch den Schatten nicht zu vergessen; so solle sie es nehmen in diesen Tagen des großen Aufschwunges.

Wir haben auch nicht viel darüber gesprochen. Nicht einmal in Trauer ist sie gegangen an dem Tage der Aufführung.

»Vater würde es nicht wünschen,« sagte sie, als sie mit mir darüber sprach, »ich weiß es. Und es würde so undankbar sein gegen das Leben.«

Ich habe ihr recht gegeben.

Ich lebte mich gut in Weimar ein, in die alte, stille, vornehme Stadt, die es hoffentlich nie fertig bringen wird, modern zu werden. Während die Kinder in den Proben waren, ging ich herum in ihren Museen und den Häusern ihrer Großen, auf die stillen Plätze und auf die Kirchhöfe. An die kalte, steinerne Totenstadt in Paris habe ich gedacht, und ob er auch in so ein Gemeindegrab gekommen, und wie gleich das doch sei im Grunde.

Die Zeit bis zur ersten Vorstellung verging mir wie im Traum. Ich saß dann mit ihnen allen in der Loge. Evertbusch war da und seine Frau, und der Kantor und seine Kinder. Und neben mir, halb verdeckt von den Vorhängen, Ilse. Als das Orchester einsetzte, trat Niklas durch die kleine Tür von der Bühne zu uns und stellte sich in den Hintergrund der Loge. Da stand Ilse auf und ging zu ihm. Ich sah mich aber nicht nach ihnen um, sah auch nicht auf die Bühne, sondern nur hinein ins Publikum. Das saß da vor mir wie eine Hydra, deren Köpfe sich immer vermehrten, und die Gesichter schwankten vor meinen Augen; aber dennoch schien es mir, als könnte ich den Ausdruck all dieser Hunderte zusammenfassen in einen. Und aus meinem Herzen liefen tausend Fäden hinunter zu jedem einzelnen; feine, dünne Fäden, die in ihrer Vielheit doch unzerreißbar waren.

Und nach der ersten Stunde fühlte ich, daß »König Rother« siegen würde. Siegen auf der Bühne, siegen auch in den Herzen dieser Fremden, und dann da draußen in der Welt.

Denn es war in dem Helden eine frische, trotzige Germanenkraft, die ihre Fäuste schüttelte gegen Verweichlichung und Falschheit.

Mit brausendem Jubel wurde »König Rother« aufgenommen. Sie hatten nach dem Tondichter gerufen, vom zweiten Akte an. Der Intendant war gekommen, um ihn zu holen; aber Niklas hatte sich geweigert.

»Erst das Ende,« sagte er, »keinen halben Sieg.«

Und als die gefährliche Klippe des dritten Aktes überstanden war und der Beifall sich steigerte und steigerte, trat er auf die Bühne. Zuerst umgeben von den Sängern, dann allein. Und so stolz und doch so glücklich stand er vor den Jubelrufen der Menge, daß er selbst der Held Rother zu sein schien, der Held, der über die Not gesiegt hatte, der nun auch über den Erfolg siegen würde.

Über die Brüstung der Loge aber beugte sich dicht nebeneinander ein alter und ein junger Kopf. Der des Kantors und der von Ilse. Das Publikum, das über den Zusammenhang des jungen Meisters mit diesen beiden sich schnell klar wurde, schickte einen Teil seines Jubels zu dem Alten und der Jungen. Die Damen nahmen die Sträuße von ihrer Brust und warfen sie dem Künstler zu. Der alte Kantor streckte seine Hände aus und fing ein paar Veilchen in ihnen, die ihm zuflogen, und große Tränen stürzten aus seinen Augen.

Ja, das war das Glück. Nun war es da. Nun breitete es seine Flügel aus und nahm meine Kinder in seinen Schatten. Mochten sie in ihm weiter gehen, bis an das Ende. Würde es doch immer so sein, wie Ilse es damals wünschte. Ein Tag, der jeden Morgen neu zu erkämpfen ist, mit neuer Kraft und neuem Mut. Nichts Beständiges, nichts Sicheres. Schwankend auf den Wogen des Lebens. Abhängig von der Hand des Steuermanns, aber auch abhängig von dem Wind und den Wellen. Ein Glück, das eine starke Hand braucht und ein starkes Herz. –

Es bleibt mir wenig hinzuzufügen. Nach dem Erfolg des »König Rother«, den alle großen Bühnen in rascher Reihenfolge erwarben, gab Niklas in Berlin jenes Konzert, das er sich einst gewünscht hatte, und in dem er das Publikum bändigen wollte. Das war nun nicht mehr nötig. Dieselben Lieder, gegen die es sich einst ablehnend verhalten, nahm es mit dankbaren Jubelrufen, als der Sieger von Weimar sie ihm spielte.

Niklas ging wieder nach Königsberg zurück, weil er noch bis zum Frühjahr gebunden war. Aber noch während seines Aufenthalts in Berlin hatte er sich für drei Jahre nach Amerika verpflichtet, als Kapellmeister an der Conried'schen Oper für die Saison, in die jedesmal ein Urlaub für eine größere Konzertreise fallen sollte. Es war ein glänzender Abschluß, die Zahlen machten mich schwindeln; aber ich hatte es nun ganz aufgegeben, das Leben dieser beiden mit meinem eigenen Maßstab zu messen.

Ilse fand das ja alles natürlich, nahm das alles wie etwas Selbstverständliches, freilich auch wie etwas Nebensächliches, wie sie die kleine Wohnung auf dem Kneiphof genommen hatte und das Kochen und das Bügeln der Wäsche. Ihr blieb immer Niklas selbst das Wichtigste und seine Kunst.

Ich hatte sie einmal gefragt, wie sie denn nun über ihre eigene dächte? Ich fürchtete, sie würde die vernachlässigen und sie nur noch brauchen für stille Stunden des Glücks. Aber wieder hatte ich mich in dem sanften Kinde geirrt.

»Ich bin noch nicht so weit wie Niklas,« sagte sie, »und ich werde ruhig meine Stunden weiter geben, solange ich in Königsberg bin. Aber Du mußt nicht denken, daß ich nur seine Frau sein will, Mutter Franzine. Wenn ich mein erstes Konzert geben werde drüben, dann werde ich Dir schreiben.«

Und unter den Briefen, die sich in den letzten Wochen hier auf meinem Schreibtisch angehäuft haben, ist einer, der erzählt mir davon. Von ihrem ersten Auftreten drüben, dem ich nicht beiwohnen konnte.

»Es ist eigentlich keine Kunst, hier Beifall zu erringen, wenn man die Frau von Nikolas Volckmann ist, und ohne das große Unglück drüben im Westen, das die Wohltätigkeit hier sogar außer der Saison geweckt hat, was etwas heißen will, wäre es auch noch nicht dazu gekommen. Sie sind ja noch alle in den Landhäusern, an der Küste oder in einem sonderbaren, halb zigeunerhaften und doch übermäßig komfortabeln Zelt in den Wäldern. Es war Niklas' Wunsch, daß wir im Sommer herübergingen, obgleich seine Verpflichtungen erst im Herbst beginnen, gerade damit ich mich einleben sollte, und er mir dabei helfen konnte.

»Großartigere Gastfreundschaft als hier kannst Du Dir auch gar nicht vorstellen, Du solltest nur sehen, wie ich hier an Dich schreibe. In einem luftigen Raum, der ganz mit Matten ausgehängt ist, mit einem großen Ventilator, der sich über mir dreht, als bewegen sich ungeheure Schmetterlingsflügel. Die grelle Sonne, die draußen auf dem Meere liegt, abgeschlossen durch mattgrüne Jalousien, und jeder kleinste Gebrauchsgegenstand für die Jahreszeit eingerichtet. Ganz einfach und schlicht, nur allein mit dem Luxus, daß jedes Stück, jeder Stuhl und jeder Tisch, jede Matte und jeder Tonkrug nur hier, und auch hier nur während weniger Wochen der Hitze gebraucht werden kann. Und als Mrs. Allisoll uns bat, unsere Namen für das große Wohltätigkeitskonzert zu geben, für die Witwen und Waisen drüben in Kalifornien, habe ich gar keine Furcht gehabt, mein »Ilse Volckmann-Wahrenburg« unter Nikolas' Namen zu setzen. Und auch gar keine Furcht, als ich dann auf dem Podium des großen Hotelsaales stand. Ich glaube aber, ich habe alle Angst erschöpft, damals, in der bösen Zeit mit Niklas. Für den habe ich gespielt. Er saß in der vordersten Reihe und versuchte ganz vergebens, gleichgültig und fremd auszusehen. Und vielleicht habe ich auch für ihn schön ausgesehen. Denn diese sonderbaren Amerikaner, die ja ihre persönliche Meinung über das Äußere einer Dame, über ihre Haartracht und den Schnitt ihres Mundes wie über den Schnitt ihres Kleides, ruhig in ihre Zeitungen bringen, haben lange Spalten mit der Beschreibung Deiner Nichte gefüllt. Ich schicke die Blätter aber an unsere Volckmänner, die geht es mehr an. Es wird wohl ein Erfolg meines Königin Luisenkleides gewesen sein, und nichts anderes.«

Niklas aber hat unter diesen Brief seine eigene Meinung über das Talent seiner Frau geschrieben, und als ich die las, mußte ich lachen und fand wieder einmal, daß die Eitelkeit der Männer größer ist, als die der Frauen.


Mein Sommer geht zu Ende. Die Großstadt ruft mich, und meine Schüler rufen mich. Ich werde mich nach Fikens stillem Gesicht sehnen, nach ihren gesenkten Augen, die doch einen so heißen Strahl verbergen können, und nach meinen beiden Alten, die jetzt wieder nebeneinander auf der Bank vor dem Hause sitzen.

Weite Wanderungen mache ich noch über das Moor, vorbei an den unzähligen Pyramiden schwarzen Torfes, die im Laufe des Sommers überall entstanden sind. Das Schilf ist schon gelb, und sandbraune Aronstäbe stehen überall am Wasser. Von den Birken fallen die ersten goldgelben Blätter, und wenn ich über das Teufelsmoor sehe, weit herüber bis zu den Windmühlen von Worpswede, ist es so klar und friedlich um mich wie in mir, und Ilse hat wohl recht gehabt, mir für diesen Sommer hier ein Heim auszusuchen. Denn gerade der tiefe Frieden umher hat mich zurückgeführt in das eigene Herz, und wenn ich meine Hand, an der ich noch Wulfs Ring trage, den dünnen goldenen Reif, in den seine Haare eingelassen sind, auf die Blätter neben mir lege, so weiß ich, es ist nicht vergebens, daß ich aufgeschrieben habe, was mir aus meinem Leben als das Wichtigste im Gedächtnis geblieben ist. Nicht vergebens für mich, nicht vergebens für sie.

Sie wird wiederkommen, und Kinder werden ihr Haus füllen, und Kinder werden um meine Kniee spielen. Ich bin aber noch jung genug, um die neuen Wege zu gehen, mit meinen Kindern und den ihren.

Spät habe ich den Mut zum Glück gelernt. Zu spät für mich selbst, und doch zur rechten Zeit, um mich des verklärenden Goldglanzes der Sonne zu erfreuen, der noch lange nach ihrem Scheiden am Himmel bleibt, und von dem die Wetterkundigen sagen, daß er einen neuen, schönen Tag verkünde.

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