Heinrich Hansjakob
Aus dem Leben eines Glücklichen
Heinrich Hansjakob

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Zur Sommerszeit, wenn die Sonne ihre heißesten Strahlen ins Dreisamtal sendet und selbst die dicken Mauern meiner Karthäuser Zelle durchdringt, flüchte ich mich öfters hinaus in den Wald.

Ich nehme dann jeweils den Stuhl mit, der innerhalb der Gartenmauer unter dem Lärchenbaum steht, und setze mich an eine recht düstere Stelle.

Hier unter dunkeln Tannen weilt kühler Schatten. Die Vögelein ruhen; ringsum ist heilige Stille. Nur drüben in einer kleinen Schlucht murmelt leise ein Bächlein, und droben durch die hellgrünen Buchen zittert das Sonnenlicht herab auf Moos und Stein.

Ich bin allein, oder ich glaubte wenigstens lange Zeit, es zu sein, bis eines Tages ein Wesen, das bisher stumm zwischen zwei großen Tannen saß, zu reden anfing. Ich war nicht wenig erstaunt, als dieses altersgraue Ding, mit einem grünen Röcklein angetan, plötzlich Leben gewann. Ich sah an ihm Augen, einen Bart und eine mächtige Römernase, auch einen breiten, dünnlippigen Mund. Aus diesem Munde aber kamen, während ich still brütend zu ihm hinschaute, plötzlich die folgenden Worte:

Schon oft hab' ich dich, armes Menschenkind, hier sitzen sehen und dich seufzen hören und dir im Gesicht abgelesen, daß du nicht zu den Glücklichen dieser Erde gehörst. Ich kann dir's nicht verübeln. Ich bin uralt und habe schon zahllose Wesen kennen gelernt, aber außer mir niemals eines, dem Leid und Schmerz erspart geblieben wären.

Ich habe von dem niedern Standpunkt meiner Erkenntnis aus gefunden, daß ich allein der Glückliche war und bin unter den unzähligen Unglücklichen, von Schmerz, Not und Tod Bedrängten, die in meiner Nähe lebten und leben und die an mir vorübergingen und vorübergehen.

Ich habe darum schon oft dem Schöpfer alles Sichtbaren gedankt, daß ich bin, was ich bin. Denn ich war noch keine Sekunde meines langen Daseins unglücklich, und das will gewiß viel, sehr viel heißen. Und da ihr Menschen am meisten zu jammern und zu klagen habt, weil ihr am tiefsten die Not des Lebens fühlt, kurz gesagt, die unglücklichsten aller irdischen Wesen seid, wird es euch gewiß interessieren, auch einmal einen durchweg und in alleweg Glücklichen kennen zu lernen.

Also vernimm es, und erzähle es dann allen deinen Leidensgefährten; sage es aller lebendigen Kreatur, was dir ein Glücklicher in des Waldes düstern Gründen zur Sommerszeit des Jahres 1900 erzählt hat.

Ich bin eigentlich ein Fremdling hier in dieser Gegend, habe aber das Bürgerrecht eines Eingeborenen längst ersessen durch die vielen, vielen Jahre, die ich hier verlebt.

Mein Vater kam von Süden. Schmerzlos hat er sich zur Zeit einer großen Revolution losgemacht von den Bergen seiner Heimat und ist in die weite Welt gezogen. Damals gab es noch keine anderen Wege zum Reisen als die Rücken der Eisberge. Auf denen rutschte mein Ahne gegen Norden und ließ sich droben am »Roßkopf« seßhaft nieder.

Wie lange das schon her ist, kann ich mich nicht entsinnen, aber es ist schon lange, sehr lange her.

Von meiner Jugendzeit weiß ich nimmer viel. Sie liegt mir zu weit ab. Nur das weiß ich, daß ich mich eines Tages, als es mir nicht mehr ganz geheuer schien, weil in der Nacht die Erde zitterte und bebte, von der Seite meines Vaters losmachte, hurtig durchs verödete Land herabsprang und hier mein Standquartier aufschlug.

Es war noch rings um mich ziemlich wüst und leer. Bäume gab es noch keine; die Palmen und Zedern der Vor-Welt lagen im Staube der Erde; die Eiszeit hatte sie und fast alles Lebendige begraben. In den Sümpfen, welche die Revolution geschaffen, stampfte hungrig der Mammut umher, und auf den Wassern lebte einsam der Singschwan.

In meiner Nähe in einer Schlucht lag eine riesige Fischeidechse. Sie war so lang wie ein Tannenbaum und hatte sich aus der Revolution, die ihr Geschlecht begrub und das meinige schuf, gerettet. Aber welch ein Dasein führte dies unglückliche Wesen!

Es fehlte ihr das warme Wasser. Eisig ging die Quelle, die den Berg herabkam, über ihren Riesenleib. Schrecklich schlug sie wochenlang um sich in ihren Todeswindungen. Ich sehe ihre von Qual verdrehten, jammervollen Blicke heute noch. Sie peitschte im Todeskampf mit ihrem Schwanz so mächtig die Ränder der Schlucht, daß sie zusammenstürzten und das letzte Tier der Vorwelt begruben.

Ich sah ruhig und ohne jede Gemütsbewegung ihrem qualvollen Sterben zu, und als sie begraben war, dachte ich: Gottlob, daß ich kein lebendes Geschöpf der untergegangenen Welt gewesen bin. Das war keine Kleinigkeit, bis diese Riesin ihr Dasein vollendet hatte!

Die Jahrhunderte gingen weiter, während ich still und zufrieden in meiner Einsamkeit saß, – über mir untertags die kühle Sonne und nachts die ewig stummen Sterne.

Stürme tobten übers öde Land, und Regenschauer strömten vom Himmel. Ich blieb stets gleichen Mutes, denn – und das gehört zu meiner Größe – mir kann kein Element etwas anhaben.

Die Sonne wurde mit der Zeit wärmer; es wuchsen Bäume in Gruppen, und den Boden bedeckten nach und nach Moose und Flechten. Es war Steppenland rings um mich, und dies Land belebte sich mit der Zeit.

Das Elentier kam, der Höhlenbär, der weiße Fuchs, das Wildpferd, der Luchs, der Alpenhase, das Murmeltier. Sie alle freuten sich des Lebens.

Anfangs dachte ich: Das ist eine fidele, possierliche Gesellschaft! Die Bären und Füchse gruben sich Höhlen, die Murmeltiere Gänge und alle sprangen lustig aus und ein. Die Elentiere weideten und hüpften auf dem grünen Rasen. Ich hätte sie beneiden können, wenn Neid mir nicht absolut fern läge. Unsereins kennt weder Tugend noch Laster, und neidlos schaute ich drum auf der Ankömmlinge glückliches Leben und Treiben.

Ich sollte aber bald eines andern belehrt werden. Die Bären bekamen Junge, und da sah ich eines Tages, wie ein Bärenvater ein Elentier anfiel und ihm den Hals aufriß. Ich hörte das arme Tier stöhnen vor Schmerz. Als es tot war, schleppte es der blutdürstige Mörder vor seine Höhle, wo jung und alt sich gütlich tat am Fleisch und Blut der getöteten Unschuld, die eben noch friedlich vor meinen Augen geweidet hatte.

Das ist ein wüstes Gesindel, sagte ich mir jetzt, diese Bärenviecher. Sie töten und verzehren ihre Mitgeschöpfe. So was kommt bei unserm Geschlechte nicht vor. Friedlich lebt eins neben dem andern, und wenn wir bisweilen beim Springen die Köpfe aneinander stoßen, so geschieht es ohne jede Absicht und nur, weil man nicht anders kann.

Dabei hat unsere glückliche Natur dafür gesorgt, daß es keinem von uns wehe tut, wenn wir noch so derb aneinander geraten.

Aehnlich wie dem Elentier machte es der Bär den Murmeltieren und den Alpenhasen, welch letzteren auch die Füchse das gleiche Los bereiteten. Aber das war nur ein kleiner Anfang meiner Erfahrungen. Es wurde wärmer und wärmer im Lauf der Jahre, und in meiner Nachbarschaft ward es immer lebendiger.

Aus der Erde krochen Würmer; Ameisen wimmelten auf ihr; an den Gräsern zogen Insekten aller Art auf und ab; Mücken summten, und Käfer schwirrten.

Auf den Bäumen ließen sich Vögel nieder: Tauben girrten, Drosseln sangen, Kuckucke riefen, Raben krächzten, Falken und Habichte schrieen.

Es war mir zuerst, wenn unsereiner so sagen darf, eine Freude, diesem Leben, Kriechen, Summen, Fliegen und Singen zuhören zu können.

Aber welche Enttäuschung! Was mußte ich sehen! Krieg und Kampf und Mord und Leid und Schmerz allüberall bei diesen lebenden Wesen. Die Ameisen fielen über die armen, stummen Würmer her und peinigten sie zu tot. Auch die Insekten, die friedlich an den Pflanzen auf- und abkrochen, wurden von Käfern und Ameisen verzehrt. An diese Mörder machten sich dann die kleinen Vögel. Diese selbst wurden, jämmerlich schreiend, von den großen abgewürgt. Während diese aber daran waren, ihre Beute zu verschlingen, schlich sie der Fuchs oder der Luchs an und machte ihnen den Garaus. So ging es fort, Tag für Tag und Nacht für Nacht. Das war ein Aechzen und Stöhnen und Wimmern und Sterben, daß es einem die Seele hätte durchschneiden können, wenn unsereiner von Gemütsleiden nicht absolut frei wäre!

Das ist mir ein schönes Leben, das durch ewiges Morden anderer Leben erkauft wird. Und was ist das Springen, Laufen, Zirpen, Pfeifen und Singen wert, wenn man keinen Augenblick davor sicher ist, daß ein anderes Mitwesen über einen herfällt und einen abtut! So sprach ich oft zu mir und war herzlich froh, kein solch laufendes, singendes, springendes und elendiglich sterbendes Geschöpf zu sein.

Bei diesen Tiermorden lernte ich ein merkwürdiges Gesetz kennen, das nämlich, daß die Größern und Größten immer die Kleinern und Kleinsten umbringen und daß die Großen am ungestraftesten Unrecht begehen können, trotzdem sie die Gewalttätigsten und Blutdürstigsten sind. –

Was im Frühjahr und Sommer nicht durch seine lieben Nächsten zugrunde ging und nicht sein Leben lassen mußte, um andern das Leben zu fristen, das töteten der Winter und der Frost durch millionenhafte Massenmorde in der Insektenwelt.

Unsereinem schadet eine Winternacht mit 29 Grad Kälte so wenig als ein anbrechender Sommermorgen, Mir ist es immer gleich wohl zu allen Jahreszeiten und bei jedem Wetter.

Mich greift ferner kein Bär an und kein Wolf; ich bin gefeit gegen jeden Angriff auch der grimmigsten Tiere. Keines haßt mich, alle lieben mich. Der Fuchs ruht sich aus auf meinen Schultern, die Ameise kriecht mir friedlich durchs Haar, und der Vogel singt in gefahrlosen Stunden fröhlich sein Lied auf meiner Nase.

Von allen seinen Mitgeschöpfen geliebt, von keinem gehaßt zu sein, ist gewiß auch kein Unglück.

Ich will nun, ehe ich dir weiter beweise, daß ich allein der Glückliche bin in dieses Waldes Dunkel, eine Pause machen. Ich bin das Sprechen nicht gewohnt und habe es heute zum erstenmal probiert. Müde bin ich zwar nicht; dieses Gebreste kenne ich so wenig als irgend ein anderes. Allein ich hab' für heute genug, und du könntest dich erkälten; der Abendwind geht kühl durch die Bäume.

Also Fortsetzung, wenn du wieder kommst. Es wird dir mit dem Gesagten schon eine Ahnung aufdämmern, daß du heute mit einem Glücklichen verkehrt hast. Es kommt aber noch besser. Zeige dich nur bald wieder in meiner Nähe.

 


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