Heinrich Hansjakob
Afra
Heinrich Hansjakob

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6.

Mehr als zwei Jahre sind seit diesem Abschied vorübergegangen. Der volle Frühling des Jahres 1896 war gekommen, und alles grünte und blühte selbst im Fohrengrund, aber ein kalter Regen strömte über Wald und Flur. Vor ihrer Hütte stand die Afra, ein rotes Tuch über dem greisen Haar. Sie schaute über die Matte hin, deren gelbe Blumen vom Regenwasser trieften.

Dort von jenen Fichten herüber schreite ich, der große Mann mit dem großen Hut. Sie erkennt mich alsbald wieder als den Herrn, dem sie in Illenau ihr Leid erzählt, und hat eine große Freude, daß er heraufkommt in den Fohrengrund, »au no bei so ama Wetter«.

Aus ihren kleinen Augen, die über der gebogenen Nase überaus gutmütig hervorschauen, leuchtet Friede, und nur die scharfen Linien im Gesicht erzählen von einstigen Stürmen und Wettern, welche schon über das kleine Weib hingegangen sind.

Sie führt mich die kleine Stiege hinauf. Schon im Hausgang, der direkt auf die dunkle Küche mündet, zeigte sich der Wohlstand der alten Waldhütte. Da hängen riesige Seiten Speck, so daß ich mich bücken muß, um unter ihnen durch in die kleine Stube zu gelangen.

Ehe diese erreicht ist, kommt aus der dunklen Küche raschen Schrittes und doch schüchtern wie ein Waldvögelein die Gertrud, ein kleines, blondes, rotbackiges Meidle, und reicht mir, auf den Boden schauend, die Hand zum Gruß.

In der kleinen, holzgetäfelten Stube frage ich zuerst nach der Großmutter. Aber die ist im vorigen Winter gestorben, eine hohe Achtzigerin, nachdem sie ihrer Enkelkinder Krankheit und Genesung noch miterlebt. »Gott gebe ihr die ewige Ruhe!« fügte die Afra hinzu.

Ehe ich noch nach der Walburg fragen kann, hat die Mutter die Gertrud schon fortgeschickt, um in den Wald zu rufen, wo jene Rinde schält von toten Fichten.

Bald, nachdem die Stimme der Schwester, die hinter der Hütte gerufen hatte, verklungen war, kam eilenden Schrittes die Walburg in die Stube, eine schlanke, dunkle Gestalt mit schwarzen, herabhängenden Zöpfen, nicht unähnlich einer Zigeunerprinzessin. Aus ihren schwarzen Augen schaut noch viel düsterer die Schwermut, als aus den blauen Augen der Gertrud.

Beide setzen sich neben mich auf die Holzbank, die an den Fenstern hin um den Tisch herumläuft, und ich sage ihnen, daß ich ihre Mutter kenne, seitdem sie das zweitemal in Illenau war, wo sie mir von ihren Meidlen erzählt hätte. Mitleid mit ihnen, deren Leid ich aus eigener Erfahrung nachfühlen könne, habe mich hierhergeführt.

Sie schweigen, ein schmerzlich Lächeln geht über ihre Züge, während sie vor sich hin auf den Boden schauen.

Indes hat die Mutter aufgetragen: Speck und Schinken und Striwle und Wein – aber ich esse nicht und kann nicht essen und die Meidle auch nicht.

Da hebt die Afra an und erzählt, was sie und ihre Kinder mitgemacht, erzählt nochmals alles, was wir wissen von ihren geistigen Qualen.

Und die Meidle sitzen da, zur Erde das Haupt gesenkt, wie Fruchtähren, wenn Hagelkörner über sie niedergehen.

Wie schmerzhafte Madonnenbilder schauen sie drein, während die Mutter spricht, und ein Schleier der Weh- und Schwermut legt sich dichter und dichter über ihre Züge.

Vergeblich such' ich, dem das Weh der Meidle in die Seele schneidet, die Afra zu unterbrechen. Ihr Herz ist zu voll, und es will und muß sein Leid nochmals ausströmen.

Mir kommen die Tränen, wie ich so die Afra und ihre Meidle vor mir sehe, die Mutter vom Leid redend, die Kinder es aufs neue fühlend und mit Tränen kämpfend. Ich reiche – als die Schmerzenskünderin geendet – ihr und der Walburg und der Gertrud die Hand und tröste alle drei, so gut und so schlecht ich's kann.

Es ist schwer zu trösten in Augenblicken, in denen man selbst des irdischen Lebens Trostlosigkeit inne wird und darüber weint. – –

Ich werfe dann einen Blick aus dem kleinen Fenster der Stube und sehe ein Waldbild und ein Friedensbild der Natur, so groß und so erhaben und doch so still und so friedlich, wie ich noch keines in meinem langen Leben geschaut habe.

Rings um die Hütte und um die Matten zu ihren Füßen erheben sich in dichtem Wald Tannen und Föhren, die wie friedliche Wächter das Heim der Afra und ihrer Meidle umstehen.

Und über den Tannen- und Fohrenbäumen schauen die düstern Kuppen hoher Waldberge majestätisch, wie Himmelsgrenadiere in dunklen Bärenmützen, auf Hütte und Matten.

Ich empfand Trost beim Anblick dieses Bildes. Die Natur tröstet uns ja gerne, wenn wir in aufgeregter Stunde uns in ihre Gottesruhe flüchten.

Mein Trost wuchs für die, welche hinter mir in der armseligen Stube standen, und für mich, als ich unten am Waldrande, beim »Immenhäusle«, einen mächtigen Kruzifixus stehen sah, der vergoldet heraufleuchtete bis in die Stube, wo vier Menschen weinten über Menschenleid.

Der Anblick des gekreuzigten Gottmenschen, des Mannes der Schmerzen, ist ja der einzige wahre Stern des Trostes für leidende Menschenkinder.

Drum hat die alte, selten lebensfrohe, schwer geprüfte Afra das Zeichen des Gekreuzigten mit dem Bilde des sterbenden Erlösers aufrichten lassen, neu und schön und mächtig und golden – zum Dank für der Kinder Heilung, und auf daß sein Trost leuchte und Licht bringe in die Hütte, in der eine arme Mutter wohnt mit zwei unglücklichen Kindern, einsam, weltfern, nachbarlos, und der niemand hilft, wenn Gott es nicht tut.

Und er hat geholfen. Die Afra erzählt's mir freudigen Herzens. Sie hat Holz geschlagen in ihrem Walde ob der Hütte, und es war viel Holz, viel mehr, als sie glaubte, und sie bekam viel Geld, mehr als sie wähnte. Und mit dem Geld hat sie nicht bloß die Kosten für die Krankheit der Meidle bestritten, sie hat auch ihr Gut, ihren Wald und ihre Matten und Aeckerlein vermehrt.

Die geisteskranke, mit der Afra noch verwandte Nachbarin hat voriges Jahr das Zeitliche gesegnet. Die Afra hat sie gepflegt, als sie krank war, sonst wäre sie Hungers gestorben, weil sie mit keinem Menschen verkehrte.

Die Genofev hat sich nie um der Afra und ihrer Kinder Leid bekümmert. Sie floh, wenn sie nahten. Aber die Afra kam doch, als sie die Fev nimmer sah und ihre Geißen schreien hörte vor Hunger, und stand der Base bei, auch als sie sterben mußte.

Und als diese tot war, hat sie die alte Holzhütte billig gekauft samt Wald und Feld, weil niemand in die Einöde und in das verschrieene Haus wollte.

»Unser Herrgott hat's wieder gut mit mir g'meint,« sprach die Afra, »drum hab' ich das neue Kruzifix auch noch vergolden lassen.«

Sie ist dankbar und glücklich, daß sie durch der Kinder Krankheit nicht um Hab und Gut gekommen, und lebt nun wieder zufrieden in ihrer Waldeinsamkeit mit den beiden stillen Meidlen. –

Wenn man das Waldbild sieht, in dem die Hütte der Afra steht, sollte man meinen, da oben müßten der Friede und das Glück gewohnt haben von Anbeginn an und bis heute. Wer hat aber allen Unfrieden und alles Leid in dieses Paradies gebracht?

Antwort: Amor, »der Gott des Unheils«, der an jenem Sommermorgen im Morgenrot die Seele der Afra traf in Gestalt eines Wildschützen.

Und heute kann das alte, kleine, greise Mütterlein sagen mit jenem alten Volkslied:

An allen meinen Leiden
Ist nur die Liebe schuld.

Ja, ja, es ist und bleibt die Liebe des Menschen Himmelreich und des Menschen Hölle – diesseits und jenseits.

»Der Gott des Unheils,« welcher der jungen Afra einst zum Verderben war und ihre Kinder in dies Verderben hineinzog, wird der Walburg und der Gertrud nimmer schaden.

Seit sie geisteskrank gewesen, läßt die Welt sie in Ruhe. Auch die Roheit einzelner Bauern, unter der Mutter und Kinder so manches zu leiden gehabt, ist einem gewissen Mitleid gewichen.

Und die drei einsamen Wibervölker sind froh, von anderen Menschen wenigstens nicht mehr geplagt zu werden.

Freilich das Hündlein, das die Afra gehabt und das wachen sollte in nächtlichen Stunden über die vereinsamten und nachbarlosen Bewohner der Waldhütte, haben sie wegtun müssen.

Ein böser Mensch wollte sie verklagen, weil das Hündlein seinem Kind den Rock zerrissen habe, obwohl dies nicht der Fall war und der Kerl es nur behauptet hatte, um von der guten Afra Geld zu erpressen.

Sie tat das Hündlein weg, damit nicht wieder falsche Anklagen kommen und sie vor »die Herren« müßte.

So sind die drei ganz vereinsamt und unbewacht, und wenn Gott sie nicht schützt, sind sie wehrlos gegen jeden Ueberfall in ihrer Einöde, in die heute kein junger Jägersmann mehr kommt, noch viel weniger ein Freiersmann für die Meidle.

Und im Winter, wenn die Füchse bellen im Wald und in die kalte Schneenacht der Uhu ruft, läßt sich kein Liebeslied mehr hören von einem Wildschützen, wie ehedem.

Die Meidle aber können, wenn sie vom Morgen bis zum Abend in der Stube sitzen, am Spinnrad das schöne, alte Lied singen:

Mägdlein hielt Tag und Nacht
Traurig an dem Spinnrad Wacht:
Draußen rauschend 's Wasser sprang.
Saust' der Wind und 's Vöglein sang.

Röslein man holt im Hag,
Mich doch niemand holen mag!
Zeiten flieh'n – auch dieses Jahr
Führt mich keiner zum Altar.

Spinn, spinn, spinn Tochter mein,
Morgen kommt der Freier dein!
Mägdlein spann, die Träne rann,
Nie doch kam der Freiersmann.

So werden sie leben und ihres Daseins nimmer froh werden, die zwei Meidle, weil die Schwermut noch immer in ihren Seelen liegt, – leben, bis der wahre, echte Freiersmann kommt, der Mann, der uns alle befreit von allen irdischen Leiden.

Ja, der Tod ist der beste Bräutigam für Unglückliche, denen hienieden keine Hoffnung mehr winkt, und der einzige Wohltäter, den uns niemand rauben kann, der keinem untreu wird und der keinen vergißt. –

Auch nach der Mariev erkundigte ich mich, der treuen Schwester des Oferle, von der wir seit ihren jungen Jahren nichts mehr gehört haben.

Sie war glücklicher als die Afra. Sie bekam ihren Romme (Roman), der eine Hütte und ein Gütle besaß im Tannengrund, nur durch einen Wald getrennt vom Fohrengrund.

Ihr Leben verlief, wie das aller Wibervölker auf dem Lande, in Arbeit, Mühe und Sorge. Neun Kinder hat sie geboren und großgezogen. Und als ihr Mann starb, übergab sie Hütte und Gütle einem Sohn und zog hinab ins Dorf in die »Zigeunergaß«. Hier lebt sie von dem, was der Besitzer der Hütte im Tannengrund ihr gibt als spärlich Leibgeding und was sie noch nebenher verdient mit ihrer Hände Arbeit. Aber in ihren alten Tagen ist der Geist ihrer Mutter über sie gekommen. Sie gilt für bös und selbst für eine Hexe. Drum will sie fort aus der fatalen Zigeunergaß und in die leere Hütte ziehen, in der die geisteskranke Base gewohnt hat und die jetzt der Afra gehört. –

Gerne wäre ich noch weiter hinaufgestiegen an den Fichtenwäldern hin und hätte die Hütte besucht, in welcher Toni, der Wildschütz, seine alten Tage verlebt. Aber es regnete in Strömen, und ich war im Herzen übervoll, da ich Abschied nahm von den Dreien in der Waldhütte im Fohrengrund.

Ich ging bergab, nachdem ich versprochen hatte, jeder ein Gebetbuch zu schicken und, wenn möglich, wieder einmal zu kommen.

Das war am 9. Juni 1896. Wenige Monate später haben sie den Toni begraben. Als die gute Afra hörte, er sei schwer krank, sandte sie ihm, seine Fieberhitze zu kühlen, durch die Gertrud eine saure Milch.

Die kleine, aber gutgemeinte Gabe freute den todkranken Mann von Herzen, weil sie von einem guten Herzen kam, dem er seit vielen, vielen Jahren ferne gestanden.

Und da es zum Sterben ging und er in den letzten Zügen lag, schickte sein Weib jemanden hinüber in die Hütte im Fohrengrund mit der Kunde, »es gehe mit dem Vater zum Letzten«.

Jetzt wollte die Afra die beiden Meidle hinaufschicken, um beten zu helfen.

Die Walburg weigert sich; sie will daheim und in der Kirche für ihn beten, weil er ihr Vater sei, aber zu seinem Sterben gehe sie nit.

Jetzt geht die Gertrud allein. Als sie hinaufkommt in die Hütte, meint des sterbenden Mannes Weib, er werde das Meidle nimmer kennen, denn »er sei schon von sich«.

Doch rief sie ihm zu: »Kennst du den Besuch?« Der Toni schlagt die Augen auf und antwortet: »Jawohl!« Sein Weib fragt weiter: »Sag mir, wer ist es?«

Jetzt faltet der Sterbende die Hände und spricht laut weinend: »O Gertrud, o Gertrud!« Dann verschied er. Dem Meidle aber ging dies so zu Herzen, daß es tief aufgeregt heimkam und es wieder stürmte in seiner kranken Seele. –

Ich habe früher schon, in meinem Buch »Aus kranken Tagen«, gesagt, daß die Landleute im oberen Kinzigtal noch viel unbeleckter seien von der Kultur, als die um Hasle. Sie bewahren deshalb auch Poesie und Volkstum noch viel reiner als ihre Nachbarn an der mittleren Kinzig.

Drum zeigen sie bei ihren Toten auch noch viel mehr Gemüt als diese.

Sie geben dem Verstorbenen ins Grab das schönste Kleid, womöglich das von der Hochzeit her. Der Sarg wird offen gelassen, bis der Leichenzug beginnen soll.

Ehe der sich in Bewegung setzt und der »Totenbaum« geschlossen wird, tritt noch jedes Glied der Familie einzeln, dem Alter nach, vor »das Tote« hin, ergreift seine kalte, rechte Hand und nimmt stummen Abschied von ihm.

Die Mienen und die Tränen reden genug.

Dann betet der Aelteste der nächsten Verwandten laut fünf Vaterunser und Ave Maria vor mit dem jeweiligen Zusatz: »Der für uns an der rechten Hand verwundet worden ist.«

Darauf schließen sie den Totenbaum und begleiten ihn hinab ins Tal, wo um das Kirchlein die Gräber sind. Und sie vergessen ihre Toten nicht. Nach jedem Gottesdienst, dem sie beiwohnen, sei es Sonntag oder Werktag, beten sie über ihren Gräbern, die sie nicht etwa bloß einmal schmücken im Jahr, am Allerseelentag. Nein, jeden Feiertag, solang es Blumen gibt, werden die Ruhestätten bei der Dorfkirche geziert, damit, wie die Lebendigen im Sonntagsstaat einherwandeln, auch die Gräber ihren Schmuck haben.

So begruben sie auch an einem Herbsttag des Jahres 1896 den braven Toni, der gottergeben und mit Gott versöhnt sein Leben beschlossen.

Es war ein langer Abschied, bis sein Weib und seine elf Kinder ihm das letztemal ins tote Angesicht geschaut und seine tote Hand gedrückt hatten.

Von der Waldhütte im Fohrengrund war niemand heraufgekommen; sie konnten und wollten dem toten Mann nicht am Totenbaum so nahe stehen, wie die andern.

Aber als der Leichenzug von oben herab kam, da schlossen sich die Afra und die Gertrud an. Die Walburg hütete daheim und betete in der einsamen Waldhütte auch für die ewige Ruhe – ihres Vaters.

*

Am 22. November 1904 haben sie in Schenkenzell auch die Afra der Erde übergeben.

Aber noch im Tode verfolgte sie das Geschick. Der Mesner von Schenkenzell ist zugleich Ratschreiber. Während nun die Afra zu Grab getragen wurde, hatte er auf dem Rathause zu tun, weil ein Brautpaar die Zivilehe eingehen wollte.

So unterblieb das übliche Läuten bei der Beerdigung, und ohne Sang und Klang senkte man die Dulderin in die Erde.

Ihre Kinder, die Walburg und die Gertrud, kränkten sich sehr über die Zurücksetzung ihrer Mutter und waren nicht wenig aufgeregt darüber.

Nun leben sie ganz einsam droben auf dem Fohrengrund und bewirtschaften allein das kleine Gut, das die Mutter ihnen hinterlassen hat.

Einsam leben sie dort und einsam werden sie dort auch sterben. Gott schütze sie in ihrer Einsamkeit und Verlassenheit! –

 


 


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