Heinrich Hansjakob
Afra
Heinrich Hansjakob

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4.

Der Herbst verging; der Winter kam. Statt des Hennevogels bellte in kalten Nächten der Fuchs in der Nähe der Waldhütte. Der Fuchs aber war gar oft der Toni.

Er war längst unterrichtet über die Stimmung der Mutter seines Oferle. Die Mariev hatte bald hernach an einem Sonntag daheim gehütet und dem Wildschützen gesagt, er möge sich ja nimmer im Hause sehen lassen, wenn ihm etwas am Wohl und Weh des Oferle gelegen sei.

Der Toni suchte nun zunächst Frieden zu machen mit der Alten. Eines schönen, hellen Sonntags vor Weihnachten ging er in die Dorfkirche, zu der die Waldhütte gehörte, und nicht nach St. Roman, wohin er eingepfarrt war und wo er dem Gottesdienst auch regelmäßig beiwohnte, wenn die Rehböcke ihn nicht davon abhielten.

Als die Leute sich nach der Kirche verliefen, ihren Gehöften zu, paßte der Toni auf. Die Mutter schickte das Oferle zum Krämer, um Salz zu holen.

Da trat der Toni an die Alte heran, grüßte sie und sprach: »I bin der Toni aus dem Hirschgrund und mein's ehrlich mit eurem Oferle; i will's heiraten.«

»Ein Wildschütz und ehrlich?« knirschte die Frenz. »Und einer, der am Sunntig Morgen statt in die Kirch' in Wald geht und zu de Meidle, wenn d' Mutter nit daheim, isch mir a soubere Ehrlicher! So lang i leb, kriagst (bekommst) du kei Meidle von mir. Schlag dir das nur aus dem Kopf und geh, du Wildschütz, du!«

Sie war dabei so laut geworden, die Frenz, daß die Leute, welche an beiden vorbeigingen, aufmerksam wurden. Drum brach der Toni ab und sprach bitter: »Behüet Gott, und i dank für den Spott.«

Von weitem hatte das Oferle den Toni, den es schon in der Kirche erspäht, von der Mutter weglaufen sehen, und es ahnte nichts Gutes.

Richtig keifte die Mutter auf dem ganzen Weg der Waldhütte zu über den frechen Wilderer, der von ihr ein Meidle wolle, aber nie bekomme. Das Oferle schwieg, aber in seinem Herzen antwortete eine Stimme: »Schwätz, was du witt, Muatter, den Toni laß i nit.«

So standen die Dinge zu der Zeit, da unsere Erzählung anfing mit jenem Singen des Oferle beim Spinnen am kalten Winterabend, während der Toni draußen im Schnee stand.

Die Frenz war ihm aber schon lange nicht mehr auf die Spur gekommen, und jener Ausbruch des Zorns, als das Oferle sang:

Am Dienstag ist dem heiligen Antonius sein Bitt',
O heiliger Antonius, verlaß uns doch nit! –

war der erste im neuen Jahre (1860) gewesen.

Bald darauf ging aber der Tanz aufs neue los. Man hatte den Leuten in der Waldhütte »das Säckle gestreckt.«

Das Säcklestrecken ist eine schöne Sitte, die meines Wissens nur im oberen Kinzigtal vorkommt und dort, was mich freut, bis zur Stunde geübt wird.

Wird irgendwo in einem Haus oder auf einem Hof zur Winterszeit ein Schwein geschlachtet, so erscheint am Abend ein Unbekannter und klopft mit einer Stange ans Fenster.

Ehe dieses sich öffnet, hat er die Stange am Fenster stehen lassen und sich etwas entfernt. An der Stange aber hängt ein Säckchen, in welchem sich ein Wecken und ein Brief befinden.

In diesem stehen, in der Regel gereimt, die Glückwünsche zum Schweinemetzgen und zur Metzelsuppe und die Bitte, in das Säckchen auch eine Gabe vom Schlachtfest zu legen. Bisweilen enthält der Brief aber auch persönliche Bemerkungen, Neckereien und Bosheiten.

Im ersteren Falle werden dem Gratulanten und Bittsteller Würste und ein Stück Fleisch in sein Säckchen getan, im letzteren, d. h. wenn der Brief Sticheleien und Bosheiten enthält, bekommt der Säcklestrecker Sägmehl, Rübschnitze und dergleichen.

Es gibt also zweierlei Säcklestrecker: solche, denen es nur um Würste und Schweinefleisch zu tun ist, und solche, die mit dem Säcklestrecken irgend eine kleine Bosheit, eine Rache ausüben, kritisieren und spotten wollen. Diese letzteren sind demnach eine Art »Haberfeldtreiber«.

Die Kunst und der Witz der Säcklestrecker besteht darin, möglichst unbeschrieen die Stange mit dem Säckchen wieder zu holen und damit fortzukommen, während das Hauptziel derer im Hause ist, den Säcklestrecker abzufangen.

Gelingt es, ihn einzufangen, so wird er ins Haus geführt und mit Metzelsuppe bewirtet. Es gibt darum einzelne, die sich gerne fangen lassen; andere jedoch setzen einen Stolz darein, heimlich zu entkommen. Die »Haberfeldtreiber« aber haben allen Grund, unerkannt zu entweichen.

In der Regel sind es zwei Burschen, die am Säcklestrecken sich beteiligen; Meidle aber dichten und schreiben vielfach die Verse, welche ihnen manchmal die Eifersucht diktiert. Der eine der Burschen stellt sich zunächst als Spion in die Nähe des »Schlachthauses« und gibt dem andern, der die Stange mit dem Säckle trägt, ein Zeichen, daß es geraten ist, sich dem Hause zu nähern.

Ist die Stange glücklich plaziert, so gehen beide auf die Lauer, bis das Säckle in die Stube gezogen und gefüllt wieder an die Stange gebunden ist. Jetzt gilt's, diese zu holen, ohne erwischt zu werden, denn im Hause ist alles, was laufen kann, auf den Beinen, um den Strecker zu fassen.

In der Regel gelingt aber diesem sein Streich, indem sein Kamerad Miene macht, die Stange zu holen, und ans Haus springt. Während nun Knechte und Buben diesem nachsehen, ergreift der andere die Stange und eilt davon.

Geht der Text des Briefes nur auf einen Anteil am geschlachteten Schwein, so lautet derselbe allermeist also:

          Guten Abend, guten Abend
          Ihr Mehelsuppen-Leut,
          Heut' hat's geregnet anstatt geschneit,
          Und das hat mich zum Säcklestrecken gefreut.

Ich hab' gehört, ihr habt geschlachtet ein fettes Schwein,
Und da möcht' ich auch ein wenig als Gast dabei sein.
Ich wünsche dem Hausvater Glück zum Speck,
Der Hausmutter aber Glück zum Fett,
Den andern allen einen guten Magen,
Daß sie Fett und Speck gut können vertragen.
Ich hab' gehört, euer Schwein war etwas klein,
Drum will ich mit meinen Wünschen bescheiden sein.
Auf eine Blutwurst werd' ich nicht können hoffen,
Das Blut ist euch ja alles davon geloffen.
Drum bitt' ich um eine Leberwurst,
Um zu vermehren meinen großen Durst.
Auch bitt' ich um eine Bratwurst,
Die dreimal um den Stubenofen herumgeht,
Dann zum Fenster hinaus in meinen Sack hinein;
Das mag schon eine tapfere Bratwurst sein.
Auch bitt' ich um ein Stückchen Rippach,Rippächle heißen im Kinzigtal die Rippen der Schweine.
So lang, daß ich dran kann steigen auf das Dach;
Auch ein Stückchen Hohrucken,
Daß ich kann übers Kamin nausgucken,
Ein Stückchen Speck
Zwischen Ohren und Wedel hinweg.
Und noch einen Schunken,
Dann will ich heimklunken.
Ich bitt', füllt mir mein Säckchen bald,
Denn es ist kalt und ich bin alt,
Da friert's mich bald.
Mein Name ist Moab Strömverle von drüwe rüwer;
Wenn mein Säckle g'füllt ist, geh' ich wieder nüwer.
Man nennt mich sonst Hans Keck,
Wer mir zu nah' kommt, den werf' ich in Dreck.
Das Datum hab' ich vergessen.
Weil mir die Mäus' den Kalender gefressen.

Berühmt als Säcklestrecker, die man nie erwischte, waren einst im Heuwich die uns schon bekannten Flözer, der Pfaffengregori und der Schultoni. –

Also solch ein Säckle wurde eines Abends auch ans Xaveris Waldhütte gestreckt und zwar von den Buben in den »Waldhäuslen«, die es nicht gerne sahen, daß einer »aus der Fremde« die Meidle ihrer Nachbarschaft besuche. Darum war der obige übliche Text etwas verändert, und es hieß unter anderem:

Drum bitt' ich um eine Leberwurst,
Denn 's Oferles Toni hat viel Durst;
Auch bitt' ich um eine Bratwurst, die geht vons Oferles Mund
Bis hinab zum Toni im Hirschgrund.
Laßt euer Oferle nit so viel in Wald laufen,
Sonst müßt ihr bald gehen zur Taufen.

Die Säcklestrecker mußten, nachdem ihr Säckle in die Stube gezogen worden war, lange warten, bis von drinnen ein weiteres Lebenszeichen gegeben wurde.

Der Xaveri, sein Weib und die Meidle buchstabierten lange, bis sie den Brief gelesen, und dem Oferle erstarrte das Blut im Herzen, als die Stelle kam, in der von ihm die Rede war. »So war's zu meiner Zeit ou,« begann der Xaveri, als der Brief gelesen war, »man schrieb einander Spott und Schand zum G'spaß. Leg' eine Leberwurst ins Säckle, Alte, und laß die Kerle laufen. Mach gute Miene zum bösen Spiel, sonst kommt, wenn die ander Sau gemetzget wird, noch ein schlimmers Briefle.«

»Jetzt hast ou a mal recht, Xaveri,« gab seine Ehehälfte zurück. »Die Wurst sollen sie haben dafür, daß sie mir sagen, was ich für ein schlechtes Meidle im Haus habe. Aber so muß es kommen, wenn man der Mutter nicht folgt.«

Sie legte eine Wurst ins Säckle und band es an die Stange vor dem Fenster, wo es alsbald verschwand. Aber dann plagte sie das Oferle den ganzen Abend so lange, bis es weinend die Stube verließ und in seine Kammer ging.

Hier stieg eine furchtbare Angst in dem Meidle auf, die Säcklestrecker könnten Propheten sein und ihm seine Schande voraussagen. Und so kam es.

Es ging dem armen Oferle, wie es in jenem alten Volksliede heißt:

Es wollt' ein Jäger jagen
Wohl in dem Tannenholz;
Da trifft er auf dem Wege
Ein Mädchen, und das war stolz.

Wohin du schönes Mädchen,
Wohin du Mädchen stolz?
Ich geh' zu meinem Vater
Wohl in das Tannenholz.

Geh du zu deinem Vater
Wohl in das Tannenholz,
Deine Ehre sollst du lassen
Bei einem Jäger stolz.

Ich kann und darf jetzt nicht mehr alles erzählen. Nur so viel will ich sagen, daß, als der Schnee geschmolzen war und die Drosseln schlugen im Wald, als die ersten gelben Schlüsselblumen aus dem Grase guckten vor der Waldhütte und alles fröhlich wurde im Frühlingssonnenschein, da ging das Leid des Oferle erst recht an.

Die Mutter wurde erbarmungslos, als sie erfahren, daß ihr Meidle »im Tannenholz einem Jäger stolz ihre Ehre gelassen« und Spott und Schand' auf sich und die Ihrigen gehäuft hatte.

Gar oft, wenn die immer und immer wiederkehrenden Ausbrüche des Zorns bei der Mutter losgingen, stürzte sie auf das Opfer sinnlicher Liebe und trieb es mit Schlägen aus der Hütte hinweg in den Wald.

Hier verbrachte das Oferle manchen Tag und manche Nacht weinend, klagend, hungernd und frierend.

Wie ein verwundetes Reh irrte es tagsüber durch die Wälder, hilflos und allein, und nachts lag es schlaflos auf weichem Moosbett, und die Nachtvögel krächzten ihm ihre schauerlichen Totenmelodien.

Zwar kam der Wildschütz bisweilen tröstend zu ihm; aber vergeblich war sein ehrlich Mühen, seinen und des Oferles Fehler gut zu machen durch gesetzliche Bande und Vorschriften.

Jetzt sollt' er sie erst recht nicht haben, so lange das Weib mit den dünnen Lippen lebte in der Waldhütte. So hatte dieses selbst beschlossen.

In jenen Tagen, da das Oferle in des Weibes schwersten Zeiten im Wald umherirrte, war es noch nicht Mode wie heutzutage, ohne den Willen der Eltern zu heiraten, zu heiraten auf nichts anderes hin als auf eine Bescheinigung des Standesbeamten.

Drum duldete das Oferle und unterwarf sich in Gehorsam dem tyrannischen Willen einer erbarmungslosen Mutter. –

Es gehört eine starke Naturgabe dazu, um das zu ertragen, was das Meidle in der Waldhütte zu ertragen hatte an Mißhandlungen, Beschimpfungen und Verstoßungen, und was es zu leiden hatte in den einsamen Nächten im Walde.

Ich habe mit allen Menschen, die ein schweres Verbrechen begangen haben, Mitleid, weil man nie recht weiß, wie diese meist erblich belasteten Unglücklichen so geworden sind, und ich wundere mich nicht, daß die berühmtesten Verteidiger sich um die schwersten Verbrecher am liebsten annehmen. Ich würde es auch tun, wenn ich ein gewandter Rechtsanwalt wäre, und habe diese Leute schon oft beneidet um ihre schöne Aufgabe in solchen Fällen.

Am meisten Mitleid aber habe ich mit den »Kindsmörderinnen«. Es ist das ein furchtbares Wort; aber selten denkt jemand ernstlich daran, welch' furchtbare Leiden und Kämpfe in der Seele einer solchen Mutter vorhergingen und wie Angst, Furcht und Verzweiflung in ihr aufwogten, bis sie zur entsetzlichen Tat schritt.

Ich würde darum in solchen Fällen als Verteidiger stets das Mitleid anrufen und für Unzurechnungsfähigkeit plädieren.

Daß unser Oferle trotz allem, was es zu leiden hatte, in seiner oft verzweiflungsvollen Lage nicht zur Verbrecherin wurde, spricht für die Stärke seines Seelenlebens. –

Und nun überschlagen wir zwanzig Jahre. Es ist dies eine kurze Zeit im Menschenleben, und doch ändert sich in dieser kurzen Frist unendlich vieles, vieles in der Welt, in jedem Dorf und in jeder Familie und im Leben des einzelnen Menschen.

 


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