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Vierter Abschnitt

Der Winter war gekommen, ein rauher und nasser Winter, beinahe ohne Schnee, eine neblige und dunkle, ewige Nacht, ohne einen einzigen frischen Windstoß während der ganzen Woche. In den Straßen brannte das Gas fast den ganzen Tag, und die Menschen stießen trotzdem im Nebel aneinander. Alle Töne, der Klang der Kirchenglocken, die Schellen der Droschkenpferde, die Stimmen der Menschen, der Hufschlag, alles zusammen klang in dieser dicken Luft dumpf und begraben. Woche auf Woche verging, und das Wetter war und blieb das gleiche.

Und ich hielt mich beständig unten in Vaterland auf.

Immer fester wurde ich mit diesem Wirtshaus, diesem Logis für Reisende verbunden, in dem ich trotz meiner Verkommenheit Wohnung gefunden hatte. Mein Geld war seit langem verbraucht, und doch kam und ging ich hier immer noch, als hätte ich ein Recht dazu und sei hier daheim. Die Wirtin hatte noch nichts gesagt; aber trotzdem quälte es mich, daß ich nicht bezahlen konnte. So verliefen drei Wochen.

Vor vielen Tagen schon hatte ich meine Schreiberei wieder aufgenommen, aber es wollte mir nicht gelingen, etwas zustande zu bringen, mit dem ich zufrieden war. Ich hatte gar kein Glück mehr, obwohl ich fleißiger war als je und es früh und spät versuchte. Was ich auch unternahm, es nützte nichts, das Glück hatte mich verlassen.

Ich saß in einem Zimmer im ersten Stock, im besten Fremdenzimmer, und machte diese Versuche. Seit dem ersten Abend, als ich Geld hatte und für mich bürgen konnte, war ich hier oben ungestört geblieben. Ich hatte auch die ganze Zeit die Hoffnung, endlich irgendeinen Artikel zustande zu bringen, so daß ich mein Zimmer bezahlen konnte und was ich sonst noch schuldig war; deshalb arbeitete ich so fleißig. Ich hatte insbesondere ein bestimmtes Stück angefangen, von dem ich mir sehr viel erwartete, eine Allegorie über einen Brand in einem Buchladen, ein tiefsinniger Gedanke, den ich mit allem Fleiß ausarbeiten und dem »Kommandeur« zur Abzahlung bringen wollte. Der »Kommandeur« sollte doch erfahren, daß er dieses Mal wirklich einem Talent geholfen hatte. Ich hatte keinen Zweifel, daß er das erfahren würde; es galt nur zu warten, bis der Geist über mich kam. Und warum sollte der Geist nicht schon im nächsten Augenblick über mich kommen? Es war gar nichts im Weg; ich bekam von meiner Wirtin jeden Tag ein wenig zu essen, morgens und abends einige Butterbrote, und meine Nervosität war beinahe verschwunden. Ich brauchte mir keine Lumpen mehr um die Hände zu binden, wenn ich schrieb, und ich konnte von meinen Fenstern im ersten Stock auf die Straße heruntersehen ohne schwindlig zu werden. Es ging mir in jeder Beziehung viel besser, und es wunderte mich geradezu, daß ich meine Allegorie noch nicht fertig hatte. Ich verstand nicht, wie das zusammenhing.

Endlich sollte ich eines Tages eine Ahnung davon bekommen, wie schwach ich eigentlich geworden war, wie schlaff und untauglich mein Gehirn arbeitete. An diesem Tag kam nämlich meine Wirtin mit einer Rechnung zu mir herauf und bat mich, sie durchzusehen. Es müsse etwas falsch sein an der Rechnung, sagte sie, sie stimme nicht mit ihrem eigenen Buch überein; aber sie habe den Fehler nicht herausfinden können.

Ich setzte mich hin um zu rechnen; meine Wirtin saß mir gegenüber und sah mich an. Ich zählte diese zwanzig Posten zusammen, erst einmal abwärts und fand die Summe richtig, dann einmal aufwärts und kam wieder zu dem gleichen Resultat. Ich sah die Frau an, sie saß dicht vor mir und wartete auf meine Worte; zu gleicher Zeit bemerkte ich, daß sie guter Hoffnung war, es entging dies meiner Aufmerksamkeit nicht, und ich starrte sie doch keineswegs forschend an.

Die Summe ist richtig, sagte ich.

Nein, sehen Sie nur jede einzelne Zahl an, antwortete sie, es kann nicht soviel sein; ich bin dessen sicher.

Und ich begann jeden Posten nachzuprüfen: zwei Brote zu fünfundzwanzig, ein Lampenglas achtzehn, Seife zwanzig, Butter zweiunddreißig ... Es bedurfte keines besonders klugen Kopfes, um diese Zahlenreihe durchzugehen, diese kleine Krämerrechnung, in der sich keine Weitläufigkeiten befanden, und ich versuchte redlich den Fehler herauszufinden, von dem die Frau sprach, fand ihn aber nicht. Als ich mich ein paar Minuten mit diesen Zahlen herumgetummelt hatte, fühlte ich leider, daß in meinem Kopf alles zu tanzen begann; ich machte keinen Unterschied mehr zwischen Soll und Haben, ich mischte das Ganze zusammen. Endlich stand ich mit einemmal bei folgendem Posten fest: drei und fünf Sechzehntel Mark Käse zu sechzehn. Mein Gehirn versagte vollständig, ich starrte dumm auf den Käse hinunter und kam nicht vom Fleck. Das ist auch verteufelt schlecht geschrieben! sagte ich verzweifelt. Da steht, Gott helfe mir, einfach fünf Sechzehntel Käse. Hehe, hat man schon so etwas gehört! Ja, hier können Sie es selbst sehen!

Ja, antwortete die Madam wieder, man pflegt es so zu schreiben. Das ist der Kräuterkäse. Doch, das ist richtig! Fünf Sechzehntel sind also fünf Lot ...

Ja, das verstehe ich schon! unterbrach ich sie, obwohl ich in Wirklichkeit nichts mehr verstand.

Von neuem versuchte ich mit diesem kleinen Rechenstück fertig zu werden, das ich vor einigen Monaten in einer Minute gelöst haben würde. Ich schwitzte stark und dachte aus allen Kräften über diese rätselvolle Zahl nach und blinzelte nachdenklich mit den Augen, als ob ich ganz scharf dieser Sache nachgrübelte; aber ich mußte es aufgeben. Diese fünf Lot Käse gaben mir den Rest; es war, als zerbräche etwas hinter meiner Stirne.

Um trotzdem den Eindruck zu machen, als arbeitete ich immer noch an meinen Berechnungen, bewegte ich die Lippen und sprach hie und da eine Zahl laut aus. Dies alles, während ich über die Reihen herunterglitt, als käme ich ständig vorwärts und näherte mich dem Abschluß. Die Madam saß da und wartete. Endlich sagte ich: Ja, ja, ich habe sie jetzt von Anfang bis zum Ende durchgegangen, und soweit ich sehen kann, ist wirklich kein Fehler da.

Nicht? antwortete die Frau, wirklich nicht? Aber ich sah genau, daß sie mir nicht glaubte. Und plötzlich schien in ihre Rede eine Spur der Geringschätzung gegen mich zu kommen, ein gleichgültiger Ton, den ich früher nicht von ihr gehört hatte. Sie sagte, ich sei vielleicht nicht gewöhnt, mit Sechzehnteln zu rechnen; sie sagte auch, daß sie sich an jemand wenden müsse, der sich darauf verstünde, um die Rechnung ordentlich durchsehen zu lassen. Sie sagte dies alles durchaus nicht in beschämender Weise, sondern gedankenvoll und ernsthaft. Als sie an die Tür gekommen war und gehen wollte, sagte sie noch, ohne mich anzusehen:

Entschuldigen Sie, daß ich Sie aufgehalten habe!

Sie ging.

Kurz darauf öffnete sich die Türe wieder und meine Wirtin kam noch einmal herein; sie konnte kaum weiter als bis auf den Gang gekommen sein, ehe sie umgekehrt war.

Es ist wahr! sagte sie. Sie dürfen es mir nicht übelnehmen; aber ich habe wohl noch etwas zu gute bei Ihnen? Sind es nicht gestern drei Wochen gewesen, daß Sie einzogen? Ja, ich dächte es. Es ist nicht so leicht, mit einer so großen Familie durchzukommen, ich kann leider hier niemand auf Kredit wohnen lassen ...

Ich unterbrach sie. Ich arbeite an einem Artikel, wie ich Ihnen schon früher erzählt habe, sagte ich, und sobald der fertig ist, werden Sie Ihr Geld bekommen. Sie können ganz ruhig sein.

Ja, aber der Artikel wird ja niemals fertig?

Glauben Sie? Möglicherweise kommt der Geist morgen oder vielleicht schon heute nacht über mich; es ist gar nicht ausgeschlossen, daß er heute nacht einmal über mich kommt, und dann ist mein Artikel in längstens einer Viertelstunde fertig. Sehen Sie, mit meiner Arbeit ist es nicht so, wie mit der anderer Leute; ich kann mich nicht hinsetzen und im Tag eine gewisse Menge fertig bringen, ich muß immer den Augenblick abwarten. Und keiner kann den Tag und die Stunde sagen, wann der Geist über ihn kommt; das muß seine Zeit haben.

Meine Wirtin ging. Aber ihr Vertrauen war sicherlich sehr erschüttert.

Sowie ich allein war, sprang ich auf und raufte mir das Haar vor Verzweiflung. Nein, es gab wirklich keine Rettung mehr für mich, keine, keine Rettung! Mein Gehirn war bankrott! War ich denn ganz zum Idioten geworden, daß ich nicht einmal mehr den Wert eines kleinen Stückchens Kräuterkäse ausrechnen konnte? Aber konnte ich denn meinen Verstand verloren haben, wenn ich mir selbst solche Fragen stellte? Hatte ich nicht sogar mitten in meinen Anstrengungen mit der Rechnung die sonnenklare Beobachtung gemacht, daß meine Wirtin schwanger war? Ich hatte keine Ursache, dies zu wissen, kein Mensch hatte mir davon erzählt, es fiel mir auch nicht willkürlich ein, ich sah es mit meinen eigenen Augen und erfaßte es sogleich, als ich in einem verzweifelten Augenblick dasaß und mit Sechzehnteln rechnete. Wie sollte ich mir das erklären?

Ich trat zum Fenster und sah hinaus; mein Fenster ging auf die Vognmandsstraße. Einige Kinder spielten unten auf dem Pflaster, ärmlich gekleidete Kinder mitten in der ärmlichen Gasse. Sie warfen einander eine leere Flasche zu und schrien laut. Ein Möbelwagen rollte langsam vorbei; es war dies offenbar eine vertriebene Familie, die die Wohnung außerhalb der Umzugszeit wechselte. Ich dachte mir das augenblicklich. Auf dem Wagen lagen Bettzeug und Möbel, wurmstichige Betten und Kommoden, rotgemalte Stühle mit drei Beinen, Matten, altes Eisen, Blechzeug. Ein kleines Mädchen, ein Kind noch, ein richtig häßliches kleines Wesen mit einer Tropfnase, saß oben auf der Last und hielt sich mit seinen armen blauen Händen fest, um nicht herunterzufallen. Es saß auf einem Bündel abscheulicher, nasser Matratzen, auf denen Kinder gelegen hatten und sah auf die Kleinen herunter, die die leere Flasche einander zuwarfen ...

Dies alles sah ich, und ich hatte keine Mühe, alles, was vorging, zu verstehen. Während ich dort am Fenster stand und dies beobachtete, hörte ich auch das Mädchen meiner Wirtin in der Küche neben meinem Zimmer singen: ich kannte die Melodie und paßte deshalb auf, ob sie falsch singen würde. Und ich sagte mir, daß ein Idiot all dieses nicht hätte beobachten können; ich war Gott sei Dank so vernünftig wie nur irgend jemand.

Plötzlich sah ich zwei der Kinder unten in der Straße auffahren und raufen, zwei kleine Buben; den einen kannte ich, er war der Sohn meiner Wirtin. Um zu hören, was sie einander sagen, öffne ich mein Fenster, und sofort sammelt sich eine Schar Kinder unter diesem Fenster an und sieht sehnsuchtsvoll herauf. Worauf warteten sie? Daß ich ihnen etwas hinunterwerfen würde? Getrocknete Blumen, einen Knochen, Zigarrenstumpen, irgend etwas, das sie sich in den Mund stopfen oder mit dem sie sich belustigen könnten? Mit blaugefrorenen Gesichtern, mit unendlich langen Augen sahen sie zu meinem Fenster herauf. Unterdessen zanken sich die zwei Feinde immer noch herum. Worte, wie große, feuchte Ungeheuer, wimmeln aus diesen Kindermündern, schreckliche Schimpfnamen, Dirnenausdrücke, Matrosenflüche, die sie vielleicht unten am Hafen gelernt hatten. Und beide sind so davon in Anspruch genommen, daß sie gar nicht bemerken, wie meine Wirtin zu ihnen hinausläuft, um zu hören, was los ist.

Ja, erklärt ihr Sohn, er packte mich an der Gurgel; ich bekam lange keine Luft mehr! Und indem er sich an den kleinen Übeltäter wendet, der ihn boshaft angrinst, wird er vollkommen rasend und ruft:

Fahr zur Hölle, du chaldäisches Vieh, das du bist! So ein lausiger Hurenbalg packt einen an der Kehle! Ich werde dich, so wahr Gott ...

Und die Mutter, dieses schwangere Weib, die die ganze enge Gasse mit ihrem Bauch beherrscht, antwortet dem zehnjährigen Kind, während sie es am Arm ergreift und mit sich ziehen will:

Scht! halt deinen Schnabel! Ich meine gar, du fluchst! Du gebrauchst ja das Maul, als wenn du jahrelang im Hurenhaus gewesen wärest! Jetzt hinein mit dir!

Nein, das tue ich nicht!

Doch, das tust du!

Nein, ich tue es nicht!

Ich stehe oben am Fenster und sehe, wie der Zorn der Mutter zunimmt, diese widerliche Szene erregt mich stark, ich halte es nicht mehr aus, ich rufe zu dem Buben hinunter, daß er einen Augenblick zu mir heraufkommen soll. Ich rufe zweimal, nur um sie zu stören, um diesen Auftritt zu beenden; das zweite Mal rufe ich sehr laut, und die Mutter wendet sich verblüfft um und sieht zu mir herauf. Und augenblicklich gewinnt sie die Fassung wieder, sieht mich frech an, richtig überlegen sieht sie mich an, und zieht sich mit einer vorwurfsvollen Bemerkung gegen ihren Sohn zurück. Sie spricht laut, so daß ich es hören kann und sagt zu ihm:

Pfui, schämen solltest du dich, die Leute sehen zu lassen, wie schlimm du bist!

Mir entging nichts, nicht einmal irgendeine kleine Nebensache von allem, was ich auf diese Weise beobachtete. Meine Aufmerksamkeit war äußerst wachsam, ich atmete empfindlich jeden kleinen Umstand ein und machte mir meine Gedanken über diese Dinge, wie sie der Reihe nach verliefen. Es konnte also unmöglich mit meinem Verstand etwas nicht in Ordnung sein. Wie sollte auch jetzt etwas nicht in Ordnung sein?

Höre, weißt du was, sagte ich plötzlich, nun bist du lange genug herumgegangen und hast dich mit deinem Verstand befaßt und dir in dieser Hinsicht Kummer gemacht; nun müssen diese Narrenstreiche aufhören! Ist das ein Zeichen von Verrücktheit: alle Dinge so genau zu beobachten und aufzufassen, wie du es tust? Du machst mich beinahe über dich lachen, versichere ich dir, dies entbehrt nicht des Humors, soviel mir scheint. Kurz und gut, das passiert allen Menschen, daß sie sich einmal verrennen, und zwar gerade bei der einfachsten Frage. Das hat nichts zu sagen, das ist nur Zufall. Wie gesagt, ich muß bei einem Haar über dich lachen. Was diese Krämerrechnung betrifft, diese lumpigen fünf Sechzehntel Armeleutekäse, so möchte ich ihn beinahe nennen, – hehe, ein Käse mit Nelken und Pfeffer darin – was diesen lächerlichen Käse betrifft, da hätte auch der Klügste dumm davor dastehen können; schon bloß der Geruch dieses Käses könnte einen aus der Fassung bringen ... Und ich verhöhnte den Kräuterkäse nach allen Richtungen ... Nein, gebt mir etwas Eßbares! Gebt mir meinetwegen fünf Sechzehntel guter Butter! Das wäre etwas anderes!

Ich lachte hektisch über meine eigenen Witze und fand sie höchst lustig. Mir fehlte wirklich nichts mehr, ich war ganz in Ordnung.

Meine Munterkeit stieg, je mehr ich im Zimmer umherging und mit mir sprach; ich lachte laut und fühlte mich überaus froh. Es war auch wirklich so, als hätte ich nur dieser kurzen fröhlichen Weile, dieses Augenblickes richtig heller Entzückung ohne Sorgen nach irgendwelcher Seite hin bedurft, um meinen Kopf in arbeitstüchtige Verfassung zu bringen. Ich setzte mich an den Tisch und fing an, mich mit meiner Allegorie zu beschäftigen. Und es ging sehr gut, besser denn seit langer Zeit. Es ging nicht schnell; aber ich fand, das wenige, das ich zustande brachte, war ganz ausgezeichnet. Auch arbeitete ich eine Stunde lang, ohne müde zu werden.

Schließlich bin ich an einem sehr wichtigen Punkt in dieser Allegorie über einen Brand in einem Buchladen angelangt. Er kam mir so wichtig vor, daß alles übrige, was ich geschrieben hatte, nicht der Rede wert war im Vergleich zu diesem Punkt. Ich wollte gerade den Gedanken, daß es nicht Bücher seien, die verbrannten, sondern Gehirne, menschliche Gehirne, recht tiefsinnig formen, und ich wollte aus diesen brennenden Gehirnen eine ganze Bartholomäusnacht gestalten. Da wurde plötzlich meine Türe mit großer Hast geöffnet, und meine Wirtin kam hereingesegelt. Sie kam bis mitten ins Zimmer, sie blieb nicht einmal auf der Schwelle stehen.

Ich stieß einen kleinen heiseren Schrei aus; es war, als hätte ich einen Schlag bekommen.

Wie? fragte sie. Mir schien, Sie sagten etwas? Wir haben einen Reisenden bekommen und wir müssen dieses Zimmer für ihn haben. Sie können heute nacht bei uns unten schlafen; ja, Sie sollen auch dort ein eigenes Bett bekommen. Und noch bevor sie meine Antwort erhalten hatte, begann sie ohne weiteres meine Papiere auf dem Tisch zu sammeln und sie in Unordnung zu bringen.

Meine frohe Stimmung war wie weggeweht, ich wurde zornig und verzweifelt und stand sofort auf. Ich ließ sie auf dem Tisch zusammenräumen und sagte nichts; ich sprach kein Wort. Und sie gab mir alle Papiere in die Hand.

Ich konnte nichts anderes tun, ich mußte das Zimmer verlassen. Auch dieser kostbare Augenblick war nun verdorben! Schon auf der Treppe begegnete ich dem neuen Reisenden, einem jungen Mann mit großen blauen Ankerzeichnungen auf den Handrücken; ein Träger mit einer Schiffskiste auf der Schulter folgte ihm. Der Fremde war sicher ein Seemann, also nur ein zufälliger Reisender für eine Nacht; er würde mein Zimmer kaum längere Zeit in Anspruch nehmen. Ich konnte ja vielleicht auch morgen, wenn der Mann abgereist war, wieder einen meiner glücklichen Augenblicke haben; es fehlten mir nur noch fünf Minuten der Inspiration, dann war mein Werk über den Brand fertig. Ich mußte mich also in das Schicksal ergeben.

Ich war noch nie in der Wohnung der Familie gewesen, dieser einzigen Stube, in der sich alle zusammen, Mann, Frau, der Vater der Frau und vier Kinder, Tag und Nacht aufhielten. Das Mädchen wohnte in der Küche, in der es auch schlief. Mit großem Widerwillen näherte ich mich der Türe und klopfte an; niemand antwortete, aber ich hörte drinnen sprechen.

Der Mann sagte kein Wort als ich eintrat, erwiderte nicht einmal meinen Gruß; er sah mich nur gleichgültig an, als ob ich ihn nichts anginge. Er spielte übrigens Karten mit einem Menschen, den ich schon unten am Hafen gesehen hatte, einem Träger, der auf den Namen »Glasscheibe« hörte. Ein Säugling plapperte im Bett mit sich selbst, und der alte Mann, der Vater der Wirtin, saß zusammengekrochen auf einer Schlafbank und beugte den Kopf auf die Hände herab, als ob ihn Brust oder Magen schmerzte. Er hatte beinahe weißes Haar und sah in seiner zusammengekrümmten Stellung wie ein geducktes Tier aus, das dasaß und die Ohren spitzte.

Ich muß leider für heute nacht um Unterkunft hier bitten, sagte ich zu dem Mann.

Hat das meine Frau gesagt? fragte er.

Ja. Ein anderer bekam mein Zimmer.

Darauf antwortete der Mann nichts; er befaßte sich wieder mit seinen Karten.

So saß dieser Mann Tag für Tag und spielte Karten mit jedem, der zu ihm kam, spielte um nichts, nur um die Zeit zu vertreiben und um etwas in den Händen zu haben. Sonst tat er nichts, rührte sich nur gerade soviel, als seine faulen Glieder es zuließen, während die Frau die Treppen auf und nieder trabte, an allen Ecken und Enden zugegen war und sich bemühte, Fremde ins Haus zu bekommen. Sie hatte sich auch mit den Schauerleuten und Trägern in Verbindung gesetzt, denen sie für jeden Gast, den diese ihr brachten, ein gewisses Honorar bezahlte, und oft gewährte sie diesen Schauerleuten Unterkunft für die Nacht. Jetzt war es die »Glasscheibe«, die soeben den neuen Reisenden mitgebracht hatte.

Ein paar der Kinder kamen herein, zwei kleine Mädchen mit mageren, sommersprossigen Dirnengesichtern; sie hatten wahrhaft elende Kleider an. Bald darauf trat auch die Wirtin ein. Ich fragte sie, wo sie mich für die Nacht unterbringen wolle, und sie antwortete kurz, daß ich hier drinnen zusammen mit den anderen, oder draußen im Vorzimmer auf der Sofabank liegen könne, ganz wie ich es selbst für gut fände. Sie ging in der Stube umher, während sie mir dies antwortete, und kramte mit verschiedenen Dingen, die sie in Ordnung brachte und sah mich nicht einmal an.

Ich sank bei ihrer Antwort zusammen, blieb bei der Türe stehen und machte mich klein, tat sogar, als sei ich sehr zufrieden damit, mein Zimmer für eine Nacht mit einem anderen zu vertauschen: ich setzte mit Absicht eine freundliche Miene auf, um sie nicht zu reizen und um nicht womöglich ganz aus dem Haus gejagt zu werden. Ich sagte: Ach ja, es findet sich schon Rat! und schwieg.

Sie fuhr immer noch in der Stube umher.

Übrigens will ich Ihnen sagen, daß ich nicht reich genug bin, um Leute auf Kredit in Kost und Logis zu haben. Und das habe ich Ihnen auch schon früher gesagt.

Ja aber, liebe Frau, es handelt sich ja nur um diese paar Tage, bis mein Artikel fertig ist, antwortete ich, und dann will ich Ihnen gerne fünf Kronen obendrein geben, gerne.

Aber offenbar glaubte sie nicht an meinen Artikel, das konnte ich ihr ansehen. Und ich konnte nicht stolz tun und das Haus bloß um dieser kleinen Kränkung willen verlassen; ich wußte, was meiner wartete, wenn ich meines Weges ging.

 

Einige Tage verstrichen.

Ich war immer noch bei der Familie unten, da es in dem Vorzimmer, das keinen Ofen hatte, zu kalt war; auch nachts schlief ich auf dem Boden in der Stube. Der fremde Seemann wohnte noch immer in meinem Zimmer und es hatte nicht den Anschein, als ob er so bald ausziehen würde. Zur Mittagszeit kam die Wirtin herein und erzählte, daß er einen ganzen Monat im voraus bezahlt hatte. Im übrigen sollte er das Steuermannsexamen machen, bevor er abreiste; deshalb hielte er sich in der Stadt auf. Ich stand da und hörte dies an und begriff, daß mir das Zimmer jetzt für immer verloren war.

Ich ging ins Vorzimmer und setzte mich; würde es mir glücken, etwas schreiben zu können, dann mußte es wohl hier sein, in der Stille. Meine Allegorie beschäftigte mich nicht mehr. Mir war eine neue Idee gekommen, ein ganz vortrefflicher Plan: ich wollte einen Einakter schreiben, »Das Zeichen des Kreuzes«, ein Thema aus dem Mittelalter. Besonders die Hauptperson hatte ich mir vollkommen ausgedacht, eine herrliche, fanatische Dirne, die im Tempel gesündigt hatte, nicht aus Schwachheit und nicht aus Begierde, sondern aus Haß gegen den Himmel, zu Füßen des Altars, das Altartuch unter ihrem Kopf, nur aus herrlicher Verachtung für den Himmel.

Je mehr die Zeit verging, desto stärker wurde ich von dieser Gestalt besessen. Zuletzt stand sie ganz lebendig und genau so, wie ich sie haben wollte, vor meinem Blick. Ihr Körper sollte fehlerhaft und abstoßend sein: hoch, sehr mager und etwas dunkel, und bei jedem Schritt, den sie machte, sollten ihre langen Beine durch die Röcke schimmern. Sie sollte auch große, abstehende Ohren haben. Kurz gesagt, sie sollte nicht schön, sondern nur gerade noch erträglich anzusehen sein. Was mich an ihr interessierte, war ihre wundervolle Schamlosigkeit, war die maßlose und überlegte Sünde, die sie begangen hatte. Sie beschäftigte mich wirklich allzu stark: mein Gehirn war gleichsam ausgebeult von dieser seltsamen Mißgestalt. Und zwei volle Stunden schrieb ich in einem Zug an meinem Drama.

Als ich eine Anzahl Seiten zustande gebracht hatte, vielleicht zwölf Seiten, mit großer Mühe oft, bisweilen mit langen Zwischenräumen, in denen ich umsonst schrieb und meine Bogen zerreißen mußte, war ich müde geworden, ganz steif vor Kälte und Müdigkeit, und ich stand auf und ging auf die Straße hinaus. Auch hatte mich in der letzten halben Stunde das Kindergeschrei im Zimmer der Familie gestört, und ich hätte auf keinen Fall jetzt noch mehr schreiben können. Ich machte deshalb einen langen Spaziergang den Drammensweg hinaus und blieb bis zum Abend fort, ständig darüber nachgrübelnd, wie ich mein Drama fortsetzen sollte. Ehe ich an diesem Tag nach Hause kam, widerfuhr mir folgendes:

Ich stand vor einem Schuhladen ganz unten in der Karl-Johan-Straße, fast beim Bahnhofsplatz. Gott weiß, warum ich gerade vor diesem Schuhladen stehengeblieben war! Ich sah durch das Fenster, dachte aber im übrigen gar nicht daran, daß ich eben jetzt Schuhe nötig hätte; meine Gedanken waren weit fort, in anderen Gegenden der Welt. Hinter meinem Rücken ging ein Schwarm plaudernder Menschen vorbei, und ich hörte nichts von dem, was gesagt wurde. Da grüßt eine Stimme laut:

Guten Abend!

Die »Jungfer« grüßte mich.

Guten Abend! antwortete ich abwesend. Ich sah die »Jungfer« eine kurze Weile an, bevor ich ihn erkannte.

Nun, wie geht es? fragte er.

Ja, sehr gut ... wie gewöhnlich!

Hören Sie, sagen Sie mir, meinte er, Sie sind also noch bei Christie?

Christie?

Mir schien, sie sagten einmal, daß Sie Buchhalter beim Großhändler Christie seien?

Ach! Nein, das ist vorbei. Es war ganz unmöglich mit diesem Mann zusammen zu arbeiten; das ging ziemlich bald von selbst auseinander.

Wieso das?

Ach, ich schrieb eines Tages etwas Falsches, und da ... Gefälscht?

Gefälscht? Da stand die »Jungfer« und fragte geradezu, ob ich gefälscht hätte. Er fragte sogar rasch und interessiert. Ich sah ihn an, fühlte mich tief gekränkt und antwortete nicht.

Ja, ja, Herrgott, das kann dem Besten passieren! meinte er, um mich zu trösten. Er glaubte immer noch, daß ich gefälscht hatte.

Was kann, ja Herrgott, dem Besten passieren? fragte ich. Fälschen? Hören Sie, mein lieber Mann, glauben Sie denn wirklich, daß ich eine solche Niederträchtigkeit begangen haben könnte? Ich?

Aber Lieber, mir schien, Sie sagten ganz deutlich ...

Ich warf den Kopf zurück, wandte mich von der »Jungfer« ab und sah die Straße hinunter. Mein Blick fiel auf ein rotes Kleid, das sich uns näherte, es war eine Frau an der Seite eines Mannes. Hätte ich nun nicht gerade dieses Gespräch mit der »Jungfer« geführt, wäre ich nicht von seinem groben Verdacht gekränkt worden, und hätte ich nicht eben den Kopf zurückgeworfen und mich beleidigt abgewandt, dann wäre dieses rote Kleid vielleicht an mir vorbeigegangen, ohne daß ich es bemerkt hätte. Und was ging es mich im Grunde an? Was ging es mich an, selbst wenn es das Kleid der Hofdame Nagel gewesen wäre?

Die »Jungfer« sprach weiter und versuchte den Irrtum wieder gutzumachen; ich hörte ihm gar nicht zu, sondern starrte die ganze Zeit auf dieses rote Kleid, das sich uns die Straße herauf näherte. Und mir lief eine Erregung durch die Brust, ein gleitender, feiner Stich; ich flüsterte in Gedanken, flüsterte ohne den Mund zu bewegen:

Ylajali!

Jetzt wandte sich auch die »Jungfer« um, entdeckte die beiden, die Dame und den Herrn, grüßte sie mit den Augen. Ich grüßte nicht, oder vielleicht grüßte ich doch. Das rote Kleid glitt die Karl-Johan-Straße hinauf und verschwand.

Wer ging mit ihr? fragte die »Jungfer«.

Der »Herzog«, sahen Sie es nicht? Genannt der »Herzog«. Kannten Sie die Dame?

Ja, so ungefähr. Kannten Sie sie nicht?

Nein, antwortete ich.

Mir schien, Sie grüßten so tief?

Tat ich das?

He, vielleicht nicht? sagte die »Jungfer«. Das ist doch sonderbar! Sie sah die ganze Zeit auch nur Sie an.

Woher kennen Sie die Dame? fragte ich.

Er kannte sie eigentlich nicht. Das Ganze schrieb sich von einem Abend im Herbst her. Es war spät, sie waren drei muntere Burschen gewesen, kamen eben vom Grand, trafen dieses Menschenkind allein in der Nähe von Cammermeyer und hatten sie angesprochen. Zuerst hatte sie abweisend geantwortet; aber der eine dieser lustigen Kerle, ein Mann, der weder Feuer noch Wasser scheute, hatte sie direkt ins Gesicht gefragt, ob er sie heimbegleiten dürfe. Er würde ihr bei Gott kein Haar auf ihrem Haupte krümmen, wie geschrieben steht, sie nur bis zur Türe begleiten, um sich davon zu überzeugen, daß sie sicher heimkäme, er hätte sonst die ganze Nacht keine Ruhe. Er sprach unaufhörlich, während sie weitergingen, brachte ein Ding nach dem anderen vor, nannte sich Waldemar Atterdag und gab sich für einen Photographen aus. Schließlich hatte sie über diesen lustigen Burschen, der sich durch ihre Kälte nicht hatte verblüffen lassen, lachen müssen, und es endete damit, daß er sie begleitete.

Nun ja, was war dann weiter? fragte ich und hielt den Atem an.

Was weiter? Ach, kommen Sie nicht damit! Sie ist eine Dame.

Einen Augenblick schwiegen wir beide, sowohl die »Jungfer« wie ich.

Nein, Teufel, war das der »Herzog«? Sieht er so aus? sagte er darauf gedankenvoll. Aber wenn sie mit diesem Mann zusammen ist, dann möchte ich nicht für sie einstehen.

Ich schwieg immer noch. Ja, natürlich würde der »Herzog« mit ihr abziehen! Schön und gut! Was ging mich das an? Ich wünschte ihr mitsamt ihren Reizen alles Gute, alles Gute wünschte ich ihr! Und ich versuchte, mich selbst zu trösten, indem ich das Schlechteste von ihr dachte, mir gleichsam eine Freude daraus machte, sie richtig in den Schmutz zu ziehen. Es ärgerte mich nur, daß ich vor diesem Paar den Hut abgenommen hatte, falls ich es wirklich getan hatte. Warum sollte ich vor solchen Menschen den Hut abnehmen? Ich riß mich nicht mehr um sie, durchaus nicht; sie war auch nicht mehr im geringsten schön, sie hatte verloren, pfui Teufel, wie sie verblüht war! Es konnte ja gerne sein, daß sie bloß mich angesehen hatte; das wunderte mich nicht, vielleicht begann die Reue in ihr lebendig zu werden. Aber deshalb brauchte ich ihr nicht zu Füßen zu fallen und wie ein Narr zu grüßen, besonders wenn sie in der letzten Zeit so bedenklich gewelkt war. Der »Herzog« konnte sie gerne behalten, wohl bekomm's! Es könnte der Tag kommen, da es mir einfiele, stolz an ihr vorbeizugehen, ohne nach jener Seite zu sehen, auf der sie sich befand. Es konnte geschehen, daß ich mir dies erlaubte, selbst wenn sie mich steif ansah und obendrein ein blutrotes Kleid trug. Das konnte sehr wohl geschehen! Hehe, würde das ein Triumph werden! Wenn ich mich recht kannte, so war ich imstande, mein Drama im Laufe der Nacht fertig zu bekommen und innerhalb acht Tagen würde ich dann das Fräulein in die Knie gezwungen haben. Mitsamt ihren Reizen, hehe, mitsamt allen ihren Reizen ...

Leben Sie wohl! sagte ich kurz.

Doch die »Jungfer« hielt mich zurück. Er fragte:

Aber was treiben Sie nun den Tag über?

Treiben? Ich schreibe natürlich. Was sollte ich sonst treiben? Davon lebe ich ja. Augenblicklich arbeite ich an einem großen Drama, »Das Zeichen des Kreuzes«, Thema aus dem Mittelalter.

Tod und Teufel! sagte die »Jungfer« aufrichtig. Ja, wenn Ihnen das gelingt, dann ...

Darüber mache ich mir keine großen Sorgen! antwortete ich. Ich denke, in ungefähr acht Tagen werden Sie von mir hören.

Damit ging ich.

Als ich nach Hause kam, wandte ich mich sofort an meine Wirtin und bat um eine Lampe. Es war mir sehr um diese Lampe zu tun: ich wollte heute nacht nicht zu Bett gehen, mein Drama tobte in meinem Kopf, und ich hoffte ganz bestimmt bis zum Morgen ein gutes Stück weiter schreiben zu können. Sehr demütig brachte ich mein Anliegen bei der Madam vor, da ich bemerkte, daß sie eine unzufriedene Grimasse machte, weil ich wieder in die Stube kam. Ich hätte also ein außergewöhnliches Drama beinahe fertig, sagte ich; mir fehlten nur ein paar Szenen, und ich wettete, daß es an irgendeinem Theater aufgeführt werden würde, noch bevor ich es selbst wüßte. Wenn sie mir nun diesen großen Dienst erweisen wollte, dann ...

Aber die Madam hatte keine Lampe. Sie dache nach, konnte sich aber gar nicht entsinnen, daß sie irgendwo eine Lampe hätte. Wenn ich bis nach zwölf Uhr warten würde, dann könnte ich vielleicht die Küchenlampe haben. Warum ich mir keine Kerze kaufe?

Ich schwieg. Ich hatte keine zehn Öre für eine Kerze, und das wußte sie wohl. Natürlich mußte ich wieder stranden! Jetzt saß das Mädchen bei uns hier unten, sie saß einfach in der Stube und war gar nicht in der Küche; die Lampe da droben war also nicht einmal angezündet. Und ich stand da und dachte darüber nach, erwiderte aber nichts mehr.

Plötzlich sagt das Mädchen zu mir:

Mir schien, Sie wären vor kurzem aus dem Schloß gekommen? Waren Sie dort zum Mittagessen? Und sie lachte laut über diesen Scherz.

Ich setzte mich nieder, zog meine Papiere hervor und wollte versuchen, einstweilen hier, wo ich saß, etwas zu arbeiten. Ich hielt die Papiere auf meinen Knien und starrte unablässig auf den Boden, um durch nichts zerstreut zu werden; aber es nützte mir nichts, nützte nichts, ich kam nicht vom Fleck. Die beiden kleinen Mädchen der Wirtin kamen herein und spielten lärmend mit einer Katze, einer seltsam kranken Katze, die beinahe keine Haare mehr hatte. Wenn sie ihr in die Augen bliesen, floß Wasser heraus und über die Nase herunter. Der Wirt und ein paar andere Personen saßen am Tisch und spielten Hundertundeins. Die Frau allein war fleißig wie immer und nähte. Sie sah sehr wohl, daß ich mitten in diesem Durcheinander nicht schreiben konnte, aber sie kümmerte sich nicht mehr um mich; als mich das Dienstmädchen fragte, ob ich beim Mittagessen gewesen wäre, lächelte sie sogar. Das ganze Haus war feindlich gegen mich geworden; es war, als hätte es nur der Schmach bedurft, mein Zimmer einem anderen abtreten zu müssen, um ganz wie ein Unbefugter behandelt zu werden. Sogar dieses Dienstmädchen, eine kleine braunäugige Straßendirne, mit Stirnhaaren und vollkommen flacher Brust, hielt mich am Abend, wenn ich meine Butterbrote bekam, zum Narren. Sie fragte fortwährend, wo ich mein Mittagessen einzunehmen pflegte, da sie mich noch niemals ins Grand habe gehen sehen. Es war klar, daß sie um meinen elenden Zustand wußte, und sie machte sich ein Vergnügen daraus, mir das zu zeigen.

Dies alles fällt mir plötzlich ein und ich bin nicht imstande, eine einzige Replik zu meinem Drama zu finden. Ich versuche es immer wieder vergebens; es beginnt sonderbar in meinem Kopf zu summen und zuletzt ergebe ich mich darein. Ich stecke die Papiere in die Tasche und blicke auf. Das Mädchen sitzt gerade vor mir, und ich sehe es an, sehe diesen schmalen Rücken und ein Paar niedrige Schultern, die noch nicht einmal ganz ausgewachsen waren. Wozu griff sie mich an? Und wenn ich aus dem Schloß gekommen wäre, was dann? Würde ihr das etwas schaden? In den letzten Tagen hatte sie mich frech ausgelacht, wenn ich ungeschickt war, auf der Treppe stolperte oder mir an einem Nagel ein Loch in meinen Rock riß. Erst gestern hatte sie mein Konzept aufgehoben, das ich im Vorzimmer weggeworfen hatte, diese abgetanen Bruchstücke meines Dramas gestohlen und sie in der Stube vorgelesen, hatte in Anwesenheit aller ihren Unfug damit getrieben, nur um sich über mich lustig zu machen. Niemals hatte ich sie gekränkt, und ich konnte mich nicht erinnern, daß ich sie je um einen Dienst gebeten hatte, im Gegenteil, am Abend machte ich mir mein Bett selbst auf dem Stubenboden zurecht, um ihr keine Schererei damit zu bereiten. Sie verspottete mich auch, weil mir die Haare ausgingen. Am Morgen schwammen im Waschwasser die Haare, und darüber machte sie sich lustig. Meine Schuhe waren jetzt ziemlich schlecht geworden, besonders der eine, der vom Brotwagen überfahren worden war, und sie trieb auch damit ihren Spaß. Gott segne Sie und Ihre Schuhe! sagte sie; sehen Sie sie an, sie sind so groß wie eine Hundehütte! Und sie hatte recht, meine Schuhe waren ausgetreten; aber ich konnte mir doch gerade in diesem Augenblick keine neuen anschaffen.

Während ich an dies alles denke und mich über die offensichtliche Bosheit der Magd wundere, hatten die kleinen Mädchen begonnen, den Greis im Bett dort zu necken: sie hüpften beide um ihn herum und waren mit dieser Arbeit ganz beschäftigt. Jedes von ihnen hatte sich einen Strohhalm gesucht und stach ihm damit in die Ohren. Eine Weile sah ich das mit an und mischte mich nicht hinein. Der Alte rührte keinen Finger zu seiner Verteidigung; er sah nur mit wütenden Blicken auf seine Plagegeister, so oft sie nach ihm stachen, und schüttelte den Kopf, um sich zu befreien, wenn ihm die Halme bereits im Ohr staken.

Bei diesem Anblick wurde ich immer erregter und konnte meine Augen nicht davon losbringen. Der Vater sah von den Karten auf und lachte über die Kleinen; er machte auch seine Mitspieler auf den Vorgang aufmerksam. Warum rührte er sich nicht, der Alte? Warum schleuderte er die Kinder nicht mit den Armen weg? Ich machte einen Schritt und näherte mich dem Bett.

Lassen Sie doch! Lassen Sie doch! Er ist lahm, rief der Wirt. Und aus Furcht, nun bei Anbruch der Nacht vor die Türe gewiesen zu werden, einfach ängstlich, das Mißfallen des Mannes zu erregen, falls ich in diesen Auftritt eingriffe, trat ich stillschweigend an meinen alten Platz zurück und verhielt mich ruhig. Warum sollte ich mein Logis und meine Butterbrote dadurch aufs Spiel setzen, daß ich meine Nase in die Angelegenheiten der Familie steckte? Keine Dummheiten wegen eines halbtoten Greises! Und ich stand da und fühlte mich so herrlich hart wie ein Stein.

Die kleinen Dirnen hörten mit ihren Plagereien nicht auf. Es ärgerte sie, daß der Greis den Kopf nicht stillhalten wollte, und sie stachen nun auch nach seinen Augen und Nasenlöchern. Mit haßerfülltem Blick starrte er sie an, er sagte nichts und konnte die Arme nicht rühren. Plötzlich hob er seinen Oberkörper auf und spuckte dem einen der kleinen Mädchen ins Gesicht; er hob sich noch einmal empor und spuckte auch nach dem anderen, traf es aber nicht. Ich sah, wie der Wirt die Karten hinwarf und zum Bett sprang. Er war rot im Gesicht und rief:

Was, du spuckst den Kindern in die Augen, du altes Schwein!

Aber Herrgott, sie ließen ihm ja keinen Frieden! rief ich außer mir. Aber ich hatte dabei die ganze Zeit Angst, hinausgeworfen zu werden und rief durchaus nicht besonders laut, ich bebte nur vor Erregung am ganzen Leibe.

Der Wirt wandte sich nach mir um.

Nein, hört den an! Was, zum Teufel, kümmert Sie das? Halten Sie nur die Schnauze, ja, Sie, und tun Sie, was ich sage; das wird für Sie das beste sein.

Aber nun ertönt auch die Stimme von Madam, und das ganze Haus war von Scheltworten erfüllt.

Ich denke, Gott helfe mir, ihr seid alle miteinander verrückt und besessen! schrie sie. Wenn ihr hier drinnen bleiben wollt, dann müßt ihr alle beide ruhig sein, sage ich euch! He, nicht genug damit, daß man dem Gesindel Kost und Logis gibt, nein, auch noch Radau und Teufelszeug und Jüngsten Tag muß man hier im Zimmer haben. Aber das soll jetzt aufhören, denke ich! Scht! Haltet eure Mäuler, Kinder, und putzt euch die Nasen, sonst besorg ich's! Solche Leute habe ich doch auch noch nicht gesehen! Kommen von der Straße herein, ohne einen Ör für Lausesalbe und fangen an, mitten in der Nacht Lärm zu schlagen und den Leuten des Hauses Krach zu machen. Davon will ich nichts wissen, versteht ihr mich, und ihr könnt euch alle miteinander packen, die ihr nicht hergehört. In meiner eigenen Wohnung will ich Frieden haben, daß ihr's wißt!

Ich sagte nichts, machte den Mund gar nicht auf, sondern setzte mich wieder an die Türe und hörte dem Lärm zu. Alle schrien mit, sogar die Kinder und das Dienstmädchen wollten erklären, wie der ganze Streit angefangen hatte. Wenn ich mich nur stumm verhielte, so würde es wohl noch einmal vorübergehen; es würde ganz gewiß nicht zum äußersten kommen, wenn ich nur kein Wort sagte. Und was könnte ich auch zu sagen haben? War es vielleicht nicht Winter draußen und ging es nicht noch außerdem auf die Nacht zu? War das die Zeit, auf den Tisch zu schlagen und aufzubegehren? Nur keine Narrenstreiche! Und ich saß still und verließ das Haus nicht, obwohl ich beinahe hinausgewiesen worden war. Verstockt starrte ich an die Wand, an der Christus in Öldruck hing, und schwieg hartnäckig auf alle Ausfälle der Wirtin.

Ja, wenn Sie mich loswerden wollen, Madam, dann soll, was mich betrifft, nichts im Wege sein, sagte der eine der Kartenspieler.

Er erhob sich. Auch der andere Kartenspieler stand auf.

Nein, dich meinte ich nicht. Und auch dich nicht, antwortete die Wirtin den beiden. Ich werde schon sagen, wen ich meine, wenn es darauf ankommt. Wenn es darauf ankommt. Denke ich! Es wird sich zeigen, wer es ist ...

Sie sprach abgerissen, versetzte mir diese Hiebe mit kleinen Zwischenräumen und zog sie richtig in die Länge, um es mir deutlicher zu machen, daß sie mich meinte. Ruhe! sagte ich zu mir selbst. Nur Ruhe! Sie hat mich noch nicht aufgefordert zu gehen, nicht ausdrücklich, nicht mit offenen Worten. Nur keinen Hochmut auf meiner Seite, keinen Stolz zur Unzeit! Die Ohren steif! ... Es war doch ein eigentümlich grünes Haar, das der Christus auf dem Öldruck da hatte. Es war grünem Gras gar nicht so unähnlich, oder mit ausgesuchter Genauigkeit ausgedrückt: dickem Wiesengras. He, eine durchaus richtige Bemerkung meinerseits, ganz dickem Wiesengras ... Eine Reihe flüchtiger Ideenverbindungen liefen mir in diesem Augenblick durch den Kopf: Von dem grünen Gras bis zu der Stelle in der Schrift: daß jedes Leben wie Gras sei, das angezündet würde, – von dort zum Jüngsten Tag, da alles verbrennen werde, dann mit einem kleinen Abstecher zum Erdbeben in Lissabon, worauf mir irgend etwas wie ein spanischer Spucknapf aus Messing und ein Federhalter aus Ebenholz vorschwebte, den ich bei Ylajali gesehen hatte. Ach ja, alles war vergänglich! Ganz wie Gras, das angezündet wurde! Es lief auf vier Bretter hinaus und auf Leichenwäsche – bei Jungfer Andersen, rechts im Torweg ...

Und dies alles wurde in meinem Kopf umhergeworfen, in diesem verzweifelten Augenblick, als meine Wirtin im Begriff war, mich vor die Tür zu jagen.

Er hört nicht! rief sie. Ich sage, Sie sollen das Haus verlassen, nun wissen Sie es! Ich glaube, Gott verdamm mich, der Mann ist verrückt. Nun machen Sie aber, daß Sie fortkommen, und zwar auf der Stelle!

Ich sah zur Türe, nicht um zu gehen, durchaus nicht um zu gehen; ein frecher Gedanke fiel mir ein: Wäre ein Schlüssel in der Türe gewesen, dann hätte ich ihn umgedreht, hätte mich mit den anderen zusammen eingesperrt, um nicht gehen zu müssen. Ich hatte ein ganz hysterisches Grauen davor, wieder auf der Straße zu stehen. Aber es war kein Schlüssel in der Türe, und ich stand auf; es gab keine Hoffnung mehr.

Da mischt sich plötzlich die Stimme meines Wirtes in die der Frau. Erstaunt bleibe ich stehen. Der gleiche Mann, der mich eben noch bedroht hatte, nimmt, merkwürdig genug, meine Partei. Er sagt:

Du darfst die Leute doch nicht in die Nacht hinausjagen, das weißt du. Darauf steht Strafe.

Ich war nicht sicher, ob Strafe darauf stand, ich glaubte es nicht, aber vielleicht war es so; die Frau besann sich bald, wurde ruhig und sprach mich nicht mehr an. Sie legte mir sogar zum Abendessen zwei Butterbrote hin, aber ich nahm sie nicht an, aus reiner Dankbarkeit gegen den Mann nahm ich sie nicht an, indem ich vorgab, in der Stadt gegessen zu haben.

Als ich mich endlich in das Vorzimmer begab, und zu Bett gehen wollte, kam mir die Madam nach, blieb auf der Schwelle stehen und sagte laut, während ihr großer, schwangerer Bauch mir entgegenstrotzte:

Dies aber ist die letzte Nacht, die Sie hier schlafen, daß Sie es wissen.

Ja, ja! antwortete ich.

Morgen würde sich schon Rat für ein Obdach finden, wenn ich mich richtig danach umtat. Irgendein Unterschlupf mußte sich doch finden. Vorläufig freute ich mich darüber, daß ich nicht heute nacht fortzugehen brauchte.

 

Ich schlief bis gegen fünf, sechs Uhr morgens. Als ich erwachte, war es noch nicht hell, ich stand aber trotzdem sofort auf; – ich hatte wegen der Kälte in allen Kleidern geschlafen und brauchte nichts weiter anzuziehen. Nachdem ich ein wenig Wasser getrunken und in aller Stille die Türe geöffnet hatte, ging ich schnell hinaus, da ich fürchtete, meine Wirtin noch einmal zu treffen. Der einzige lebende Mensch, den ich in den Straßen sah, war irgendein Schutzmann, der in der Nacht Dienst gehabt hatte; bald darauf begannen auch ein paar Männer die Gaslaternen auszulöschen. Ich trieb mich ohne Ziel herum, kam in die Kirchstraße und nahm den Weg zur Festung hinunter. Kalt und noch schläfrig, in den Knien und im Rücken müde von dem langen Weg, und sehr hungrig, setzte ich mich auf eine Bank und duselte lange Zeit. Drei Wochen lang hatte ich ausschließlich von den Butterbroten gelebt, die mir meine Wirtin morgens und abends gegeben hatte; und nun waren genau vierundzwanzig Stunden seit meiner letzten Mahlzeit vergangen, es fing wieder schlimm in mir zu nagen an, und ich mußte möglichst bald einen Ausweg finden. Mit diesen Gedanken schlief ich auf der Bank wieder ein ...

In meiner Nähe wurde gesprochen, und ich erwachte dadurch. Als ich mich ein wenig aufgerappelt hatte, sah ich, daß es heller Tag und alles schon auf den Beinen war. Ich erhob mich und ging fort. Die Sonne brach über den Höhen hervor, der Himmel war weiß und fein, und in meiner Freude über den schönen Morgen nach den vielen dunklen Wochen vergaß ich alle Sorgen und fand, daß es mir schon manches Mal noch schlimmer ergangen sei. Ich klopfte mir auf die Brust und sang eine kleine Melodie vor mich hin. Meine Stimme klang so schlecht, klang so mitgenommen, ich wurde durch sie zu Tränen gerührt. Auch dieser prachtvolle Tag, der weiße, lichttrunkene Himmel, wirkten stark auf mich ein, und ich war nahe daran, laut zu weinen.

Was fehlt Ihnen? fragte ein Mann.

Ich antwortete nicht, eilte nur fort, mein Gesicht vor allen Menschen verbergend.

Ich kam zu den Hafenspeichern hinunter. Eine große Barke mit russischer Flagge lag da und löschte Kohlen; auf der Seite las ich ihren Namen, »Copégoro«. Eine Zeitlang zerstreute es mich, zu beobachten, was an Bord dieses fremden Schiffes vorging. Es mußte beinahe fertig gelöscht haben, die Wasserlinie ragte schon neun Fuß hoch heraus, trotz des Ballastes, den es wohl führte, und wenn die Kohlenträger mit ihren schweren Stiefeln über das Deck hinstampften, dröhnte es hohl im ganzen Schiff.

Die Sonne, das Licht, der salzige Hauch vom Meer, das ganze geschäftige und lustige Treiben richtete mich auf und ließ mein Blut wieder lebhafter klopfen. Plötzlich fiel mir ein, daß ich vielleicht ein paar Szenen meines Dramas fertigstellen könnte, während ich hier saß. Und ich zog die Blätter aus der Tasche.

Ich versuchte die Replik eines Mönches zu formen, eine Replik, die von Kraft und Intoleranz strotzen sollte; aber es glückte mir nicht. Ich übersprang den Mönch und wollte eine Rede ausarbeiten, die Rede des Richters an die Tempelschänderin, und ich schrieb eine halbe Seite dieser Rede, dann hielt ich an. Es wollte nicht der richtige Geist über meine Worte kommen. Die Geschäftigkeit um mich her, die Aufgesänge, der Lärm der Gangspille und das ununterbrochene Rasseln der Eisenketten paßten so gar nicht in die Luft des dumpfen, moderigen Mittelalters, die wie ein Nebel über meinem Drama liegen sollte. Ich packte die Papiere zusammen und stand auf.

Aber trotzdem war ich herrlich ins Gleiten gekommen und fühlte klar, daß ich etwas ausrichten würde, wenn jetzt alles gut ginge. Wenn ich nur einen Platz wüßte, an dem ich mich aufhalten könnte! Ich dachte nach, blieb mitten auf der Straße stehen und dachte nach, wußte aber keinen einzigen stillen Ort in der ganzen Stadt, wohin ich mich für eine Weile hätte zurückziehen können. Es blieb kein anderer Ausweg, ich mußte in das Logishaus »Vaterland« zurück. Ich krümmte mich bei diesem Gedanken und sagte mir die ganze Zeit, daß das nicht anginge, aber ich glitt doch vorwärts und näherte mich beständig dem verbotenen Ort. Gewiß war es jämmerlich, das gab ich mir selbst zu, ja es war schmählich, richtig schmählich; aber da half nichts. Ich war nicht im geringsten hochmütig, ich durfte ruhig sagen, daß ich einer der am wenigsten hochmütigen Menschen war, die es heutzutage gab. Und ich ging.

An der Türe blieb ich stehen und überlegte noch einmal. Doch, gehe es wie es wolle, ich mußte es wagen! Um welche Bagatelle drehte es sich doch eigentlich? Erstens sollte es ja nur einige Stunden dauern, zweitens mochte Gott verhüten, daß ich später jemals wieder meine Zuflucht zu diesem Hause nahm. Ich ging in den Hof. Noch während ich über diese holperigen Steine im Hofplatz schritt, war ich wieder unentschlossen und hätte beinahe an der Türe kehrt gemacht. Ich biß die Zähne zusammen. Nein, nur keinen falschen Stolz! Schlimmstenfalls konnte ich mich damit entschuldigen, daß ich gekommen war, um Lebewohl zu sagen, um ordentlich Abschied zu nehmen und eine Verabredung wegen meiner kleinen Schuld zu treffen. Ich öffnete die Türe zum Vorzimmer.

Drinnen blieb ich wie angenagelt stehen. Gleich vor mir, nur im Abstand von zwei Schritten, war der Wirt selbst, ohne Hut und ohne Rock, und schaute durch das Schlüsselloch in das Zimmer der Familie. Er bedeutete mir mit einer stummen Bewegung der Hand, mich still zu verhalten, und schaute wieder durch das Schlüsselloch. Er stand da und lachte.

Kommen Sie her! sagte er flüsternd.

Ich näherte mich auf den Zehen.

Sehen Sie nur! sagte er und lachte mit einem leisen und heftigen Lachen. Schauen Sie hinein! Hihi! da liegen sie! Sehen Sie den Alten an! Können Sie den Alten sehen?

Im Bett, gerade unter dem Christus in Öldruck, und mir gegenüber, sah ich zwei Gestalten, die Wirtin und den fremden Steuermann; ihre Beine schimmerten weiß gegen das dunkle Federbett. Und im Bette an der anderen Wand saß ihr Vater, der lahme Greis, und sah über seine Hände gebeugt zu, wie gewöhnlich zusammengekrochen, ohne sich rühren zu können ...

Ich drehte mich zu meinem Wirt um. Es kostete ihn die größte Mühe, nicht laut loszulachen. Er hielt sich die Nase zu.

Sahen Sie den Alten? flüsterte er. Mein Gott, sahen Sie den Alten? Da sitzt er und sieht zu! Und wieder neigte er sich zum Schlüsselloch herunter.

Ich ging ans Fenster und setzte mich nieder. Dieser Anblick hatte unbarmherzig alle meine Gedanken in Unordnung gebracht und meine reiche Stimmung ganz verschüttet. Nun, was ging es mich an? Wenn sich der Mann selbst darein fand, ja sogar sein großes Vergnügen daran hatte, so war für mich kein Grund vorhanden, es mir nahegehen zu lassen. Und was den Greis betraf, so war der Greis eben ein Greis. Er sah es vielleicht nicht einmal; vielleicht saß er da und schlief. Gott weiß, ob er nicht sogar tot war. Es würde mich nicht wundern, wenn er dasäße und tot wäre, und ich machte mir kein Gewissen daraus.

Wieder nahm ich meine Papiere hervor und wollte alle nicht hierher gehörenden Gedanken zurückdrängen. Ich war mitten in einem Satz der Rede des Richters stehengeblieben: So befiehlt mir denn Gott und das Gesetz, so befiehlt mir denn der Rat der weisen Männer, befiehlt mir mein eigenes Gewissen ... Ich sah zum Fenster hinaus, um nachzudenken, was ihm sein eigenes Gewissen befehlen sollte. Aus dem Zimmer drang schwacher Lärm. Nun, das ging mich nichts an, gar nichts. Der Greis war außerdem tot, starb morgen vielleicht gegen vier Uhr. Es war mir also herzlich gleichgültig, was der Lärm bedeutete; warum zum Teufel saß ich da und machte mir darüber Gedanken? Ruhig jetzt!

So befiehlt mir denn mein eigenes Gewissen ...

Aber alles hatte sich gegen mich verschworen. Der Mann stand durchaus nicht ganz ruhig an seinem Schlüsselloch, hie und da hörte ich sein unterdrücktes Lachen und sah, wie er sich schüttelte; auch auf der Straße ging manches vor, das mich zerstreute. Ein kleiner Junge saß auf dem anderen Gehsteig in der Sonne und bastelte für sich allein; er war ganz ahnungslos, knüpfte nur einige Papierstreifen zusammen und machte niemand Verdruß. Plötzlich springt er auf und flucht. Er geht nach rückwärts auf die Straße hinaus und erblickt einen Mann, einen erwachsenen Mann mit rotem Bart, der sich aus einem offenen Fenster im ersten Stock herauslehnt – und ihm auf den Kopf gespuckt hat. Der Kleine heulte vor Zorn und fluchte ohnmächtig zum Fenster hinauf, und der Mann lachte ihm ins Gesicht; so vergingen vielleicht fünf Minuten. Ich wandte mich ab, um das Weinen des Knaben nicht zu sehen.

So befiehlt mir denn mein eigenes Gewissen, daß ...

Es war mir unmöglich, weiter zu kommen. Zuletzt begann es vor mir zu flimmern; ich fand, daß alles, was ich bereits geschrieben hatte, unbrauchbar, ja daß das Ganze ein fürchterlicher Unsinn war. Man konnte gar nicht vom Gewissen im Mittelalter sprechen, das Gewissen wurde erst von dem Tanzlehrer Shakespeare erfunden, folglich war meine ganze Rede unrichtig. Stand dann also gar nichts Gutes in diesen Blättern? Ich durchlief sie rasch von neuem und löste sofort meine Zweifel; ich fand großartige Stellen, ganz lange Stücke von großer Merkwürdigkeit. Und nochmals jagte der berauschende Drang durch meine Brust, wieder anzupacken und das Drama zu Ende zu bringen.

Ich erhob mich und ging zur Türe, ohne auf die wütenden Zeichen des Wirtes zu achten. Bestimmt und festen Sinnes ging ich aus dem Vorraum, stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf und trat in mein altes Zimmer. Der Steuermann war ja nicht da, und was also hinderte mich, einen Augenblick hier zu sitzen? Ich würde nichts von seinen Sachen berühren, ich würde nicht einmal seinen Tisch benutzen, sondern mich auf einem Stuhl an der Türe niederlassen und damit zufrieden sein. Heftig falte ich die Papiere auf meinen Knien auseinander.

Jetzt ging es einige Minuten lang ganz ausgezeichnet. Replik auf Replik entstand vollkommen fertig in meinem Kopf, und ich schrieb ununterbrochen. Eine Seite nach der anderen füllt sich. Ich setze über Stock und Stein, winsle leise vor Entzücken über meine gute Stimmung und weiß beinahe nichts von mir selbst. Der einzige Laut, den ich in diesen Minuten höre, ist mein eigenes frohes Gewinsel. Auch eine besonders glückliche Idee mit einer Kirchenglocke, die an einem bestimmten Punkt im Drama mit ihrem Geläut einfallen sollte, kam mir in den Kopf. Alles ging überwältigend.

Da höre ich Schritte auf der Treppe. Ich bebe und bin beinahe außer mir, sitze sozusagen auf dem Sprung, scheu, wachsam, voller Angst vor allem und vom Hunger erregt; ich lausche nervös, halte den Bleistift still in der Hand und lausche, ich kann kein Wort mehr schreiben. Die Türe geht auf; das Paar aus der Stube unten tritt ein.

Noch bevor ich Zeit finde, um Entschuldigung zu bitten, ruft die Wirtin wie aus allen Wolken gefallen: Nein, Gott tröste und helfe uns, nun sitzt er doch wieder hier!

Entschuldigen Sie! sagte ich und wollte mehr sagen, kam aber nicht weiter.

Die Wirtin öffnete die Türe weit und schrie:

Wenn Sie sich jetzt nicht fortscheren, dann hole ich, Gott verdamm mich, die Polizei.

Ich erhob mich.

Ich wollte Ihnen nur Lebewohl sagen, murmelte ich, und deshalb mußte ich auf Sie warten. Ich habe nichts berührt, ich saß hier auf dem Stuhl ...

Ja, das macht ja nichts, sagte der Steuermann. Was zum Teufel schadet das? Lassen Sie doch den Mann!

Als ich die Treppe hinuntergekommen war, wurde ich mit einemmal rasend gegen dieses dicke aufgeschwollene Weib, das mir auf den Fersen folgte, um mich so rasch wie möglich fortzubringen, und ich stand einen Augenblick still, den Mund voll der wüstesten Schimpfnamen, bereit, sie ihr entgegenzuschleudern. Aber ich bedachte mich zur rechten Zeit und schwieg, schwieg aus Dankbarkeit gegen den fremden Mann, der hinter ihr ging und es hören konnte. Die Wirtin folgte mir beständig und schalt unaufhörlich, während mein Zorn gleichzeitig mit jedem Schritt, den ich machte, zunahm.

Wir kamen in den Hof hinunter, ich ging ganz langsam, noch überlegend, ob ich mich mit der Wirtin abgeben sollte. In diesem Augenblick war ich von Wut ganz verstört, und ich dachte an das schlimmste Blutvergießen, an einen Stoß, der sie auf der Stelle tot hinwerfen würde, einen Tritt vor den Bauch. Ein Dienstmann geht an mir vorbei ins Tor, er grüßt, und ich antworte nicht. Er wendet sich an die Madam hinter mir, und ich höre, daß er nach mir fragt; aber ich drehe mich nicht um.

Ein paar Schritte außerhalb des Tores holt mich der Dienstmann ein, grüßt wieder und hält mich an. Er gibt mir einen Brief. Heftig und unwillig reiße ich ihn auf, aus dem Umschlag fällt ein Zehnkronenschein, aber kein Brief, nicht ein Wort.

Ich sehe den Mann an und frage:

Was sind das für Narrenstreiche? Von wem ist der Brief?

Ja, das weiß ich nicht, antwortet er, eine Dame hat ihn mir gegeben.

Ich stand still. Der Dienstmann ging. Da stecke ich den Schein wieder in den Umschlag, knülle das Ganze fest zusammen, kehre um und gehe zur Wirtin, die mir vom Tor aus immer noch nachschaut, und werfe ihr den Schein ins Gesicht. Ich sagte nichts, äußerte keine Silbe, ich beobachtete nur, ehe ich ging, daß sie das verknüllte Papier untersuchte ...

He, das konnte man ein Auftreten nennen! Nichts sagen, das Pack nicht anreden, sondern einen großen Geldschein ganz ruhig zusammenknüllen und ihn seinen Verfolgern vor die Füße werfen. Das konnte man ein würdiges Auftreten nennen! So mußte man sie behandeln, diese Tiere! ...

An die Ecke der Tomtestraße und des Bahnhofplatzes gekommen, begann die Straße plötzlich sich vor meinen Augen rund herum zu drehen, es sauste leer in meinem Kopf, und ich fiel an eine Hauswand. Ich konnte einfach nicht mehr weitergehen, konnte mich nicht einmal aus meiner schiefen Stellung aufrichten; ich blieb so stehen, wie ich an die Wand gefallen war und fühlte, daß ich die Besinnung verlor. Mein wahnsinniger Zorn wurde durch diesen Anfall der Erschöpfung nur vermehrt, und ich hob den Fuß und stampfte auf das Pflaster. Ich versuchte noch alles mögliche, um zu Kräften zu kommen, biß die Zähne zusammen, runzelte die Stirn, rollte verzweifelt die Augen, und schließlich begann es zu helfen. Meine Gedanken wurden klar, ich verstand, daß ich im Begriff war, mich aufzulösen. Ich hielt die Hände vor und stieß mich von der Mauer ab; die Straße tanzte immer noch um mich. Vor Wut begann ich zu schluchzen, und ich stritt aus innerster Seele mit meiner Schwäche, hielt tapfer stand, um nicht umzufallen; ich wollte nicht zusammensinken, ich wollte stehend sterben. Ein Lastkarren rollte langsam vorbei, und ich sehe, daß Kartoffeln auf dem Karren liegen, aber aus Wut, aus Halsstarrigkeit, behaupte ich, daß es durchaus nicht Kartoffeln seien, sondern Kohlköpfe, und ich schwor grausam darauf, daß es Kohlköpfe wären. Ich hörte gut, was ich sagte, und bewußt beschwor ich immer wieder diese Lüge, nur um die angenehme Befriedigung zu haben, daß ich einen groben Meineid begehe. Ich berauschte mich an dieser beispiellosen Sünde, ich streckte meine drei Finger in die Luft und schwor mit zitternden Lippen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, daß es Kohlköpfe seien.

Die Zeit verging. Ich ließ mich auf eine Stufe niederfallen und trocknete mir den Schweiß von Hals und Stirn, sog die Luft ein und zwang mich, ruhig zu sein. Die Sonne glitt nieder, es ging auf den Abend zu. Wieder begann ich über meine Lage nachzugrübeln; der Hunger wurde schamlos, und in einigen Stunden würde es wiederum Nacht sein. Es galt Rat zu schaffen, solange noch Zeit war. Meine Gedanken fingen wieder an, um das Logishaus zu kreisen, aus dem ich vertrieben worden war; ich wollte durchaus nicht dahin zurückkehren, konnte aber trotzdem nicht unterlassen, immer wieder daran zu denken. Eigentlich war die Frau in ihrem guten Recht gewesen, als sie mich hinauswarf. Wie konnte ich erwarten, bei jemand wohnen zu dürfen, wenn ich nicht dafür bezahlte? Sie hatte mir obendrein hie und da Essen gegeben; sogar gestern, als ich sie gereizt hatte, hatte sie mir zwei Butterbrote angeboten, sie mir aus Gutmütigkeit angeboten, denn sie wußte, daß ich sie brauchte. Ich hatte mich also über nichts zu beklagen, und während ich auf der Treppe saß, begann ich sie im stillen wegen meines Betragens um Vergebung zu bitten und zu betteln. Bitterlich bereute ich besonders, daß ich mich ihr zuletzt undankbar gezeigt und ihr den Geldschein ins Gesicht geworfen hatte ...

Zehn Kronen! Ich stieß einen Pfiff aus. Woher kam der Brief, den der Bote gebracht hatte? Erst in diesem Augenblick dachte ich klar darüber nach und ahnte sofort, wie das Ganze zusammenhing. Krank vor Schmerz und Scham flüsterte ich mehrere Male Ylajali mit heiserer Stimme und schüttelte den Kopf. Hatte ich mich nicht erst noch gestern entschlossen, stolz an ihr vorbeizugehen, wenn ich sie träfe, und ihr die größte Gleichgültigkeit zu zeigen? Und statt dessen hatte ich nur ihr Mitleid erregt und ihr einen Barmherzigkeitsschilling entlockt. Nein, nein, nein, meine Erniedrigung nahm kein Ende! Nicht einmal ihr gegenüber hatte ich eine anständige Stellung behaupten können; ich sank, sank nach allen Seiten, wohin ich mich wandte, sank in die Knie, sank unter, tauchte unter in Unehre und kam niemals wieder empor, niemals! Tiefer ging es nicht mehr! Zehn Kronen als Almosen anzunehmen ohne sie dem heimlichen Geber zurückschleudern zu können, mit beiden Händen die Schillinge, wo sie sich mir boten, aufzuraffen und sie zu behalten, sie als Bezahlung für die Unterkunft zu verwenden, trotz eigenen innersten Widerwillens ...

Konnte ich diese zehn Kronen nicht auf irgendeine Weise wieder herbeischaffen? Zur Wirtin zurückzugehen, um den Schein von ihr wieder ausgehändigt zu bekommen, nützte wohl kaum. Wenn ich nachdachte, mußte es wohl auch noch eine andere Lösung geben, wenn ich mich nur richtig anstrengte und nachdachte. Hier war, bei Gott, nicht genug damit getan, auf gewöhnliche Art zu denken, ich mußte denken, daß es mir durch den ganzen Körper ging, und einen Ausweg wegen dieser zehn Kronen finden. Und ich begann aus Leibeskräften nachzudenken.

Es war wohl ungefähr vier Uhr, in ein paar Stunden hätte ich vielleicht den Theaterchef aufsuchen können, wenn ich nur mein Drama fertiggehabt hätte. Ich hole mein Manuskript hervor und will mit aller Gewalt die letzten drei, vier Szenen beenden; ich denke und schwitze und lese alles vom Anfang an durch, komme aber nicht vorwärts. Keinen Blödsinn, sage ich, keine Halsstarrigkeit! Und ich schreibe darauf los, schreibe alles nieder, was mir einfällt, nur um schnell fertig zu werden und vorwärtszukommen. Ich wollte mir einbilden, daß ich einen neuen großen Augenblick hatte, ich log mich an, betrog mich offensichtlich und schrieb in einem Zug, als wenn ich nicht nach den Worten zu suchen brauchte. Das ist gut! das ist wirklich ein Fund! flüsterte ich dazwischen; schreib es nur nieder!

Schließlich aber erschienen mir meine letzten Repliken bedenklich; sie stachen so stark gegen die Repliken in den ersten Szenen ab. Außerdem war durchaus kein Mittelalter in den Worten des Mönches. Ich zerbeiße den Bleistift zwischen meinen Zähnen, springe auf, zerreiße das Manuskript, reiße jedes Blatt entzwei, werfe meinen Hut auf die Straße und trample darauf. Ich bin verloren! flüsterte ich vor mich hin; meine Damen und Herren, ich bin verloren! Und ich sage nichts als diese Worte, während ich auf meinem Hut herumtrample.

Ein paar Schritte von mir entfernt steht ein Schutzmann und beobachtet mich; er steht mitten auf der Straße und sieht nichts anderes als nur mich. Als ich den Kopf zurückwerfe, treffen sich unsere Augen, er hatte vielleicht schon längere Zeit dort gestanden und nur mich angesehen. Ich nehme meinen Hut, setze ihn auf und gehe zu dem Manne hin.

Wissen Sie, wieviel Uhr es ist? frage ich.

Er wartet eine Weile, ehe er seine Uhr hervorzieht, und wendet seine Augen unterdessen nicht von mir ab.

Gleich vier Uhr, antwortet er.

Ganz richtig! sagte ich; gleich vier Uhr, vollkommen richtig! Sie können Ihre Sache, wie ich höre, und ich werde an Sie denken.

Damit verließ ich ihn. Er war aufs äußerste über mich erstaunt, stand da, sah mir mit offenem Mund nach und hielt noch die Uhr in der Hand. Als ich vor das Royal gekommen war, drehte ich mich um und sah zurück: er stand noch in der gleichen Stellung da und folgte mir mit den Augen.

Hehe, so mußte man die Tiere behandeln! Mit der ausgesuchtesten Unverschämtheit! Das imponierte den Tieren, versetzte die Tiere in Schrecken ... Ich war mit mir überaus zufrieden und begann wieder ein Bruchstück zu singen. Von Erregung angespannt, ohne noch einen Schmerz zu fühlen, sogar ohne irgendwelches Unbehagen, ging ich, leicht wie eine Feder, über den ganzen Markt, kehrte bei den Basaren um und ließ mich auf einer Bank vor der Erlöserkirche nieder.

War es denn nicht auch ziemlich gleichgültig, ob ich die zehn Kronen zurücksandte oder nicht! Hatte ich sie erhalten, so waren sie mein, und dort, woher sie kamen, war gewiß keine Not. Ich mußte sie doch annehmen, wenn sie mir ausdrücklich gesandt wurden; ich konnte sie doch nicht dem Dienstmann lassen. Ebensowenig ging es an, einen ganz anderen Zehnkronenschein als den, den ich bekommen hatte, zurückzusenden. Daran war also nichts mehr zu ändern.

Ich versuchte, das Getriebe rings auf dem Markt vor mir zu beobachten und meine Gedanken mit gleichgültigen Dingen zu beschäftigen; aber es glückte mir nicht, ich befaßte mich beständig mit den zehn Kronen. Zuletzt ballte ich die Hände und wurde zornig. Es müßte sie verletzen, sagte ich, wenn ich das Geld zurücksenden würde; warum sollte ich es dann tun? Ich wollte mich stets für zu gut zu allem möglichen halten, hochmütig den Kopf schütteln und »nein, danke« sagen. Nun sah ich selbst, wohin das führte; jetzt stand ich wieder auf der Straße. Selbst wenn ich die beste Gelegenheit dazu hatte, behielt ich nicht mein gutes warmes Logis, ich wurde stolz, sprang beim ersten Wort auf und warf den Kopf in den Nacken, bezahlte zehn Kronen nach rechts und nach links und lief auf und davon ... Ich ging scharf ins Gericht mit mir, weil ich mein Obdach verlassen und mich wieder in Verlegenheit gebracht hatte.

Im übrigen spuckte ich auf das Ganze! Ich hatte nicht um die zehn Kronen gebeten, und ich hatte sie kaum zwischen den Händen gehalten, sondern sie sofort weggegeben, sie an wildfremde Menschen, die ich nie wiedersehen würde, ausbezahlt. So war ich, bezahlte bis auf den letzten Heller, wenn es galt. Kannte ich Ylajali richtig, dann bereute sie nicht, daß sie mir das Geld gesandt hatte, was saß ich dann da und zankte mit mir herum? Es war geradezu das mindeste, was sie tun konnte, mir ab und zu zehn Kronen zu senden. Das arme Mädchen war doch in mich verliebt, he, vielleicht sogar sterblich in mich verliebt ... Und bei diesem Gedanken blähte ich mich richtig auf. Kein Zweifel, sie war in mich verliebt, das arme Mädchen! ...

Es wurde fünf Uhr. Ich fiel nach meiner langen und nervösen Erregung wieder zusammen und begann von neuem das leere Sausen in meinem Kopf zu fühlen. Ich blickte geradeaus, starrte in die Luft und sah zur Elefantenapotheke hinüber. Der Hunger wütete in mir, und ich litt sehr. Während ich so dasitze und in die Luft sehe, wird vor meinem starren Blick nach und nach eine Gestalt deutlich, die ich zum Schluß ganz klar sehe und wiedererkenne: die Kuchenfrau bei der Elefantenapotheke.

Ich zucke zusammen, richte mich auf der Bank auf und fange an nachzudenken. Ja, es hatte seine Richtigkeit, es war die gleiche Frau vor dem gleichen Tisch, am gleichen Fleck! Ich pfeife ein paarmal vor mich hin und knipse mit den Fingern, erhebe mich und gehe auf die Apotheke zu. Keinen Nonsens! Ich scherte mich den Teufel darum, ob es das Geld des Burschen war oder gute norwegische Krämerpfennige aus Silber von Kongsberg! Ich wollte nicht lächerlich sein, man konnte über allzuvielem Hochmut sterben ...

Ich gehe zu der Ecke, fasse die Frau ins Auge und stelle mich vor ihr auf. Ich lächle, nicke wie ein Bekannter und richte meine Worte so ein, als sei es selbstverständlich, daß ich noch einmal zurückkomme.

Guten Tag! sage ich. Sie kennen mich vielleicht nicht wieder?

Nein, antwortet sie langsam und sieht mich an.

Ich lächle noch mehr, als sei es nur ein köstlicher Scherz von ihr, daß sie mich nicht kenne und fahre fort:

Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen einmal einige Kronen gab? Ich sagte damals nichts, soweit ich mich entsinne, das tat ich nicht, das ist nicht meine Art. Wenn man es mit ehrlichen Leuten zu tun hat, ist es unnötig, etwas zu verabreden und sozusagen wegen jeder Kleinigkeit einen Kontrakt abzuschließen. Hehe. Ja, ich war es, der Ihnen seinerzeit das Geld gab.

Nein, wirklich, waren Sie es! Ja, nun kenne ich Sie auch ganz gut wieder, und wenn ich nachdenke ...

Ich wollte verhindern, daß sie sich für das Geld bedankte und sagte deshalb schnell, während ich bereits mit den Augen auf dem Tisch nach Eßwaren suchte:

Ja, jetzt komme ich, die Kuchen zu holen.

Dies versteht sie nicht.

Die Kuchen, wiederhole ich, jetzt komme ich, sie zu holen. Auf jeden Fall einen Teil davon, die erste Rate. Ich brauche heute nicht alles.

Kommen Sie, um sie zu holen? fragt sie.

Ja, freilich komme ich, sie zu holen, ja! antworte ich und lache laut, als müsse es ihr sofort einleuchten, daß ich kam, um sie zu holen. Ich nehme auch einen Kuchen vom Tisch, eine Art Franzbrot, und beginne zu essen.

Als die Frau dies sieht, erhebt sie sich in ihrem Kellerloch, macht unwillkürlich eine Bewegung, wie um ihre Waren zu schützen und läßt mich verstehen, sie habe nicht erwartet, daß ich zurückkommen würde, um sie zu berauben.

Nicht? sage ich. Nein, wirklich nicht? Sie war doch eine köstliche Frau! Hatte sie jemals erlebt, daß ihr jemand eine Menge Kronen in Verwahrung gegeben, ohne daß der Betreffende sie zurückverlangt habe? Na, sehen Sie! Glaubte sie vielleicht, daß es gestohlenes Geld gewesen sei, weil ich es ihr so hingeschleudert hatte? Nun, das glaubte sie doch wohl nicht! das war auch gut so, wirklich gut! Es war, wenn ich so sagen durfte, freundlich von ihr, daß sie mich für einen ehrlichen Mann hielt. Haha! Ja, sie sei wirklich köstlich!

Aber weshalb ich ihr denn das Geld gegeben habe? Die Frau wurde erbittert und schrie laut.

Ich erklärte ihr, warum ich ihr das Geld gegeben hatte, erklärte es gedämpft und nachdrücklich: Es sei meine Gewohnheit, so zu handeln, denn ich halte alle Menschen für so gut. Jedesmal, wenn mir jemand einen Kontrakt anbot, einen Schein, schüttelte ich den Kopf und sagte »Nein, danke«. Gott sei mein Zeuge, das tat ich.

Aber die Frau verstand es noch immer nicht.

Ich griff zu anderen Mitteln, sprach scharf und verbat mir jeglichen Unsinn. War es ihr denn noch niemals vorgekommen, daß ein anderer auf diese Weise im Vorschuß bezahlt hatte? fragte ich. Ich meinte natürlich Leute, die das Geld dazu hatten, zum Beispiel einer der Konsuln? Niemals? Ja, ich könnte aber doch nicht dafür büßen, daß ihr dies eine fremde Umgangsart sei. Es wäre im Ausland so der Brauch. Sie sei vielleicht niemals außerhalb der Grenzen des Landes gewesen? Nein. Sehen Sie! Dann könnte sie in dieser Sache gar nicht mitreden ... Und ich griff nach mehreren Kuchen auf dem Tisch.

Sie knurrte zornig, weigerte sich hartnäckig etwas auszuliefern, wand mir sogar ein Stück Kuchen aus der Hand und legte es auf seinen Platz zurück. Ich wurde wütend, schlug auf den Tisch und drohte mit der Polizei. Ich wolle gnädig gegen sie sein, sagte ich; wenn ich alles nähme, was mein sei, so würde ich ihr ganzes Geschäft ruinieren, denn es sei eine furchtbare Menge Geldes gewesen, die ich ihr seinerzeit gegeben hätte. So viel würde ich aber nicht nehmen, ich wolle in Wirklichkeit nur die halbe Valuta haben. Und ich würde obendrein nicht mehr wiederkommen. Davor möge Gott mich bewahren, da sie eine solche Person sei.

Endlich legte sie einige Kuchen für einen unverschämten Preis hin, vier, fünf Stücke, die sie so hoch einschätzte, wie es ihr überhaupt möglich war, und hieß mich, sie zu nehmen und meines Weges zu gehen. Ich stritt mich immer noch mit ihr herum, behauptete, daß sie mich um mindestens eine Krone prelle und mich außerdem mit ihren blutigen Preisen aussauge. Wissen Sie, daß auf solche Spitzbubenstreiche Strafe steht? sagte ich. Gott bewahre Sie, Sie könnten auf Lebenszeit ins Zuchthaus kommen, Sie altes Wrack! – Sie warf mir noch einen Kuchen hin und bat mich beinahe zähneknirschend, zu gehen.

Und ich verließ sie.

He, ein unzuverlässigeres Kuchenweib hatte ich noch nie gesehen! Während ich über den Markt ging und meine Kuchen verschlang, sprach ich die ganze Zeit laut über diese Frau und ihre Unverschämtheit, wiederholte mir selbst, was wir beide einander gesagt hatten und fand, daß ich ihr weit überlegen gewesen war. Vor aller Augen verschlang ich meine Kuchen und sprach dabei vor mich hin.

Und die Kuchen verschwanden einer nach dem anderen; es verschlug nichts, wieviel ich auch zu mir nahm, ich war hungrig bis auf den Grund. Herrgott auch, daß es nichts verschlagen wollte! Ich war so gierig, daß ich mich sogar beinahe an dem letzten Kuchen vergriffen hätte, den ich von Anfang an für den Kleinen unten in der Vognmandsstraße aufzusparen gedacht hatte, für den Knaben, dem der rotbärtige Mann auf den Kopf gespuckt hatte. Ich mußte beständig an ihn denken, konnte seine Miene nicht vergessen, da er aufsprang und weinte und fluchte. Er hatte sich gegen mein Fenster gewendet, als der Mann auf ihn herunterspuckte, und er hatte gleichsam sehen wollen, ob auch ich darüber lachen würde. Gott weiß, ob ich ihn jetzt traf, wenn ich da hinunterkam! Ich strengte mich sehr an, um rasch in die Vognmandsstraße zu gelangen, kam an der Stelle vorbei, an der ich mein Drama zerrissen hatte, und wo noch einige Papierfetzen lagen, umging den Schutzmann, den ich vor kurzem durch mein Betragen in Erstaunen gesetzt hatte, und stand zuletzt an der Treppe, auf der der Junge gesessen hatte.

Er war nicht da. Die Straße war beinahe leer. Die Dunkelheit nahm zu, und ich konnte den Knaben nicht gewahren; er war wohl schon ins Haus gegangen. Vorsichtig legte ich den Kuchen hin, lehnte ihn gegen die Türe, klopfte hart an und lief sofort weiter. Er findet ihn schon! sagte ich zu mir; findet ihn gleich, wenn er herauskommt! Und meine Augen wurden naß vor blöder Freude darüber, daß der Kleine den Kuchen finden würde.

Ich kam wieder zum Eisenbahnkai.

Jetzt hungerte mich nicht mehr, aber die Süßigkeiten, die ich genossen hatte, verursachten mir Übelkeit. Von neuem tobten die wildesten Gedanken in meinem Kopf: Wie, wenn ich heimlich die Trosse eines dieser Schiffe zerschnitte? Wenn ich plötzlich anfinge, Feuer zu rufen? Ich gehe weiter auf den Kai hinaus, setze mich auf eine Kiste, falte die Hände und fühle, daß mein Kopf immer verwirrter wird. Und ich rühre mich nicht und tue gar nichts mehr, um mich aufrecht zu erhalten.

Ich sitze da und starre auf den »Copégoro«, die Barke mit der russischen Flagge. Ich sehe einen Mann an der Reling; die roten Laternen auf Backbord beleuchten seinen Kopf, und ich stehe auf und spreche zu ihm hinüber. Ich verfolgte keine Absicht mit dem, was ich sagte, erwartete auch keine Antwort. Ich fragte:

Segeln Sie heute abend ab, Kapitän?

Ja, bald, antwortet der Mann. Er sprach schwedisch. Dann ist er wohl Finnländer, denke ich.

Hm. Könnten Sie nicht einen Mann brauchen? Es war mir in diesem Augenblick gleichgültig, ob ich eine Absage bekam oder nicht. Es war mir ganz gleich, welche Antwort er mir geben würde. Ich wartete und sah ihn an.

Nein, erwiderte er. Es müßte denn ein Jungmann sein.

Ein Jungmann! Ich gab mir einen Ruck, stahl mir die Brille herunter und steckte sie in die Tasche, trat auf den Landungssteg und ging an Bord.

Ich bin nicht befahren, sagte ich, aber ich kann alles tun, wozu Sie mich anstellen wollen. Wohin geht die Fahrt?

Wir gehen mit Ballast nach Leeds, um Kohlen für Cadix einzunehmen.

Gut! sagte ich und drängte mich dem Mann auf. Mir ist es gleich, wohin es geht. Ich werde meine Arbeit tun.

Er stand eine Weile da, sah mich an und überlegte.

Du hast noch nicht gefahren? fragte er.

Nein. Aber wie ich Ihnen sage, stellen Sie mich vor eine Arbeit, und ich werde sie tun. Ich bin an alles gewöhnt.

Er überlegte noch einmal. Ich hatte mir bereits fest in den Kopf gesetzt, mitzugehen, und ich fürchtete, ich könnte wieder an Land gejagt werden.

Was meinen Sie also, Kapitän? fragte ich endlich. Ich kann wirklich alles tun, was es auch sei. Was sage ich! Ich müßte ein schlechter Mensch sein, wenn ich nicht mehr täte, als das, wozu ich bestimmt werde. Wenn es gilt, kann ich zwei Wachen hintereinander übernehmen. Das tut mir nur gut, und ich kann es schon aushalten.

Ja, ja, wir wollen es versuchen, sagte er und lächelte ein wenig über meine letzten Worte. Wenn es nicht geht, können wir uns ja in England wieder trennen.

Natürlich! antwortete ich in meiner Freude. Und ich wiederholte, daß wir uns in England trennen könnten, wenn es nicht gehe.

Dann wies er mir Arbeit an ...

Im Fjord draußen richtete ich mich einmal auf, feucht von Fieber und Mattigkeit, sah zum Lande hinüber und sagte für dieses Mal der Stadt Lebewohl, der Stadt Kristiania, wo die Fenster so hell in allen Häusern leuchteten.


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