Hans von Hammerstein
Roland und Rotraut
Hans von Hammerstein

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Die Uhlensteiner.

Mit scharfem Wehen fuhr der Novemberwind durch die schwarzen, regenschweren Häupter der hohen Bergfichten, träg schleppte sich der zähe Nebel an den zerklüfteten Wänden des Gebirges hin, und wenn er für einen Augenblick an den schwindelschroffen, schattenhaft aufdrohenden Felsenzähnen zerriß, dämmerten leichenfahl die weiten, grabstillen Schneefelder unter den finsterumwölkten Gipfeln zu Tal.

Am Rande der dumpfbrausenden Schlucht, an krummkieferumkrochenen, tropfenden Kalkfelsen vorbei führte der Saumweg. Den kam Roland jetzt gegangen. Todmüde und durchnäßt, wankte er an einem Stabe daher, seine Schuhe waren zerrissen, seine Füße dünkten ihm glühendes Blei. Schon begann das fremde, wüste Bergland, das ihn mit seiner verhüllten Schroffheit und riesenhaften Öde so grausam abweisend umschwieg, im Dämmergrau zu erblinden, und noch immer wollte sich kein Dorf, keine Hütte zeigen. Es war ihm, als müsse er sich in dieser felsumstarrten, nebelverhängten Verlassenheit zum Sterben niederlegen. Die letzte Spannkraft seiner schlaffen Sehnen zusammenraffend, erreichte er die Paßhöhe, und nun schien ihn auf dem fallenden Weg die eigene Müdigkeit fortzuziehen.

Da war es ihm plötzlich, als höre er hinter einem vorspringenden Fels, den der Pfad umbog. Stimmen. 68 Er blieb stehen und horchte. Rauher Gesang, Gelächter und Zurufe erschollen. Dazwischen wie Klappen von Zinnkrügen. Anheimelnd war der Lärm nicht, aber jede Nähe von Menschen, und sollten's Räuber sein, schien ihm hoffnungsvoll in dieser gähnenden, steinernen Einsamkeit. Ein paar Schritte vortretend, wurde er auf einem freien Platz unter den Felsen eine Gruppe bärtiger, verwilderter Männergestalten in braunen und grünen Wämsern gewahr. Der eine lag über einem ausgebreiteten Mantel, in die Arme gestützt, bäuchlings auf der Erde, ein anderer lehnte am Felsen und zielte eben mit einer Armbrust in die Luft, ein dritter saß mitten auf einem Steinklotz und schlief. Er war übermäßig fett, ein grauroter Zausbart umflaumte spärlich seine kupferigen Hängebacken; der Hut war ihm von der Glatze gerutscht und lag neben ihm am Boden, in der zuckenden Hand hielt er einen leeren Becher. Sein schiefgeneigter Kopf tunkte manchmal schwer vornüber, und von der schlaffen Lippe des offenen Mundes spann sich ein Speichelfaden auf die begossene Weste herab.

Noch ein paar Kerle lungerten in allerlei Stellungen umher. Ein wenig seitwärts aber, am Stamm einer verdorrten Lärche, stand mit gekreuzten Armen ein hoher schlanker Mann mit schönen, jugendlichen Zügen. Er war reicher gekleidet als seine Umgebung. Dunkle Locken fielen ihm unterm keck aufgestülpten, federgeschmückten Hut über die Schläfen, und seine großen, glänzenden Augen träumten über das rauhe Getriebe der Genossen weg in die Ferne. Spieße und Armbrüste lagen und lehnten herum. Zwei Rosse standen im Hintergrund angebunden. Mehrere Hunde kauerten 69 um die Felsblöcke. Die bemerkten Roland zuerst und fuhren mit wildem Gekläff und Geknurr auf ihn los.

Die Männer richteten sich halb in die Höhe und pfiffen die Rüden zurück, der Dicke fuhr mit einem Ruck zusammen und hob ein wenig die geschwollenen Lider. Die glänzenden Augen des Schlanken, der an der Lärche lehnte, hefteten sich verwundert auf den Knaben.

»Schwebel, ein Mädchen!« schrie der auf der Erde Lümmelnde dem Feisten zu, der schon wieder einschlief. Er zuckte empor. Gelächter ertönte.

Unterdessen war der andere, der mit der Armbrust gezielt hatte, ein breitschulteriger Kerl mit rohem Gesicht, an Roland herangetreten.

»He, Jüngelchen!« dröhnte er ihn an, »woher des Wegs? Du siehst mir so davongelaufen aus!« Und ihn bei der Hand nehmend, zog er ihn in den Kreis.

»Sagt mir nur, wo ich heut' noch ein Dach finde?« seufzte Roland wankend. »Wenn ihr Geld wollt, ich hab' keins. Ich bin ein schlechter Fang. Bringt mich um, oder wenn ihr wollt, daß ich weiterlebe, weist mir eine Hütte.«

»Für Buschklepper hält er uns!« lachte der andere auf, den erschöpften Knaben derb am Arm schüttelnd. »Ja, ja, gib nur acht, daß wir dir nicht dein seines Wämschen über die Ohren ziehen und noch dazu das zarte Fell in Riemen vom Leib schneiden. Oder dich wenigstens mit einer Tracht Prügel zu deinen Eltern zurückschicken, denen du ausgerissen bist, du Schlingel.«

»Laß mich!« herrschte ihn Roland an, sich von ihm losmachend. »Gebt mir lieber ein Stück Brot und einen Schluck Wein, von dem ihr zuviel zu haben scheint.« 70

»Hoho, hat der Fratz ein Maul!« schrie jener, ihn wieder ergreifend. »Wart! ich schlag' dir dein Gelbschnäbelchen ins Spatzengehirn, wenn es noch einmal so unverschämt zwitschert.« Und er holte mit der Hand aus.

»Heldenmut, an einem zu Tode erschöpften Knaben seine Kraft zu üben!« versetzte Roland, ihn mit müder Verachtung messend.

»Laß ihn, Wulfhart!« sprach der Schlanke nun streng, indem er herzutrat. Auch die anderen hatten sich erhoben und umstanden neugierig die Gruppe. Nur der Fette schlief weiter.

»Wohin willst du?« fragte der Schlanke.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Roland matt. »Nur zu Menschen. Noch hab' ich, scheint mir, keinen begegnet in dieser gräßlichen Felswüste.«

»Du bist keck!« fuhr ihn der andere barsch an; »weißt du, wer vor dir steht? Ich bin der Fürst dieses Landes, das du eine Wüste nennst, und dies sind meine adligen Weidgenossen, die du für Strauchdiebe hältst.«

»Nun,« entgegnete Roland, den Fürsten mit aufblitzenden Augen anlächelnd, »was Besseres als Schlehen scheint Euer Land nicht zu tragen, und was Feineres als Rüpel scheint Ihr nicht zu regieren.«

»Bravo!« rief der, der vorhin auf der Erde gelegen hatte, eine dünne, langbeinige Gauklergestalt mit pfiffiger Miene. »Der Schlingel hat Schule! Er könnte Harbart Verstand, Wulfhart Hofschliff und Schwebel Nüchternheit lehren! Da würden unsere Schlehen vor Verblüffung Malvasier geben!« Wieder lachten ein paar, Wulfhart brummte was Grimmiges in den Bart.

»Hör', Bursche!« sprach nun der Fürst wieder, ihn 71 bei der Schulter fassend. »Du bist in meiner Gewalt! Nimm dich in acht, daß du sie nicht fühlen mußt.«

»Nur Gewalt, die auf schwachen Beinen steht, hat es nötig, sich fühlbar zu machen,« versetzte Roland freimütig. »Bisher hab' ich in Euern Reden und Griffen wenig Ritter- und Fürstentum gespürt, zumindest solches nicht, wie ich es gewohnt bin.«

»Wacker, wacker!« ließ sich wieder die Stimme des Dürren vernehmen. »Ergebt Euch, Fürst! Er streitet mit ritterlichen Waffen. Wir müssen ihm ehrenvollen Pardon geben, und eigentlich hat er uns allesamt tüchtig in den Sand gesteckt. Merk's dir, Wulfhart!«

»Kerl, du gefällst mir!« sagte nun der Fürst, ihn mit funkelnden Augen voll ansehend. »Zeig' her. Dein schmales Pfötchen ist nicht von Eltern, die Steine klopfen mußten. Du kommst jetzt mit uns. Bis dein Gefieder trocken ist, werden wir sehen, was für ein Vögelchen du bist. Sobald laß ich dich nicht aus. Und damit du siehst, daß ich doch auch ein bißchen ein Ritter bin, sollst du deine müden Beinchen jetzt über meinen Gaul hängen, und ich will zu Fuß neben dir hergehen.« – »Auf!« rief er den Genossen zu. »Es wird dunkel, wir wollen heim.«

Die Knechte führten die Rosse vor. Eines wurde mit dem zusammengerafften Geschirr und einem erlegten Reh bepackt. Die Jäger griffen nach Spießen und Armbrüsten.

»Hörst du? Auf!« schrie Wulfhart den schlafenden Dicken an, indem er ihn an der Schulter rüttelte.

Der öffnete mühsam die roten Äuglein und blinzelte um sich. 72

»Da, schau!« rief der Dürre, indem er Roland vor ihn stellte. »Du hast im Schlaf ein Junges gekriegt, und es hat nicht einmal Hörner und Bocksbeine!«

Der Alte ermunterte sich und betrachtete ihn wie ein Wunder.

»F–f–einer . . . . K–k–erl!« stotterte er trunken. »Ga–Ga–Ganymed! . . . Ein–einschenken!« und schwankend hielt er ihm den Becher hin.

Dröhnendes Gelächter erscholl aus den rauhen Kehlen. »Ein prächtiger Einfall von dem Weinschlauch!« rief der Fürst fröhlich. »Ganymed sollst du uns sein und täglich unsere Becher füllen! Und jetzt heb' ich dich mit Adlerfängen in den Olymp,« setzte er hinzu, indem er Roland packte und aufs Roß hob.

»Herr!« versetzte dieser munter, »sollte man nicht lieber den Dicken aufladen? Ich glaub', ich trag' die Meilen, die ich in mir hab', leichter nach Haus als er die Schoppen, die er in sich hat.«

Abermals stieg lautes Gelächter aus den groben Kehlen. »He, was meint der Lump?« pustete jetzt plötzlich Schwebel los, indem er sich schwerfällig auf die kurzen Beine machte. »Will einen in standfester Weingerechtigkeit ergrauten Uhlensteiner höhnen? – Reit' nur zu, Grünschnabel! Du sollst sehen, wie ich dir nachhüpfe!«

Und wirklich schien eine erstaunliche Behendigkeit in das bauchige Faß zu kommen.

Heiter machte sich die ganze Gesellschaft auf den Weg. Die Knechte mit den Hunden und dem Packpferd voran, dann folgte Roland. Neben ihm schritt der Fürst. Und hinter ihnen führte der Dürre, der Gelf genannt wurde, mit Wulfhart die übrigen an. In mächtigem Takt schritten 73 sie, die Spieße über die Schultern gelegt, mit den eisenbeschlagenen Schuhen aufknirschend, über den steinigen Weg herab. Den Schluß des Zuges bildete Schwebel, der blasend und schnaubend seinen Wanst mit schwankenden Tritten vor sich herschob.

Wulfhart begann zu singen, und der Chor repetierte donnernd:

»In der Fichtennacht, im Wildbachbraus,
im Felsgetürme,
im Gletscherglanz sind wir zu Haus.
Hagel und Stürme,
Lawinenkrach und Föhngesaus
umsangen unsre Wiegen,
mit Klipp und Kluft, mit Frost und Glut,
mit Bär und Wolf und Geierbrut,
mit Keiler, Kuder, Luchs und Fuchs
Ist unser Leben ein Kriegen,
Hurra!
Ist unser Leben ein Kriegen.«

Und nun sangen sie alle zusammen, mit den Spießen aneinander schlagend und aufstampfend, daß es wie eine Schlacht in die Schlünde scholl:

»Wir vom Uhlenhorst,
gewandt in Fels und Forst,
wir wetterhart und kletterfroh,
wir sonnenbraun und muskelroh,
wir Schleicher und Springer,
Ringer und Zwinger,
Schießer und Treffer –
Blitz, Hagel, Sturm. Wetter, Donner, Hitz',
            Frost, Schwefel, Schnaps und Pfeffer.
Hoch der Uhlenhorst, Uhu!
Und unser Fürst dazu.« 74

Nun begann Gelf, den Chor mit gellendem Pfeifen im Diskant akkompagnierend:

»Kein Gams entflüchtet unserm Pfeil
mit schrillem Pfiff,
kein Adlerhorst hängt uns zu steil
im Felsenriff.
Kein Kerl, und stünd' er wie ein Stier
hält unserm Schlag und Griff,
kein Mädel ist so zag und zier,
wir kennen Schlich und Kniff,
wir wissen Weg und Steg und Platz,
leis' wie Eul', flink wie die Katz',
und was uns schmeckt, das holen wir
mit Griff und Kniff und Pfiff,
Hallo!
mit Griff und Kniff und Pfiff.«

Und sacht auftretend, antwortete gedämpft der Chor:

»Wir vom Uhlenstein,
geübt mit Weib und Wein,
zu Haus und drauß, bei Licht und Schwärz,
Aug' wie der Luchs, vom Fuchs das Herz,
wir Lauscher, Täuscher,
Späher, Seher,
findiges, windiges Pack –
Kniff und Pfiff, Schlich und Stich,
    Schwur und Trug, Bett und Krug,«

jetzt wieder anschwellend:

»Sang, Klang, Scherz, Schimpf, Schabernack –
Hoch der Uhlenstein, Uhu!
und unser Fürst dazu.«

Und jetzt hob Schwebel an mit fetter, krächzender Stimme, die vibrierte wie eine schütternde Blechkanne: 75

»Unser Fürst, der hat im Kellergrund
ein Faß
              ein Faß.
Als wie der Mond so groß und rund
ist das
              ist das.
Ich sog an dieser süßen Brust
zum Zeitvertreib
schon manches Jahr mit inniger Lust,
nun hab' ich's schier im Leib.
Ich pochte jüngst, es klang so hohl,
Herr Fürst, nicht wahr, Ihr sorgt doch wohl,
daß es sich füll' mit frischem Saft
und uns sodann mit neuer Kraft,
zum Wohl, zum Wohl
des Fürsten und der Ritterschaft!«

»Wir vom Uhlenpfuhl,
Meister von Krug und Stuhl,
uns wird bei Spiel und Becherschall
zu lang die Nacht auf keinen Fall.
Wir Würfler und Zecher,
Faßstecher, Flaschenbrecher,
trunken wie die Unken und Tümpelkröten,
Trommeln und Trompeten, Pauken und Posaunen,
    Orgeln und Saiten, Geigen, Pfeifen, Zymbeln,
    Dudelsack und Flöten –
Hoch der Uhlenpfuhl, Uhu!
Hoch unser Fürst,
daß uns nicht schmacht' und dürst',
hoch flattre unsre Uhl!«

Als sie geendet hatten, klatschte Roland fröhlich in die Hände.

»Ei!« rief Gelf, »der junge Sperber schlägt schon wieder mit den Flügeln. Wart'! Du wirst auch noch ein rechter Uhlensteiner.« 76

Über dem Gesang hatte sich Roland ermuntert. Aber recht wohl wollte ihm in dieser wilden Kumpanei doch nicht werden.

Die rauhen Stimmen schleuderten rohe Späße hin und her, klotzige Ausdrücke, schlüpfrige Worte flogen an sein zartes Ohr, das dergleichen nie gehört, und wenn ein recht derbes, schmieriges niederklatschte, flatterte wieherndes Gelächter empor, wie ein kreischender Schwarm aufgescheuchter Sumpfvögel.

Der lustigste war Gelf. Bald schritt er pfeifend mit allerlei Grimassen und tollen Bewegungen, die langen Beine durchknickend, daß man vermeinte, es krachen zu hören, einher, bald ahmte er mit der Stimme so täuschend allerhand Tiere, Katzen, Hunde, Eulen, Hühner, Hähne, Ochsen, Kälber, Schweine, Schafe, Ziegen, Vögel nach, daß man sich gar nicht mehr zurecht fand.

Sie kamen jetzt ins Tal. Die hohen, schwarzen Fichtenwände, zwischen denen sie das letzte Stück des Weges fortgeschritten waren, traten plötzlich auseinander, und vor Rolands erstauntem Blick öffnete sich ein weiter, felsumbauter, nebelumgrauter Kessel. In seiner Mitte drängte sich eine Schar niedriger Hütten, deren breite Dächer mit Steinen beschwert waren, um einen mächtigen Felshügel, aus dem ein hohes, verwittertes Gemäuer emporwuchs, das mit wenigen schmalen Fenstern düsterdrohend übers Tal wegstarrte und mit den steilen Giebeln fast in die niederhängenden Wolken stieß.

»Meine Burg, der Uhlenstein!« erklärte der Fürst.

In den Hütten schimmerten schon einige Lichter auf, und auch auf dem Uhlenstein wurde ein Fenster hell. 77

Im Dorf standen einige zerlumpte Gestalten an den Türen und grüßten fröhlich den Zug, als er vorbeikam.

Wo der Pfad zur Burg anstieg, lag ein größeres Haus, eine Schenke, wie das verschnörkelte Schildwerk, das eine schwarze, flügelhebende Eule im goldenen Felde zeigte, und ein ausgestreckter Reisigwisch bekannte. Der Wirt trat eben aus der Tür auf den Treppenvorsprung und zog tief das Käppchen. Hinter ihm schlüpfte ein Mädchen mit weißen, gebauschten Ärmeln und dunklem Mieder heraus und nickte, sich lächelnd aufs Geländer lehnend, den Jägern zu. Ein paar kräftige Grüße flogen zu ihr hinüber, und Schwebel machte ihr, als er hintendrein vorbeiwalzte, zum Gaudium der andern, allerlei verdrehte Knixe und Bücklinge, wobei er es an deutlichen Gebärden nicht fehlen ließ. Der Wirt schmunzelte untertänig, und sie lachte hell auf.

Zwischen einigen halbverfallenen Vorwerken wand sich der Pfad einmal um den ganzen Hügel herum und mündete über eine Zugbrücke in ein finstergähnendes, spitzbogiges Tor, vor welchem zwei schnauzbärtige Hellebardiere standen.

Mit dröhnenden Schritten kamen sie unter dem hallenden Torbogen durch und gelangten in einen engen, fliesengepflasterten Hof, den drei offene Arkadengänge übereinander einschlossen.

Der Zug machte Halt. Roland saß ab. Knechte traten unter den Arkaden hervor und nahmen Rosse, Hunde und Waffen in Empfang. Eine Magd lief mit Eimern zum Brunnen, der in einem Winkel des Hofes rieselte.

Über eine schmale, von flackerndem Licht spärlich erhellte Treppe begaben sich nun der Fürst und seine 78 Begleiter in das erste Stockwerk. Überm Tor schon hatte Roland das Eulenwappen, das der Wirtshausschild unten trug, bemerkt, und hier fand er es vielfach in den Gewölben und über den Türen wieder. Es paßte trefflich in die öden, frostigen Hallen und erhöhte den düsteren Eindruck des ganzen Baues. Gespensterhaft glotzten die großen runden Augen des Nachtvogels, in grellem Gelb oder Gold auf den schwarzen Grund gemalt, den Eintretenden von allen Seiten an. Und wo das Wappen ausführlicher gemalt oder gemeiselt war, hob die Uhle auch über dem gekrönten Helm den schwarzen Flug.

Das heftige Auffliegen einer Tür schreckte Roland aus seinen Betrachtungen. Ein junges Dirnlein, leichtfüßig, schlank und schwank wie eine Haselgerte, seltsam buntfarbig und unordentlich gekleidet, Hals und Arme braun, als wären sie mit Walnüssen gefärbt, das wirr sich niederschlängelnde Haar schwarz und schimmernd wie frischgebrannte Kohle, sprang ihnen entgegen, flog dem Fürsten um den Hals und küßte ihn stürmisch. Er ließ die Liebkosung lächelnd über sich ergehen. Gleichzeitig kam auch ein feistes, altes Weib mit herrischer Miene und rasselndem Schlüsselbund den Gang heraufgeschlapft.

Die Kleine abschüttelnd, befahl Fürst Gunther der Alten, für Roland Unterstand und trockene Gewandung zu besorgen.

Nun erst wurde das Mädchen seiner gewahr und funkelte ihn mit ihren großen, dunkeln Flackeraugen, die glänzten wie zwei Tollkirschen, verwundert an. Der Fürst ließ sie stehen und trat voraus in die Stube.

»Wer ist das?« fragte sie gebieterisch. 79

Die Junker lachten.

»Ei, Flämmchen,« rasselte Schwebel sie an, »gefällt er dir nicht? Den haben wir eigens für dich mitgebracht, daß du was Glattes, Weiches fürs Leckermäulchen habest, dem unsere Gesichter zu borstig sind, wie du immer sagst.«

Damit umschlang er sie plump und wollte ihr mit seinem weinduftenden Mund einen Kuß aufschmatzen.

Sie entwand sich ihm blitzschnell und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, daß ihm noch mehr Blut in die fette Backe schoß und sie schier bersten machte.

»Hoho!« lachte Gelf, »mir scheint, Flämmchen hat einen brennenden Tag. Schwebel, sei vorsichtig und bring' ihr deinen Bauch nicht wieder zu nahe, sonst möcht' es dich zerreißen mit Krach und Dampf und Stank, wie es dem Küfer unten neulich das Faß zerriß, als er beim Ausbrennen unachtsam zu Werke ging. Um dich wär's ja nicht schade, dafür um uns desto mehr. Aber mit dem jungen Herrn, Flämmchen, mußt du lieb und nett sein. Roland heißt er, das ist ein hübscher, ritterlicher Name. Ich bin gewiß, daß ihr euch vertragen werdet – nur bald vielleicht zu gut,« fügte er, gegen die anderen gewendet, leiser hinzu.

Roland streckte ihr munter die Hand hin. Sie aber kehrte sich und hüpfte in die Stube hinein. Auch die Junker folgten.

Die alte Wärterin führte Roland mürrisch in ein anderes Gemach und brachte ihm bald verschiedene Kleidungsstücke zur Auswahl.

»Von unserem Fürsten noch, als er in Eurem Alter war,« erklärte sie kurz. 80

Als er angekleidet war und sich etwas gereinigt hatte, begab er sich gleichfalls in die Stube, welche die anderen betreten hatten.

Es war ein großer Saal mit hohem, angerauchtem Gewölb und tiefen Fensternischen, in denen Sitze angebracht waren. Mitten stand eine lange Tafel, an welcher der Fürst und die Ritter speisend saßen. Im Kamin knisterten riesige Holzscheite. Auf seinem Gesims standen Zinnkrüge in allerlei Formen und Größen. An den Wänden hingen Waffen, Geweihe und Felle von mancherlei Raubzeug, unter denen gleichfalls mit Fellen überdeckte Ruhebetten aufgestellt waren.

Der Fürst forderte Roland mit einer Handbewegung auf, an seiner Seite Platz zu nehmen. Harbart, neben den er zu sitzen kam, schob ihm eine Schüssel zu und schenkte ihm eine Kanne mit Wein voll. Roland konnte vor Müdigkeit nicht viel genießen und sah erstaunt zu Schwebel hinüber, der am anderen Ende der Tafel in einem gewaltigen Lehnsessel thronte und mit einer schmatzenden Gier schlang, als hätte er tagelang nichts zu essen bekommen. Dazu schüttete er kannenweise den Wein hinunter. Die Alte mit dem Schlüsselbund und eine dralle junge Dirne bedienten. Diese wurde von den Tafelnden weidlich in die Arme und sonstigen Rundungen ihres Körpers gekniffen, wenn sie einschenkte, so daß sie fortwährend aufschrie und übergoß.

Überhaupt machte der Tisch und die ganze Wirtschaft einen höchst liederlichen Eindruck.

Flämmchen, auf der anderen Seite des Fürsten sitzend, stützte ihren Kopf in die braunen Hände und starrte Roland über den Tisch hinüber an. 81

Neben sich hatte sie ein Tamburin liegen.

»Flämmchen, sing, tanz!« rief ihr Wulfhart zu.

Sie schüttelte den Kopf und sah unverwandt nach Roland.

»Zum Wohl und Gedeihen allerseits!« sagte Gelf und hob den Krug. »Dies ist der Uhlenpfuhl,« erklärte er Roland, »von dem du in unserem Liede gehört hast. Hier sitzt und trinkt die Uhlenrunde meist, solange die Eulen drauß ums Berchfrit fliegen.«

Der Fürst, als er gegessen hatte, stand auf und warf sich auf eins der Ruhebetten an der Wand.

»Schwebel!« brüllte Wulfhart, »wenn du eingesackt hast, bring' dem Knaben den Willkommtrunk!«

Schwebel nickte kauend, streckte die Kanne, mit dem Deckel heftig klappernd, nach der Schenkin aus, und als diese sie gefüllt hatte, brachte er sie Roland zu. Er leerte sie mit einem Zuge.

Roland dankte ihm und nippte an der seinen.

»Austrinken!« schrie Wulfhart.

Roland machte schüchtern noch einen Schluck.

»Aus!« brüllte Wulfhart noch einmal. »Ich will dich Uhlensitte lehren!« Und aufstehend, kam er auf ihn zu, faßte ihn hinten beim Kragen, nahm seine Kanne und machte Miene, sie ihm gewaltsam in den Schlund zu gießen. Roland wehrte ab.

»Laß ihn!« sagte Gelf.

Aber Wulfhart ließ ihn nicht. Roland wand sich und rang mit ihm. Schließlich riß er sich mit einem Ruck los und sprang auf. Die Kanne ergoß sich über den Tisch auf Harbarts Knie. Der fuhr in die Höhe, und sein Sessel stürzte um. Wulfhart gab Roland einen Stoß, daß er gegen die Wand taumelte. 82

Er fiel auf eines der Ruhebetten nieder und brach in Tränen aus.

»Ruhe!« donnerte der Fürst jetzt aufspringend. »Wulfhart, laß den Knaben! Und wer ihn mir noch einmal anrührt, der fliegt hinaus!« Hoch aufgerichtet mit funkelnden Blicken stand er mitten im Saal. Tiefes Schweigen trat ein.

Flämmchen sah mit großen, erstaunten Augen bald auf Roland, bald auf den Fürsten. Dieser ging zu ihm hin, setzte sich neben ihn, legte den Arm um seine Schulter und sprach mit rauher Güte: »Geh schlafen, Junge. Du bist müde. – Hadda!« befahl er der Alten, »du richtest ihm das Lager neben meinem Schlafgemach.«

Und Roland stand auf und folgte der Schaffnerin. Der Schlaf überwältigte ihn sogleich. Er schlummerte tief und traumlos. Nur einmal erwachte er halb, weil es ihm war, als wäre jemand in sein Zimmer geschlichen und hätte sich über ihn gebeugt. Die Tür ins Nebengemach stand auf. Licht fiel herein. Er glaubte, Flüstern und Kichern zu hören. Dann wurde die Tür geschlossen, und er sank in den Schlaf zurück.

Mittag war vorbei, als er erwachte. Die Schaffnerin sagte es ihm, als sie zum zehntenmal den Kopf durch die Tür steckte und endlich seine Augen offen fand. So lang und tief hatte er noch nie geschlafen. Gähnend erhob er sich, und als er die Glieder streckte, waren sie steif und schmerzten ihn, als wäre er geprellt worden. Draußen war ein unwirsches Wetter. Der Wind stieß wie ein Büffel an die Fenster und jagte scharfsausend ein frostigfeuchtes Gemisch von Regen und Schnee übers Land. 83

Nachdem Roland sich angekleidet hatte, betrat er den Saal. Die Uhlensteiner waren daheim geblieben, hatten schon gespeist und saßen nun mit ihren Weinkannen beim Würfelspiel lärmend und fluchend am großen Tisch.

Der Fürst aber saß mit Gelf abseits in einer Fensternische vor einem Schachbrett. Ihn begrüßte er zuerst, dann die andern der Reihe nach, die indes so in ihr Spiel vertieft waren, daß sie ihn kaum bemerkten.

Flämmchen lag auf einem Ruhebett und strählte eine schnurrende Katze. Er reichte ihr die Hand. Sie legte die ihre hinein und sah ihn spöttisch-forschend an.

»Du hast sehr gut geschlafen,« sagte sie.

»Vortrefflich,« erwiderte Roland lächelnd. In diesem Augenblick trat die Magd herzu und bedeutete ihm, daß für ihn ein Mahl im Nebenzimmer bereitet sei. Er folgte ihr dahin.

Noch saß er nicht lange beim Essen, als der Fürst eintrat und sich neben ihn setzte.

Als sie einige gleichgültige Redensarten gewechselt hatten, hub er an: »Nun sag' mir, wer du bist, woher du kommst und was dich auf die Wanderschaft getrieben hat.«

»Herr,« entgegnete Roland, »als freundlicher Gastgeber habt Ihr wohl das Recht, so zu fragen, und ich müßte Euch Red' und Antwort stehen und dürft' Euch auch nicht belügen. Wenn es aber sein kann, so begnügt Euch damit, zu wissen, daß ich aus gutem Hause und –« er stockte.

»Nun, und . . . .?« forschte der Fürst.

»Und ich gesteh's, von daheim ausgerissen bin.«

»Ich will Euch auch der Wahrheit gemäß den Grund davon sagen: Ein kleines Mädchen war mir lieb und 84 freund. Räuber haben sie entführt. Das ist nun ungefähr vier Monate her. Alles Forschen nach ihr war umsonst. Mein Vater wollte meinen Bitten, selbst nach ihr auszuziehen, kein Gehör schenken. Ich ahne jetzt wohl auch, warum. Da hielt es mich nicht länger. Ich bin fortgelaufen und bin jetzt schon mehrere Wochen unterwegs. Anfangs irrte ich recht ziellos umher und hatte auch genug damit zu tun, daß ich den eigenen Verfolgern entging, was mir nur mit knapper Not gelang.

»Ich folgte der Straße, die nach Süden ins Gebirge führt. Doch die Bewohner der Städte und Dörfer, durch die ich kam, konnten mir keine Auskunft geben. Zufällig erfuhr ich aber von einer Wirtin, daß sie dieses oder ein ganz ähnliches Kind mit einem Frauenzimmer und einem sie begleitenden Manne einmal beherbergt habe. Ich würde den Angaben der Wirtin nicht so leicht geglaubt haben, wenn nicht die Beschreibung, die sie von dem Manne machte, meine Vermutungen bestärkt und es sehr wahrscheinlich, ja gewiß gemacht hätte, daß es das Mädchen gewesen, das ich suche.

»Aber je weiter ich kam, desto mehr verwirrte und verwischte sich die Fährte. Da ich indes einmal so weit war, wollte ich das Gebirg' ganz überschreiten, und beeilte mich, damit mir dies noch vor Einbruch des Winters gelänge.

»Auf einer Abkürzung, die mir ein Wanderer geraten hatte, fand ich Euch zu meinem Heil, denn ich glaub', ich hätte damals vor Müdigkeit nicht weiter gekonnt und in der Nacht draußen verkommen müssen.«

»Und was willst du nun weiter?« fragte der Fürst.

Die Tür öffnete sich, und Flämmchen sah herein. 85

Er winkte ihr, sie allein zu lassen.

»Ich möchte morgen meine Straße fortwandern, da ich mich bei Euch ausruhen und erquicken durfte,« versetzte Roland mit fragendem Blick.

»Junge,« sagte der Fürst mit emporgezogenen Augenbrauen, »einmal bist du mein Gefangener, und wenn ich nicht will, kannst du nicht los. Ich wette, du bist ein hübsches Lösegeld wert. Auf ein Grafensöhnchen schätz' ich dich wenigstens. Hm?«

Roland zuckte lächelnd die Achseln.

»Nun, ich will dich weiter nicht bedrängen,« fuhr der Fürst fort. »Junge Helden fahren oft mit fremden Namen aus. Und edel bist du, das genügt mir. – Aber ich bin kein Fürst von Räubern und Erpressern, wenn auch meine Genossen ein wenig gefährlich dreinschauen. Ich ließe dich ziehen, wenn mir nicht um dich selbst bange wäre. Sieh', das Wetter draußen! Und das ist ein Maienscherz gegen den Ernst, der noch kommt. Bursch, du hast keine Ahnung von dem, was ein Winter in den Bergen heißt.«

»Seit gestern doch ein wenig!« fiel Roland ein.

»So laß dir das zur Warnung sein. Bleib' hier, bis das Frühjahr kommt und die Pässe schneefrei sind. Dann sollst du, wohl ausgerüstet, deine Forschung fortsetzen, von der ich mir freilich wenig Erfolg verspreche. Wenn es dir aber bei uns gefällt – der rauhe Ton darf dich nicht schrecken, wir sind, wie unsere Heimat es ist, aber diese unwirtlichen Berge haben Gold im Herzen –, wenn es dir so gut gefällt, wie du mir gefällst, so bleib' auch ferner bei mir, und ich will dich alle Künste lehren, deren ein rechter Ritter bedarf. Schon kannst du Bogen 86 und Armbrust führen, bald wirst du auch ein Schwert schwingen können. Und kriegerische Gelegenheit hast du hier genug. Schier alle Sommer einmal versuchen unsere lieben Nachbarn, das schlitzäugige, stumpfnasige, gelbhäutige, ölige Gesindel da unten, wo das Gebirg in die sumpfige Ebene ausläuft, mit ihren struppigen Rößlein schwarmweise anschwirrend, durch diese Täler einzudringen. Da heißt es dann, sich wacker zu rühren, denn das Volk ist flink und schlau wie die Katzen.

»Ein Ruheposten ist die Grenzwacht in den hohen Marken wahrlich nicht, doch eine um so bessere Schule kann sie für den angehenden Ritter sein. Dein Vater wird versöhnt sein, wenn du ihm, ehren- und ruhmbedeckt, als ein ganzer Mann heimkehrst. Und was den Zweck deiner Ausfahrt angeht . . . .« Wieder lugte Flämmchen herein.

Der Fürst runzelte die Stirn und rief ihr ein gebieterisches: »Laß uns in Frieden!« zu.

»Was deine Suche angeht,« fuhr der Fürst fort, »die kannst du gerade in meinen Diensten weit wirksamer fortsetzen, denn so als hilfloser Vagabund. Meine Züge führen mich oft weit nach Süden und Osten in die fremden Länder und an benachbarte Höfe. Da sollst du mich immer begleiten, und ich verspreche dir, daß ich mein ganzes Ansehen für deine Sache einsetzen werde.«

Roland war überglücklich. Aufspringend ergriff er mit Tränen in den Augen des Fürsten Hand, küßte sie und sprach: »Edler Herr, seid versichert, daß ich, was meine Geburt und Namen betrifft, Eurer Gesellschaft würdig bin, und nehmt mein adliges Wort, daß ich mich auch Eurer Freundschaft würdig erweisen werde.« 87

Kräftig schüttelte der andere seine Hand und schloß ihn in die Arme.

Und abermals erschien Flämmchens Gesicht in der Türspalte. Der Fürst trat ihr entgegen, und Roland folgte ihm wieder in den Saal.

Flämmchen war flugs in eine Fensternische gehüpft und sah in den Sturm hinaus. Der Fürst legte ihr freundlich die Hand auf die Schulter und sprach: »Flämmchen, willst du nicht unserem jungen Gast die Burg zeigen?«

Mit einem Ruck drehte sie sich herum und schoß Roland einen haßerfüllten Blick zu.

»Flämmchen, du bist wahnsinnig!« sagte der Fürst und wandte sich den Spielern zu.

Da nahm sie seine Hand und führte ihn hinaus. Auf dem Gang stieß sie eine Tür auf.

»Das ist das Schlafgemach,« erklärte sie barsch.

Roland sah sich in einem hochgewölbten dämmerigen Raum. Im Hintergrund stand ein breites, schön gearbeitetes Bett, das auf Säulen einen wappengeschmückten, geschnitzten Himmel trug. Truhen und Kasten standen längs der Wände.

»Du!« zischte Flämmchen, indem sie ihn in den Arm kniff, daß er aufschrie, »ich werde dir die Augen auskratzen!«

»Aber was hab' ich dir getan?« fragte Roland erschrocken.

Da gab sie ihm einen glühenden Kuß auf die Lippen und hüpfte lachend hinaus.

Er sprang ihr nach. Sie führte ihn im Flug durchs ganze Schloß treppauf, treppab. Die Gemächer all der 88 Uhlensteiner zeigte sie ihm. Recht ordentlich war's in keinem, und in Schwebels Kemenate schwelte ein Dunst, wie in einem Gärkeller. Selbst die alte Hadda wurde überfallen.

»Und wo schläfst denn du?« fragte Roland harmlos. Da lachte das Mädchen hellauf.

»Ich schlaf gar süß und wohl und weich,
ich schlaf im Himmel – im Himmelreich!«

sang sie mit schalkhafter Heimlichkeit.

»Nur manchmal recht wenig,« setzte sie hinzu, und wieder erklang ihr helles leichtfertiges Kichern und flatterte wie ein buntschillernder, zwitschernder Vogel den hallenden Korridor lang an den glotzenden gemalten und gemeißelten Eulen vorbei.

Roland schüttelte den Kopf.

Im Hof mußten die Rosse und die Hunde besucht werden. Auch ein paar Kühe, Ochsen und Ziegen gab es. In die Gesindestube und in die Wachtstube drang sie ein. Dann schlug sie sich das Röckchen übern Kopf und sprang durch ein Pförtchen in den Garten hinaus. Da war nicht viel zu sehen, nur ein paar kahle Bäume, an den Mauern etliche geknickte und verweste Leichen von Tulpen und Lilien und die hohen, verdorrten Stämme einiger Sonnenblumen. Jenseits des Gartens stand ein anderes, niedrigeres Gebäude.

»Ein Burgmannshaus,« erklärte das Mädchen. »Es wohnen einige Burgsassen hier mit Frauen und Kindern. Und jetzt komm' mit auf den Turm.«

Wieder sprang sie leichtfüßig die Stiege hinauf und übers dritte Stockwerk hinaus, daß Roland ganz außer Atem kam. 89

Ohne weiteres eine Tür öffnend, sagte sie: »Da wohnt der Türmer.« Dieser saß mit Frau und Kind an einem Tisch in der Mitte eines niedrigen, runden Raumes. Er erhob sich, als er der beiden ansichtig wurde, und forderte sie freundlich auf, einzutreten.

»Heut' sieht man nichts, junger Herr,« sprach er, mit Roland ins tiefe Fenster tretend. »Sonst schaut Ihr hier übers ganze Tal weg und noch weit in zwei Nebentäler hinein.«

»Hu, wie der Wind saust!« meinte Roland.

»Ja, wenn Ihr von dem singen lernen wollt, dann kommt nur zu mir herauf,« versetzte lächelnd der Türmer.

»Man staunt manche Nacht, was der für Klänge aufbringt. Eine Orgel mit hundert Pfeifen ist nichts dagegen. Nur stimmt's nicht so gut.«

»Oben auf der Umwehrung ist noch schönerer Ausblick,« sagte die Frau. »Aber heut' möcht's Euch hinunterwehen. Ihr müßt einmal bei klarem Wetter heraufkommen.«

Roland versprach, es zu tun, und dem kleinen, schmierigen Buben, der mit großem Eifer an einer Brotrinde nagte, die runden Backen tätschelnd, verabschiedete er sich und eilte mit Flämmchen hinaus.

Nun führte sie ihn noch in den Dachboden – einen ungeheuren, kaltfinsteren Raum, wo Türme von Gerümpel lagen und das Grauen geheimnisvoll in hundert verspinnwebten Winkeln hockte. Donnernd, heulend fuhr der Wind über die Giebel, schnitt sich pfeifend und winselnd an den Firsten, die Luken klappten, ein Wetterhahn kreischte rostig, Fledermäuse schwebten schattenhaft mit seinem, schrillem Zirpen ums ächzende Gebälk. 90

Dann sprangen sie wieder die schmale Wendeltreppe in den Saal hinunter.

Bald brach die Nacht herein. Kienspäne und schwelende Öllampen flammten auf, der Glut des Kamines wurden mächtige Buchenscheiter zugeworfen. Man setzte sich zum Mahl. Die Recken haderten um Glück und Unglück, das sie im Spiel gehabt. Schwebel hatte ihnen das meiste Geld abgeluchst und saß nun in fetter Zufriedenheit in seinem Trinkerthron, mit hastigem Eifer an einer Kapaunstelze schmatzend.

Gelf stichelte auf ihn mit dem alten Sprichwort vom Glück in Spiel und Liebe. Schwebel, mit beiden Händen das Hühnerbein am Munde haltend und es rein nagend, blinzte lustig mit den roten Äuglein zu ihm hinüber. Dann das Bein auf den Teller legend und sich den Bart wischend, behauptete er, nach einem tüchtigen Schluck aus der Kanne, er sei im Gegenteil ein sehr begehrter Galan und Scharmutzierer, ja, er könne sich der Nachstellungen des holden Geschlechts rein gar nicht mehr erwehren.

Erst vergangene Nacht sei zweimal versucht worden, die Tür seiner keuschen Kemenate, die er, wie jedes anständige Mädchen, streng geschlossen halte, zu öffnen, und er beschuldigte die alte Hadda dieser Angriffe auf seine Unschuld.

Diese, an der Anrichte stehend, beteuerte zur großen Heiterkeit der Tafelrunde, daß ihr so was Schändliches gänzlich fern liege, wobei sie jedoch ein merkliches Geschmeicheltsein über diese Zumutung nicht ganz unterdrücken konnte.

»Dann war's Fiehchen« – so hieß man die Magd –, 91 krähte Schwebel. »Fiehchen, gesteh's! Du hast schon lang' ein Augenmaß auf mich und errötest immer so sittsam, wenn du mir, ums Gangeck wischend, plötzlich mit dem Geschirrbrett auf den Leib auffährst, wie du das so oft tust, bis einmal alles in Scherben sein wird!«

»Nein, ganz unmöglich!« entrutschte es Fiehchen, indem sie, dunkelrot werdend, starr auf Gelf hinübersah, der sein lederfaltiges Spitzbubengesicht zu einem niederträchtigen Schmunzeln verzog.

»Ha!« krähte Schwebel los, »da haben wir's! Den Blick wollt' ich haben! Gelf, Gauner, schau mir ins Auge, wenn du kannst! Freilich, die ausgeschämte Lottermiene bringt kein Rot mehr auf . . . .« Dröhnendes Gelächter erschütterte den Saal.

»Gib mir was ab von dem, das du auf deiner Gurke liegen hast, du Trunkenbold!« schrie Gelf zu ihm hinüber.

So ging es hin und her in immer gröberer Tonart.

Aber Roland hatte noch Rot in der Seele, und glühend trat es auf seine Wangen. Wulfhart bemerkte es.

»Seht nur die Lilie an, wie sie blüht!« rief er, mit dem Messer auf ihn hinzeigend. »Ei, du Milchgesicht! Du bist wohl bis heut' den Weiberkitteln im Schlepptau gehangen und unter den Spinnrocken gesessen. Ja, Märchen vom Däumling und Schneewittchen, wie sie deine zarten Ohren gewohnt sind, werden nicht erzählt in der Uhlenrunde!«

»Laß ihn in Frieden!« mahnte Harbart.

»O, Harbart, mein Guter,« wendete sich Wulfhart an ihn. »Du ungeschliffener Edelstein! Spiel nur den Retter der Unschuld! Ich möcht's schier glauben, daß du deine noch hast, denn freilich ein Verstand wie deiner, 92 der mit fünfunddreißig Jahren noch keinen Flaum angesetzt hat, ist der sicherste Tugendhüter!«

Harbart schwemmte mit einem Schluck Wein die Antwort hinunter, die ihm doch nicht einfiel, und seine Stirnader schwoll an. Wulfhart und ein paar andere fuhren fort, Roland zu hänseln und allerlei unanständige Fragen an ihn zu stellen.

Da sprang der Knabe auf und eilte zur Tür hinaus. Flämmchen sah ihm funkelnd nach. Jetzt schlug der Fürst mit der Faust auf den Tisch, daß die Kannen hüpften. Erschreckt fuhren alle Gesichter nach ihm hin.

»Ich will, daß ihr dem Jungen Friede gebt!« herrschte er sie an. »Füllt eure Schandmäuler mit meinem Wein und haltet sie! Daß mir kein schmieriges Wort mehr fällt, wenn der Knabe anwesend ist. Hängt eure Zoten in den Schenken aus!« Damit stand er auf und folgte mit mächtigen Schritten Roland auf dem Gang.

Er fand ihn still weinend am Fenster stehen. Liebevoll legte er ihm den Arm um die Schultern.

»Sei ruhig!« sagte er sanft. »Sie haben's deutlich genug von mir zu hören gekriegt. Kein rauher Hauch soll dich mehr berühren, du zartes Blümchen. Laß dich nicht verschrecken, lauf' nicht davon wegen ein paar derber Ausdrücke. Jäger und Kriegsvolk führt Jagd- und Kriegswort. Sie haben alle mitsammen in ihrem Leben nie feinere Töne gehört.« Und sich niederbeugend, küßte er den Knaben auf die Stirn.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, Schall und Licht brach heraus. Der Fürst wandte sich um, auch Roland sah hin. Flämmchens schlanker Leib schmiegte sich um den Türpfosten, in den sie ihre Hand 93 gekrallt hatte. Ihre Augen glühten durch den dunkeln Gang herauf. Blitzschnell fuhr sie zurück und schlug die Tür wieder zu.

Als der Fürst mit Roland wieder den Saal betrat, legte sich dumpfes Schweigen über die Runde. Einige Kannen klappten verlegen, gezwungenes Räuspern wurde laut. Nur langsam fanden die Uhlensteiner wieder Worte, da ihnen ihr Hauptschatz an solchen gesperrt worden war.

Roland ging zum Kamin und sah dort eine verstaubte Laute am Gesims lehnen. Er nahm sie, setzte sich in ein Fenster und ließ prüfend seine Finger über die Saiten spielen. Er stimmte und griff ein paar Akkorde. Alle lauschten auf. Der Fürst kehrte sich herum und stützte den Arm auf die Sessellehne. Flämmchens Augen rollten verwundert hin und her.

Mit heller Stimme sang er das Lied von König Rungnirs Töchterlein, wie es ihn Ragnar in glücklichen Tagen gelehrt:

»König Rungnir sprach: »Mein Töchterlein,
macht dich so blaß der Lampenschein?

Wie flimmert dein Auge so fiebrig und groß,
wie blüht deines Mündleins Purpurros!

Das Becken nimm mit dem Schellenkranz,
sei munter, Töchterlein, sing' mir und tanz'.

Aufschwirrt ein fröhlicher Geigenstrich.
Müde, so müde hebt sie sich.

Die Arme hebt sie bleich wie der Schnee,
der Busen bebt ihr, der zarte, so weh.

Die Augen schließt sie. Lilienschwank,
dreht sie sich wie im Traume zum Klang. 94

Ihre Füßchen silberbeschuht,
schweben, als schwebten sie über Blut.

Im Antlitz zuckt ihr der Flammenglanz,
weiß bebt die Hand an den Schellenkranz.

Die Fiedel gleitet und hüpft und schwingt,
leis' von den zitternden Lippen es klingt:

        »Reitet ein Edelknab' in den Wald,
        lustig sein Horn durch die Gründe schallt.

        Klingt ein Bogen im Dickicht wo,
        Knabe, mein Knabe, was seufzest du so?

        Erblassend greift er ans Herz und fällt:
        Den Pfeil hat mir mein König bestellt!«

Die Geige schreit und die Schelle klingt,
wilder im Wirbel das Kleidchen schwingt.

        »Kommt ein Jäger gegangen im Grund,
        spürt und springt und winselt sein Hund.

        Findet den Knaben blutend im Moos,
        nimmt den Sterbenden sanft in den Schoß.

        Jäger, o Jäger, bring' ohne Weil',
        der Königstochter den blutigen Pfeil.

        Sag' ihr, o sag' ihr, daß ich sie grüß',
        gib ihr dies Kräutlein, heißt Schlummersüß.

        Macht Augen groß und Wangen bleich,
        ist ein Schlüßlein zu Hellas Reich.«

Gell schrillt die Fiedel, die Saite springt,
das Kleidchen wirbelt, die Schelle klingt.

Das Kleidchen wirbelt, die Schelle rast,
Aufblickt ihr Auge starr und verglast. 95

Unter dem Röcklein zum Tanze geschürzt,
brechen die Knie, das Becken stürzt.

Auf Purpur ruht sie wie Marmor bleich,
leis' geht die Tür in Hellas Reich.«

Tiefe Stille herrschte im Saal. Gelf fand die ersten Worte.

»Prächtig hast du gesungen, junger Troubadour!« rief er. »Du sollst uns mit deiner süßen Stimme manchen Winterabend verkürzen.«

»Das sollst du!« sprach der Fürst. »Du fliegst mir nicht mehr fort, Nachtigall!« setzte er leiser hinzu.

Schwebel leerte mit einem tiefen Zug die Kanne und setzte sie schallend hin.

»Ja, ja!« sagte er, indem er sich über die Glatze fuhr, mit einem so tiefen, erschütternden Seufzer, daß befreiendes Lachen um die ganze Runde scholl.

Jetzt sprang Flämmchen in die Höhe. Ihre Augen sprühten. Das Oberkleid abwerfend, ergriff sie ihr Tamburin und hüpfte mitten in den Saal. Roland trat neugierig vor. Sie hüpfte vor ihn hin, wiegte sich tief in den schlanken Hüften, sah ihm von unten blitzend ins Gesicht, hob die runden braunen Arme hoch, umkreiste ihn mit zierlichen Tanzschritten und pochte an das Tamburin, daß die Schellen rasselten. Und schwebend, mit Blicken, die unter den halbgeschlossenen Lidern hervorflimmerten wie irisierender Opal, begann sie:

»Flämmchen, Flämmchen bin ich genannt,
weiß nicht mein Haus und mein Heimatland,
komm als ein wirbelndes Blättchen gerannt,
hab' keine Eltern und Sippschaft gekannt.
            Was katzengleich schleicht
            und eulenweich streicht,
Dunkel durchfunkelt, sprüht, glüht und knistert,
ist mir verschwistert, verwoben, verwandt. 96

Flieg' wie ein Fünkchen irr durch die Welt,
treib' es und bleib', wo und wie's mir gefällt.
Tanz', lach' und klatsch' in die Hände froh,
liebe und hasse und brenn' immer loh.
            Duck' mich, umzuck' dich,
            streck' mich und leck' dich,
dräng' dich, verseng' dich, kos' um dich, glos' um dich,
neck' dich und weck' dich, schon brennst du wie Stroh.

Pechlocken hab' ich, ein Mündlein glutrot,
blitzende Zähnchen, ein Auge, das loht,
Brüstlein braun wie die Knospen im März,
Arme wie Schlänglein glatt, Beinchen wie Erz.
            Lang' mich und fang' mich,
            hasch' mich und nasch' mich,
sing' mit mir, spring' mit mir, schwing' mit mir, ring' mit mir,
bieg' mich, besieg' mich, hast du ein Herz!«

Und hochauf das Tamburin schleudernd, daß es klirrend im Saal niederfiel, sprang sie auf Roland, umschlang ihn mit den Armen und küßte ihn, als wollt' sie ihn tot küssen.

Der sträubte und wehrte sich, wurde blaß und rot, entwand sich ihr endlich mit Mühe und flüchtete ins Fenster zurück.

»Da habt ihr's!« rief sie mit triumphierend flammenden Augen und gellender Stimme. »Er fängt nicht Feuer! Ich sagt' es ja gleich: Es ist ein Mädchen! – O, du Verräter!« schrie sie auf und stürzte wie eine pfauchende Katze auf den Fürsten los. Hellauf lachten die Uhlensteiner.

»Prächtig!« rief Wulfhart aufspringend. »Ein Mädchen! Roland, das kannst du dir nicht bieten lassen. Zeig', daß du ein Mann bist! – Ei! Komm her, mein Röschen! Das also wäre das süße Geheimnis deiner Schamröte?« 97

Da duckte sich der geschmeidige Knabe wie ein Panther, sein Auge blitzte, und eh' es Wulfhart sich versah, sprang er ihm mit einem solchen Schwung an die Kehle, daß der breite Hüne, nach rückwärts taumelnd, das Gleichgewicht verlor und mit ein paar Sesseln, an denen er vergebens nach Halt angelte, krachend hinschlug. Wie ein federnder Ball war Roland wieder auf den Beinen und verschanzte sich hinter Schwebels Thron. Dunkelrot vor Grimm, erhob sich Wulfhart und rannte gleich einem wütenden Stier auf ihn los. Gelf, Harbart und noch andere sprangen in die Höhe und fielen ihm in die Arme. Schwebel streckte dem balgenden Knäuel zeternd die feisten Hände entgegen.

»Halt!« rief der Fürst mit Donnerstimme, »Roland hat seine Mannhaftigkeit klärlich erwiesen. Wulfhart, ich verbiete dir jegliche Rache!«

»Das war Katzentücke!« schnob Wulfhart, »und kein mannhaftes Ringen!«

»Das war Witz und Blitz, die schon manche Übermacht zu Fall brachten,« lachte Gelf, der dem gewalttätigen Wulfhart die beschämende Niederlage herzlich gönnte. »Anders hat David den Goliath auch nicht besiegt. In dem Burschen steckt nicht nur ein ganzer Mann, sondern ein Heerführer!«

»Wein her! Wein her!« schrie Schwebel. »Raufende Uhlensteiner muß man begießen wie raufende Hunde!« Und sich mühsam aus dem Sessel zerrend, nahm er einen vollen Krug und brachte ihn dem Erhitzten. Der beruhigte sich wirklich und trank. Nun erst ließen ihn die anderen los. Da trat Roland vor ihn hin und ihm die Hand bietend, sprach er: 98

»Verzeih, es war Notwehr, wenn du willst, stell' ich mich dir zum ehrlichen Ringkampf. Da wirst du schnell mit mir fertig sein.«

»Das ist männlich gesprochen,« erwiderte Wulfhart versöhnt und schüttelte ihm die Rechte. »Ich verzichte auf weiteren Streit und erkläre dich für einen wackeren Burschen.«

»Siehst du nun, Flämmchen,« rief der Fürst lachend, »daß er ein Junge ist, und sogar ein tüchtiger!«

Sie aber antwortete nichts und sah verwirrt zu Boden. Bald kehrte die alte Heiterkeit in die Uhlenrunde zurück. Roland sang noch einige Lieder und begab sich dann zur Ruhe. Die Junker griffen wieder zu den Würfelbechern.

Durch seinen Handstreich hatte Roland das Ansehen der Uhlensteiner erobert, das noch gewaltig stieg, als er ein paar Tage danach auf der Jagd einen schweren Gamsbock hinter sich herzerrend durch die tief verschneite Schlucht vom Gebirge niederstieg. Und seine Gewandtheit als Schütze und Weidmann bewies, daß er seine Erziehung nicht in der Spinnstube genossen hatte. Bald war er allen lieb und unentbehrlich geworden. Sein frisches, leuchtendes Wesen brachte einen ganzen Frühling auf den düsteren Uhlenstein. Wenn sein leichter Schritt, sein goldenes Lachen in den öden Gängen erklang, schien all das eulenhafte, uralte Grauen, das in den kahlen Gewölben wohnte, zu fliehen, und sonniges Behagen flog durch die winterlichen Räume. Wenn er in den Saal trat, verstummten alle lästerlichen und zuchtlosen Reden. Der Zauber der Reinheit, der Duft der Jugend, der seine schlanke Gestalt wie ein Morgenschein umgab, bezwang selbst diese sturm- und wettergebeizten, 99 eines rauhen Handwerks und derber Erholung von Kind auf gewohnten Männer, die in stetem Kampf mit einer wilden, gewalttätigen Natur liegend und die Jagd auf Hunnen als eine reizvolle Unterbrechung der Jagd auf Bären und Hirsche betrachtend, nichts ahnten von den zarten, lichten Blumen der Schönheit, die das Leben in stilleren, glücklicheren Sonnenlagen hervorbringt. So war es ihnen ein ganz neues, erstaunliches Vergnügen, Roland zur Harfe Lieder und Heldenmären singen zu hören, und ihre abenteuerlustigen Seelen berauschten sich an dem frischen Quell der Dichtung, den ihnen der kluge Knabe mit seinen schönen, lächelnden Lippen und klangzaubernden Händen erschloß. Jeden Abend mußte er ihnen vorsingen oder erzählen. Dann war es in der lärmfrohen Uhlenrunde still wie in einer strengen Klosterschule, ganz leise wurden die Kannen gehoben, zugeklappt und hingestellt, und wenn Schwebel, dessen Kupfernase um diese Zeit der Schnupfen zu dauerndem Winterquartier bezog, das feierliche Lauschen einmal mit einem fürchterlichen Nießen zerriß, trug ihm das unterm Tisch weg vermahnende Tritte auf die frostbeulengeschwellten Zehen ein. Als Roland seinen Vorrat an erlernten Geschichten erschöpft hatte, begann er frischweg neue zu erfinden. Da ging ihm denn manchmal die Phantasie im Reich der Abenteuer tüchtig durch, und wenn ihre Sprünge gar zu toll wurden, langte ihn Gelf schweigend beim Kragen und legte ihn über Schwebels breite Knie, wo er so lange verprügelt wurde, bis er hoch und teuer schwur, künftig nur mehr geschichtlich erwiesene Tatsachen aufzutischen.

Flämmchen ging für einige Zeit dem Knaben ganz aus 100 dem Weg. Ihr Wesen schien sonderbar verändert. Sie war scheu und still. Oft fand sie Roland in einer der tiefen Bogennischen stehen und verträumt hinausschauen. Wenn er dann zu ihr trat und sie anredete, waren nur ein paar verworrene Worte aus ihr herauszubringen. Seinen Liedern und Erzählungen aber lauschte sie mit hochgespannter Aufmerksamkeit. Das Köpfchen in die Hände gestützt, saß sie ihm dann reglos gegenüber und hing mit großen glühenden Blicken an seinem Munde, als schlürfe sie jeden Klang und jedes Wort, jede Bewegung seiner Lippen und Hände durstig in ihre heiße Seele. Ihr Tamburin lag seit dem Abend, da sie es um Roland zu ihrem wilden Tanzliedchen geschwungen hatte, auf dem Kaminsims, und der Staub ließ sich ungestört darauf nieder.

Bald gewann sie zwar ihre frühere Lebhaftigkeit wieder und übte an den Uhlensteinern ihre gewohnten Scherze oder erduldete sie von jenen. Allein, Roland gegenüber blieb ihr Benehmen schwankend zwischen Befangenheit und plötzlichen Ausbrüchen wilder Ausgelassenheit, und auch er selbst wußte nicht recht, wie er sich zu ihr verhalten solle. Bald behandelte sie ihn kühl, überlegen, spöttisch und fast wegwerfend, bald tollte sie mit ihm wie ein Kind. Wenn ihre Munterkeit ihn anzog und manchmal schmerzlich an Rotrauts harmlosere, lieblichere Kindlichkeit gemahnte, so machte ihm ein ihm Unbekanntes, Unheimliches im Wesen des frühgereiften Mädchens gleich wieder seltsam bange und hinderte, daß er eine rechte Gespielin an ihr gewann. Ihrer Tollheit im Fangenspielen und sonstigen kindischen Scherzen hielt seine eigene Gewandtheit und Keckheit leicht stand, 101 ihre unvermittelte und hitzig hervorbrechende Zärtlichkeit aber bereitete ihm oft großes Unbehagen.

Im ganzen fühlte er sich auf dem Uhlenstein von Tag zu Tag wohler. Daß ihn die Männer als vollwertigen Genossen behandelten, schmeichelte ihm, an Fürst Gunther besaß er einen überaus wohlwollenden, aufmerksamen Freund, der ihm bald wie ein älterer Bruder war, und die ganze freie, ritterliche Lebensweise mit ihren lockenden Aussichten auf Abenteuer ließ das Heimweh kaum in ihm aufkommen. Wenn er einmal in schlafloser, nächtlicher Stille an daheim und Rotraut dachte, so spann sich die aufsteigende Wehmut gleich in kühne, goldene Träume aus. Er sah sich als funkelnder Ritter die Geraubte in abenteuerlichen Kämpfen wieder gewinnen und dann im Glanz seiner Taten vor den Vater hintreten, er dachte an den hürnenen Siegfried, der auch seinen Eltern bei Nacht und Nebel davongegangen sei, um ein Held zu werden, und wenn sich das Gewissen stärker regte und ihm zu erwägen gab, ob er dem Fürsten nicht doch seine Herkunft gestehen und ihn bitten solle, dem Vater Botschaft zu schicken, daß er sich hier und wohl befinde, so riet ihm von solchem Vorhaben die Angst, daß er zurückgeholt und in die Klosterschule gesteckt werden könne, wieder ab. Und zu alledem mischte sich das steifsaure Gesicht der Prinzessin Lucretia noch als besondere Abschreckung in die Vorstellungen, die ihm jeden Gedanken an eine Rückkehr verleideten.

Mit voller Macht war nun der Winter in die stillen Täler um den Uhlenstein eingefallen. In funkelndem Frost starrten die tiefverschneiten Fichtenwälder und dicht überzuckerten Gipfelzacken der himmelhohen Felsgebirge 102 rings ins klare, strenge Stahlblau der Lüfte, oder große Flocken hüllten die Burg stundenlang in weißwirbelnde Schleier.

Einige Mitglieder der Tafelrunde begaben sich heim auf ihre Burgen zu Weib und Kind. Dafür war ein anderer von einer Ausfahrt zurückgekehrt, Eckbrecht mit Namen, ein hübscher Mann von sanftem, einnehmendem Wesen, mit blassem Gesicht und wohlgepflegtem, braunem Bart. Was ihm an Wildheit unter den Uhlensteinern abging, das ersetzte er reichlich durch stetige, stille Heiterkeit und leisen, treffenden Witz, den er besonders dadurch zum Ausdruck zu bringen wußte, daß er für jede Gelegenheit Sprichwörter oder Stellen aus lustigen Schwänken und Dichtungen bereit hatte, die er mit viel Liebenswürdigkeit in die Unterhaltung zu mischen und überaus fein vorzutragen verstand.

Mit Roland verband ihn bald eine herzliche Freundschaft, und schon wenn sie sich morgens auf dem Gang begegneten, begrüßten sie einander mit lustigen Zitaten. So eigenartig wendete sie Eckbrecht an, so köstlich war der Humor seines Mienenspieles und seiner leisen Betonung dabei, daß Roland sich oft gar nicht fassen konnte vor Lachen.

Eckbrecht trug viel dazu bei, daß er auf dem Uhlenstein bald ganz heimisch war.

Wulfhart, Gelf, Schwebel, Harbart und Hunold blieben. Dieser, eine taube, gutmütige Grauschnauze, bekleidete das Amt eines Burggrafen. Er hatte Weib und Kind durch Krankheit verloren, hauste in einem abgesonderten Bau der Burg und besuchte den Uhlenpfuhl nicht regelmäßig. Die übrigen waren sämtlich unbeweibt, und 103 wenn Harbart und Eckbrecht durch gute Sitten hervorragten, so ließen es sich Wulfhart, Schwebel und Gelf um so mehr angelegen sein, ihre scharfausgeprägten Persönlichkeiten allenthalben im Lande durch nicht ritterbürtige Ableger fortzupflanzen.

Übrigens hatten alle ein Amt zu verwalten, eine Würde am Fürstenhof zu wahren. So war Wulfhart der Marschall, Harbart der Rentmeister, Gelf der Jäger- und Falkenmeister, welchen Titel Schwebel in Gauner- und Schalkenmeister umgewandelt hatte, wofür jener sich rächte, indem er Schwebel, den Truchseß und Mundschenk, nicht anders als den Saufseß und Erbtrunkenbold nannte, der sein Amt ausschließlich dadurch betätigte, daß er sich immerzu selber eingösse.

Gelfs Niedertracht hatte überhaupt wieder einmal zu lange gerastet. Er fand, daß Schwebel dieses geruhsame Leben schlecht bekomme und sann im stillen auf einen Streich. Den willkommenen Anlaß dazu bot ihm, daß Schwebel sich beklagte, das Laufen auf der Jagd im hohen Schnee werde ihm schon zu beschwerlich, und er müsse sich um einen verläßlichen Gaul umsehen, der stark genug und geeignet sei, ihn ins Gebirg hinauf zu tragen. Nun fand Gelf auf einem seiner Ausflüge einen Esel, ein ganz störrisches, hintertückisches Tier, das sich der arme Bergbauer, der ihn besaß, gern um ein paar blanke Taler abkaufen ließ. Mit viel Zerren und Prügeln brachte Gelf den Langohr zur Burg, ritt dort unter großem Lärm ein und stellte ihn den zusammengelaufenen Uhlensteinern als Schwebels neues Schlacht- und Turnierroß vor. Schwebel selbst war des Handels gar nicht unzufrieden, da es doch, wie er sagte, im 104 Gebirge mehr auf die Sicherheit als auf die Schnelligkeit ankomme, und ein Esel auch nicht so vieler Rücksichten bedürfe wie ein Pferd.

Gleich für den nächsten Morgen wurde eine Ausfahrt beschlossen. In aller Früh schon zäumte und sattelte Gelf den edlen Renner eigenhändig, steckte ihm einen abgetanen Helmschmuck aus Pfauenfedern zwischen die langen Ohren und warf ihm als Schabracke einen Fetzen über, den Flämmchen und die Magd in Eile mit allerlei anzüglichen Emblemen und Zieraten benäht hatten. Höchst mißvergnügt stand der Grauhaar in seinem prunkvollen Aufputz vor dem Stalle, und die ganzen Burgbewohner hatten ihr helles Vergnügen an dem närrischen Einfall. Schwebel band Gelf ein paar riesige, verrostete Sporen aus der Rüstkammer an die Stiefel, und als er nun so kriegerisch durch den Hof klirrte, fand er seinen Aufzug noch nicht martialisch genug und knüpfte ihm, wie der Dicke sich auch sträuben mochte, eine vom Flämmchen schnell beschaffte grasgrüne Schärpe um den Bauch. So geschmückt, stieg Schwebel mit viel schwerfälliger Umständlichkeit, unterstützt von den Genossen, in den Sattel, ließ sich den Jagdspeer reichen und gab die Sporn. Der Esel beantwortete diese Aufforderung sogleich mit Ohrenzurücklegen und leichtem Heben der Hinterbeine, aber Gelf prügelte und Wulfhart zerrte ihn zum Tor hinaus.

Roland schritt lachend mit Eckbrecht hinterdrein, und dieser zitierte: »Man findet manchen Esel, der nie Säcke trug, aber,« setzte er hinzu, »dieser ist für meine Augen der erste, der ein Weinfaß trägt und noch dazu ein volles!«

Der Weg von der Burg herab war vereist, und der Ausritt ging nicht ohne Gefahr vor sich. Immerhin erreichte 105 das Tier, streckenweise auf den steifausgestreckten Beinen fortrutschend und sich fast auf den Schwanz setzend, mit seiner Last die Stelle, wo der Pfad das Wirtshaus zur Uhle passierte. Dort machte er Halt und war weder im guten, noch im bösen zu bewegen, auch nur einen Schritt weiterzutun.

»Seht!« rief Gelf, »er merkt schon, wo's hin soll, was er trägt,« und bemühte sich, den Eigensinnigen mit Püffen und Hieben vorzutreiben. Wulfhart zog vorne fluchend an, Schwebel spornierte mächtig, schnalzte mit der Zunge und schlug mit dem Speerschaft auf die Hinterbacken des Esels los, aber alles war umsonst. Im Gegenteil, er begann nach rück- und seitwärts zu marschieren und es für zweckmäßig zu befinden, seinen Reiter in eine dicht mit Schnee behangene Hecke vor dem Wirtshause zu drücken. Schwebel schrie, weil ihn die Dornen stachen, Wulfhart zerrte mit erneuerter Anstrengung, Gelf ließ einen Hagel von Schlägen herniedersausen, von denen ein großer Teil den breiten Rücken des Reiters traf und sein Geschrei vermehrte, wofür sich jener dann mit verstecktem Hohn entschuldigte. Schwebel fluchte und meinte, so könne es gar nicht gehen, sie sollten ihn in Ruhe lassen, er würde am besten allein fortkommen; Gelf zeterte dagegen und prügelte fort, Schwebel wehrte sich mit dem Schaft seines Spießes und hackte mit den Sporen in die Luft, und auf den entsetzlichen Lärm, den sie vollführten, lief das halbe Dorf zusammen und gaffte grinsend, was den erbosten Schwebel erst gar außer Rand und Band brachte.

Endlich schien die Unternehmung wieder in Gang zu kommen, aber Gelf hielt es für gut, den Esel durch einen 106 kräftigen Stich unter den Schwanz in seinem Drang nach vorwärts zu bestärken, was dieser mit einem zornigen Aufquieken und so heftigem Ausschlagen erwiderte, daß der dicke Schwebel hochgehoben wurde und an dem Pfauenwedel, der ihm sogleich in der Hand blieb, vergeblich Halt suchend, kopfüber in einen zusammengekehrten Schneehaufen stürzte, wo er bis auf das Bauchgehäuse und den gewaltigen Unterteil verschwand. Über diesen zog ihm Gelf, in wilder Schadenfreude aufjohlend, zu allem Übel noch einen tüchtigen Streich mit dem Stecken. Im Galopp flüchtete der Esel ins Dorf hinein, stürmische Heiterkeit bewegte die ganze Zuschauerschaft, schnaubend und puterrot arbeitete sich Schwebel aus dem Schneehaufen hervor, und den verlorenen Spieß aufraffend, stürzte er sich auf Gelf. Dieser wandte sich zur Flucht, aber Schwebel, rasend vor Grimm, stach ihm die Spitze des Speeres kräftig in den Hintern, daß er, ein wütendes Schmerzgeheul ausstoßend, rücklings einknickte wie eine morsche Bohnenstange. Schäumend kehrte er nun seinerseits den Speer gegen den Angreifer, und auf ein Haar wäre es zu einer ernsten Rauferei gekommen, wenn sich nicht die anderen dazwischen geworfen und die Erbosten getrennt hätten. Roland, nun schon erfahren in der Behandlung der Uhlensteiner, schlug vor, den Hader im nahen Wirtshause mit einigen Kannen zu beenden, was auch angenommen wurde. Gelf hinkte und blutete beträchtlich und behauptete, der Quacksalber müsse geholt werden, um ihn zu verbinden. Man schickte nach ihm und dieser, zugleich Barbier, Leichenbitter, Schweinschneider und Ungeziefervertilger des Dorfes, kam bald mit einem großen Kasten voll wundertätiger Ingredienzien 107 angelaufen. Zum grenzenlosen Gaudium aller Anwesenden, unter denen sich auch die hübsche Wirtstochter mit Wasser und Tüchern befand, wurde Gelf bäuchlings über einen langen Tisch gezogen und seiner Sitzhülle entblößt, worauf der Bader die Wunde wusch und verpflasterte. Ein allgemeiner Umtrunk bekräftigte dann den geschlossenen Frieden, aber Gelf mußte stehen oder konnte nur einseitig die Stuhlkante besetzen, was immer neuen Anlaß zur Heiterkeit gab. Er verlangte schließlich, Schwebel müsse als Entschädigung für die ganze Zeit, in der er nicht bequem ruhen könne, auf eine halbe Maß für den Tag gesetzt werden, welche Zumutung bei diesem erregten Widerspruch hervorrief. Bei bester Laune begaben sie sich schließlich nach der Burg zurück.

Der Esel aber, den ein paar Jungens wieder eingefangen und zurückgebracht hatten, wurde bald darauf mit Schaden an einen durchreisenden Messerschleifer als Karrentier losgeschlagen.

Das strenge, kühne Leben und die ritterlichen Übungen, wie Rossetummeln, Speerewerfen, Bogenschießen und Wettlaufen, die Roland, trotz des scharfen Frostes leicht gekleidet, mit dem Fürsten auf einem ebenen Platz im Freien fast täglich unternahm, stählten seinen Körper. Seine Glieder streckten sich und verloren ihre knabenhafte Weichheit, sein Schritt wurde weiter und fester, eine herbe, junge Männlichkeit kam in seine Züge, und in den Augen lag ihm, wenn sie zur Ferne träumten, ein tiefer, dunkelklarer Schein, den sie früher nicht gekannt hatten. Von Woche zu Woche schien er zu wachsen, und wenn es ihm selber auch und den andern entging, Flämmchen hatte einen Blick dafür. 108

Manchmal mußte er sich mit dem Rücken gegen sie stellen, und Gelf maß sie dann mit einem Stabe. Und einmal fand es sich, daß er ihr wirklich schon um einen Finger über den Kopf gewachsen war, was dem Mädchen eine sonderbar närrische Freude machte. Sie umtanzte ihn und klatschte in die Hände und rief lachend, daß sie nun bald auf einen Schemel werde steigen müssen, wenn sie ihn küssen wolle.

Er war nun endlich vertrauter mit ihr geworden. Oft saßen sie plaudernd zusammen im Fenster. Er lehrte ihr die Laute spielen. Sie traf es bald und sang dann mit eigentümlich schwebender Stimme zu monotonen, wehmütigen Melodien fremdartige Lieder, wobei sie es nicht an lebhaft erklärendem Mienenspiel fehlen ließ.

Im Februar kamen stille, graue Tage, die oft an den November erinnerten. Aber es war wie eine große Erwartung in der weiten Runde zu fühlen. Es hatte lange nicht mehr geschneit, schwarz und feucht starrten die kahlen Bäume in die weiche, trübe Luft hinauf, und der Schnee hatte allenthalben blaue Schatten, wie ein Schwindsüchtiger. Dann kam er plötzlich wieder in frischen Flocken angewirbelt, dann brach die Sonne durch und ließ ihn zur Freude des lärmenden Spatzenvolkes munter von den Giebeln tropfen.

Einmal nach einem dumpfen Tage, an dem der grauliche Himmel so niedrig über die Berge gespannt war, daß sie sich vor ihm zu ducken schienen, gab es ganz unvermutet ein prachtvolles Abendrot. Die Wolkendecke zerriß in kleine, flaumige Flocken, die sich am durchbrechenden Strahl der früh sinkenden Sonne im Flug entzündeten und dann in hellen Gluten, deren 109 Widerschein wunderbar auf den klaren, zum Greifen nahen Schneegipfeln lag, still verzehrten. Feuchtstrahlend traten die Sterne hervor und der halbe Mond schwamm rein im durchsichtigen, silberigen Blau. Aber im Westen und Süden erhoben sich neue, schimmernde Wolkenmassen eilig über die Gebirge.

In der Nacht darauf wurde Roland durch ein Rütteln an den Fenstern geweckt. Er schlief schon längst nicht mehr in der Kammer neben dem Schlafgemach des Fürsten. Dieser hatte ihm eine geräumige Stube an der Südseite des Hauses angewiesen.

Verwundert sah er auf und horchte.

Ein heftiger Sturm fuhr an die Scheiben, die im wechselnden Mondlicht flimmerten, von den offenen Bogengängen des Ganges her hörte er es pfeifen, heulen und sausen.

Rasch erhob er sich, und als er die Riegel des Fensters zurückschob, flog es klirrend auf, und mit wildem Ungestüm brach ein Strom lauer, weicher Luft herein, wühlte ihm in den Locken, füllte wehend das ganze Gemach und stieß an die Tür, als wollte er da hinaus in den Hof. Draußen flog der Mondschein durch die jagenden Wolken, hell leuchteten die Schneeberge auf und verdunkelten sich wieder, ein dumpfes Donnern drang von den blauschwarzen Wäldern herüber und umbrauste das ganze Tal wie eine ferne Brandung. Roland nahm einen Mantel und trat, die Tür mit Mühe gegen den Zug aufstemmend, in den Gang hinaus. Hui, da pfiff und schnob und johlte es von den Giebeln herab, und klirrend polterten losgerissene Dachziegel in den Hof hinein, wo sie zersplitternd aufschlugen. Zwei Katzen jagten sich 110 mit Gepfauch auf der Umwehrung des Turmes und vollführten eine jämmerliche Musik.

Da glaubte Roland im aufleuchtenden Monde unter den gegenüberliegenden Bogen einen langen Schatten und dann eine Gestalt an einer Säule zu erblicken. Erst erschrak er. Dann ging er spähend auf die Stelle los. Die Gestalt kam ihm schnell entgegen. Es war Flämmchen. Sie hatte eine Decke lässig um den halbentblößten Körper geschlungen, offen hing ihr Haar über die braunen Schultern herab, ihre Augen leuchteten weit geöffnet.

»Das ist der Föhn!« flüsterte sie hastig. »Hörst du, wie er jauchzt, wie er tönt und klingt! Ich hab's schon gestern abend gespürt, daß er kommen würde, und hab' bis jetzt noch kein Auge zugetan.«

»Wie wohlig wühlt sein Wehen! Jetzt kommt der Frühling,« fuhr sie fort, indem sie Roland funkelnd in die Augen sah und seinen Arm ergriff. »Du! hörst du, der Frühling!«

Und plötzlich umschlang sie den Knaben. Die Hülle glitt zu Boden. Ihr weiches Haar umflatterte sein Gesicht, er fühlte ihre Lippen brennend auf den seinen, ihre runde Brust erregt atmend an seiner. Voll Leidenschaft schmiegte und drang sich ihre schlanke, warme Gestalt an ihn, ein fremder Schauer überrieselte ihn, er entwand sich ihren Armen, lief in sein Gemach und versperrte die Tür.

Halbwach, in wirren Träumen wälzte er sich den Rest der Nacht auf seinem Lager. Seine Lippen glühten wie im Fieber, ein ganz neues Gefühl dehnte verlangend seine Brust, er umschlang die Kissen und wühlte sein 111 Gesicht hinein, und immerfort sang und lockte der Föhn in seinen zuckenden Schlummer.

Noch war es nicht Tag, als er aufwachte. Er sprang zum offenen Fenster hin und schlürfte, weit hinausgebogen, in tiefen Zügen die weiche Lenzluft ein. Dunkelscharf standen die hohen Gipfelzüge gegen den Morgenschein, der hinter ihnen wie ein aufsteigender Brand prachtvoll emporglomm und das windverwühlte, treibende Gewölk violett und goldrot färbte. Der Sturm rastete zuweilen, wie um Atem zu holen. Dann schwoll er wieder mit neuer Kraft heran, harfte in den Wäldern und umschnob wirbelnd die alte Burg, als wollt' er sie davontragen. Und wenn er vorbeigetobt war und das Tal fernhin verbrausend hinablief, schien ihm das ganze Himmelsgewölb wunderbar nachzutönen. Wie ein großes Ahnen lag es in der Luft. Träumend sah Roland hinaus, bis die Sonne aufging und ihre Schimmer wolkenverweht die Gegend überflogen, die sich über Nacht seltsam verändert hatte. Im Tal und von den tieferen Abhängen war der Schnee bis auf einzelne Streifen und Flecken weggeschmolzen, viele Bächlein sprangen blitzend von den Bergen herab und unten durch die bräunlichen Wiesen und Auen, deren goldgelbes Weidenhaar im Winde wehte, rollte der Fluß voll bis zum Rand seine schimmernden Gewässer.

Als Roland den Saal betrat, fand er Flämmchen auf der Bank im offenen Fenster sitzen. Die Hände ums übergeschlagene Knie gefaltet – lehnte sie träumend im weißen Bogen, ließ die laue Luft in ihrem Haar wühlen und sah frei über die schwindelnde Tiefe weg in die helle Ferne. Ihr Gesicht hatte einen müden, 112 sanften Ausdruck, unter halbgeschlossenen Lidern lächelte sie den Knaben seltsam an. Nie war sie ihm so schön vorgekommen. Er setzte sich auf eine Truhe ihr gegenüber in die sonnige Nische.

»Ein wundervolles Wetter, mein Lieblingswetter!« sagte sie und dehnte vor Wonne die geschmeidigen Glieder, daß sie das Gleichgewicht verlor und rasch nach dem Gesims greifen mußte, um nicht in die Tiefe zu stürzen.

»Um Gottes willen! fall' nicht hinunter!« rief Roland, erschrocken auffahrend, und streckte die Hand nach ihr aus.

Sie lachte.

»Das könnte dir ja ganz gleichgültig sein!« versetzte sie mit spöttischem Lächeln auf ihn niederblickend. »Oder läge dir was an mir?« fügte sie hinzu und sah ihm forschend in die Augen. Roland sah zu Boden, und seine Lippen zitterten.

Sie wiegte sich in den Hüften und sang leise, indem sie bald auf ihn, bald hinaus in die Ferne schaute:

»Der Wind, der weiche, klingende Wind,
wo kommt der wohl her?
Wie ein Knabenschmeicheln so wild und lind,
so keck und kosend ist er.

Meeresatem und Myrtenduft
wohnen in seinem Hauch,
und Glocken, versonnene Glocken auch,
von weißen Türmen in rosiger Luft.

Flötenton, Geigenstrich,
Tanzschritt weht er mit sich,
und Wohlgeruch, der verwirrt, verführt,
als hätt' er runde, schimmernde Schultern berührt. 113

Die Hügel schwellen so warm und braun
hervor aus dem sinkenden Winterkleid,
und hinter ihnen ist's klar, als müßt' man da weit,
weit hinunter ins Land der Wunder schau'n.

Und leuchtende Wolken fliegen geschwind
in den lauen, blauen, klingenden Höhn.
O Wanderwind, Wonnewind,
lockender Föhn!«

»Weißt du,« begann sie zu erzählen, »als ich noch ein kleines Mädchen war, bedeutete der Föhn für mich immer eine Erlösung aus großer Not und Bedrängnis. Der Vater . . .«

»Aber ich glaubte, du hättest deine Eltern gar nicht gekannt?« fiel Roland ein.

»Ach, es waren ja auch gar nicht meine Eltern!« fuhr sie fort, »ich nannte sie nur so. Ich war ihnen zugelaufen, oder sie hatten mich irgendwo aufgelesen oder gar gestohlen. Ich weiß es nicht. Der Mann war ein greulicher, vertrunkener Kerl. Zerlumpte und geflickte Herrngewandung trug er und einen verschossenen Jägerhut mit lustiger Feder. Sein Haar war schwarz und wirr, stechende gelbe Augen hatte er und überhaupt was Unheimliches in seinem verkommenen Wesen. Sein Weib, ein schlampiges, welkes, keifendes Frauenzimmer, wußte auch den Schnaps zu schätzen. Mit einem Karren zogen sie durch die Welt, eine Schar halbnackter Kinder hinter ihnen her. Im Winter hockten wir im Dorf in einer dumpfen, elenden Hütte mit noch einer Sippe beisammen, wohl anderthalb Dutzend Leute. Greulich war das! Die Alten zankten und prügelten sich, die Jungen schrien, balgten oder lausten einander. Oft 114 gab es tagelang nichts zu essen. Und wenn das gestohlene Holz aus war, saßen wir in einem Winkel aufeinander gekauert, um nicht zu erfrieren. Wie aber der Föhn kam und der Schnee vom zerfaulten Strohdach tropfte, zogen wir jubelnd aus. Der Hund wurde vor den Karren gespannt, der Alte, den Hut im Genick, schritt lustig pfeifend voran, wir junges Volk teils auf dem Karren, teils um ihn herum, hinten das Weib mit dem Jüngsten huckepack auf dem Rücken. Wo es uns gefiel, lagerten wir, am liebsten an Flußufern unter Brückenbogen. Da wurde ein Feuer angezündet, und rings hingen die bunten Fetzen zum Trocknen. Uns schickten die Alten in die Dörfer und Gehöfte betteln, und während wir vorn mit unserm Gejammer das Mitleid der Leute rührten, stahlen sie hinten, was sie kriegten: Hühner, Eier, Werkzeuge, Speisen, Hunde – ja Hunde; die wurden dann geschlachtet und gebraten – pfui! – Das war ein Feierschmaus für sie! Oder die Alten zogen von Haus zu Haus, schliffen Messer und Scheren, flickten alte Töpfe, und der Vater spielte wohl auch in den Wirtshäusern mit einer verstimmten Geige auf und sang Lieder dazu. Wir pflückten indes Blumen, nahmen Krähen- und Elsternester aus und verkauften die Jungen, nachdem wir ihnen die Flügel gestutzt hatten, und immer, wenn's irgend anging, wurde was dabei gemaust. Als ich größer wurde, nahm der Alte mich gern mit, wenn er aufspielte. Ich wurde dann mit farbigem Lappenwerk geschmückt, mußte singen und tanzen, und die Burschen nahmen mich auf die Knie, gaben mir Wein zu trinken und trieben allerlei Unfug mit mir. Und wenn ich mich zierte, schlug mich der Alte nachher. Das 115 wurde nur schlimmer, je größer und hübscher ich wurde und je mehr Geld ihm mein Tanzen brachte. Und einmal wurde es mir zu toll. Da lief ich fort und kam hierher, und . . . .«

Sie stockte und sah verloren hinaus.

»Nun bin ich schon über ein Jahr hier,« fuhr sie fort. »Es geht mir gut. Ich könnt's mir nicht besser wünschen. Aber wer weiß, wie lang's dauern wird? Ein langes Glück vertrag' ich nicht. Mich verlangt schon wieder nach Neuem,« seufzte sie und sah Roland lächelnd an.

Nachmittags saßen sie zusammen im Zwingergarten auf der Mauerbrüstung und spähten nach den hohen, glänzenden Schneedächern der Gebirge hinauf, in denen sich stellenweise, knapp unter den Graten, klaffende Risse zeigten. Ab und zu scholl ein dumpfes, fernes Donnern zu Tal, und wenn man wieder hinsah, erblickte man die schmutzigbraune Bahn der gestürzten Lawine. Der laue Wind hauchte nur mehr leise in den Gesträuchen, die glänzend braune, zum Aufspringen geschwellte Knospen trugen; warm lag die Sonne über dem weiten Tal, das von den vielen ausgetretenen Gewässern schimmerte, die Spatzen schimpften oben auf den Schloßgiebeln, schwirrten in lärmendem Schwarm ins Dorf hinab und, wenn sie dort vertrieben wurden, wieder zurück; hoch vom Wipfel einer einsamen Tanne am Burgfelsen schlug eine Amsel.

»Sieh,« sprach Flämmchen, auf einen jungen Pfirsichbaum an der Schloßmauer deutend, »wie rosig schon die Zweige schimmern. Bald werden sie sich ganz in süße Blüten hüllen. Ich liebe die Pfirsichblüten. Sie sind wie zartes, duftiges Morgengewölk, und es tut mir 116 ordentlich im tiefsten Herzen weh, wenn ich sehen muß, daß sie ein später Schnee befällt und wie sie frierend in den frostigen Lenzstürmen zittern, was ihnen so oft widerfährt. So tapfer sind sie und stecken mutig des Frühlings rosiges Banner aus, wenn noch kein anderer Baum zu blühen wagt.«

Roland hatte Flämmchen zu mittag einen Strauß frischer Schneerosen aus dem Walde gebracht. Sie war sanft und überaus zärtlich mit ihm, streichelte ihm die seidigen Locken, legte ihren runden braunen Arm um seine Schultern und zwitscherte allerlei vergnügtes Zeug durcheinander. Es war ihm wohl bei ihr. Er hielt ihre Hand und litt es gar gerne, daß sie ihn küßte.

Die Laute hatte er mitgenommen. Flämmchen nahm sie, und ein paar Akkorde greifend, sagte sie: »Paß auf. Jetzt will ich dir ein feines Lied singen. Der alte Vagabund sang es gerne, wenn er irgendwo zechende Junker traf. Auch ich hab's ihnen vorsingen müssen. Vor biederen Leuten sangen wir fromme Lieder. Dazu machte der Gauner ein paar Augen, als könnt' er nichts anderes als Beten und Fasten. Mit diesem Lied aber vom alten König Marko und vom jungen Ritter Mirko hat er sich in lustiger Gesellschaft manchen blanken Taler verdient. Höre:

König Marko strich die Silbersträhne
seines langen, langen Bartes sinnend,
und er sprach: »Mein Reich hat keinen Erben,
und ich fürcht, ich muß noch einmal freien.«
Müde ließ er seine matten Blicke
durch die Reihn der Rät' und Ritter schweifen,
und er sprach zum jungen Ritter Mirko,
Mirko mit der kecken Falkenfeder 117
auf der Mütz' aus braunen Marderfellen,
»Mirko,« sprach er, »nimm dir sechsunddreißig
Ritter, nimm dir hundertfünfzig Knechte
und der stärksten Rosse hundertfünfzig.
Die belad' mit Kisten ganz voll Golde,
Gold in Spangen, Ketten, Ringen, Bechern
und auch Gold in roten, runden Münzen.
Ferner nimm dir Reihen mondscheinheller
Perlen, groß und gleich wie Haselnüsse,
Diamanten nimm, Rubin', Saphire,
nimm Smaragd', Granaten und Türkise
und Opale regenbogenschillernd.
Seidenstoffe nimm dir, golddurchwirkte,
Stoffe, die in bunten Wechselscheinen
glänzen wie die Flügel großer Falter
Und wie Federn an den Pfauenhälsen.
Endlich nimm der schönsten Mädchen zwölfe,
Mädchen weiß als wie die Marmorbilder
in den Laubengängen meiner Gärten,
Mädchen schlank als wie die Bronzenajaden
auf dem Brunnen vor des Schlosses Treppe.
Dies alles nimm und zeuch von dannen,
zeuch zu König Witold, laß ihn grüßen
und erfrei mir seine Tochter Wanda.«

Mirko zog die Mütze mit der Feder,
bog ein Knie, und lächelnd sprach er: »König,
wie du es befiehlst, gescheh' es schleunig.«
Und er nahm die sechsunddreißig Ritter,
hundertfünfzig Knecht' und schweren Rosse.
Die belud er mit den schweren Truhen
voll von Gold in Ringen, Ketten, Münzen,
voll von Perlenkränzen, Funkelsteinen,
voll von knisterweichen Seidenstoffen,
und der schönsten Mädchen nahm er zwölfe.
Also zog er hin zu König Witold,
sieben Tage zog er, sieben Nächte
ohne Rast schier fort in einem Zuge. 118

König Witold saß auf seinem Throne,
ihm zur Seite die Prinzessin Wanda,
Wanda mit den schweren braunen Flechten
überm schlanken, schwanken Liliennacken,
Wanda mit den weißen, runden Schultern
und den weißen, ambraduftigen Armen.
Seidenglanz umschmiegte schmeichelnd ihre
schmalen Hüften, und am Busen stak ihr
eine große dunkelrote Rose.
Lächelnd ließ sie unter halbgeschloss'nen
Lidern, unter langen Schleierwimpern,
ihre dunkeln Funkelblicke flimmernd
über Mirko und die sechsunddreißig
jungen, schönen, starken Ritter schweifen.

Mirko zog die Mütze mit der Feder,
bog ein Knie, und lächelnd sprach er: »König,
Euer Nachbar und durchlauchtiger Vetter,
mein großmächtiger Gebieter, König
Marko sendet hohe Grüße, und er
bittet Euch zum Wohle beider Reiche
um die weiße Hand Prinzessin Wandas.«

Da sprach König Witold: »Ich erwidre
hocherfreut die königlichen Grüße.
Hocherfreut der königlichen Werbung,
leg' ich meiner Tochter Hand in seine.«

Aber Wanda kräuselte die vollen
roten Lippen, und mit Zornesblicken
sprach sie spöttisch: »König Marko mit dem
Silberbarte, mit den siebzig Jahren?
Vater hört, ich danke!« sprach sie böse.
Mirko lächelte und ließ die Truhen,
hundertfünfzig schwerbeladnen Truhen
bringen, breitete die Funkelschätze,
breitete die knisterweichen Seiden,
und die schönen, schlanken Mädchen ließ er 119
ihre schlanken marmorglatten Glieder
zur Musik in leichtem Tanze drehen.
»Siehst du, Tochter!« sprach da König Witold,
»alles dieses reicht dir König Markos
edle Hand, und tausendmal so viele
Schätze kannst du noch mit ihr ergreifen.«
Aber Wanda wandte sich verächtlich,
sah hinab auf ihre rote Rose
und zerwühlte sie mit schlanken Fingern.

»Tochter,« flüsterte da König Witold
lächelnd, und sein hohes Auge blitzte.
»Wähle zwischen Marko und dem Kloster.«
Da erblaßten ihre zarten Wangen,
wie der Schnee erblaßt auf hohen Gipfeln,
wenn die rote Abendsonne schwindet.
Sich erhebend, sprach sie. »Lieber Vater,
laßt bis morgen Zeit mir zu bedenken.«

Mirko hörte es und neigt' sich lächelnd.

Abends ließ der König tausend Lichter
in den goldnen Spiegelsälen leuchten,
ließ Musik zu lustigem Tanze spielen
und den goldnen Wein in Strömen laufen.
Mirko tanzte mit Prinzessin Wanda,
Mirko tanzte wie der Fiedelbogen
hüpft und schwingt und schleift auf süßen Saiten.
Die Prinzessin ließ sich von ihm schwingen,
ihre Schleierwimpern schlug sie nieder
und ihr Goldschuh flog auf glattem Boden.

»Ritter,« sprach sie, »sagt mir, Euer König,
ist er schön und stark wie greise Götter?«

Mirko lächelte und sprach: »Der König,
der ist greis wie greise, greise Menschen,
ist gebeugt, und seine Kniee wanken.« 120

Also sprach er lächelnd, und er faßte
die Prinzessin fester um die Hüften,
schneller schwang er sie im Takt der Geigen,
und sie schauderte und ließ sich schwingen.

»Ritter,« sprach sie, »sagt mir, Euer König,
ist er weis' und würdig wie Propheten?«

Mirko lächelte und sprach: »Der König,
der ist töricht wie die alten Leute,
taub ist er, und mit den matten Augen
sieht er kaum vier Schritt weit in die Runde.«

Also sprach er lächelnd, und er hob die
schlanke Hand an ihrem goldnen Gürtel,
weicher wiegt' er sie im Takt der Geigen,
und sie schauderte und ließ sich wiegen.

»Ritter,« sprach sie, »sagt mir, Euer König,
ist er mild und gütig wie ein Vater?«

Mirko lächelte und sprach: »Der König,
der ist mürrisch, grämlich, müd' und wortkarg.
Auf dem Throne schläft er, und im Rate
schläft er stundenlang und nickt und keiner
der wohlweisen, hochgelahrten Räte
wagt, den König, König aufzuwecken.«

Also sprach er lächelnd, und er preßte
an die Brust sich ihre weißen Brüste,
und sie hob die langen Schleierwimpern,
und ihr Auge funkelte in seinem,
und der Atem ihrer Lippen glühte,
glühte schwül im heißen Hauch der seinen.

Die Musik verstummte, und zum König
Witold lachend lief Prinzessin Wanda.
Lachend sprach sie: »Vater, lieber Vater,
ja, ich nehm' ihn, nehm' den König Marko.« 121

Lachend, gleich des andern Tages zog sie
mit den sechsunddreißig schmucken Rittern,
mit den schönen, schlanken Dienerinnen,
mit den vielen, vielen goldnen Schätzen
und dem schönen, jungen, kecken Mirko
zog sie lachend hin, Prinzessin Wanda.

Vierzehn Tage, vierzehn Nächte zogen
sie dahin und ruhten oft und lange.

König Marko setzte sich die Krone,
schwere Krone auf den Silberscheitel,
ließ sich mit dem breiten Reichsschwert gürten,
sich den Purpur um die Schulter hängen,
und der Erzabt des Agathenklosters
legte seine perlgestickte Stola,
legte sie um seine zittrig welke
und um Wandas weiße, heiße Hand.

Und Herr Mirko stand mit vielen Edlen
seitwärts im geschmückten Kirchenchore.
Einen Rock aus himmelblauem Samte
trug er, weiß mit Seide ausgeschlagen,
rote Stiefel trug er, goldbefranste,
goldne Sporen dran, die leise klirrten,
und den edelsteinbesetzten Säbel
an dem Goldband um die schlanken Hüften.
Auf die Mütze mit der kecken Feder,
die er in den schmalen, weißen Händen
lässig drehte, sah er träumend nieder,
und sein braunes Sperberauge lachte.«

Lachend sprang sie auf, als sie geendet hatte, und warf die Laute ins Gras, daß sie dumpf erklang.

»Nun, wie gefällt dir das Liedchen?« fragte sie, nahm Roland beim Kinn und bei den Locken, bog ihm den Kopf zurück und sah ihm funkelnd in die Augen. Und sie drückte ihm einen langen, heißen Kuß auf die Lippen, 122 daß sich ihm alles rings im Kreise zu drehen begann. Dann ließ sie ihn los und sprang die Steintreppe zur Pforte empor. Er taumelte und sah mit glühenden Blicken ihrer schlanken Gestalt nach, wie sie in der Tür verschwand. Einmal noch kehrte sie sich um und blickte lächelnd auf ihn zurück.

Es kamen wieder graue, unwirsche Tage, an denen es schneite und regnete durcheinander. Aber die Sonne brach immer wieder als goldene Siegerin durch, und rasch und üppig blühte der Bergfrühling auf. Unter den Tannen, wo noch der Schnee zusammengeschmolzen im Schatten lag, öffneten Tausende von Christrosen ihre weißen Kelche, die Läufe der munteren Bäche waren umsäumt vom glänzenden Gold der Butterblumen, und weithin schimmerten die Wiesen im Tal von dichtgedrängten Scharen jungfräulicher, zartgeneigter Schneeglöckchen.

Die Uhlensteiner waren selten zu Hause. Der Fürst und Wulfhart stiegen in den Wäldern herum und suchten die Balzplätze der Auerhähne. Gelf schweifte, leise vor sich hinpfeifend, mit Gaunermiene unstet umher und hatte allerlei geheimnisvolle Fahrten; Schwebel begleitete ihn manchmal, und wenn er allein zu Hause blieb, fand er das Wetter unerträglich durstig und trank den ganzen Tag. Eckbrecht, den einzig Verläßlichen, hatte der Fürst ausgeschickt, um an den Grenzen nach dem Rechten zu sehen, denn man fürchtete, daß die gelben Nachbarn mit der vorrückenden Jahreszeit unternehmungslustig würden.

Roland begleitete den Fürsten oft. Oft aber ließ er sich auch von Flämmchen bereden, bei ihr zu bleiben 123 und mit ihr in den nahegelegenen Wäldern zu streifen. Sie wußte es auch im Haus immer geschickt einzurichten, daß sie sich ungestört trafen. Und wenn ihre Wildheiten ihn früher erschreckt und befremdet hatten, so fand er jetzt viel Reiz daran, und ihre weichen Lippen wurden ihm von Tag zu Tag süßer. Zwar konnte er ein dunkles Gefühl des Unrechts nicht loswerden, und wenn es ihn peinigte, entlief er ihr, folgte dem Fürsten auf seinen Gängen im Revier oder zog auch auf eigene Faust im Gebirg umher.

Wenn er dann oben irgendwo saß und träumte, war es immer wieder Flämmchen, Flämmchen lachend, lockend und küssend, die ihm im Sinn lag, bis er aufsprang und hinabeilte und wieder ihr zu Füßen saß. Und sie ließ alle Zauber spielen, um ihn zu fesseln und zu reizen.

Wenn sie allein waren, zog sie ihn auf ihren Schoß und tat ihm schön. Dann wieder war sie kühl und abweisend und hatte eine wilde Freude an seinem unglücklichen Gesicht. Manchmal wollte es ihm zu bunt werden. Mahnend regte sich sein Gewissen. Er dachte an Rotraut und beschloß, seine Suche nach ihr fortzusetzen. Einmal kam er sogar dem Fürsten mit diesem Plan. Der redete ihm gütig ab. In ein paar Wochen müßte er selbst nach Süden ziehen, da wolle er ihn mitnehmen, und sie würden zusammen forschen. Flämmchen hatte sein Vorhaben erlauscht und geriet in heftige Erregung darüber. Allein mit ihm, machte sie ihm bittere Vorwürfe, weinte, umschlang ihn, biß ihm die Lippen blutig und schmeichelte ihm wieder so schön, daß er sich ganz in ihrer Gewalt befand. Immer schwüler und 124 wirrer wurde es ihm im Kopf, wilde Traumbilder umgaukelten ihn, ungekannte Gelüste machten sein Innerstes erbeben, und der frühe, warme Lenz nahm ihm alle Besinnung.

Eines wundervollen, blauen, lauen Morgens Ende März forderte sie ihn auf, mit ihr spazieren zu gehen und eine Höhe zu ersteigen, von der aus ein schöner Blick übers Tal sei. Sie war den Tag besonders munter und ausgelassen, sprang vor ihm her durchs Gras, bekränzte sich und ihn mit Blumen und trieb allerlei verführerische Spiele. Oberhalb des Waldes kamen sie auf eine Wiese, die voll weißer Anemonen und goldenem Krokus stand. Sie waren eilig den Berg hinaufgelaufen, die junge Frühlingssonne brannte schwül, Flämmchens Gesicht glühte; sie warf das Tuch ab, das sie überkreuzt um die Schulter trug, und dehnte sich aufatmend in dem dünnen, zierlich gestickten Unterkleid. Sie rasteten. Flämmchen zog den Knaben an sich, liebkoste ihn und flüsterte ihm wilde Dinge ins Ohr. Erregt umschlang er sie und küßte sie auf Augen, Mund, Hals, Arme. Lachend dehnte sie sich vor ihm in den Blumen, schloß die Augen, als wolle sie schlafen, schlug sie wieder auf, sah ihn lockend an und wandte sich hin und her. Da befiel ihn plötzlich wieder jenes sonderbare Grauen. »Komm,« sprach er, hastig aufspringend, »wir wollen zu den Felsen hinauf.« Eine Blume zwischen den roten Lippen haltend, blieb sie sitzen und sah ihn enttäuscht an. Er aber lief voraus. Zögernd stand sie auf und folgte ihm.

Unter den Felswänden neigte sich eine breite, noch mit hohem, weichem Schnee bedeckte Fläche über einen 125 schwindligen Abgrund. Erst in den letzten Tagen mochte die steigende Sonne in diesen Bergwinkel gedrungen sein. Roland wollte an ihr vorbei und seitwärts in die Felsen klettern, wo ein gefahrloser Pfad zur Höhe führte.

Als Flämmchen den glänzenden Schnee sah, blitzten ihre Augen auf.

»O, da möcht' ich mich wälzen!« rief sie aus, »wie kühl und köstlich müßte das sein.«

»Gib acht!« warnte sie Roland, »der Schnee hängt über und könnte durchbrechen.«

Aber schon sprang sie hin, zog ihre Sandalen aus und hüpfte barfuß in der weißen, knirschenden Decke herum. Und plötzlich lachte sie laut auf, löste hastig ihren Gürtel, streifte blitzschnell die Kleider ab und stand, wie aus heller Bronze gegossen, im vollen Sonnenglanz auf der blendenden Fläche. Und die Arme hebend, begann sie jauchzend hin und her zu tanzen und sah mit funkelnden Blicken auf Roland hinüber.

»Flämmchen, Flämmchen!« rief der mit bebender Stimme, »was tust du!«

In diesem Augenblick ließ sich ein Knirschen und Rutschen hören, Flämmchen stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte mit der windschnell abgleitenden Schneedecke in die Tiefe. Geröll polterte nach, dumpf schlugen die Massen unten auf, und weithin scholl rollendes Dröhnen im Geklüft.

Wie aus einem Traum fuhr Roland auf. Er sah den Streifen glatten, dürren Berggrases an der abgerutschten Stelle, er sah Flämmchens Gürtel daneben auf dem Schnee liegen. 126

»Flämmchen, Flämmchen!« kam es in flehendem Entsetzen von seinen leichenblassen, verzerrten Lippen.

Tiefe Stille umher.

Da sprang er aufschluchzend den Hang hinunter und blindlings in die Felsschroffen hinein, die seitwärts aus dem Abgrund aufragten. An den Krummkiefern und Steinkanten sich niederlassend, kletterte er wie eine Katze hinab. Nun stand er unter der Wand. In einem hohen Haufen lag da der abgestürzte Schnee, von Geröll übersäet. Auf halber Höhe in den Sträuchern hing Flämmchens Gewand. Er kniete hin und begann in verzweifelter Hast mit den Händen zu wühlen und zu graben. Einen purpurnen Flecken warf er auf.

»Blut! Blut!« stammelte er, und die Arme wollten ihm vor Zittern versagen. Bebend wühlte er weiter. Da ergriff er eine schwarze Locke. Und jetzt tauchte eine runde, braune Schulter auf. Er erfaßte Flämmchens Arm. Mit übermenschlicher Anstrengung grub er fort und grub den ganzen weichen Mädchenleib hervor. Sie war noch warm, aber ein dünner Faden Blut sickerte aus ihrem Mundwinkel. Schlaff lagen die schönen Glieder vor ihm auf dem kühlen Schnee.

Die Augen waren geschlossen. Das Antlitz wies keinerlei Spur von Schrecken auf. Es war friedlich wie im tiefen Schlaf.

Er nahm den Körper in die Arme und versuchte, ihn fortzuschleppen. Die Last war ihm zu schwer. Weinend brach er zusammen. »Flämmchen! Flämmchen!« schluchzte er, streichelte ihr die wirren Haare aus der Stirn, küßte sie auf die blutigen Lippen, rüttelte sie sanft, rieb ihr die Schläfen, beugte sich nieder und legte 127 das Ohr auf ihr Herz. Alles war still. Sie regte sich nicht mehr.

Er trug den Leichnam mit Mühe einige Schritte fort und bettete ihn auf eine grasige Stelle unter die Felsen. Dann kletterte er hinauf, holte das Gewand und stieg wieder herab. Noch einmal horchte er lange an der Brust des Mädchens. Dann breitete er schluchzend das Gewand über den entblößten Körper und rannte zu Tal.

Im Schloß fand er den vor einer Stunde wieder eingetroffenen Eckbrecht. Laut weinend und zitternd erzählte er ihm, was geschehen. Eckbrecht rief sogleich ein paar Knechte, und so rasch sie konnten, eilten sie zur Unglücksstelle. Auf einer Bahre aus Tannenzweigen brachten sie Flämmchens Leichnam gegen Abend herab. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Der Fürst war eben mit Wulfhart von der Jagd zurückgekehrt und kam dem traurigen Zug tieferschüttert entgegen.

Den andern Tag begruben sie das wilde Flämmchen im Zwingergarten an der Burgmauer. Der junge Pfirsichbaum stand eben in voller Blüte.

Nun war es still auf dem Uhlenstein. Ein paar Tage lang fiel kein Wort bei Tisch, und die Becher wurden kaum angerührt.

Der Winter schien noch einmal zurückkehren zu wollen. Dicht wirbelte der Schnee um die Burg. Dann kam eine lange Regenzeit. Der Fluß trat aus und überschwemmte das Tal. Dumpf drang sein Brausen Tag und Nacht herauf. Und wenn der Wind durch die Bogengänge fuhr, war es, als ginge Flämmchens Geist klagend durchs öde Schloß. 128

Roland fiel in ein hitziges Fieber. Unruhig wälzte er sich mit flackernden Augen auf seinem Lager und sprach irre. Der Fürst wich Tag und Nacht nicht von seiner Seite.

Als er zum erstenmal wieder ins Freie durfte, war das sonnige Tal weiß von Baumblüten. Er ging mit dem Fürsten zu Flämmchens Grab. Sie hatten einen schlichten Stein über den frischen Hügel gesetzt und Efeu und wilde Rosen darum angepflanzt. Roland kniete nieder und brach in Tränen aus.

Fürst Gunther zog ihn sanft empor, fuhr ihm mit der Hand über die blasse Wange und sprach mit liebevollem Ernst. »Es ist wohl besser so für uns alle drei.« 129

 


 


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