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Der Ring des Lebens

Dumpfe Julihitze brütete wie ein bleiernes Daunenbett über dem flachen unabsehbaren Stromland, durch das ich mit meinem Bruder Friedrich zu den Ferien heimfuhr. Rechts und links des staubigen zerfurchten Landwegs, auf dem unser leichtes Korbwägelchen federnd und stoßend dahinrollte, folgte Feld auf Feld in allen Schattierungen von Grün und Gelb, hier mannshoher, schlanker Roggen, der sich selbstbewußt und erntereif im Sommerwind wiegte, dort die schwere, schwanke, gleichsam weibliche Fülle lichtblonden Weizens in sanften Wellen wie atmend hingeschmiegt, dazwischen stachlig und borstig mit gesträubten Bärten die dichtgelagerten Heerhaufen goldgelber Gerste, der struppige, verfilzte Troß schwarzgrüner Erbsen- und Bohnenstauden, in langen schnurgeraden Reihen die Regimenter saftstrotzender Zuckerrüben, hellgrüner, schon bleichender Hafer mit seinen ewig bewegten zitternden, bebenden Glöckchen und Rispen, und abermals Weizen und wieder Weizen in schwerer, schwanker, lichtblonder Fülle vom Südwind gewiegt.

»In vierzehn Tagen kann er geschnitten werden,« sagte mein Bruder Friedrich mit einer fünfzehnjährigen Grabesstimme und sah dabei wie von Bergesgipfeln auf den vierzehnjährigen Knirps nieder, der neben ihm saß.

Ich nickte und schwieg. Vor uns zwischen dem silbrigen Blätterwerk der zerborstenen Weiden, die die Grabenränder des gefurchten Triftwegs säumten, zeigten sich graue Scheunen und Ställe, dahinter rote Ziegeldächer. Jenes dort mit dem hohen spitzen First, über dem man das Wahrzeichen des hundertjährigen Lindenwipfels erblickte, war unser Elternhaus, wo ich nun wieder lange Wochen frei vom Schulzwang, aber auch fern von Freundschaft und tiefverschwiegener junger Liebe hausen sollte. Und meine Gedanken flogen zwischen dem alten grauen Dorf, das schnell näher kam, und der grauen alten Stadt, die je ferner um so bildhafter aufstieg, irr und ungewiß hin und her, wie kleine junge Vögel, die man aus ihrem Nest gescheucht hat.

»In vierzehn Tagen kann er geschnitten werden,« wiederholte mein Bruder Friedrich, noch um einen Ton tiefer, und zog, lang und dünn wie er war, die Schultern hoch, so daß seine Hakennase wie die eines Kranichs im Gefieder zu versinken schien. »Nachher geht's auch bald auf die Hühnerjagd! Schade, daß man sich dann schon wieder die Hosen durchsitzen muh!«

Ich nickte und schwieg. Soeben gab eine Wendung des Triftweges den vollen Blick zwischen den silbergrauen Weiden frei: da lag es, nun gänzlich sichtbar, weit hingedehnt, das große Dorf, scheinbar verfließend in der flachen Niederung und doch durch ein geheimes Band von dem Pfeilspitzen Kirchturmschaft gerade in seiner Mitte wie von einer Magnetnadel zusammengehalten.

Mein Bruder Friedrich hatte sich in seinem Sitz zurückgeworfen, daß der Korbwagen mit uns beiden und dem vorne sitzenden Kutscher einen Sprung machte, und sagte, während er die Beine seitwärts herausbaumeln ließ:

»Neugierig bin ich übrigens auch auf die Schnittermädchen. Voriges Jahr waren ein paar stramme Weiber dabei.«

»Findest du nicht auch,« erwiderte ich, »daß es aussieht wie ein Kaffeebrett?«

»Wer? Was?« schrie Friedrich mit einer Stimme, die sich plötzlich nach oben überschlug. »Wer sieht aus wie ein Kaffeebrett?«

»Das Dorf, wenn man's so im ganzen überblickt. Die Kirche ist die Kaffeekanne und die Häuser sind die Tassen drum herum. Fehlt nur der Kuchen! Aber das könnte die Schule sein.«

»Phantast! Blödsinn!« grollte Friedrich. »Man denkt an Jagd und an Weiber und das faselt von Kaffee und Kuchen! Aber was versteht so ein Duckmäuser auch von der Liebe?!«

Pieporka, unser altes Faktotum von Kutscher, das noch unter Blücher gedient haben wollte, klatschte mit der Leine auf den feisten Rücken des Braunen und schnalzte dazu. Unser leichter Wagen flog schneller dahin. Jetzt rasselte er auf dem Steinpflaster des Dorfs, und in der nächsten Minute hielten wir mit einem scharfen Ruck vor dem Beischlag unseres Hauses, wo uns unsere Mutter mit einem herzhaften Kuß empfing und uns ohne weitere Umstände zu dem gedeckten Kaffeetisch führte.

»Napfkuchen?!« schrie mein Bruder Friedrich. »Pyramidal!« Und er nahm mit einer besitzergreifenden Gebärde Platz und begann eine so gute Klinge zu hauen, daß mir nur die Krümel übrig geblieben wären, hätte sich unsere Mutter nicht ins Mittel gelegt und mir unter der Hand das Stück mit den größten Rosinen zugesteckt.

Wenige Tage nachher geschah es, daß auffallender Besuch in das Dorf kam. Aus der großen Stadt. Nicht aus jener, deren Türme man an besonders klaren Septembernachmittagen von der Höhe des Deiches als feines Gekritzel am blanken Horizont erkennen konnte, sondern viel weiter her, aus der Hauptstadt selbst, die in ungemessener Ferne noch ganz jenseits meiner Vorstellung lag. Es war Frau Adolphi, die Lehrerstochter, die nach zwanzig schicksalsvollen Jahren zum ersten Male wieder beim alten Vater Dorfschulmeister einkehrte, und ihre schöne vierzehnjährige Tochter Isabeau hatte sie mitgebracht.

Welch ein Gewisper und Geraune das allenthalben gab, als man die dunkle, stattliche, noch immer anziehende Frau so sicher und unbefangen sich im Dorf bewegen sah, wie wenn sich dieses Dorf nie eine Geschichte über sie zu erzählen gehabt hätte. Als achtzehnjähriges sehr schönes Mädchen – ihre Tochter Isabeau sollte ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sein, wie die Zeitgenossen erinnernd feststellten – hatte Helene Sandkamp das Glück gehabt, die Augen eines jungen Gutsbesitzers aus der Nachbarschaft auf sich zu ziehen. Nach kurzem Geplänkel hatte der vermögende junge Mann der Lehrerstochter seine Hand geboten, die angenommen wurde. Schon war die Aussteuer auf Kosten des Freiers beschafft, alle Vorbereitungen getroffen, der Tag der Hochzeit angesagt, als eines Morgens die Nachricht durch das Dorf lief, Helene Sandkamp habe alles im Stich gelassen und sei auf und davon gegangen.

Zur Bühne, wie man bald erfuhr. In einem hinterlassenen Brief hatte sie das den Eltern und dem Bräutigam mitgeteilt und hatte alle um Verzeihung gebeten, sich aber auf den inneren Drang berufen, der sie treibe und dem sie folgen müsse. Und das ganze Dorf erinnerte sich plötzlich, daß sie seit Jahren mit ihrem Vater Dorfschulmeister, der ja außerdem auch Kantor und Organist war, musiziert und gesungen hatte, somit die Schuld an allem Unglück eigentlich den Vater selbst träfe, der seinem Kinde den Kopf verdreht hatte und jetzt mit seiner und des Mädchens Schande dafür zahlte. Denn daß sie eine Gezeichnete und Verlorene sei, die nie einer wiedersehen werde, darüber konnte ja unter Einsichtigen kein Zweifel bestehen.

Aber schon nach einigen Jahren war eine Sängerin Campo-Savelli an einem süddeutschen Hoftheater zu einem gewissen Ruf gekommen, der auch bis in unser Dorf drang, und wieder ein paar Jahre später hatte der Großkaufmann Adolphi, gegen dessen angebliche Reichtümer der einstige Bräutigam nur ein armer Schlucker sein sollte, jene Campo-Savelli, mit ihrem bürgerlichen Namen Helene Sandkamp, als Frau heimgeführt und sogar ihrem kleinen Töchterchen Isabeau seinen ehrbaren Namen gegeben. Sehr merkwürdig das alles, und vor den Türen der Katen wie hinter den Fenstergardinen der Besitzershöfe gab es ein bedenkliches Kopfschütteln über den Weltlauf, wie Frau Adolphi da so aufrecht und unbefangen, als sei ihre Reise ins Leben nur ein Katzensprung für sie gewesen, vom Schulhaus zum Kirchhof und weiterhin ihres Weges wandelte, die Dorfstraße entlang, zwischen den Obstgärten hin, von Hof zu Hof ihren Besuch abstattend, ihre schöne vierzehnjährige Tochter Isabeau immer an der Seite.

»Komm herunter, Heinz,« sagte meine Mutter an einem dieser Nachmittage zu mir, als ich in meinem heißen Oberstübchen brütend über einem Buch saß und ganz verwundert über ihr unerwartetes Erscheinen sie anstarrte. »Adolphis haben sich angemeldet. Sie wollen Besuch machen. Es wird im Garten unter der Linde Kaffee getrunken. Ihr könnt Euch mit Isabeau unterhalten.«

»Isabeau?!« warf ich ein. »Lächerlich! Warum nicht gleich Dolores oder Zenobia?«

»Das geht uns nichts an,« erwiderte meine Mutter. »Namen sind wie Kleider. Der eine kann alles tragen, dem anderen steht nichts. Wenn man Isabeau heißt, so hat man eine Verantwortung. Sonst ist es ein Malheur. Aber sie scheint ja recht hübsch zu sein.«

»Eine hochnäsige Gans!« stieß ich erbittert heraus. »Wie sie schon den Kopf trägt! Man sollte ihr den Kragen umdrehen!«

»Junge!« rief meine Mutter. »Woher kennst du sie denn überhaupt?«

»Ich hab' sie doch mehrmals vorbeistolzieren sehen! Ich stand im Garten hinterm Fliederbusch versteckt. Sie sah mich nicht, aber ich sie!«

Ich hatte das herausgesprudelt und stockte plötzlich, denn ich merkte, daß ich rot zu werden anfing.

Meine Mutter schien es zu bemerken, denn sie lächelte flüchtig, während sie mir die Hand auf den Arm legte.

»Schon gut! Mach' dich nur zurecht! Friedrich ist schon längst bei der Toilette.«

»Pomadisiert er sich wieder?« fragte ich höhnisch.

»Dir könnte es auch nichts schaden, wenn du dir mal die Hände wäschst!« erwiderte meine Mutter und ging eilends zur Tür hinaus, denn soeben klangen Schritte auf der Treppe des Beischlags, und gedämpfte Frauenstimmen ließen sich vernehmen.

Ich trat auf den Zehenspitzen zum offenen Fenster meines Stübchens und spähte zwischen den Ranken des wilden Weins, der den Fensterrahmen draußen umspann, vorsichtig wie ein Lederstrumpfheld hinunter. In der Tat, da stand Frau Adolphi, dunkel gekleidet wie immer, eine schwarzseidene Spitzenmantille um die Schultern, die ihrer brünetten Erscheinung einen Stich ins Spanische zu geben schien, und neben ihr stand ihre schöne Tochter Isabeau, der ich soeben den Kragen hatte umdrehen wollen, im lichten Sommerkleid, ebenfalls mit einem lose umgeworfenen schwarzen Spitzenschal, der auch ihr einen fremdartig südlichen Anstrich verlieh, stand da, die Hand an der Hausglocke, und sah dabei wie zufällig zu mir hinauf, der mit einer unvorsichtigen Bewegung gerade seine Nasenspitze zwischen den Ranken des wilden Weines hervorsteckte.

Ich hörte ein schimmerndes Lachen, das mir wie das Hohngelächter der ganzen Hölle vorkam, und zog mit einem Gefühl, als habe sich eine Wespe darauf gesetzt, meine Nasenspitze zurück. Drinnen aber in den sicheren vier Wänden meines Stübchens überkam es mich mit einer ganz unsinnigen Wut, so daß ich mich bald in das harte Polster des alten steiflehnigen Kanapees warf, bald mit geballten Fäusten umherlief und abwechselnd den fremden Besuch, meine eigene Ungeschicklichkeit und das ewige Schicksal droben beschimpfte, das seine unentrinnbaren Kreise um uns alle beschrieb. Aber mochten sie mich auch in Stücke reißen, mein Entschluß stand fest, keinen Fuß in den Garten drunten zu setzen, solange mir die Fremden die Luft dort vergifteten ...

»Junge! Wo hockst du so lange?« rief mir meine Mutter zu, als ich nach einer halben Stunde mit einer undurchdringlichen Maske von Gleichgültigkeit am Kaffeetisch unter der Linde erschien, »Dreimal hab' ich dich rufen lassen!«

»Wir wollten schon kommen, Sie holen,« sagte Isabeau, nachdem die Zeremonie der Vorstellung abgewickelt war, und überflog mich mit einem leise mokanten Lächeln, das meine Wut von neuem reizte.

»Mich braucht kein Mensch zu holen!« antwortete ich. »Ich bin Manns genug, selbst zu kommen, wenn es mir paßt!«

Ich wußte nicht, warum Frau Adolphi und nach einem kurzen Stirnrunzeln auch meine Mutter nach diesen Worten plötzlich in ein Gelächter ausbrachen, und setzte etwas unsicher hinzu:

»Übrigens hatte ich noch die Geschichte des Kalifen Harun al Raschid zu Ende zu lesen.«

»Harun al Raschid liest er!« grunzte mein Bruder Friedrich, der sich neben Isabeau auf die Gartenbank gepflanzt hatte, und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, daß es schnalzte.

»Schon gut!« sagte meine Mutter. »Vielleicht könnt ihr mit Fräulein Isabeau etwas Krocket spielen. Oder sie sieht sich den Garten an.«

»Laß dir lieber den Kuhstall zeigen!« sagte Frau Adolphi mit einer Stimme, deren tiefer Alt mir schon beim ersten Wort aufgefallen war. »Du hast ja noch nie eine richtige Kuh gesehen!«

Isabeau warf mit einer Gebärde, die mir unendlich hochmütig schien und für die ich sie hätte schlagen können, den Kopf zurück.

»Danke, dann ziehe ich schon lieber den Pferdestall vor. Da kann man doch wenigstens reiten!«

»Wenn man nicht heruntersaust!« schaltete ich halblaut ein und erschrak über meine eigene Kühnheit. Aber es schien überhört zu werden.

»Pferde sind alle unterwegs!« erklärte Friedrich. »Die Kutschpferde beim Beschlagen, die Arbeitspferde auf dem Feld zum Pflügen. Aber ich zeig' Ihnen den Schweinestall. Neun Schweine zum Mästen aufgesetzt und Ferkel die Masse! Die eine Sau hat gestern geworfen. Kommen Sie, Fräulein Isabeau!«

Einen Augenblick herrschte Stille am Kaffeetisch, so daß man die Bienen summen hörte, die auf dem nahen Levkoienbeet hin und her flogen. Dann sagte Frau Adolphi mit ihrem resoluten Lachen, in das meine Mutter nach kurzem Stirnrunzeln einstimmte:

»Potztausend! Der Schweinezüchter in der Westentasche! Daß die drei sich aber noch siezen, der Schweinezüchter und der Geschichtsforscher und du, Isabeau ... drei Dorfkinder und zieren sich wie die Prinzessin auf der Erbse ...«

Isabeau war aufgestanden und ging mit ein wenig zurückgeworfenem Kopf, so daß die feine gerade Nase etwas in die Luft spitzte, den schwarzen Seidenschal über dem Arm, auf den sandigen Gartenweg, der leichtgewunden an den Levkoien- und Zinnienbeeten unter den Fliederbüschen hinführte. Friedrich und ich folgten ihr mit einem Abstand von ein paar Schritten. Die schlanke, schmale, helle Gestalt vor uns schien mir mehr zu gleiten und zu schweben als auf zwei leibhaftigen Beinen zu gehen. Die Prinzessin auf der Erbse fiel mir wieder ein, von der Isabeaus Mutter gesprochen hatte, und ich drückte in Gedanken meinem Bruder Friedrich die Hand, weil er den Mut gefunden hatte, vor dieser Zierpuppe von Säuen und Ferkeln zu sprechen.

Aber dann überkam mich plötzlich ein so mächtiges Gefühl von unnennbarer Wehmut und Süße zugleich, daß dies alles einen Augenblick so war und nach einem Augenblick nicht mehr so sein würde: das schlanke, stolze, schwebende Mädchen jetzt gerade unter dem breiten Geäst des verwetterten Birnbaumes, durch dessen höchsten Wipfel ein leises Rauschen ging, wir zwei Jungen dicht hinter dem Mädchen her, Brüder dem Namen nach, wie von zwei entgegengesetzten Weltenden magisch auf die nämliche Spur gezogen, und hoch über dem allen am mattblauen Himmel, fast wie ein Gleichnis, eine kleine weiße segelnde Wolke von zwei größeren und dunkleren eilend verfolgt – dieses Bild einer Sekunde, das mit der Sekunde zerfloß, es hätte mich beinahe vor Rührung aufschluchzen lassen, wäre mir nicht noch rechtzeitig die Erinnerung an meine Manneswürde gekommen, die mir meine Haltung wiedergab.

»Mama ist komisch!« sagte Isabeau, indem sie sich zu uns zurückwandte. »Weil es zu ihrer Zeit so gewesen ist, so denkt sie, muß es heute ebenso sein. Man braucht sich doch heutzutage nicht gleich zu duzen.«

»Ich dränge mich niemandem auf,« erwiderte ich gemessen.

»Und ein Dorfkind«, fuhr Isabeau fort, »bin ich eigentlich nur sehr indirekt, durch Mama. Meine Wiege hat doch schließlich in der Großstadt gestanden.«

»Das ist mir alles ganz gleichgültig!« sagte in diesem Augenblick mein Bruder Friedrich und stellte sich breitbeinig vor Isabeau hin. »Ob Dorf oder Stadt ... geduzt wirst du jedenfalls, Isabeau!«

Das schmale schlanke Mädchen sah verdutzt an dem großen Menschen hinauf, der sehr gleichmütig mit den Händen in der Tasche vor ihr stand, und wußte nicht, ob es sich ärgern sollte oder nicht. Schließlich sagte es achselzuckend:

»Wenn du mit Gewalt kommst ... meinethalben!« Und über die Schulter zu mir: »Dann müssen wir wohl auch?«

»Danke, nach Belieben! ... Aber da sieht man's wieder, brutal muß man werden!« Ich hatte das nur so herausgestoßen. Ein tiefer Schmerz war in mir, der mich die Zähne zusammenbeißen ließ.

»Und jetzt zum Schweinestall!« kommandierte Friedrich und umfaßte mit seiner großen Pratze Isabeaus zartes Handgelenk.

»Lächerlich!« zischte ich in aufsteigender Wut. »Grober Tölpel!«

Auch Isabeaus Geduld schien erschöpft. Sie verzog ein wenig das Gesicht, wie jemand, dem plötzlich der Zahn weh tut, und sagte zu Friedrich:

»Laß mich los! Ich gehe nicht in den Schweinestall! Auf Kommando schon gar nicht! Ich ziehe es vor, mich in die Hängematte dort zu legen. Wir können uns ja beide unterhalten, wenn dein Bruder absolut in den Schweinestall muß.«

Der letzte Satz war an mich gerichtet und erfüllte mich mit namenlosem Entzücken.

»Laß sie los! Auf der Stelle!« schrie ich Friedrich zu und ballte die Faust gegen ihn. »Laß sie los! Du ... du Bauernflegel!«

»Oho! Steppke kleiner?!« sagte Friedrich ganz verblüfft und gab Isabeaus Handgelenk frei, um sich gegen mich zu wenden.

Der böse Zug in ihrem Gesicht wich einem sehr ironischen Lächeln, indem sie mich fortzog und nebenbei Friedrich die Worte hinwarf:

»Viel Vergnügen im Schweinestall!«

»Aber der Lappen wird mitgenommen als Pfand!« sagte Friedrich, zog mit einem kurzen Griff Isabeaus Schal, den sie noch über dem Arm trug, an sich und wandelte, indem er ihn wie einen schwarzen Wimpel über sich flattern ließ, mit der Geste eines Triumphators zur Gartenpforte hinaus.

Isabeau sah ihm so verdutzt nach, daß ich beinahe laut aufgelacht hätte. Sie merkte es, zuckte mit den Achseln, warf den Kopf etwas zurück, so daß die feine Nase ein wenig in die Luft spitzte wie die eines Foxterriers, der irgend etwas wittert, und sagte mit der gleichgültigsten Miene von der Welt:

»Ah bah! Soll er seinen Rappel nur austoben! Der bringt ihn schon wieder! Jetzt leg' ich mich in die Hängematte, und wir sprechen von vernünftigen Dingen.«

»Ja, vom Leben und von der Welt!« erwiderte ich und hatte das Herz zum Überströmen voll. »Und vom Glück und von der Liebe und von dem allen!«

»Von der Liebe, das ist dumm!« meinte Isabeau mit kühlem Lächeln, indem sie sich der Länge nach in der Hängematte zwischen dem Apfel- und dem Pflaumenbaum ausstreckte, die schmalen Füße übereinanderkreuzte und das großmaschige Geflecht rings um sich zusammenzog wie ein schimmerndes Nixchen, das sich in irgendeinem groben Fischernetz verstrickt sieht. »Aber es gibt ja andere Dinge genug,« fuhr sie fort, »du sprachst vorhin von Harun al Raschid. Kennst du Tausendundeine Nacht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich lese überhaupt keine Märchen mehr. Ich lese nur noch Bücher mit wirklichen historischen Tatsachen. Und dann natürlich die Dichter. So zum Beispiel jetzt Wilhelm Meister von Goethe.«

Isabeau drehte ein wenig den Hals in der Hängematte und musterte mich mit einem kurzen Augenzwinkern.

»Bist du nicht zu jung für Goethe? Weiß es deine Mama?«

Ich zuckte überlegen die Achseln.

»Ich wüßte nicht, daß ich für irgend etwas zu jung wäre. Meine Mutter braucht ja auch nicht alles zu erfahren. Jedenfalls hab' ich Märchen seit meinem siebenten Jahr nicht mehr gelesen.«

Ich lag, während ich die letzten Worte log, halb auf dem Bauch im Grase, etwas seitwärts von der Hängematte, so daß ich den Kopf nur leicht zu heben brauchte, um zu der anmutigen Last dicht über mir emporzusehen.

Gewiß, Märchen sind ja ein überwundener Standpunkt,« meinte Isabeau und nickte nachdenklich. »Und doch möchte man wohl manchmal noch solch eine Prinzessin sein.«

»Die Prinzessin auf der Erbse!« warf ich ein.

»Die nicht gerade! Das stammt von Mama. Nein, solch eine wie Turandot, oder irgendeine andere, die ihren Bewerbern Aufgaben stellt, und wenn sie sie nicht bestehen, dann wird ihnen der Kopf abgeschlagen. Das hat mir immer sehr eingeleuchtet.«

In mir wallte es mächtig auf von männlichem Stolz.

»Da könnte es aber mal passieren,« antwortete ich, nachdrücklich jedes Wort betonend, »daß einer käme, der seine Aufgabe doch bestünde, und wenn dann die Prinzessin ihm zu Füßen fiele und ihn als ihren Herrn und Gemahl anerkennen wollte, dann würde er ihr den Handschuh hinwerfen: Den Dank, Dame, begehr' ich nicht! und weg wäre er! Ei dann?«

Isabeau kräuselte die Lippen und zuckte verächtlich mit den Achseln.

»Pah! Eine Prinzessin, die sich so weit erniedrigt, täte mir leid! Aber das sind ja wirklich Märchen!«

Mir war plötzlich, ich wußte selbst nicht wie, ein Einfall gekommen. Ich richtete mich halb auf den Knien auf, sah mich vorsichtig um und sagte mit gedämpfter Stimme zu Isabeau:

»Man braucht gar nicht nach Märchen zu suchen. Die Wirklichkeit ist märchenhaft genug! Weißt du auch, daß es zum Beispiel hier im Garten etwas geben könnte, was keiner so leicht bestünde, wenn die Prinzessin, um deren Preis es ginge, auch noch so schön wäre?«

Isabeau sah mich ungläubig an.

»Was könnte denn das wohl sein?«

Ich drückte den Kopf zwischen die Schultern, wie einer, der im Begriffe steht, ein lebensgefährliches Geheimnis zu verraten, und flüsterte dumpf:

»Was würdest du dazu sagen, wenn es hier im Garten an einer gewissen Stelle umginge, nicht ganz geheuer wäre, mit einem Wort also, wenn es spukte?«

Ich hatte mich vollständig auf den Knien aufgerichtet, so daß meine Gesichtslinie in gleicher Höhe mit der Hängematte kam und ich Isabeau genau beobachten konnte. Aber der Eindruck meiner Worte schien nicht sehr überzeugend für sie. Sie lächelte skeptisch und zog die wohlgebildete, nicht allzu hohe Stirn ein wenig kraus.

»Wie soll es denn spuken? Es gibt doch keine Geister. Also kann es ja gar nicht spuken.«

»Wenn es nun aber doch spukt?!« rief ich heftig und mit solcher Überzeugungskraft, daß Isabeau nun doch zusammenfuhr und das überlegene Lächeln auf ihrem Gesichte erstarb.

»Ich glaube, du willst mich foppen!« sagte sie etwas unsicher und schien nach einer bequemeren Stellung in der Hängematte zu suchen.

»Ich foppe niemanden!« beteuerte ich mit einem Ernst, der mich selbst hinriß. »Am allerwenigsten jemand, vor dem man am liebsten ... Unsinn! Man wird ja nur ausgelacht!«

Ich hielt inne, Antwort auf das erwartend, was ich selbst verschluckt hatte. Aber Isabeau lag schweigend in der Hängematte, die mädchenhaften Arme unter dem seinen Kopf verschränkt, und sah durch das Geäst der Obstbäume zum heiteren Sommerhimmel empor, an dem sich weißliches Federgewölk wie ein dünner Schleier auf hellblauem Grunde ausbreitete.

»Glaubst du's mir oder nicht?« fragte ich nach kurzer Pause.

»Gut! Sprich! Was hast du gesehen? Was weißt du?«

»Also was sagst du, wenn ich selbst einmal eine Erscheinung hier im Garten gehabt habe, vor vielen Jahren als Kind?«

Ich sah, wie ein leichter Schauer Isabeaus zierlichen Leib überlief, und fühlte, wie es mich selbst bei meiner eigenen Erzählung fröstelte.

»Wo?« fragte sie und versuchte zu lächeln. Aber das Lächeln erfror.

»Dort weit hinten in der äußersten Ecke vom Garten! Es steht eine Eibe dort, die mindestens zweihundert Jahre alt ist. Vielleicht sogar dreihundert.«

»Eine wirkliche Eibe?« fragte Isabeau kopfschüttelnd. »Gibt es denn die überhaupt? Ich glaubte, die gäbe es nur im Märchen.«

»Es gibt auch nur noch ganz wenige,« erwiderte ich. »Sie werden bis tausend Jahre alt. Es ist die einzige, die wir haben. Dichtes Gebüsch steht ringsum. Dort hab' ich vor Jahren eine Erscheinung gehabt.«

»Du allein?«

»Noch ein Freund und ich! Aber der ist tot! Bald danach!«

»Ist das wahr? Belügst du mich nicht?«

»So wahr ich lebe! Oder nein! Mehr! So wahr die Ewigkeit hinter uns liegt und die Ewigkeit vor uns und so wahr wir nur Eintagsfliegen sind zwischen den beiden Ewigkeiten!«

Mir standen die Haare zu Berge vor der Größe des Schwurs, und auch Isabeau schien vergebens gegen seine Schauer und gegen den Bann meiner Erzählung anzukämpfen. Ich beeilte mich den Augenblick auszunützen.

»Und was sagst du,« fuhr ich fort, »wenn nun jemand den Mut hätte, heute um Mitternacht hinzugehen und von der Eibe, wo damals die Erscheinung kam, einen Zweig für dich abzuschneiden? Und was würdest du dem Betreffenden als Lohn dafür geben?«

Ich sah, wie ein ganz leises Rot über Isabeaus zarte Wangen flog. Mein Triumph war besiegelt, und mein Herz hüpfte wie das Füllen auf der Weide.

»Welches wäre der Lohn für den Betreffenden?« drängte ich.

Isabeau hatte sich gefaßt. Um ihre blaßroten Lippen zog wieder das kühle Lächeln.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte sie. »Willst du der Betreffende sein?«

Ich nickte triumphierend. Aber von Isabeau war der Bann gewichen, der Dämon der Spottsucht erhob wieder sein Medusenhaupt.

»Und wenn du nun bei Tage hingehst, um den Zweig abzuschneiden?« fragte sie mit einem Ton, der mich wie Eis durchfuhr. »Oder du schickst womöglich einen andern hin, damit er es für dich tut? Zum Beispiel Friedrich?«

»Pfui!« rief ich empört. »Traust du mir das zu?«

»Man kann nie wissen,« meinte sie, »man soll keinem Menschen auch nur so viel glauben, sagt Papa. Das ist seine Maxime, wie er es nennt. Aber du kannst mir ja schwören.«

Ich streckte meine Hand empor, entschlossen, jeden Schwur abzulegen, den sie verlangen würde. Aber sie fiel mir ins Wort.

»Oder nein! Ehrenwort ist besser als Schwur. Gib mir dein Ehrenwort, daß du heute um Mitternacht eigenhändig den Eibenzweig für mich abschneiden willst!«

Ich mußte im stillen die Sicherheit bewundern, mit der sie die Schlinge zuzog, die ich mir selbst umgeworfen hatte. Aber es gab kein Zurückweichen mehr.

»Also gut!« sagte ich mit der Miene des unschuldig Gekränkten. »Mein Wort darauf! Mein Ehrenwort!«

»Wer wirft denn hier so mit Ehrenwörtern um sich?« fragte eine lachende Stimme hinter uns, die wie der tiefe Klang einer Glocke an mein Ohr schlug.

Frau Adolphi stand mit meiner Mutter nur zwei Schritt entfernt hinter uns auf dem weichen Rasen. Im Eifer des Gefechts hatten wir ihr Kommen überhört. Ich sah verwirrt und ratlos um mich, aber Isabeaus ruhige Gelassenheit, die ich mir abermals mit Beschämung eingestehen mußte, rettete die Situation.

»Heinrich erzählte mir, daß dort zuhinterst im Garten ein Eibenbaum stehen soll, und ich wollte es nicht glauben.«

»Damit hat es schon seine Richtigkeit,« erklärte meine Mutter. »Der Eibenbaum ist da. Es knüpfen sich sogar allerhand Gerüchte daran. Ein Schatz soll darunter vergraben sein. Oder irgend so etwas! Lauter Unsinn natürlich!«

»Haben Sie denn schon mal nachgraben lassen?« fragte Frau Adolphi interessiert. »Vielleicht ist wirklich etwas daran.«

Meine Mutter schüttelte lächelnd den Kopf.

»Der müßte schon ein Sonntagskind sein, der da etwas finden wollte. Nein, nein, nach unseren Schätzen hier braucht man nicht um Mitternacht zu graben. Im Boden liegen sie allerdings. Aber die müssen bei Tage gehoben werden, mit Pflügen, Säen und Ernten. Das sind unsere wahren Schätze. Ist es nicht so, Heinz?«

Ich nickte unsicher. Mir war schwül zumute. Meine selbst heraufbeschworene Aufgabe umgeisterte mich mit Schauern dunkel wie die Mitternacht, in der es vollbracht werden mußte.

Friedrich kam von der Hinteren Gartenpforte herangeschlendert. Die Hände steckten an ihrem gewöhnlichen Platz in den Hosentaschen. Das aufreizende Triumphatorlächeln, das mir höchst unbegründet erschien, spielte womöglich noch maliziöser als vorher um seine blonden Bartstoppeln. Er pfiff im Näherkommen ein paar grelle Mißtöne und wiegte sich in den Hüften.

»Dir sollte man auch die Taschen zunähen,« äußerte meine Mutter. »Und das Pfeifen könntest du vielleicht lassen, bis du allein bist. Sehr schön klingt es überhaupt nicht.«

»Wir wollen uns verabschieden,« sagte Frau Adolphi zu Isabeau, die aus ihrem Fischernetz gleichsam an Land gestiegen war und mit ruhigem Ernst ihre Augen zwischen den Umstehenden hin und her gehen ließ. »Wo hast du denn deinen Schal?«

Isabeau antwortete nicht. Nur ein halb fragender, halb hinweisender Blick richtete sich auf Friedrich, der breitspurig am Apfelbaum neben der Hängematte lehnte und immer noch leise und mißtönig vor sich hinpfiff. Unser aller Augen folgten Isabeaus Blick, auch die meinen, in denen ich deutlich den Ausdruck boshafter Schadenfreude fühlte über die nun kommende Abrechnung der Götter mit der Hybris des unleidlichen Burschen.

Meine Mutter runzelte die Stirne.

»Hast du etwa Fräulein Isabeaus Schal genommen?«

»Allerdings!« gab Friedrich zur Antwort. »Aber jetzt hängt er oben auf dem Scheunendach, neben der Windfahne. Ihr könnt ihn von hier aus sehen, wenn ihr euch an den Apfelbaum stellt. Das Schwarze, was da so herumflattert, das ist er. Ich habe die Scheune damit beflaggt.«

»Erbarmen! Junge! Bist du ganz von Gott verlassen?« schrie meine Mutter in aufrichtigem Entsetzen.

»Warum denn?« meinte Friedrich gelassen. »Sieht es nicht ganz feudal aus? Als wenn der König auf Besuch bei uns wäre? Aber wenn Isabeau gehen will, kann ich ihn ja wieder herunterholen. Oder vielleicht klettert jetzt mal Heinrich hinauf und holt ihn.«

»Daß du dich nicht unterstehst!« fuhr meine Mutter mich an, der ganz gelähmt und in sich gebrochen dastand, denn von diesem Schlage – das empfand ich wohl – konnte nur eine wirklich große Tat mich wieder in den Augen Isabeaus aufrichten. Kein Zweifel! Für den Moment hatte Friedrich den Sieg an seine Fahne geheftet. Wie das schwarze Pünktchen dort oben auf dem Scheunengiebel, hoch über den Wipfeln der Obstbäume, sich mit der Windfahne emsig hin und her bewegte, als wollte es mich zum besten haben!

Ich sah verstohlen zu Isabeau hin. Sie hing, wie wir alle – außer Friedrich, der wieder leise und mißtönig vor sich hinpfiff – mit ihren Blicken an dem schwarzen Pünktchen festgebannt, und ihr feines, zartes, blasses Gesicht war von einem leisen Rot wie mit einem Sonnenschimmer überhaucht. Wo war nun mein künstlich ausgeführtes Phantasiegebäude, auf das ich mir so viel eingebildet hatte? Zerstoben wie Spreu! Ich hatte geschwatzt, gelogen, phantasiert, Friedrich hatte geschwiegen und gehandelt. Hatte ich nicht schon manchesmal bei meinen Dichtern von dem Gegensatz zwischen Geist und Tat gelesen, der das Leben vergiften sollte? Nun sah ich ihn leibhaftig in mein eigenes Dasein treten und meine Seele zerfleischen. Das, was sich dort in den Lüften höhnisch hin und her schwang, das war eine Art von Trauerfahne, die ein böser Geist zum Zeichen meiner Schwäche auf der Scheune gehißt hatte.

»Wie sind Sie denn um des Himmels willen hinaufgekommen?« fragte Frau Adolphi mit einem Ton ehrlicher Bewunderung, der mir vollends das Herz zerriß.

»Einfach mit der großen Scheunenleiter bis zum Dach 'rauf. Dann am Giebel in die Höhe geklettert. Zum Glück war keine Seele auf dem Hof. Oben ist es hübsch luftig. Und der weite Blick über die Felder weg rings ins Land!«

»Also nicht nur Schweinezüchter, sondern auch Kletterkünstler!« resumierte Frau Adolphi mit Anerkennung.

Ein warmer, fast leuchtender Blick aus Isabeaus dunkeln Augen zu Friedrich hin begleitete die Rede der Mutter und sagte dem siegreichen Helden mehr, als Worte vermocht hätten.

»Erbarmen! Verdrehen Sie ihm auch noch den Kopf!« jammerte meine Mutter und setzte mit einem so komischen Ton von Hilflosigkeit hinzu, daß selbst mich das Lachen ankam: »Wenn wir ihn nur erst wieder herunter hätten!«

»Ach, den Schal, den lassen Sie doch!« tröstete Frau Adolphi. »Es war ein ganz altes Möbel!«

»Der hängt lange gut!« äußerte Friedrich mit ruhiger Selbstzufriedenheit.

Isabeau hatte ihre Haltung wiedergefunden.

»Es war wirklich nichts mehr dran,« sagte sie kühl. »Ich opfere ihn den Göttern.«

Friedrich trat dicht an Isabeau heran, und während Frau Adolphi sich von unserer immer noch fassungslosen Mutter verabschiedete, hörte ich, wie er zu Isabeau die Worte sprach:

»Ich habe ihn an die Windfahne gebunden. Du kannst dir dabei denken, was du willst!«

 

Es war kurz vor Mitternacht, als ich mich zum Werk anschickte. Die Stunden des Nachmittags und Abends waren in schwüler Erwartung vergangen. Bald nach zehn hatten sich meine Eltern zur Ruhe begeben.

Friedrich, der im andern Teil des Hauses schlief, war schon vor den Eltern verschwunden. Im Gegensatz zu mir, der ein Nachtvogel war und noch lange bei der Lampe zu sitzen pflegte, fielen ihm die Augen meist sogleich nach dem Abendessen zu.

Ich hatte noch gehört, wie mein Vater die alte englische Standuhr unten im Hausflur aufzog und seinen abendlichen Rundgang durch das Haus antrat. Der Schlüssel hatte im Haustor geknirscht. Dann war es still geworden. Nur der gleichmäßige Taktschlag der Standuhr tönte aus dem Flur, der sich gerade unter meiner Stube befand, mahnend zu mir herauf. In dem öden Speicher nebenan wisperten die Mäuse. Ein Holzwurm im Gebälk ging seiner Tätigkeit nach. Mir war, als ob sein unermüdliches Ticken mit dem meines Herzens, das ich deutlich unter der Weste fühlte, um die Wette liefe, wer eher ans Ziel käme. Wäre es nur schon so weit! dachte ich in einem plötzlichen Nachlassen meiner Kräfte. Besser tot sein, als jetzt diese Suppe auslöffeln, die ich mir aus Eitelkeit und Ruhmsucht selbst eingebrockt hatte.

Ich zog die Stiefel aus, nahm sie in die Hand, öffnete sacht die Stubentür, deren leises Knarren mich wie einen Verbrecher zusammenzucken ließ, und huschte über die knisternden Dielen des Bodenraumes zur dunkeln Treppe, von deren unterem Absatz mich zwei gespenstergrüne Lichter anstarrten. Mir stockte das Blut, um sich sofort mit desto heißerem Schwall durch meine Adern zu ergießen. Es war Peter, der Hauskater, der dort gegen das Mäuseheer auf Posten gelegen hatte und nun mit einem wilden Sprung fauchend mir entgegenfuhr, um in den finsteren Jagdgründen des Speichers zu verschwinden. Ein Poltern, Dröhnen, Knarren, Zischen, Fallen zeigte an, wie er sich auf seiner Bahn des Verderbens allmählich entfernte.

Ich hielt den Atem an und drückte mich an das Treppengeländer, als müßte ich mich wie ein Schatten in der Dunkelheit auflösen. Aber das Unheil war schon im Zuge. Ich hörte Geräusch im Schlafzimmer meiner Eltern. Die Tür wurde unsanft aufgeschlossen, und die Stimme meines Vaters ließ sich grollend vernehmen:

»In Dreiteufelsnamen! Wer kriecht denn da im Haus herum? Da soll doch gleich das Donnerwetter dreinschlagen!«

Ein Lichtschein, der von der Talgkerze in seiner Hand ausging, geisterte über den Hausflur, irrte an den feuchten Wänden des Treppenhauses entlang und suchte Stufe für Stufe hinauf ab, bis er mich an einer Biegung des Geländers ziemlich oben mit den Stiefeln in der Hand und käsig wie ein Laken vorfand.

»Zum Donner! Was machst du denn da?«

»Ich ... ich mußte wohin,« stammelte ich. »Leibschmerzen! Aber es ist schon wieder vorbei. Gute Nacht!«

Mein Vater brummte etwas, was kein Kompliment schien, und stand mit der Talgkerze in der Hand da, bis ich mich über den knisternden Bodenraum in meine Stube zurückgezogen hatte. Erst als ich oben die Tür geschlossen hatte, hörte ich, wie er sich unten im Flur entfernte. Dann ward es wieder still im Hause. Selbst die Mäuse in dem Speicher nebenan, durch den soeben Peters, des Hauskaters, verheerende Spur gezogen war, hielten sich stumm. Nur der Totenwurm im Gebälk oblag seinem dunkeln Zerstörungswerk. Sein regelmäßiges Ticken wechselte mit dem Taktschlag der Standuhr ab, der mahnend, höhnend aus dem Hausflur zu mir heraufdrang.

Das Unternehmen war mißglückt. Darüber konnte kein Zweifel sein. Noch einmal durfte ich die nächtliche Erscheinung meines Vaters nicht heraufbeschwören. Was nun?

Mit einem Gefühl unendlicher Hoffnungslosigkeit und doch im Innersten, mir selbst kaum bewußt, von einer Bergeslast befreit, warf ich mich in das harte Polster meines urväteralten Kanapees, wandte den Kopf zur niedrigen Decke, an der ein paar schlaftrunkene Fliegen summten, und vergrub die Handflächen hinter mir in die Furche zwischen dem Sitzpolster und der Rücklehne des Kanapees. So lag ich eine Zeitlang halb hingestreckt, das Bild eines von den Göttern Verlassenen, vom Schicksal Niedergeworfenen, dennoch zum Kampf mit den Ewigen von neuem sich Rüstenden, und dachte nach, während sich meine Finger hinter mir immer tiefer in die Furche zwischen Sitz und Lehne einbohrten, als müßten sie aus den dunkeln Schlünden des Kanapees die rettende Tat zutage fördern. Was tun? Wie am nächsten Morgen vor Isabeau hintreten? Auf welche Weise der drohenden Schande begegnen? Wozu seine Phantasie in alle Welten spazieren führen, wenn sie schon über den Strohhalm vor der Tür stolperte? Hic Rhodus, hic salta! rief ich mir mit den Alten zu und dachte nach, sann, grübelte, verwarf, sinnierte von neuem und fühlte plötzlich, wie meine Finger in der weichen, nachgiebigen Sägemehlschicht zwischen Sitz und Lehne, dann sie sich immer tiefer eingewühlt hatten, auf etwas Hartes stießen, das sich wie eine Kapsel, Rolle, Schachtel anließ. Ein kurzer Schauer überlief mich. Welch ein Geheimnis war hier vergraben? Ich fuhr mit beiden Händen, so tief ich konnte, hinter mir in den Abgrund von Haaren, Spänen und allerlei Durcheinander und bugsierte mit einiger Mühe einen länglich runden Gegenstand aus dem engen Schlund ans Licht.

Es war eine Pappkapsel von siegellackroter, ein wenig verblichener Farbe, die ich in Händen hielt. Wer hatte sie hier verborgen? Aus welcher Zeit mochte sie stammen? Welcher längst Verstorbene wollte zu mir reden? Schauer aus Gräbern flössen mit Schauern der Nacht in eins. Ich mußte erst einige Schritte machen, um mich etwas zu beruhigen. Dann öffnete ich mit immer noch bebenden Fingern den Verschluß der Kapsel. Ein eng zusammengerolltes Pergament schien darin zu stecken. Ich versuchte es herauszuziehen und schwang dabei die offene Kapsel mehrmals hin und her. Etwas klirrte auf der polierten Tischplatte. Ich beugte mich näher. Ein Blitzendes, Glitzerndes, Winziges drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst. Ich breitete meine Hände darum, als sei es ein lebendes Wesen, das mir wieder davonfliegen könne, und hielt es an die Lampe. Es war ein Siegelring von ganz altertümlicher Fassung. An einem mattgoldenen Reif befanden sich, einander gerade entgegengesetzt, zwei verschiedenartige Steine, von denen ich den einen als Opal erkannte, während der andere ein Onyx war. In beide Steine waren auf eine sehr feine und künstliche Weise Bilder geschnitten. Der Onyx, von weißlicher Farbe und schwarzblau mit rot gemasert, zeigte eine nackte Frauengestalt auf rollender Kugel, was also eine Fortuna darstellen mochte. Auf der anderen Seite sah man in dem weißrötlichen Opal ein Skelett mit Stundenglas und Hippe eingraviert. Leben und Tod schienen sich so auf beiden Seiten des Ringes gegenüber zu stehen. In der Mitte aber zwischen den beiden Steinen und gleichsam Weltenden trug der mattgoldene Reif, was mir das Seltsamste schien: aus einem blutroten Stein, desgleichen ich noch nie gesehen, ganz in einem Stück geschnitten, einen kleinen, zierlichen Käfer, in dessen Rückseite allerlei rätselvolle Zeichen und Linien eingeritzt waren.

Was bedeutete dies alles? Ich hielt den Ring von neuem gegen die Lampe, wandte ihn um und um und ließ das Licht in den Steinen spielen. In der Innenseite des Reifs waren ein paar Zahlen graviert, deren undeutliche, halbverwischte Züge ich erst jetzt bemerkte und mit Mühe entzifferte. A D 1519 Julii XIII stand da zu lesen. Der Ring war also mehr als dreieinhalb Jahrhunderte alt. Doch wie kam er in das Kanapee, das keinesfalls älter als hundert Jahre sein konnte? Mußte die Pergamentrolle in der siegellackroten, ein wenig verblichenen Kapsel nicht Aufschluß über das Rätsel geben? Ich zog das Pergament behutsam aus der Umhüllung und wollte es entfalten, fand aber, daß es verschlossen war. Als ich näher hinsah, entdeckte ich auf der Rückseite eine Reihe von Siegeln, die nebeneinander auf das Pergament gedrückt waren, jedoch so, daß sie es nicht verschlossen, sondern sich oberhalb und unterhalb der ineinander gefalteten Pergamentränder befanden. Der Verschluß selbst war durch zwei einfache Schnüre bewirkt, die durch kleine, kreisrunde Löcher im Pergament gezogen und leicht ineinander verknotet waren. Wer also die Knoten löste oder durchschnitt, vermochte das Pergament zu öffnen, ohne die Siegel darüber und darunter zu verletzen.

Ich wog das Pergament in den Händen, unschlüssig ob ich die Schnüre lösen solle oder nicht, und ließ dabei meine Augen forschend über die Siegel gleiten, die seine Rückseite bedeckten. Es waren ihrer neun an der Zahl, und was sie darstellten, war, wie ich nun erst erkannte, nichts anderes als die zwei gleichen Siegelbilder, die mit vertiefter Arbeit in die Steine des Ringes geschnitten waren, die Fortuna auf rollender Kugel, die der Onyx zeigte, und das Skelett mit Stundenglas und Hippe, das mir aus dem Opal entgegengrinste. Ganz verblaßte, fast schon erloschene Schriftzüge, die unter jedes Siegel gesetzt waren, schienen Namen und Jahreszahl dessen anzugeben, der hier je nach Art, Gesinnung und Schicksal das eine oder das andere der beiden Siegelbilder in den flüssigen braunen Lack gedrückt hatte, auf daß es den Nachkommen in kürzester Formel das Resultat seiner Lebensrechnung präsentiere.

Wie ein Lichtstrahl, der durch einen Türspalt in ein dunkles Zimmer fällt, leuchtete mir diese Erkenntnis mit einemmal auf. Es waren die Schemen meiner Vorfahren, die da im bleichen Mondlicht der Vergangenheit schwebten und Einlaß verlangten. Hier auf dem Blatt hatten sie sich mit Namen und Datum eingetragen und ihr Insiegel hingesetzt, drei der Reihe nach – Kinder des sechzehnten Jahrhunderts – die Fortuna auf der rollenden Kugel, einer im Dreißigjährigen Krieg den Knochenmann mit Stundenglas und Hippe, wieder zwei die Fortuna, zwei folgende, zu Beginn und Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, abermals den Knochenmann, der letzte hinwiederum die Glücksgöttin mit noch deutlich lesbarer Unterschrift von Tag und Namen: Nikolaus Gabriel Althof am 6. November 1806. Es war mein Urgroßvater, der dies in der Franzosenzeit zu Anfang des Jahrhunderts geschrieben und vielleicht auch den Ring mit der Pergamentrolle im Kanapee versteckt hatte, um ihn vor den Franzosen in Sicherheit zu bringen. Dann mochte er gestorben sein und hatte sein Geheimnis mit sich genommen. Nun war ich erschienen und hatte es aus dem Dunkel wieder ans Licht gezogen. War das nicht zehnmal mehr als das, was Friedrich geleistet hatte? Er war auf das Scheunendach geklettert und hatte einen alten Schal an die Windfahne gehängt. Ich hingegen war in Totengrüfte gestiegen und hatte einen Zauberring heraufgeholt. Mußte Isabeau nicht unbedingt mir den Preis zuerkennen?

Ich nahm den Ring, liebkoste ihn ein wenig zwischen den Fingern und steckte ihn an die rechte Hand. Wie mich seine Kraft gleich einem heißen Trunk durchfuhr! Durch diesen Ring war ich mit all denen verbunden, die ihn vor mir am Finger gehabt hatten, so wie jetzt ich. Ihre Kraft war die meine, ihr Schicksal meines. Wie ihre Lebensläufe mich aus den Insiegeln so rätselvoll vertraut ansprachen, die glücklichen hier, die düstern da, Leben und Tod nur ein Handumdrehen. Eine dunkle Entschlossenheit schwellte meine Brust, denn jetzt galt es, sich auch vor dem letzten nicht zu fürchten und das Pergament selbst zu öffnen, in dem wohl das eigentliche Geheimnis des Ringes und all dieser Lebensläufe beschlossen lag. Ich zerschnitt kurz die beiden Schnüre, die das Pergament zusammenhielten, und entfaltete es, während mir das Herz bis zum Halse herauf klopfte.

An der Spitze des gelblichen, hier und da mit braunen Stockflecken bedeckten Blattes stand nichts als die Worte:

In hoc anulo vita et mors utrique utrumque. Darunter das Datum, das auch der Ring trug: A D 1519 Julii XIII. Im übrigen war das Pergament leer.

Ich atmete tief auf und las noch einmal die Worte, die ich mir als guter Lateiner fließend übersetzte: »In diesem Ringe liegt Leben und Tod. Für jeden gilt jedes.«

Dies also der Sinn des Ringes! Wer aber war es, der es niedergeschrieben und in den Ring graviert hatte? War es dessen erster Besitzer? War es ein späterer Nachkomme? Woher kam der Ring? Warum schwieg das Pergament über dies alles, und nur die Siegel auf der Rückseite redeten ihre dunkle Sprache? Warum standen auf dem großen leeren Bogen nur diese kurzen Worte, die mir doch wie der Klang der Turmuhr in schweigender Nacht vorkamen, als ich sie mir jetzt langsam und deutlich wiederholte: »In diesem Ringe liegt Leben und Tod. Für jeden gilt jedes.«

Es war schon heller Morgen, als ich, den Kopf auf der Brust, im Kanapee erwachte. Mein erster Blick galt dem Ring an meiner rechten Hand. Er saß fest, beinahe ein wenig drückend am Finger. Ich drehte ihn vorsichtig, fast zaghaft hin und her, als könne er plötzlich in Luft zerfließen. Aber nichts dergleichen geschah. Noch immer tanzte Fortuna auf der Kugel, und der Knochenmann drohte mit Stundenglas und Hippe. Dazwischen funkelte der blutrote Stein des zierlich geschnittenen Käfers im Schein des Frühlichts, das sich zwischen den blauen Fenstervorhängen hereinstahl.

Es war also kein Traum, was ich erlebt hatte. Der Ring war da. Das Pergament, meinen Händen entglitten, lag auf dem Boden. Ein großer Schicksalstag brach an. Um elf Uhr, wenn Isabeau zum Johannisbeerpflücken kommen würde, wie es ausgemacht war, wollte ich vor sie hintreten, den Ring in der einen, das Pergament in der anderen Hand, und sie vor die Wahl zwischen Friedrich und mir stellen, und dann würde sich alles, alles entscheiden. Ich streckte Arme und Beine ellenweit von mir, gähnte, daß es Mulack, dem Kuhhirten, Ehre gemacht hätte, und trat dann ans offene Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen und den jungen Morgen vollends hereinzulassen. In dem wilden Wein, der die Hauswand umspann, zwitscherte und lärmte lebenstrunken das junge Vogelvolk. Rosige Wölkchen schwammen wie Scharen von Goldfischen am mattblauen Grunde des Firmaments und verkündeten den Sonnenaufgang eines neuen Lebenstages. Ich aber stand und dehnte meine Brust allen Wundern der Zukunft entgegen, und die Schrecknisse der Nacht erschienen mir beinahe wie ein Heiligenschein, der meine Stirn fortan sichtbar vor allem Volk umgeben würde.

Als Isabeau um elf Uhr kam, trat ich ihr mit der ruhigen Sicherheit des Feldherrn entgegen, der seinen Schlachtplan fertig in der Tasche hat. Alles war hundertfach überlegt und vorbereitet. Die Probe auf das Exempel mußte stimmen. Dennoch fühlte ich insgeheim den schnellen Hammerschlag meines Herzens.

Isabeau war noch um einen Ton blasser als gestern. Leichte Schatten waren wie mit zarter Tusche unter den langen, dunkeln Wimpern ihrer braunen Augen angedeutet. Aber das machte sie für mich nur um so schöner. Vielleicht zehrte irgendein geheimes Weh an ihrer Seele. Wie, wenn es um meinetwillen war, so wie ja die Stürme, die mich seit gestern erschütterten, alle nur ihr galten? Nun, es würde sich zeigen. Der Augenblick war da. Die Entscheidung mußte fallen.

Wir standen im Garten bei den Johannisbeerbüschen. Auf den roten, reifen Beeren, die in prallen Bündeln überall zwischen dem krausen Blattwerk aufleuchteten, funkelte noch hier und da der Tau der Nacht. Die Sonne stand hoch über dem Scheunengiebel, der jenseits des Gartenzaunes dunkel in den mattblauen Himmel schnitt, und von dem der schwarze Schal schon seit dem Morgen verschwunden war. Ihre warmen, noch nicht brennenden Strahlen liebkosten wie mit mütterlichen Händen die dankbar zu ihr emporgestreckten Zweige und Wipfel der Obstbäume, die in Gruppen auf dem weichen Rasen standen und ihn mit ihrem dichten, grünen Laubdach beschatteten. Ein Beet von hochstämmigen weißen Lafrancerosen duftete ganz in unserer Nähe. Unweit bei der Regentonne nickten über breitausladendem Blätterschilf die schlanken gelbroten Kelche der Iris.

Keine Menschenseele schien in Sicht. Ich fühlte nach meiner Westentasche. Der Ring war da. In der Brusttasche steckte das Pergament.

»Ich habe es getan, Isabeau!« sagte ich nach einer schwülen Pause des Schweigens, während welcher Isabeau scheinbar unbefangen Beere um Beere zwischen ihren blaßroten Lippen zerdrückte.

»Was hast du getan?« fragte sie mit einer Gleichgültigkeit, die mir recht gemacht vorkam.

»Ich habe etwas sehr Großes, etwas ganz Merkwürdiges vollbracht,« erwiderte ich und sah von einer gewissen Höhe herunter sie fast strafend an.

Sie nickte, als ob es ihr jetzt erst einfiele. »Ach so! Den Eibenzweig! Ich hätte es beinahe vergessen! Wo hast du ihn denn? Und wer weiß, ob du ihn auch wirklich um Mitternacht abgeschnitten hast?«

»Den Eibenzweig?« stammelte ich, ein wenig von meiner Höhe heruntersteigend. »Das ... das ging nicht! Da ... da kam etwas dazwischen ...«

»Aha! Du hattest Furcht!« rief sie spöttisch. »Ich wußte es doch!«

»Furcht?« schäumte ich und fühlte, daß ich puterrot wurde. »Furcht? Lächerlich! Als ob einer, der das erlebt, was ich heute nacht erlebte, Furcht haben könnte!«

Isabeau lächelte spitz und hob ein wenig die feine Nase wie ein Foxterrier, der irgend etwas wittert.

»Wenn du nicht Furcht gehabt hast, so zeige mir doch den Eibenzweig! Dann glaube ich dir! Sonst bleibt es dabei: Du hast Furcht gehabt und andere nicht!«

»Andere! Andere!« brüllte ich. »Welche andern denn?«

» Par exemple Friedrich!« erwiderte Isabeau mit kühlem Lächeln. »Nimm dir ein Beispiel an ihm!«

»Ha! Friedrich!« brach ich aus. »Großartig! Er hat dir deinen Schal stibitzt und dich eine Windfahne genannt! Ich ... ich habe etwas ganz anderes getan! Ich habe einen Ring für dich geholt! Einen Ring, der hundert Jahre verschwunden war und der geheime Kräfte besitzt! Da! Hier! Es sind Leben und Tod darin! Nimm ihn hin! Ich schenk' ihn dir!«

Ich hatte meinen Ring aus der Westentasche gezogen und reichte ihn Isabeau mit einer stürmischen Gebärde des Sieges, des Triumphes.

Der Eindruck auf Isabeau schien in der Tat nicht gering zu sein. Sie drehte den Reif zwischen den Fingern hin und her und schüttelte verwundert den Kopf.

»Was ist das für ein merkwürdiger Ring? Wirklich sonderbar! Er muß sehr alt sein.«

»Siehst du wohl! Ein Lebensring! Und ehe man stirbt, untersiegelt man auf einem Pergament mit einem von den beiden Siegeln hier, mit der Fortuna oder dem Gerippe, je nachdem, wie das Leben war!«

Isabeau sah mich erstaunt an. Ein gewisser Respekt malte sich in ihren Augen.

»Woher weißt du das alles? Und woher hast du ihn? Doch nicht von dem Eibenbaum, wo der Schatz vergraben liegt?«

»Nein! Nicht von dem Eibenbaum!« erwiderte ich eifrig und ohne mir etwas Böses zu denken. »Ich ... ich habe ihn aus dem Sofa geholt!«

»Aus dem Sofa ge...?« wiederholte Isabeau mit offenem Munde und brach plötzlich in ein so helles, schimmerndes, nicht endenwollendes Gelächter aus, daß es mir von neuem die Zornesröte ins Gesicht trieb.

»Wenn du dich über den Ring lustig machst,« schrie ich, »dann brauchst du auch das Pergament nicht zu sehen! Gib ihn her!«

Damit riß ich ihr den Ring aus der Hand und klopfte mir voll Wut auf die Brusttasche, daß es krachte.

»Das Pergament?« fragte Isabeau, noch immer lachend und doch schon mit wieder gereizter Neugierde. »Welch ein Pergament? Hast du das vielleicht auch aus dem Sofa geholt?«

»Hier! Hier! Hier!« rief ich, indem ich den Bogen mit den neun Siegeln aus der Brusttasche zog und damit heftig vor Isabeaus Nase hin und her fuchtelte. »Das Pergament! Siehst du es wohl? Das Pergament! Von 1519!«

»Von 1519?« wiederholte Isabeau. »Wie interessant!«

Ich bemerkte deutlich, daß sie trotz ihres noch immer spöttischen Tones für ihr Leben gerne einen Blick in das geheimnisvolle Blatt getan haben würde, und alles hätte somit noch gut werden können, wenn nicht in diesem Augenblick der Zorn der Götter meinen Bruder Friedrich durch die Gartenpforte hereingeführt hätte. Seine Hände steckten wieder an ihrem Lieblingsplätzchen, in den Hosentaschen. Er wiegte sich in den Hüften und schlenkerte mit den Beinen. Ich mußte bei seinem schaukelnden Gang an das Kamel, das Schiff der Wüste, denken. Um seine blonden Bartstoppeln spielte ein unbeschreiblich boshaftes und siegesbewußtes Lächeln, während er näherkam und ein paar grelle Mißtöne vor sich hinpfiff.

»Ah! Da erscheint ja auch der Held, der fremde Gegenstände stibitzt und sie aufs Scheunendach schleppt!« rief ich ihm entgegen, zum Äußersten entschlossen.

»Sie aber auch eigenhändig wieder herunterholt!« erwiderte Friedrich mit eisiger Ruhe, zog aus seiner linken Hosentasche den bewußten schwarzen Schal und hißte ihn wie einen flatternden Siegeswimpel hoch über seinem pomadisierten Kopf.

»Was? Du selbst bist nochmal hinaufgestiegen?« fragte Isabeau mit ganz großen Augen, in denen bereits überdeutlich Friedrichs Triumph und meine Niederlage zu lesen stand.

»Jawoll!« antwortete Friedrich mit burschikoser Nachlässigkeit und machte ein äußerst gelangweiltes Gesicht dazu. »Heute nacht! Als alles schlief. Ich wollte mir die Welt mal im Mondschein von oben besehen. Kleinigkeit die ganze Chose!«

»Heute nacht?« wiederholte Isabeau und streifte mich mit einem Seitenblick, der mir meine ganze Erbärmlichkeit gegenüber dem Heldentum meines Bruders kundtat.

»Ich danke dir, Friedrich!« sagte sie und nahm den Schal wie ein Liebespfand aus seinen Händen, um dann über die Schulter zu mir gewandt fortzufahren:

»Du kannst deine Sachen behalten. Ich glaube nicht, daß sie mich irgendwie interessieren.«

Ich hatte ein Gefühl wie im Traum, wenn der Boden unter den Füßen versinkt und der Abgrund über uns zusammenschlägt.

»Gut!« rief ich gleichsam mit meinem letzten Atem. »Du hast den Ring des Lebens für einen alten Fetzen ausgeschlagen! Sein Fluch über dich! Über euch beide!«

»Was faselt er da von einem Ring des Lebens?« höhnte Friedrich. »Ich glaube, jetzt ist er gänzlich verrückt geworden!«

Es war das letzte, was ich vernahm. Ich stürzte mit vorgestreckten Armen, als sei ich Kain, der seinen Bruder erschlagen hat, durch die Johannisbeerbüsche davon, alles vor mir her niederstampfend, und rannte, wie von den Erinnyen gehetzt, bis ich in der hintersten und verwachsensten Laube des Gartens, ganz zunächst dem sagenhaften Eibenbaum, auf der Bank zusammenbrach und mit dem Kopf auf den Holztisch sank, von bitterlichem Schluchzen bis ins Mark erschüttert.

Ich weiß nicht, wie lange ich so gesessen und gegen mich selbst, gegen die Welt, gegen Isabeau, gegen die Götter getobt haben mag.

»Steh' auf, Heinz!« hörte ich plötzlich eine ernste Stimme dicht neben mir und fühlte eine weiche Hand auf meinem Arm.

Ich schrak mit einem Satz in die Höhe. Es war die Gestalt meiner Mutter, die sich über mich beugte.

»Beruhige dich, mein Kind!« sagte sie gütig und schlicht. »Es ist der erste Schmerz um ein Weib. Es wird nicht der letzte sein. Auch sie wird einmal Schmerzen um einen von euch tragen. Und wär's um ihren Sohn! So gleicht sich alles im Leben aus.

»Ist sie fort?« ächzte ich, noch immer wie im Traum.

»Ja, fort! Sie sind beide ausgeritten, Friedrich und sie, derweil du hier mit dem Ring in der Eibenlaube gesessen hast.«

»Du weißt von dem Ring?« rief ich und fuhr abermals von meinem Sitz auf.

»Hier liegt er ja auf dem Tisch!« antwortete meine Mutter mit dunkelm Lächeln. »Ich stand schon lange neben dir und sah ihn mir an. Aber du warst in einer andern Welt.«

Ich rang nach Worten, um ihr den Hergang zu erzählen, aber sie legte mir die Hand auf den Mund.

»Nicht jetzt! Später! Bis du ruhiger geworden bist!«

Sie hielt den Ring in Händen und versenkte sich in seinen Anblick.

»Ich hätte nie geglaubt, daß ich ihn mit Augen zu sehen bekommen würde,« sagte sie nach einem Weilchen.

»So hast du schon von ihm gehört?« stammelte ich.

»Viel! In meiner Jugend! Vater hat oft von ihm erzählt. Sein Vater, dein Urgroßvater, der in der Franzosenzeit starb, hat ihn vor seinem Tode irgendwohin versteckt, wo ihn niemand wiederfinden sollte, wenn nicht gerade ein Sonntagskind in unserer Familie käme und ihn entdeckte. So steht's in seinem Testament, das er seinem Sohn, meinem Vater, hinterließ.«

»Danach müßte ich also so etwas wie ein Sonntagskind sein,« sagte ich mit zuckendem Munde und hatte das Weinen näher als das Lachen.

»Es scheint so,« sagte meine Mutter und strich mir über das Haar. »Aber bilde dir nicht allzuviel darauf ein! Es hat auch seine Schattenseiten, mit den Geistern im Bunde zu sein. Du hast ja die Kraft des Ringes heute schon etwas an dir erfahren.«

Ich sah sie fragend an.

»Ich kann dir das nicht so erklären,« meinte sie nachdenklich. »Du wirst es schon später noch begreifen. Vielleicht hat der Ring die Kraft, das Echte vom Unechten unterscheiden zu lehren. Das, was ist, von dem, was nur scheint.«

»Aber weshalb hat der Urgroßvater den Ring dann wohl beseitigen wollen?«

»Weil diese Kraft, mein Sohn, den Menschen mehr Unglück als Glück bringt, wie er selbst in seinem Leben genug erfahren hat, und weil man schon ein Sonntagskind sein muß, um die Probe siegreich zu bestehen.«

» In hoc anulo vita et mors,« zitierte ich. »Leben und Tod sind in diesem Ring. So wäre also das der Sinn? Ob's dann nicht besser wäre, ihn auf der Stelle hier beim Eibenbaum zu vergraben, damit er über niemand mehr Unglück bringen kann?«

Meine Mutter schüttelte den Kopf.

»Es wäre umsonst. Es heißt, wer ihn einmal an der Hand gehabt hat, dem bleibt sein Zauber. Auch käme wohl nach Zeiten ein anderes Sonntagskind, das ihn wiederfände. Behalte, was dir gehört. Möge es dir ein Ring des Lebens sein, wenn ich lange nicht mehr auf der Erde bin!«

Ich fühlte, wie etwas leise und warm auf mich niedertropfte, und schlang meinen Arm um meine Mutter.

»Mutter! Du hast ja Tränen!« rief ich und fühlte, wie auch mir etwas in die Augen trat.

»Auch Tränen gehören zum Ring des Lebens,« erwiderte meine Mutter. »Es tanzt nicht nur Fortuna auf der Kugel. Wenn du ihn drehst, so kommt der Knochenmann hier mit Stundenglas und Hippe.«

»Und der leuchtende Käfer zwischen den beiden?« forschte ich.

»Ein Skarabäus aus einem Karneol geschnitten! Er soll aus Gräbern stammen.«

»Was mag er bedeuten, Mutter?«

»Vielleicht das Menschenherz, mein Sohn!«

Draußen auf der Straße, die dicht am Gartenzaun vorüberführte, klang schneller Hufschlag. Unwillkürlich wandte ich meine Blicke hinaus. Es waren Friedrich und Isabeau, die des Weges dahergeritten kamen und jetzt kurz vor dem Gartenzaun ihren Trab zu einem kurzen, tänzelnden Schritt mäßigten. Isabeau wiegte sich nachlässig im Sattel. Das weiße Kleid floß weich um ihre Glieder. Der schwarze Schal war dicht um ihre Schultern gezogen und schien ihr einen Anstrich ins Spanische zu geben. Friedrich hielt sich nahe an ihrer Seite. Seine langen Beine schlenkerten um den Leib des Braunen, so daß es aussah, als könne man sie unten zu einem Knoten zusammenbinden.

Ich biß die Zähne zusammen und ballte die Faust um den Ring in meiner Rechten, während draußen vor dem Gartenzaun die Erscheinung mit Hufschlag vorüberzog.

»Ist das das Leben?« sagte ich zu meiner Mutter. »Schön! Der Tanz kann beginnen!«


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