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Die Auferstehungsnacht des Doktor Adalbert

Osternovelle

An diesem Tage, der nach dem Ratschluß der Gestirne sein letzter werden sollte, stand Dr. Adalbert wie immer um fünf Uhr morgens auf. Er hatte das werktags und sonntags, sommers und winters getan, solange er hier zwischen den Tiegeln, Töpfen, Gläsern, Flaschen, Kolben, Röhren, unter den Säuren und Dämpfen seines Laboratoriums hauste, und das waren jetzt mehr als dreißig Jahre. Es war ihm übrigens nie eingefallen, sich über solche Kalenderfragen den Kopf zu zerbrechen. Das war etwas für Leute, die nichts zu tun haben, für Steuersekretäre, Konsistorialräte oder Gerichtsaktuare, aber nicht für jemand, dem noch eine Aufgabe obliegt in der Welt. Die Zeit vergeht und das Leben ist kurz, das wußte man. Irgendein Vers dieses Inhalts haftete noch aus der Horazstunde in ihm, die er in der Prima gehabt hatte. Auch das vertrackte Glockenspiel auf der nahen Gertraudenkirche predigte es in stündlichen Zwischenräumen, ohne daß man die Ohren dagegen verkleben konnte.

Dr. Adalberts Laboratorium, das gleichzeitig seine Behausung darstellte, lag nämlich geradezu und wörtlich im Schatten der zeitgeschwärzten gotischen Stadtkirche zu Sankt Gertrauden, indem es, windschief wie es war, sich gegen die Seitenfront der Sakristei lehnte, in der Art eines leicht Betrunkenen, der auf einem Bein stehend irgendwo mit der Schulter Halt sucht. Vermutlich war es der letzte Rest eines niedergerissenen Klosters. Mit seiner hallenförmigen Anlage und den drei Spitzbogenpfeilern mochte es das Refektorium der Mönche gewesen sein; was denn von neuem den alten Volksspruch zu Ehren brachte, daß der Teufel nirgendwo lieber Quartier zu nehmen pflegt als im Dunstkreis von Kirchen, Klöstern und Kapellen.

Dr. Adalbert stand nämlich bei seinen Mitbürgern im Geruch eines rechten Hexenmeisters und Höllenbratens, wobei man berücksichtigen möge, daß als Schauplatz dieser wahrhaftigen Geschichte eine kleinere Stadt in einem entlegenen deutschen Provinzzipfel zu gelten hat. Man wußte natürlich auch dort so gut wie an den Stätten einer fortgeschritteneren Erleuchtung und Aufklärung, daß es keinen Teufel gibt und daß die Hexerei von Amts wegen abgeschafft ist. Die Gebildeten sahen den Dr. Adalbert als das an, was er war, als einen Chemiker von Rang, der schon allerlei Merkwürdiges entdeckt, erfunden, bewiesen hatte und vielleicht noch Merkwürdigeres ans Licht zu fördern berufen sein werde. In die Welt der harnsauren Salze und ihrer verschiedenartigen Verbindungen hatte er schon vor dreißig Jahren hineingeleuchtet wie kein zweiter vor ihm. Später hatte er sich allgemeineren Forschungen über das Wesen der Elemente, ihre Zerlegung und Umwandlung hingegeben, worüber mehrere schwer zu lesende Bücher von ihm Bericht erstatteten. Praktische Erfindungen waren nebenhergegangen. Im Laufe eines Menschenalters hatte sich eine ansehnliche Zahl davon zusammengefunden und ihren Urheber zum sehr vermögenden Manne gemacht. Eingeweihte Stellen Neuburgs schätzten ihn mit einer vielstelligen Ziffer ab. Nun war in allerjüngster Zeit bekanntgeworden, daß er sich mit nichts geringerem beschäftige als mit der Erfindung eines Verjüngungsmittels, einer Art von Lebenselixier, demnach den Traum mittelalterlicher Alchimisten auf neuzeitliche Weise zu verwirklichen trachte.

Man wird verstehen, daß derartige Arbeiten, Leistungen, Bestrebungen mit der Zeit einen Schleier des Geheimnisses um Dr. Adalbert gewoben hatten, der ihn in den Augen des Volkes wie nur irgendein Magiermantel der Vorzeit umkleidete und schließlich auch bei den Gebildeten, bei untadelhaft nüchternen Männern wie Amtsgerichtsrat Hammerbein und Apothekenbesitzer Pürzel nicht ohne Eindruck blieb. Nur Oberarzt Dr. Piepkorn pflegte sich über diese Frage abweichend zu äußern, was jedoch keinen verwundern konnte, da Piepkorn von jeher als unentwegter Freidenker und Demokrat aufgetreten war.

Am Freitagstammtisch in der »Trommelbude« – übrigens ganz in der Nähe des Laboratoriums – hatten in letzter Zeit hitzige Debatten über Dr. Adalbert stattgefunden ... Man ist ja nicht nur Beamter oder sonst eine Berufsperson. Man ist auch Mensch. Und gerade in menschlicher Beziehung gab Dr. Adalberts Persönlichkeit doch zu vielen Bedenken Anlaß. Die Frauenwelt Neuburgs, die sonst sehr auseinanderging, war sich in dem Verdammungsurteil über ihn vollständig einig, was natürlich auch auf einen nicht kleinen Teil der männlichen Partner abfärbte.

Es muß nämlich gesagt werden, daß Adalbert dreimal verheiratet gewesen und ebenso oft geschieden worden war. Alle drei Frauen waren nicht aus Neuburg gewesen – ein eigenes Kapitel das für das stark entwickelte Neuburger Heimatbewußtsein! – und alle drei hatten nach erfolgter Trennung Neuburg verlassen, ohne daß man wieder von ihnen zu hören bekam. Mancherorten behauptete man, gerade dies habe sich Adalbert in dem jeweiligen Scheidungsabkommen ausbedungen. Ein zureichender Grund hierfür war eigentlich nicht ersichtlich. Amtsgerichtsrat Hammerbein stellte es auch ganz förmlich in Abrede, und wer hätte es wissen sollen, wenn nicht Hammerbein in seiner Eigenschaft als beteiligte Gerichtsperson? Trotzdem erhielt sich ein dunkles Geflüster von diesen Dingen und verdichtete sich schließlich zu dem nicht greifbaren und doch umlaufenden Gerücht, Dr. Adalbert habe sich seiner geschiedenen drei Frauen auf geräuschlose Weise entledigt, was ihm als altem Giftkenner sicher nicht habe schwer fallen können.

Seit Adalberts letzter Scheidung waren vier Jahre verflossen. Er stand damals gegen Ende fünfzig. Die erste Scheidung lag lange zurück. Es konnte ein Menschenalter her sein. Aus dieser Ehe war ein Sohn entsprossen, den die Mutter bei ihrem Wegzug von Neuburg mitgenommen und von dem ebensowenig mehr verlautet hatte wie von ihr selbst. Am längsten hatte Adalberts dritte Ehe gedauert. Diese Frau stammte aus einer westlichen Großstadt, wo Adalbert wegen der Verwertung seiner Patente öfters zu tun hatte. Sie war Malerin und blieb es auch während ihrer mehr als achtjährigen Ehezeit. In Neuburg erinnerte man sich noch gut, daß sie sämtliche alten Tore und alles romantische Gewinkel, woran die Stadt reich war, auf die Leinwand gebracht hatte, dabei aber jeder Annäherung der immer reichlich vorhandenen Zuschauer ausgewichen war. Mußte man nicht glauben, daß sie es ihrem Manne nachtun wolle, der sich ja auch jedermann möglichst vom Leibe hielt?

Das war nun alles lange vorbei. Die Welt hatte andere Sorgen gehabt, und Neuburg war bei Gott nicht davon verschont geblieben. Man hatte sich mit dem Fall Adalbert abgefunden, wie er nun einmal lag, als dem eines teils genialen, teils verschrobenen Sonderlings, der ja nun auch in die Jahre und damit wohl zur Vernunft gekommen war. Ein Mann gegen die Mitte der sechzig pflegt kein Vulkan mehr zu sein. Selbst die bedenklichsten Blaubartgelüste erlöschen, wenn der Ofen keine Glut mehr bekommt.

Da hatte Dr. Adalbert gerade vor einem Jahr eine junge Gehilfin in sein Laboratorium aufgenommen. Sie hieß Erna Krüger und war, wie man bald erfuhr, die Tochter eines auswärtigen Regierungsrates, also aus recht gutem Haus. Man sprach davon, daß sie verlobt sei, ohne jedoch näheres zu wissen, da der Bräutigam sich während des ganzen Jahres nicht in Neuburg gezeigt hatte.

Erna Krüger war ein großes schlankes Mädchen mit sehr sprechenden Augen von unbestimmter Färbung, die manchmal ins Schwärzliche floß, meist aber in einem feuchten dunkeln Grau spielte. Es gab Männer, die sie schön fanden, obwohl ihre Gesichtszüge nicht regelmäßig zu nennen waren, vielmehr mit den etwas breiten Backenknochen slawischen Einschlag zeigten. Sehr sympathisch wölbte sich die kluge hohe Stirn, die Geist und Nachdenklichkeit verriet. Was vielleicht am meisten an ihr auffiel, war ihr volles Haar in venezianischem Rotbraun, dessen Echtheit jedem Zweifel standhielt. Jedenfalls war sie eine fesselnde Erscheinung, die mit einem geheimen sinnlichen Reiz für sich warb.

In Neuburg war es gute, alte Gepflogenheit, am Stammtisch und im häuslichen Kreise die Angelegenheiten des Nächsten in den Kreis seiner Betrachtungen zu ziehen und im Garten des Nachbarn das Gras wachsen zu hören. Auch mit Erna Krüger beschäftigte man sich mehr und mehr und ging bald dazu über, zwischen dem eigentümlich verführerischen Mädchen und ihrem ausgekochten alten Prinzipal, der trotz seiner echtbürtigen Neuburger Abstammung doch auch immer ein Fremder geblieben war, verbotene Beziehungen zu wittern. Neben andern Auffälligkeiten stellte man zum Beispiel fest, daß im persönlichen Verkehr Dr. Adalbert seine junge Assistentin duzte, diese ihn dagegen mit Meister und Sie anredete. Das mußte natürlich auf ausdrücklicher Verabredung beruhen, die doch wieder Annäherung, Reibung, Gefühlsspannung voraussetzte. Lag nicht auch Adalberts Vergangenheit, seine drei Ehen und Scheidungen, nur allzu offenkundig vor den Blicken der Mitwelt ausgebreitet? Es ist schon so, daß die Katze das Mausen nicht läßt. War zu erwarten, daß der alte Sünder von den Pfaden seiner Jugend abgewichen und bußfertig geworden sein solle?

Die Frage stellen, hieß sie verneinen. Die öffentliche Meinung Neuburgs wußte genug. Über dem Haupte der jungen Fremden wurde das Stäbchen zerbrochen. Als sie am ersten März das seit einem Jahr von ihr bewohnte Zimmer am Stadtgraben aufkündigte, da sie zu Ostern den Ort verlassen wolle, wurde ihr von ihrer Mietgeberin bedeutet, es sei gut so, da sonst ihr gekündigt worden wäre. Auf Ernas befremdete Frage, wie das zu verstehen sei, hatte Frau Leberecht, die Zimmerwirtin, sich hinter ein vieldeutiges Schweigen verschanzt.

An Dr. Adalbert selbst traute man sich mit derartigem Mundspitzen und Augenzwinkern nicht heran. Er war bekannt als grober Klotz, um den man am besten einen weiten Bogen machte. Der große breitschultrige Mann mit dem schüttern, noch schwärzlichen Haar, den grünen Katzenaugen und dem vorspringenden Raubtiergebiß, um das fortwährend ein maliziöses Lächeln zu sehen war, flößte schon rein körperlich den nötigen Respekt ein. Noch mehr gefürchtet war sein beißender Witz, der sich wie eine von seinen Säuren einfraß und gleichsam Löcher in der Seele des davon Betroffenen zurückließ. In einer der Freitagsitzungen der »Trommelbude« war das Scherzwort entsprungen, wer mit Dr. Adalbert persönlich zu tun haben wolle, müsse sich vorher mit einer Gasmaske versehen. Es wurde damals viel belacht und nachher oft wiederholt.

An diesem Morgen also, der sein letzter werden sollte – es war der Sonnabend in der Karwoche und auf den nächsten Tag stand Ostern an –, erhob sich Dr. Adalbert wie gewöhnlich um fünf Uhr von seinem alten wackligen Feldbett, das er in der hintersten Ecke des Laboratoriums aufgeschlagen hatte. Die Sonne, die soeben aufgegangen war, schien durch ein paar zersprungene Scheiben des gegenüberliegenden Spitzbogenfensters und schielte um den Mittelpfeiler des hallenartigen Raums. Es kam Dr. Adalbert vor, als sei etwas Böses, Giftiges in diesen Sonnenstrahlen. Während er mit hastigen und zerstreuten Bewegungen in seine Kleider fuhr, hörte er hoch über sich die helle klingende Stimme des Glockenspiels von Sankt Gertrauden, das sein Stundenlied ableierte: »Dir, dir, Jehova, will ich singen.« Adalbert kannte die Melodie auswendig, wie alle andern, die ihn von dort oben gemahnt hatten im Wechsel der Stunden, Tage, Wochen, Jahre, Jahrzehnte.

Adalbert ärgerte sich über sich selbst. Zum zweiten Male, seit er sich heute den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, ertappte er sich auf etwas so ganz Unnützem wie Zeitbemessungen und Kalenderfragen. Er erwog, ob er nicht den Kopf in die Waschschüssel stecken solle, um sich auf andere Gedanken zu bringen, stand aber sofort davon ab. Was hätte es auch genützt! Alle Gedanken, die ihm heute kamen, waren von galliger und giftiger Natur. Auch jener anzügliche Sonnenstrahl war es, der an den Flaschenregalen entlang pilgerte und jetzt immer deutlicher auf die Waschschüssel hinsteuerte, indem er Myriaden von Sonnenstäubchen auf seiner Lichtbahn tanzen ließ. Dr. Adalberts Zorn richtete sich plötzlich gegen diese alte blecherne Schüssel. Sie stand in einem weißgestrichenen Eisengestell neben dem Fußende seines Eisenbetts und schien ihn mit ihrer ruhigen Sachlichkeit anzuhöhnen. Jeden Abend, wenn er seinen Kopf ins Freie hinaustrug, um ihn von Dunst und Qualm der entfesselten Elemente zu lüften, kam seine Aufwärterin, ein altes Haustier, das Urbild einer gutartigen Hexe, um mit dem zu ihr gehörigen Besen über die Steinfliesen des Laboratoriums hinzufahren und Staub durcheinanderzuwirbeln. Und jeden Abend pflanzte sie mit der Unfehlbarkeit eines Uhrwerks die frischgefüllte Waschschüssel neben seinem Bett auf, obwohl sie am nächsten Abend die Schüssel unberührt vorfand und längst wissen mußte, daß er niemals einen Tropfen Wasser an sein Gesicht oder an seine Hände heranließ. Wenn körperliche Reinigungen einmal unerläßlich waren, so standen einem alten Chemiker, der dem Gesetz der Bindungen und Lösungen bis in seine dunkelsten Winkel nachgespürt hatte, andere und wirksamere Mittel dafür zu Gebot als die Formel H2O.

Er stieß unwillig an das eiserne Waschgestell, so daß die darin schwebende Schüssel einen Teil ihres Inhalts auf die Steinfliesen ergoß. Dr. Adalbert wandte sich zähnefletschend ab und ging daran, den Spirituskocher in Brand zu setzen, um sich seinen Frühstückskaffee zuzubereiten. Das Glockenspiel auf dem Kirchturm über ihm hatte sein »Dir, dir, Jehova, will ich singen« zu Ende geklingelt und schwieg jetzt bis zum nächsten vollen Stundenschlag. Das Leben draußen auf dem Kirchplatz und in den Straßen war noch nicht erwacht. Nur selten hallte ein Schritt auf den grasbewachsenen Pflastersteinen und verklang in der Ferne. Es war totenstill in dem ehemaligen Refektorium, das durch die drei hintereinanderstehenden Ziegelpfeiler in zwei gleich breite, ziemlich tiefe Längsschiffe abgeteilt wurde. Mit der primitiven Einfachheit seiner Ausstattung gemahnte es noch immer an seine einstige mönchische Zweckbestimmung. Adalbert hatte die Hände auf den Rücken gelegt und ging mit schweren Schritten zwischen seinen Reagenzgläsern und Apparaten auf und ab, während die Kaffeemaschine leise zu zwitschern begann. Er wußte jetzt, woher dieses Spinngewebe von üblen und wehleidigen Gedanken stammte, in das er hineingeraten war.

Es kam davon her, daß Erna Krüger, seine junge Assistentin, heute Abschied nehmen wollte, um zu ihren Eltern und zu ihrem Bräutigam, dem Studienassessor, zurückzukehren. Das Jahr, für das sie sich verpflichtet hatte, war abgelaufen. Es war kaum zu erwarten, daß sie beide sich wiedersehen würden. Ja, es war in gewisser Hinsicht nicht einmal zu wünschen. Wenn er aufrichtig gegen sich sein wollte, so war festzustellen, daß es ein Abschied für immer sein werde.

Adalbert fühlte plötzlich auf der linken Brustseite, wo der Herzmuskel lag, einen Krampf, der ihm für einen Augenblick das Leben abzuschnüren drohte. Er schwankte leicht und griff unwillkürlich nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Eine purpurne Finsternis war um ihn, durch die blitzschnell die Angst zuckte, daß nun das lang Erwartete da sei. Nicht der Tod. Er fürchtete ihn nicht und erwartete ihn auch noch nicht. Wenn er ihn brauchte, so wußte er ja, daß er nur einer kurzen Handbewegung dazu bedürfen werde. Nein, was ihn schreckte, das war das Alter!

Er warf mit einem heftigen Ruck den Kopf zurück und stand wieder fest auf seinen Beinen. Seine Sinne waren der grellen giftigen Helligkeit des Aprilmorgens von neuem aufgetan. In seiner rechten Hand fühlte er es kalt. Er merkte erst jetzt, daß er den Messinggriff des Giftschrankes umklammert hielt, an dem er gerade gestanden hatte.

Er wischte sich ein paarmal über die Stirn. Ja, das Alter war es! Vor den Erscheinungen des Alters graute ihm! Er hatte sie bis zu diesem Augenblick nicht gekannt. Hatte seinen Jahren nie nachgerechnet. Dreiundsechzig oder vierundsechzig? Er wußte es selbst nicht genau. Vielleicht war das lächerlich. Die Leute, die so etwas von ihm hörten, glaubten es ihm nicht. Möglich, daß sie recht hatten. Irgendwo im Unterbewußtsein mußte eine Uhr vorhanden sein, die alles Strich für Strich kontrolliert und registriert, den Ablauf der Stunden, der Tage, der Jahre. Wie wäre er sonst darauf verfallen, gerade ein Verjüngungsmittel zu erfinden?

Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete den Schrank. Fach reihte sich an Fach, nebeneinander, untereinander, viele Dutzende, jedes mit einem weißen Kärtchen, auf dem der Inhalt benannt war. Es war Dr. Adalberts Stolz, seine Giftsammlung, deren Vollständigkeit von keiner anderen in der Welt übertroffen werden konnte. Pflanzengifte, mineralische Gifte, flüssige, pulverförmige, gasförmige, Tabletten, Essenzen, Pillen, Gerüche ... In jedem dieser hundert Fächer wartete in immer anderer Maske der Tod. Ein Wink, und er war da, wie nur der schnellste Kammerdiener von der Welt.

Aber es war nicht dies, was Dr. Adalbert beschäftigte. Er drückte auf eine verborgene Feder. Eine Klappe schnappte zurück. Ein geräumiges Fach öffnete sich, in dem ein Kristallfläschchen stand. Eine Mappe mit Papieren lag daneben. Adalbert hielt das Fläschchen gegen das Licht. Es war eine farblose ölige Flüssigkeit darin wie Glyzerin. Adalbert nickte ein paarmal vor sich hin und wog das unscheinbare Ding in der Hand ab. Wie viele mochte es geben, die es ihm hundertfach mit Gold aufgewogen hätten! Aber was ging ihn das an! Er konnte auf diesen Handel verzichten. Geld spielte keine Rolle mehr bei seinen Berechnungen und Experimenten. Er hatte von Jugend an zu allererst an die Sache gedacht, und dies war sein Erfolg geworden. Aber es war doch zu berücksichtigen gewesen, daß auch verdient werden mußte, um weiterarbeiten und -experimentieren zu können. Jetzt war auch diese letzte Schlacke aus dem Tiegel ausgeschieden. Es gab keine Fehlerquelle mehr, aus der sich Fremdstoffe zwischen die Zahlen und Formeln mengen konnten. Das Experiment um seiner selbst willen! Die wissenschaftliche Idee in ihrer höchsten Vergeistigung, in ihrer letzten abstrakten Sublimierung! Er konnte von sich sagen, daß er bis zu den obersten erreichbaren Höhen des chemischen Denkens vorgedrungen war, in deren Atmosphäre gerade noch ein Atmen möglich ist.

Und hier fand sich nun das sichtbare und greifbare Destillat der lebenslangen Arbeit. Was in diesem winzigen Flacon enthalten war, stellte die Materia prima dar, wie die alten Chemiker, seine Vorgänger, es getauft hatten. Das Element der Elemente, die Natura naturans, wonach sie alle gesucht hatten und was doch keinem zu finden geglückt war. Er hatte niemals der besonders in seiner Jugend üblichen Verachtung jener berüchtigten Nekromanten und Alchimisten beigepflichtet. Es war kein Zweifel, daß sie innerhalb der ihnen gesteckten Erkenntnisgrenzen das Ihrige getan hatten, um vorwärtszukommen und Licht in das Dunkel zu bringen. Sie hatten dabei teils Gott, teils dem Teufel zu dienen geglaubt. In Wirklichkeit war es der Forschungstrieb, von dem sie besessen waren und von dem sich allerdings nicht genau bestimmen läßt, ob er mehr von Gott oder vom Teufel stammt. Er hatte das an sich selbst genug erfahren.

Er runzelte die Stirn. Sein Gesicht verfinsterte sich. Erinnerungen kamen und gingen. Er war kein Freund von Erinnerungen. Ballast, den man über Bord werfen soll! Nur daß er wieder auftaucht wie Leichen von Ertrunkenen! Aber Leichen kann man mit Steinen beschweren. Dann gehen sie für immer auf den Grund. Sollte es nicht auch möglich sein, irgendeine ähnliche Gehirnvorrichtung zu ersinnen, damit Geschehenes niemals mehr zum Vorschein kommt?

Dr. Adalbert schüttelte verbissen den Kopf. – Wahrlich! Es schien schlimm genug mit ihm bestellt zu sein! Alterserscheinungen alles miteinander! War es nicht höchste Zeit, seine Erfindung am eigenen Leibe auszuprobieren? Er hatte es mit stets neuen Vorwänden aufgeschoben, das Präparat bei sich selbst in Anwendung zu bringen. Mußte sich nicht die Frage erheben, ob es jetzt nicht der Welt zugänglich gemacht werden solle, den Mitmenschen, allen den anderen, die ebenso an der Reihe waren wie er, und es ebensowenig sein wollten?

Aber diesen Gedanken stieß er sofort mit Ingrimm weg. Solange er lebte, war das Mittel allein für ihn selbst bestimmt. Was nachher daraus werden solle, darüber war noch nichts entschieden. Es hatte auch keine Eile. Wichtig war vorerst nur eins: Wann er selbst ...?

Mäuse, Ratten, Kaninchen, Meerschweinchen, Katzen, Hunde, Affen, sogar ein alter knurriger Waschbär hatten in zahllosen Versuchen die Lösung von ihm eingespritzt bekommen. Ein eigener geräumiger Stall, den er rückwärts an das Laboratorium angebaut hatte, diente diesen Zwecken. Fehlschläge hatte es im Verlauf der vieljährigen Arbeiten so manche gegeben. Aber schließlich waren die Experimente geglückt. Jedes Tier reagierte mit den für seine Art charakteristischen Symptomen auf das Präparat und verjüngte sich innerhalb einer ganz bestimmten, nur ihm eigentümlichen Frist. Auch die Dauer des Zustandes selbst, die Spanne, um die durch den Verjüngungsprozeß die physische Lebensdauer sich verlängerte, war für jede Tiergattung verschieden. Gemeinsam aber war allen das eine Gesetz, daß das Mittel nur einmal wirkte, kein Individuum also mehr als einmal davon profitieren konnte. Hier war die Grenze von Wissenschaft und Menschenwitz. Jeder Versuch, über sie hinauszukommen, war gescheitert. Dahinter stand der Tod. Einmal ließ er mit sich paktieren, für eine gewisse, so oder so bemessene Frist! Im übrigen war er unerbittlich. Man entkam ihm nicht.

Ein dünner Pfiff schrillte durch den totenstillen Raum. Das Kaffeemaschinchen meldete, daß sein Werk beendigt sei. Adalbert stellte das Fläschchen in das Fach zurück. Er tat es mit einer gewissen Hast. Das Ding brannte ihm plötzlich zwischen den Fingern. Ein kaum zu besiegender Drang trieb ihn, es zu öffnen und sich eine Probe davon zuzuführen. War es nicht geradezu ein Gebot wissenschaftlicher Ehrlichkeit und Folgerichtigkeit, das Experiment endlich auch an sich selbst vorzunehmen? Konnte die Anwendbarkeit des Mittels für den Menschen, nicht nur für das Tier, überhaupt anders bewiesen werden als durch das eigene Experiment? Ein Sprung ins Dunkle? Warum? Was für das Tier gilt, gilt richtig übertragen auch für den Menschen. Und diese Übertragung hatte er berechnet. Es war eine ebenso mühsame wie sinnreiche Synthese von Formeln dazu nötig gewesen. Aber das Resultat war unanfechtbar. Das Einspritzungsvolumen, das für einen Menschen seines Alters notwendig war, stand genau fest. Wo also lag das Wagnis? Weshalb zögerte er noch?

Er nahm die Papiere aus dem Fach. Es waren die Berechnungen, die er angestellt hatte, in ihrer endgültigen Fassung. Vielleicht verlangte die wissenschaftliche Vorsicht, daß er sie noch einer allerletzten Kontrolle unterzog. Er ließ das Geheimfach zuschnappen, ohne das Fläschchen noch einmal anzurühren.

Sein fachkundiger Blick überflog die Reihen der verschlossenen Giftfächer. Erna Krüger, die öfters schöngeistige Anwandlungen hatte, pflegte angesichts dieser Fächer von einer Klaviatur des Todes zu sprechen. Vielleicht hing es damit zusammen, daß ihm ein Einfall durch den Kopf schoß. Er dachte einen Augenblick nach und verzog sein Gesicht zu einer diabolischen Grimasse. Der Studienassessor, der heute seine Braut abholen kam! Und sie, die ihm folgte, ohne sich klarzumachen, wen und was sie aufgab! War er ihnen beiden nicht ein Abschiedsfest schuldig, das seiner würdig war?

Sein Plan lag mit einemmal deutlich vor ihm da. Was noch fehlte, konnte der Zufall improvisieren. Er schloß den Giftschrank ab, ging zu dem Werktisch, wo seine Kaffeemaschine stand, und breitete neben der Tasse seine Berechnungen und Tabellen aus, um sich noch einmal von ihrer Richtigkeit zu überzeugen.

Er hatte mehrere Stunden in seine Arbeit vertieft gesessen – wie lange wußte er selbst nicht –, als draußen auf dem Flur die Hausglocke schepperte. Es klang wie das Wutgeheul eines alten heiseren Hofhundes. Der Vergleich stammte von Erna Krüger. Sie hatte sich oft darüber amüsiert. Sie war es übrigens vermutlich selbst, die läutete. In diesem Augenblick begann die Turmuhr von Sankt Gertrauden zu schlagen. Jeder Schlag dröhnte metallisch durch den gewölbten Raum, bis sich seine letzten Schwingungen in den leise klirrenden und schwirrenden Reagenzgläsern verloren. Dr. Adalbert zählte die Schläge mit. Es war acht Uhr. Mit dem achten Schlage setzte pünktlich das Glockenspiel ein. »Dir, dir, Jehova, will ich singen.«

Adalbert spuckte so etwas wie einen Fluch aus und stapfte auf den Flur hinaus, um zu öffnen.

»Guten Morgen, Meister!« sagte Erna Krüger, die in einem kleidsamen dunkelblauen Reisekostüm hereintrat. »Heute haben Sie mich antichambrieren lassen wie einen Gerichtsvollzieher! Ich habe den Hofhund soundso oft in den Schwanz gekniffen. Es half alles nichts!« Sie lachte und hatte einen spitzbübischen Ausdruck in ihren großen dunkelgrauen Augen. Ein paar lustige Grübchen zeigten sich.

»Ich war schon versucht, durch den Schornstein zu Ihnen herunterzufahren!«

»Als rothaarige Hexe, die du ja auch leibhaftig bist!« knurrte Adalbert. »Zum Glück bin ich gegen Hexerei in jeder Gestalt gefeit. Man hat nicht umsonst seinen Hexenhammer von A bis Z durchstudiert, den Malleus maleficarum. Hieb-, stich-, kugel-, hexenfest! So ist es mit Doktor Adalbert bestellt!«

»Vielleicht weil Sie selbst der gefährlichste Hexenmeister sind, von dem die ganze Blocksbergzunft noch lernen kann,« meinte Erna Krüger mit einem verschleierten Lächeln. Es war merkwürdig, wie schnell der Ausdruck ihrer Augen wechseln konnte. Eben noch lustig bis zur Ausgelassenheit, blickte sie jetzt nachdenklich und versonnen drein. Melancholie schien nicht fern zu sein. Dr. Adalbert streifte ihr Gesicht mit einem kurzen Seitenblick. Er wollte etwas sagen, schluckte es aber herunter. Es kam nur eine seiner bekannten Raubtiergrimassen zum Vorschein.

»Hole der Teufel alle siebengescheiten Frauenzimmer!«

Sie standen jetzt beide im Laboratorium. Ihre Augen hafteten ineinander. Das hochgewachsene Mädchen reichte dem großen, breitschultrigen Mann bis zur Stirnhöhe. Wie in einer plötzlichen Ergriffenheit fiel ihr Kopf an seine Brust. Er ließ es einen Augenblick geschehen. Dann schob er sie mit einer beinahe zart zu nennenden Bewegung fort.

»Was soll das?« murmelte er. »Keine Programmwidrigkeiten! Ich dächte, man wäre mit sich im reinen?«

Erna nickte.

»Er kommt um zehn. Ich hole ihn von der Bahn ab. Morgen früh ist es zu Ende hier! Dann nimmt er mich mit ...«

»Und wann findet das eheliche Beilager, will sagen die Hochzeit von Herrn und Frau Studienassessor statt?«

»Nicht den Hohn, Meister! Sie haben versprochen, unser Freund zu bleiben.«

»Ein Schelm, wer mehr verspricht, als er halten kann!«

Erna Krüger ergriff seine Hand und hielt sie fest.

»Diesen einen Tag müssen Sie mir noch schenken! Diesen letzten! Das Leben ist ja so unabsehbar lang!«

»Findest du? ... Mag sein, wenn man dreiundzwanzig ist! Obwohl es Mittel gibt, die Prozedur wesentlich abzukürzen ...«

Er hatte den Kopf ein wenig zur Seite gewandt. Ernas Blick folgte der Richtung seiner Augen. Dort zwischen den beiden dicken Ziegelpfeilern stand ein Schrank, dessen Inhalt sie kannte ... Aber irgend etwas zwang sie in ihre eigene Gedankenbahn zurück.

»Unabsehbar lang ist das Leben!« wiederholte sie, indem sie den Kopf in den Nacken zurückfallen ließ und ihre Worte von der Deckenwölbung abzulesen schien. »Ganz unabsehbar lang! Ich habe gestern abend ausgerechnet, wenn ich fünfzig Jahre alt werde ... recht bescheiden, nicht wahr? ... also um fünfzig Jahre alt zu werden, habe ich noch neuntausendsiebenhundertundzwölfmal aufzustehen und schlafen zu gehen! Neuntausendsiebenhundertundzwölf Tage und Nächte, die gelebt werden müssen, Meister! Und einen einzigen davon sollen Sie mir noch schenken! Den heutigen, den letzten! Alle andern werde ich ohne Sie sein! Ist das zuviel gebeten?«

»Und um dir diesen einzigen, diesen letzten Tag mit mir nicht zu lang werden zu lassen, hast du dir den Studienassessor herbestellt!«

»Nicht bestellt! Es ist sein eigener Einfall. Er will nicht, daß ich allein reisen soll. Er ist Kavalier!«

In Ernas Worten klang nichts von Ironie, nur eine ruhige, beinahe resignierte Sachlichkeit.

Dr. Adalbert fletschte sein Wolfsgebiß.

»Ich habe meiner Lebtag nicht Zeit gefunden, mit Kavalieren zu verkehren. Bedauerliche Lücke in meiner Bildung! Freut mich, daß du mir noch Gelegenheit gibst, sie auszufüllen!«

Erna legte wie bittend die Hand auf seinen Arm.

»Bitte mich nicht zu unterbrechen!« wehrte er ab. »Es ist nie zu spät, von Kavalieren zu lernen! Ihr seid für heute abend zu einem Abschiedsfest bei mir eingeladen, du und der Studienassessor!«

»Danke, Meister! Das ist lieb von Ihnen! ... Aber sagen Sie nicht immer Studienassessor. Er ist doch ein Mensch!«

»Mensch, Studienassessor und Kavalier in schöner Dreieinigkeit!«

Erna stampfte mit dem Fuß auf.

»Sie sollen ihn nicht verspotten! Er ist ein Mensch! Ja, ich behaupte das, obwohl Sie ja wissen, daß ich ihn nicht lieben kann! Aber man muß gerecht sein, auch wenn es sich um einen Mann handelt, den man in zwei Wochen heiraten soll und nicht liebt! ... Er ist ein Mensch von ganz seltener Art! Er heißt Martin! Damit ist alles gesagt! Martin Treubier! Umspannt das nicht eine Welt von Biedersinn und Anständigkeit? Werde ich nicht herrlich aufgehoben sein?«

Wieder war der Schalk in ihren Augen und um ihre Mundwinkel.

»Kokettes Frauenzimmer!« knurrte Dr. Adalbert. »Was geht mich euer ganzer Quark an! Legt euch zwischen die Leintücher und erzeugt ein Rudel Kinder! Danach steht ja doch alle deine Sehnsucht! Wissenschaft hin, Wissenschaft her! Du gibst die ganze Chemie, alles, was du bei mir gelernt hast und noch hättest lernen können, gibst du für so ein kleines, affenähnliches Tier her, das jede Minute trockengelegt werden muß! Also dann erlebe dein Schicksal! Zwischen uns ist es aus!«

»Ist es das wirklich, Meister?«

Sie hatte einen weichen, bittenden Ton, den er nur zu gut an ihr kannte, und schlug dabei die Augen zu ihm auf.

»Unbedingt und für alle Zeit!« stieß er heraus und machte ein paar Schritte von ihr fort. Sie folgte ihm nicht.

»Ich bin doch schließlich ein junges Weib,« sagte sie, indem sie ihren Kopf auf ihre gefalteten Hände stützte. »Warum soll ich nicht ein Frauenschicksal ersehnen? Hätte ich vielleicht warten sollen, bis ich kein junges Weib mehr bin und alles vorbei gewesen wäre, das bißchen Jugend und das bißchen Reiz?«

»Du warst meine Mitarbeiterin! Mein Werkzeug!« schrie Dr. Adalbert und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das hattest du zu bleiben! Da lag dein Schicksal! Das hattest du zu wollen! Ich hätte etwas Brauchbares aus dir gemacht! Statt dessen gehst du hin und kriechst mit einem Schulmeister zusammen! ... Es lohnt sich nicht, ein Wort darüber zu verlieren!«

Adalbert wischte sich über die mächtige Stirn. Der Schweiß lief ihm herunter. Nach ein paar Augenblicken setzte er hinzu:

»Im übrigen halte ich mein Wort. Ich gebe euch heute abend ein Abschiedsfest, dir und deinem Erwählten. Ich hoffe mir damit ein Denkmal bei euch zu setzen.«

»Ein Denkmal! Gewiß!« wiederholte Erna Krüger, ein bißchen gedankenlos. Irgend etwas in Dr. Adalberts Ton fiel ihr auf. Aber sie fand keine Zeit, darüber nachzusinnen. Sie suchte nach Worten für etwas, das längst in ihr war und endlich ans Licht wollte.

»Lieber Doktor,« sagte sie wie beiläufig, »wissen Sie auch, daß Sie zu mir sprechen, als wenn Sie selbst nie etwas mit Heirat und Ehe zu tun gehabt hätten?«

Dr. Adalbert stieß ein kurzes Gebell aus, das man für ein verunglücktes Lachen halten konnte.

»Diese Antwort hatte ich von dir erwartet. So ganz auf den Kopf gefallen bist du ja nicht!«

»Freut mich, Meister, daß ich Sie einmal nicht enttäuscht habe!« erwiderte sie und verneigte sich zeremoniell. »Aber jetzt ist es an mir, enttäuscht zu sein! Ich hatte von Ihnen eine andere Antwort erwartet!«

»Warum?« fragte er barsch.

»Weil das, was Sie erwiderten, überhaupt keine Antwort war, sondern ein Ausweichen vor einer unbequemen Frage!«

Adalbert bellte von neuem vor sich hin. Sein weißes Gebiß leuchtete in der Sonne. Es schienen noch sämtliche Zähne vorhanden zu sein.

»Ganz leidlich formuliert! Wie man überhaupt feststellen muß, daß die niedern geistigen Funktionen sich bei euch Frauenzimmern manchmal überraschend prompt abspielen. Es sind das ja auch eure Hauptwaffen im Kampf mit dem Mann. Von den körperlichen Waffen nicht zu reden. Das steht auf einem andern Blatt!«

»Wirklich entzückend!« lachte Erna. »Die Galanterie eines Rokokokavaliers ist nichts im Vergleich zu Ihnen! Aber eine Antwort auf meine Frage ist auch das nicht!«

Adalbert strich sich sein massives Kinn.

»Ich bin natürlich noch nicht vertrottelt genug, um zu behaupten, ich sei nicht verheiratet gewesen ...«

»Was wohl auch etwas kühn wäre!« warf Erna ein.

»Ich habe im Gegenteil die Weiber immer sehr nötig gehabt ...«

»Trotz unserer niedern Funktionen? Oder vielleicht gerade deswegen?«

»Ich bin dreimal auf euch hereingefallen,« fuhr Adalbert fort, indem er über seine großen runden Brillengläser hinweg Erna fest ins Auge faßte. »Sollte ich vielleicht mit dir zum viertenmal hereinfallen und mich mutwillig um meine letzte Illusion bringen?«

Über die Wangen des Mädchens glitt eine flüchtige Röte.

»Das klingt fast nach einem Geständnis, Herr Doktor?« sagte sie, indem sie den Kopf etwas vor sich hin neigte.

»Weshalb sollte es denn keines sein?« schrie Adalbert. »In Dreiteufels Namen! Vor wem in aller Welt habe ich mich zu genieren?«

»Wer sagt Ihnen denn, daß es eine Enttäuschung geworden wäre?«

»Mein gesunder Menschenverstand sagt es mir! Meine Lebenserfahrung! Meine Kenntnis der Frauenzimmer! Alles und jedes predigt es mir! Das Weib ist eine Illusion! Die gefährlichste, die es gibt! Und wehe dem, der ihr auf den Grund zu kommen sucht! Es kann Kopf und Kragen kosten!«

»Fragt sich nur: Wem? Dem Mann oder der Frau?«

»Das kommt auf den Mann an! ... In meinem Falle kannst du dir die Frage selbst beantworten!«

Dr. Adalbert war mit großen Schritten hin und her gegangen. Jetzt stand er wieder dicht vor dem halb abgekehrten, in sich versunkenen Mädchen.

»Vergiß eines nicht, mein Täubchen!« sagte er, indem er ihren schlaff herunterhängenden Arm packte und wie in einem eisernen Reifen zusammenpreßte. »Vergiß eines nicht! Menschen meines Kalibers pflegen rachsüchtig zu sein. Menschen meines Schlages pflegen niemals zu verzeihen. Am allerwenigsten, wenn sie Enttäuschungen erleben! Merke dir das, mein Lämmchen!«

Erna Krüger hob ihren Kopf.

»Enttäuschungen,« sagte sie mit einem vollen Blick in seine grünlich funkelnden Augen, »Enttäuschungen, an denen man vielleicht selbst am meisten schuld ist!«

»Mag sein!« erwiderte er. »Aber für die Rachsucht spielt das keine Rolle.«

Er preßte von neuem ihren Oberarm, so daß sie leise aufschrie.

»Sie tun mir ja weh, Doktor!«

»Papperlapapp! Es ist der Beruf der Weiber, Schmerzen zu leiden! Manche bringen es zur Virtuosität! Übe dich beizeiten darin!«

Er hatte ihren Arm losgelassen, blieb aber hart vor ihr stehen und starrte ihr in das weiche, jugendliche Gesicht. Ihre eben noch blühenden Farben waren einer plötzlichen Blässe gewichen. Sie fühlte eine schnelle Schwäche in den Knien und glaubte zu schwanken. Es war etwas wie die unmittelbare körperliche Nähe eines gefährlichen Raubtiers, was sie lähmte und ihr die Sinne benahm. Einen Augenblick hatte sie das Gefühl, in den Dunstkreis eines Jaguars oder eines Tigers geraten zu sein. Nur Tapferkeit und Geistesgegenwart können in einem solchen Fall retten. Ihr ganzes ungebrochenes Weibtum schnellte wie eine Sprungfeder gegen ihn an. Das Blut kehrte in ihre Wangen zurück. Sie fühlte, daß sie ihr betörendstes Lächeln lächelte, während sie sich selbst sprechen hörte:

»Wäre es nicht möglich, Meister, daß es Illusionen gäbe, denen man vielleicht niemals auf den Grund kommt?«

Dr. Adalbert atmete schwer. Wieder spürte sie, wie dieser Tigerdunst sie umspülte. Aber ihre Sinne blieben klar.

»Und eine solche Illusion auf Ewigkeit bildest du dir ein zu sein?« keuchte er.

»Vielleicht!«

Sie hatte den Kopf zurückgeworfen. Ihre halb geschlossenen Augen schwammen in einem rätselhaften Grüngrau. Sie sah, wie der keuchende Mann sie in sich einsog. Hätte er sie jetzt genommen, wer weiß, ob sie Widerstand gehabt hätte! Wer weiß, ob nicht gerade dieses Unterliegen Sieg gewesen wäre!

Vielleicht wußte auch er das. Er trat zwei Schritte von ihr zurück und verschränkte die Arme.

»Danke deinem Schöpfer oder wer sonst verantwortlich für uns zeichnet, daß das Experiment niemals gemacht werden wird! Deine drei Vorgängerinnen waren einmal gerade so überzeugt wie du, Illusionen von unbegrenzter Dauer zu sein. Du weißt, wie es mit ihnen geendigt hat. Das heißt, du weißt es in Wirklichkeit nicht. Vielleicht kommt heute noch die Stunde, wo du es erfahren wirst.«

Dr. Adalbert schwieg. Nach der Entladung der letzten Minuten war es plötzlich still in der kirchenähnlichen Halle. Eine seltsame Beklommenheit legte sich Erna Krüger auf die Brust. Sie hatte diese Umgebung vom ersten Tage an nur als die nüchterne Wirklichkeit eines chemischen Laboratoriums kennengelernt, hatte nichts als eine wissenschaftliche Werkstatt, manchmal, wenn sie schlecht gelaunt war, eine dumpfe, übelriechende Rumpelkammer darin erblickt. Nie war ihr eingefallen, daß die Staubteilchen verschollener Jahrhunderte dort oben zwischen den Spitzbogenpfeilern und unter den Netzgewölben im Sonnenlicht durcheinandertanzten. Zahllose Mönchsgeschlechter hatten in diesen Mauern gebüßt, psalmiert, getafelt, gezecht, sich vergnügt und sich kasteit. Jeder einzige von ihnen allen war ein lebendiger, fühlender, leidender, ringender Mensch gewesen so wie sie selbst, diese hier gegenwärtige Erna Krüger, mit einem Herzen, das die Not aller Kreatur nachfühlte, ohne ihr helfen zu können, und mit einem Geist, der den Widersinn dieser Rätselwelt abspiegelte, ohne seine Lösung zu finden. Sie alle waren in die Vergessenheit untergetaucht und hatten ihr Geheimnis mitgenommen. Und doch war irgend etwas davon an diesen Steinen, diesen Wölbungen, diesem rostbraunen Gemäuer haften geblieben. Es flatterte wie ein unsichtbares Gespinst umher. Man atmete es mit jeder Zusammenziehung der Lungen ein. Es drang wie ein ganz feiner Nebel von Moder durch die Poren und legte sich auf die Brust. Wie kam es nur, daß sie das erst in diesem Augenblick beinahe schon des Abschieds spürte, es nie vordem wahrgenommen hatte?

Sie schauerte fast unmerklich zusammen, schrak aus ihrer Erstarrung auf und erblickte vor sich den großen, finstern Mann, der sie noch immer anstarrte, ohne etwas zu sagen.

Sie wußte nicht, wie lange sie beide schon geschwiegen hatten. Sie fühlte nur, daß irgend etwas gesprochen werden müsse, um den Bann abzuschütteln. Je nebensächlicher, desto besser!

»Wie kommen Sie eigentlich darauf, Doktor,« sagte sie mit einem scheinbar unbefangenen Lächeln, »daß ich Sie geheiratet hätte, auch wenn Sie so ... so ... so unbesonnen gewesen wären, mir Ihre Hand anzutragen? Ich war doch schon verlobt, als ich bei Ihnen eintrat. Glauben Sie, ich hätte das Verlöbnis gebrochen? ... Sie täuschen sich, Meister!«

Sie lächelte noch immer ihr harmloses Lächeln, während sie ihm ins Gesicht blickte, als handle es sich um die gleichgültigste Frage von der Welt. Und doch empfand sie ganz deutlich, daß gerade das, was sie beabsichtigt hatte, nämlich die gefährliche Strömung des Gesprächs von sich abzuleiten, beinahe in das Gegenteil umgeschlagen war. Sie schalt sich in diesem Augenblick selbst eine dumme kleine Person!

Aber das schlimmste war, daß der gefährliche alte Mann vor ihr, dieser Hexenmeister und Magus, sie ganz genau zu durchschauen schien.

»Rede keinen Unsinn, du rotbraunes Frauenzimmer!« sagte er und schnitt eine von seinen diabolischen Grimassen, für die sie ihm am liebsten hätte ins Gesicht springen mögen. »Wenn ein Mann wie der Dr. Adalbert, dein Erzieher, dein Lehrmeister, der erst eine Art von menschenähnlichem Wesen aus dir gemacht hat, den Irrsinnsanfall gehabt hätte, dir seine Hand anzubieten, so hättest du sie genommen und hättest deinen Schulmeister laufen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken! Das weißt du so gut wie ich! Also versuche nicht, mir was vorzumachen!«

Er kehrte ihr mit einer brüsken Bewegung den Rücken zu und steuerte etwas schwerfällig, wie ihr schien – schwerfälliger, als es sonst seine Art war –, auf den Arbeitstisch zu, wo er seine Berechnungen und Tabellen zurückgelassen hatte. Sie beobachtete ihn auf dem Gange zum Tisch. Das schüttere, noch schwärzliche Haar fiel ihm unordentlich über den Rockkragen. Der mächtige Schädel wuchtete vornüber. Ein verschlissenes, mißfarbenes Möbel von Rock hing zerknittert um die große vorgebeugte Gestalt.

Nein! Es war kein Götterbild, was sich da entlangschob! Und wie unwiderstehlich er sich dabei erschien! Er täuschte sich, der große Mann mit der kindlichen Eitelkeit! Ein Irrsinnsanfall wäre es in der Tat gewesen, aber nicht von ihm, sondern von ihr! Es hätte ihr wohlgetan, ihm das einmal zu sagen.

Und doch! Da war irgend etwas, wovon man nicht loskam! Was stets von neuem ihre Nerven anspannte! Wie er jetzt vor seinen Arbeitstisch hinstampfte, noch immer abgewandten Gesichts, als sei sie gar nicht mehr für ihn vorhanden, da schien etwas finster Urweltliches in das Sonnenlicht zurückgekehrt zu sein. Etwas Unmenschliches oder Außermenschliches. Irgendein Dämon, ein böser Genius. Vielleicht ein lebendigen Leibes wandelndes Gespenst. Und jetzt wußte sie mit einemmal, was sich ihr zuvor auf die Brust gelegt und den Atem benommen hatte. Es war eine Atmosphäre von Moder und Geheimnis um diesen monströsen alten Mann. Vielleicht gab es unter all den bleichen Mönchsschatten, die nachts hier umgehen mochten, einen, der noch immer nicht sich von der dunkeln Gewohnheit des Erdenlebens lösen konnte! Der unablässig sich mit dem warmen Herzblut atmender Menschenwesen vollsaugen mußte! Der dazu verflucht war, das nicht zu Ende gebrachte Werk seiner Tage in alle Ewigkeit fortzuspinnen! Und dieser eine, dieser gespenstische Zauberer, dieser blutsaugende Vampir, war der Mann, der dort vor dem Tisch stand und in den Berechnungen seines phantastischen Verjüngungspräparats blätterte. Es war ihr Lehrmeister, ihr Prinzipal, der sie wie ein Alpdruck umkrallt hielt und nicht losließ! Welch ein Glück, daß nun in wenigen Minuten Martin kommen sollte, um sie aus ihrem Angsttraum zu befreien und sie dieser Modergruft zu entreißen! Noch nie hatte sie seine kommende Nähe so dankbar empfunden wie in diesem Augenblick.

»Sie haben meine Existenz wohl ganz vergessen, Meister?« rief sie mit einem gemacht lustigen Klang in der Stimme und schüttelte ihr kupferbraunes Haar in den Nacken.

»Bist du noch da? ... Ich glaubte, du hättest dich bereits empfohlen?«

Seine Stimme, etwas kratzig wie immer, kam wie aus weiter Ferne, als sei er bereits im Begriff, ihr für immer zu entschwinden.

»Ich werde Sie sogleich von mir befreien, Meister!« entgegnete sie. »Ich will noch etwas packen und dann ist es Zeit, Martin von der Bahn abzuholen. Er legt Wert auf solche kleinen Höflichkeiten. Er ist darin anders als Sie.«

»Ich verlange nicht einmal, daß ihr mich zum Kirchhof begleitet!«

Wieder diese weite Ferne, aus der die Stimme klang.

Erna Krüger machte ein paar Schritte in der Richtung, woher der Ton kam. Seine Gestalt zerrann ihr wie in einem grauen Nebel. Das grelle Licht der Aprilsonne war erloschen. Dunkles Gewölk zog hoch droben vor den Kirchenfenstern vorüber. Es schien regnen zu wollen.

»Wann dürfen wir kommen, Herr Doktor?« fragte sie. »Ich möchte Ihnen meinen Verlobten so bald wie möglich vorstellen. Er wird das als selbstverständlich ansehen.«

Er antwortete nicht. Sie machte von neuem einige Schritte auf ihn zu. Dunkel umrissen begann seine Gestalt aus dem Nebel wieder aufzutauchen.

»Sie müssen das verstehen, Meister,« sagte sie weich und bittend. »Er kommt doch aus so ganz andern Lebensverhältnissen. Ihre und meine Welt ist ihm fremd.«

Sie stand jetzt vor ihm und hielt ihm die Hand hin.

»Also wann, Meister?«

»Kommt, wann es euch Spaß macht! ... Mir macht es keinen Spaß!«

»Meister ...?!«

»Schon gut! ... Ich werde dafür sorgen, daß alle Teile Spaß an der Geschichte haben! Mach' jetzt, daß du auf die Bahn kommst!«

Sie zögerte noch.

»Was wird noch gewünscht?« knurrte er.

»Noch eine Frage, Meister!«

Er antwortete nicht.

Sie trat dicht auf ihn zu. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen, obwohl sie ein wenig zitterte.

»Was hat es mit Ihren drei Frauen für eine Bewandtnis, Meister? Wie hat es mit ihnen geendigt? Sie sind mir noch eine Auskunft schuldig!«

Dr. Adalberts Kopf näherte sich dem ihren. Sie hörte seine Stimme wie durch ein Hörrohr in ihrem Ohr.

»Ich habe sie alle drei aus der Welt geschafft! So wie ich dich hätte aus der Welt schaffen müssen, wenn du meine Frau geworden wärest! ... Und jetzt schere dich zum Teufel!«

*

»Wer sind Sie?« fragte Dr. Adalbert den abgerissen aussehenden jungen Menschen, der sich in das halb geöffnete Haustor hineingezwängt hatte und ihn mit einer gewissen frechen Vertraulichkeit anstierte. »Was wollen Sie? Warum stören Sie mich?«

»Herrgott! Man wird doch noch seinem leiblichen Herrn Papa eine Visite abstatten dürfen! Das verlangt doch schon die einfachste Höflichkeit, wenn man sich auf seiner Tour gerade an Ort und Stelle befindet und daher mit Recht ausrufen kann: Die Gelegenheit ist günstig! Hier vollend' ich's!«

Damit drückte der Mensch sich an dem fassungslos überraschten Dr. Adalbert vorbei vollends in den Hausflur und stieß mit dem Fuß das schwere eichene Klostertor hinter sich zu. Es fiel mit einem dumpfen Krach ins Schloß.

»Du entschuldigst schon, daß ich so wörtlich mit der Tür ins Haus falle!« setzte er hinzu, indem er eine kurze, nicht gerade angenehm klingende Lache aufschlug. »Aber zwischen Sohn und Vater braucht's ja keinen Zeremonienkram. Wenigstens nicht nach unsern heutigen Begriffen. Moderne Menschen wie wir sind! Du trotz deiner vierundsechzig ja auch!«

Dr. Adalbert starrte noch immer wie abwesend in das verlebte Gesicht des jungen Burschen. Woran erinnerten ihn doch diese Züge? Physiognomie, Erscheinung, Auftreten waren die eines landstreichenden Komödianten. Der abgetragene, speckig glänzende karierte Anzug, die flatternde Lavallierekrawatte, die schief auf das linke Ohr geklebte grüngelbe Reisemütze ... Alles stimmte zueinander. Ein paar schwarze Augen funkelten in dem bleigrauen, übernächtigen Gesicht, dessen Schnitt man hätte schön nennen können, wäre nicht die Habichtsnase allzu scharf daraus hervorgesprungen.

Der Bursche hatte sich einige Augenblicke an Adalberts sichtlicher Fassungslosigkeit geweidet. Jetzt klopfte er ihm wie begütigend auf die Schulter.

»Kleine Überraschung? Was, alter Herr? Über zwanzig Jahre gegenseitig nicht den Vorzug gehabt! ... Aber die Stimme des Bluts! Nicht wahr? Die Stimme des Bluts! Erkennst du deinen Sohn, alter Herr? Hermann, dein Rabe! Na, dämmert's endlich?«

Dr. Adalbert hatte seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Er wußte jetzt, an wen ihn diese Züge erinnerten. Noch mehr vielleicht Sprache und Benehmen, gewisse fahrige, übertriebene Bewegungen ... Er hatte sie an seiner ersten Frau nur zu gut gekannt, im Laufe der Jahre gehaßt und schließlich verabscheut. Und der hier vor ihm stand, war ihr Fleisch und Blut, war sein einziger Sohn Hermann, heruntergekommen, verdorben, entartet.

»Tritt herein!« sagte er kurz und wandte sich durch die angelehnte Tür in das Laboratorium zurück. »Ich bin sonst um diese Zeit für niemand zu sprechen. Aber da du einmal da bist ... In Teufels Namen!«

Der junge Mann war ihm in lauernder Haltung gefolgt. Seine Augen irrten zwischen den Backsteinpfeilern, längs den Mauerquadern und über die Gestelle und Apparate hin.

»Da wäre man also in der Höhle des Löwen!« bemerkte er mit einem kurzen Auflachen. »Meine arme, zu Tode gehetzte Mutter hat sie noch gut in Erinnerung gehabt. Es scheint sich seit zwanzig Jahren nicht viel an der alten Mördergrube geändert zu haben.«

»Ist Emilie ... ist deine Mutter tot?« fragte Dr. Adalbert, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern. Nur die steile Furche über der Nasenwurzel schien sich noch zu vertiefen.

Der junge Mensch nickte und trat etwas näher.

»Tot! Jawohl! Nachdem sie vor zwanzig Jahren gestorben war. Sonntag vor vierzehn Tagen hat man ihre irdische Hülle den Flammen übergeben.«

Er schwieg einen Augenblick und fügte dann mit stark deklamatorischer Geste hinzu:

»Und Engelscharen singen sie zur Ruh'.«

Dr. Adalbert hatte die Fäuste auf den Rücken gelegt und sah vor sich hin.

»Bis jetzt ist mir keine Nachricht darüber zugegangen. Meine letzte Zahlung datiert vom Ende des vorigen Monats. Sie war ja seit langem nicht ganz bei Sinnen.«

Der junge Mensch warf den Kopf in den Nacken zurück. Eine kurze Stichflamme schoß aus den flackernden schwarzen Augen.

»Meine unglückliche Mutter war bei Verstande genug, um zu wissen, wer ihr Mörder war! Wer sie zu Tode gehetzt hat!«

»Und wer war ihr Mörder? Wer soll sie nach deiner Ansicht zu Tode gehetzt haben?«

Dr. Adalberts Stimme klang ruhig und beherrscht, als kümmere ihn das alles nicht viel.

»Du! Kein anderer als du!« zischte der Junge.

»Du bist ein Phrasenheld!« antwortete Dr. Adalbert, indem er die Schulter hochzog. »Es scheint dir im Blut zu liegen. Ich erinnere mich, daß auch die Verstorbene groß darin war.«

»Du ... du ... Hund ...! Beschimpfst du meine Mutter?«

Er schnellte mit einem einzigen Satz wie eine wilde Katze bis dicht vor Adalbert hin.

»Du nimmst das zurück! ... Sonst geht es an ein Schädelspalten.«

Vater und Sohn starrten sich gegenseitig an. Jeder erblickte das Weiße im Auge des andern. Hermann stand mit erhobenen Fäusten da. Der ganze Haß einer zerbrochenen und gehetzten Jugend gor in seinem Blut. Aber seine schmächtige, mittelgroße Jünglingsfigur schrumpfte vor dem massiven Eichenklotz des Vaters zu einem armseligen Zündhölzchen zusammen. Der junge Mensch empfand das unwillkürlich selbst, vermochte jedoch nicht, dagegen anzukämpfen. Seine soeben noch echte Wut bekam etwas Künstliches. Die geballten Fäuste, die sich gegen den Vater erhoben hatten, wurden zur theatralischen Geste. Mit einer kurzen, aber entschlossenen Bewegung drückte Dr. Adalbert die emporgereckten Arme des Sohnes nieder.

»Keine Komödie, Junge! Vatermord soll ja jetzt modern bei euch sein ... Aber hier wird nicht Theater gespielt!«

»Theater! Da haben wir's!« schrie Hermann mit einer Stimme, die sich in der Höhe überschlug. »Das ist eure berühmte Methode, mit uns Künstlermenschen fertigzuwerden! Mit uns Leidenschaftsmenschen! Mit uns Blut- und Nervenmenschen, ihr eiskalten Rechner, ihr! Wir machen Theater! Wir spielen Komödie! Wir sind verrückt! So hast du es mit Mutter gehalten, nachdem du sie erst soweit gebracht hattest! So versuchst du's jetzt mit mir! Nur bei mir bist du an den Unrechten gekommen! Jetzt wird heimgezahlt! ... Ein Rächer lebt, dir und euch allen zum Verderben!«

Adalbert hatte nur ein kühles Achselzucken.

»Was aus dir spricht, das sind die Halluzinationen einer halb oder ganz Verrückten! Ich habe weder Zeit noch Lust, dein bombastisches Gefasel anzuhören! Brauchst du Geld? Wieviel soll es sein? Ich wäre bereit, dir mit einer kleinen Summe weiterzuhelfen, unter der Bedingung, daß du sofort verschwindest und dich nie wieder hier blicken läßt! Aber entschließe dich schnell! Ich könnte mich sonst anders besinnen!«

Hermann hatte sich einige Augenblicke gebändigt. Jetzt schien eine neue Zornwoge aufzusteigen.

»Großer Gott!« schrie er, indem er sich die Haare raufte und mit wilden Schritten auf und ab lief. »Großer Gott! Warum habe ich ... gerade ich zu einem solchen Vater kommen müssen? ... Weißt du auch, daß du der böseste Mensch bist, den die Sonne bescheint?!«

»Mache dich nicht lächerlich! Meine Geduld ist erschöpft!«

»Warum kannst du nicht gut sein? ... Warum mußt du so von Grund auf böse und schlecht sein?«

Der junge Mensch stand von neuem vor Dr. Adalbert und schüttelte die Fäuste gegen ihn. Schaum stand ihm vor dem Mund.

»Antworte mir, du tausendfacher Verbrecher!«

»Es war nicht meine Aufgabe in dieser Welt, ein guter Mensch zu sein! Ich habe das den alten Tanten beiderlei Geschlechts überlassen! Für mich hat es wichtigere Dinge zu tun gegeben! Unter anderem zum Beispiel das Adalberton zu erfinden. Dazu hat etwas mehr Gehirnschmalz und Nervensubstanz gehört als in Neuburg den guten Papa zu spielen! Vielleicht werden es mir noch einmal die Enkel danken. Vielleicht sogar du selbst, falls du nicht vorher im Rinnstein verkommst, wofür ja allerdings die Wahrscheinlichkeit spricht!«

Dr. Adalbert wandte sich mit einem verächtlichen Achselzucken ab und trat zu seinem Arbeitstisch, dessen Schublade er öffnete.

»Hier ist Geld! Es ist das letzte, was du von mir bekommst! Vermutlich auch der Zweck des Besuchs! ... Und jetzt mach's kurz!«

Hermann war ihm auf den Fersen gefolgt. Der Rhythmus seiner Schritte wechselte zwischen Ducken und Wiederaufschnellen. Es erinnerte an die Bewegung von Katzen, die auf Raub ausgehen. Er stand jetzt dicht hinter seinem Vater, der sich über die Schublade gebückt hatte und ein kleines Bündel von Geldscheinen abzählte.

»Was ist das für eine Erfindung, das Adalberton? Worauf bezieht sie sich?«

»Es wird keine Auskunft erteilt! ... Hier nimm und geh!«

Der Alte drückte dem Sohn das Häufchen Geldscheine in die Hand und schob ihn einige Schritte von sich fort.

»Du hast, was du wolltest! Von jetzt ab sind wir geschiedene Leute! Erwarte nichts mehr von mir!«

Hermann hatte das Geld mit einer gemacht nachlässigen Geste eingesteckt. Um seine Lippen spielte eine verkniffene Grimasse. In diesem Augenblick ähnelte er plötzlich seinem Vater, aber es verschwand ebenso schnell wieder.

»Du bist all deine Tage ein kalter Rechner gewesen, alter Herr! Aber diesmal hast du dich verspekuliert! ... Es kann dir einen Strich durch die ganze Lebensrechnung machen! Denk' an mein Wort! ... Und damit halte ich mich Eminenz zu Gnaden empfohlen!«

Er verbeugte sich mit einer weit ausholenden, übertriebenen Gebärde und wandte sich der Tür zu. Aber ehe er sie erreicht hatte, blieb er stehen. Sein Blick haftete auf dem großen verschlossenen Schrank, der dort stand.

»Was ist das für ein geheimnisvoller Spind?« fragte er und kniff die Augen zusammen. »Mir scheint, das Möbel sollt' ich kennen! Mutter hat jede zweite Nacht davon geträumt! Sie bekam rote Flecken im Gesicht und die Augen quollen ihr aus dem Kopf, wenn sie davon erzählte! Von dem fürchterlichen Schrank mit den tausend Giften, vor denen es keine Rettung gibt und von denen nachher nie eine Spur zu entdecken ist! ... Ich hätte das Möbel auswendig hinmalen können! Jetzt seh' ich, daß es Strich für Strich stimmt! Mutter ist gut bei Sinnen gewesen! Die Verrückte hat klare Augen gehabt! ... Ha! Ha!«

Sein schrilles, komödiantisches Lachen gellte von dem stockigen Mauerwerk wider und verklang irgendwo im Halbdämmer zwischen den Pfeilerkapitälen. Er steckte die rechte Hand in die Brusttasche, zog die Schulter hoch und deklamierte mit hohler Stimme:

»Wackrer Apotheker! Dein Trank wirkt schnell! ... Ha! Ha! ... Ha! Ha! ... Wie wäre es, alter Schwarzmagier, wenn man sich einmal auf den Marktplatz hinstellte und der Stadt eine Geschichte erzählte, wie man Präsident wird? Will sagen, wie man es anfangen muß, um eine wehrlose Frau bis an die Gummizelle hinzuhetzen und doch ein ehrenwerter Mann zu bleiben! ... In die Luft sprengen sollte man euch alle, alle ... euch ehrenwerte Gesellschaft von Gaunern, Mördern, Giftmischern ... Und dich zuallererst!«

Der junge Mensch hatte die letzten Sätze gegurgelt und gespien. Es war wie eine Gallenkolik, die sich entlud. Dr. Adalbert lehnte mit dem Rücken gegen den Werktisch und verschränkte die Arme. Plötzlich griff er nach einem in der Nähe stehenden Knotenstock. Ein blutiger Nebel senkte sich wie ein halbdurchsichtiger Vorhang vor seine Augen. Er schwenkte den Stock über dem Kopf, stürzte sich in die Richtung, woher ihn der Gischt des andern getroffen hatte, und brüllte:

»Hinaus! ... Hinaus! ... Hinaus! ... Oder ich mache Aas aus dir!«

Hermann war schon in der offenen Tür zum Vorflur. Er wischte sich über den triefenden Mund. Es war weißer Schaum und etwas rotes Blut.

»Mörder!« schrie er. »Mörder! ... Die Rache kommt! Mein Blut über dich! ... Zittere vor dem Gerichtstag!«

Ehe der Alte ihn packen konnte, war er verschwunden. Die eisenbeschlagene Klosterpforte donnerte ins Schloß. Dr. Adalbert zitterte vor Zorn. Er drehte sich auf dem Absatz um und schleuderte den Knotenstock durch die ganze Tiefe des Laboratoriums. Scherben klirrten und schepperten. Irgendein Glasbehälter war in Trümmer geflogen.

»Gut so!« keuchte der Alte. »Und wenn heute alles zum Satan fährt!«

*

Martin Treubier und Erna Krüger schlenderten vom Bahnhof nach der Stadt. Es war ein ziemlich weiter Weg. Die große Eisenbahnlinie lief beinahe eine halbe Stunde seitab vom eigentlichen Kern der Stadt vorbei. Eine endlose Vorstadtgasse wand sich zuerst zwischen grasbewachsenen Festungswällen und zerborstenen Bastionen dahin. Dann reihten sich niedrige einstöckige Häuschen mit roten Ziegeldächern aneinander, unterbrochen von noch halb winterlichen Gärtchen und Äckern. Überall waren Durchblicke in das weite flache Land bis zu blaßblauen Höhenzügen. Einige mehrstöckige Häuserklötze rekelten sich zwischen dem Kleinzeug, das um ihre Sockel kroch, und trugen anspruchsvolle Großstadtmienen zur Schau. Holzbrücken führten über stillstehende braune Wasser: Arme des die Stadt im Halbkreis umschließenden ehemaligen Festungsgrabens. Aus grauer Vorzeit schien das spitzige Steinpflaster zu stammen. Wenn ein Wagen darüber humpelte, so knatterte es wie von Gewehrschüssen. Aber gleich darauf war das Geräusch von der überall brütenden Stille aufgefressen, und wieder herrschte dieses tötende Schweigen. Die Aprilsonne blinzelte durch das träge, schwere Gewölk. Es hatte vorher geregnet, würde vielleicht von neuem regnen, schien im Augenblick selbst nicht zu wissen, was es wolle. Die Erde dampfte trächtig und wollüstig vom ersten Frühlingskuß. Büsche und Sträucher in den Hausgärten waren von grünen Blättchen und Knospen über und über gesprenkelt. Linden, Rüstern, Pappeln standen noch schwarz und kahl, der Stunde ihrer Erweckung harrend. Tief in ihrem Mark glomm der junge Saft.

Martin Treubier hatte sich in Ernas linken Arm eingehängt. Sein frisches, rosiges Knabengesicht strahlte von Reiselust, von innerer Zufriedenheit und von der Freude des Wiedersehens mit Erna. Seine linke Hand führte mit dem Wanderstock übermütige Lufthiebe aus, so daß die Vorübergehenden mehr als einmal zur Seite flüchten mußten. Martin Treubier achtete kaum darauf. Er fühlte, wiewohl nahe an dreißig, noch den Überschwang eines Siebzehnjährigen im Busen und registrierte dies irgendwo im Halbbewußtsein nicht ohne Stolz. Was lag daran, ob die fremden Menschen hier in der kleinen Stadt ihn einmal losgebunden und ausgelassen sahen! Überdies war er ein berühmter Fechter, dem nicht leicht eine Terz oder Quart fehlging.

Erna Krüger betrachtete ihren Verlobten verstohlen von der Seite. Sein Bild war ihr während des Trennungsjahres immer mehr ins Wesenlose entwichen. Jetzt wunderte sie sich, wie gut sie ihn doch eigentlich im Kopf behalten hatte. Das lockige, flachsblonde Haar, das nie ein Hut berühren durfte, flammte gleich einem Heiligenschein um ein rundes, glückstrahlendes Antlitz wie von Milch und Blut. Seine ganz hellen wasserblauen Stielaugen hatten etwas eigentümlich Glasiges und Starres. Auch wenn Erna Krüger es nicht gewußt hätte, wäre kein Zweifel gewesen, daß Martin Treubier vom Meere stammte. Seine Eltern waren einfache Fischersleute hoch droben an der Küste gewesen. Spöttisch veranlagte Kollegen Treubiers hatten behauptet, der Ausdruck seiner Augen erinnere an den seelenvollen Blick der Flunder oder des Pomuchels. Erna Krüger war in der Stimmung, sich über diese Lieblosigkeit zu ärgern, ohne ihre Treffsicherheit ganz zu verkennen.

Alles in allem war das Ergebnis ihrer Prüfung doch nicht so ungünstig. Sie fand, daß ein frischer, stämmiger, aber gewiß nicht ungeistiger Naturbursche an ihrer Seite wandelte, mit dem sie sich immerhin sehen lassen konnte. Jedenfalls war er um mehr als ein Menschenalter jünger als Dr. Adalbert. Der äußern Erscheinung nach hätte er beinahe dessen Enkel sein können. War es nicht – so fragte sie sich im stillen, während sie mit Martin dahinschlenderte –, war es nicht ein Fall von merkwürdiger Einmaligkeit, daß zwei Männer von derartiger Alters-, Geistes- und Charakterverschiedenheit sich um die gleiche Frau bewarben? Hatte sie nicht guten Grund, sich durch das Bewußtsein geschmeichelt zu fühlen, daß sie selbst diese Frau war, in deren Ermessen es lag, entweder einen alten genialen Erfinder von Weltruf oder einen saftgeschwellten, zukunftsfreudigen Jugendbildner durch ihre Gunst zu beglücken – gar nicht der dritten Möglichkeit zu gedenken, daß sie mutig oder skrupellos genug gewesen wäre, jeden von ihnen glücklich zu machen?

»Du bist so still geworden, Liebchen?« fragte mit einemmal Martin Treubier und blieb stehen, um Ernas beide Hände zu fassen und, unbekümmert um die Vorübergehenden, seine hellblauen Glasaugen in Ernas etwas bleiches Antlitz zu bohren. »Wovon träumst du? Bist du glücklich, daß du mich wieder hast? Ein Jahr lang habe ich mich nach dir verzehrt! Aber jetzt werde ich dich nie, nie mehr lassen!«

»Gewiß bin ich glücklich, Martin,« erwiderte Erna Krüger, etwas peinlich berührt, da sie ziemlich dicht hinter ihrem Verlobten zwei ungewaschene Gassenjungen gewahrte, die ihre Zungen gegen ihn herausstreckten.

»Oh! Dann ist es gut!« rief Martin. »Dann werden wir den Himmel auf Erden haben!«

Er breitete die Arme aus und schien zu erwarten, daß Erna stracks hineineilen werde. Aber sie entzog sich ihm und trat einen Schritt zurück.

»Du bist ein Kindskopf!« sagte sie lächelnd. »Du scheinst gar nicht zu wissen, daß du auf der Straße bist? Es bilden sich schon kleine Ansammlungen, die uns zusehen.«

»Was macht das? Ich bin ja so fremd hier wie auf dem Mond! Es kennt mich keine Menschenseele!«

»Aber mich kennt man! Hier kennt man jeden, der länger als vierundzwanzig Stunden an Ort und Stelle ist! Willst du mit deinen Liebeserklärungen nicht warten, bis wir unter Dach und Fach sind?«

»Aber ich entdecke niemand! Kein Mensch ist da, der sich um uns kümmert? Seit wann bist du so prüde geworden, Liebchen?«

Treubier hatte sich rings um seine Achse gedreht und mit dem Stock einen Kreis um sich beschrieben, wie wenn damit eine Art von magischem Zirkel hergestellt sei, der sie beide gleichsam unsichtbar mache, zum wenigsten aber Fremden den Zutritt verwehre. Dabei hatte er in seinem Eifer gar nicht beobachtet, daß die beiden triefnasigen Lausbuben sich einige Schritte hinter einen vorspringenden Gartenzaun zurückgezogen hatten und dort ihr schnödes Tun fortsetzten. Sie standen jeder auf einem Bein und ließen abwechselnd ihre Zunge heraushängen.

Erna Krüger konnte nicht länger an sich halten. Sie lachte überhaupt leicht, und in diesem Fall war es eine Befreiung für sie.

Martin war sichtlich gekränkt. Er setzte sich in Bewegung, ohne von neuem ihren Arm zu ergreifen.

»Bin ich wirklich so komisch, daß ich ausgelacht zu werden verdiene?«

»Ich wollte dir nicht wehtun, Martin. Verzeih! ... Aber es gibt nun einmal Situationen, die mich hilflos machen. Komm! Sei wieder gut!«

»Bin ich das nicht immer gegen dich? Hast du mich jemals anders kennengelernt?«

»Nun also! Gehen wir weiter! Dr. Adalbert erwartet uns.«

Man konnte Martin Treubier nicht vorwerfen, daß er nachtragenden Gemütes war. Er drückte dankbar Ernas schmale weiche Hand, die sie ihm einige Augenblicke überließ. Eitel Sonnenschein kehrte auf sein Gesicht zurück. Nur seine beiden Pupillen blickten noch etwas starrer als sonst. Es war ein Gedanke da, der ihn zu beschäftigen schien.

»Bei dem Namen des Doktors, deines Chefs, fällt mir ein, daß du mir eigentlich noch sehr wenig über diesen doch offenbar bedeutenden Mann zu sagen gewußt hast? Möchtest du mir nicht mit einer kleinen Schilderung ...?«

Erna fiel ihm ins Wort.

»Doktor Adalbert ist der liebenswürdigste, entgegenkommendste, scharmanteste, entzückendste ...«

»Ei! Ei!« rief Martin Treubier und drohte ihr mit dem Finger. »Welch ein Paroxysmus der Begeisterung ...«

»Ein Kavalier! sage ich dir. Ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle von geradezu rokokohaften Umgangsformen!«

Treubier blieb stehen und schlug eine seiner Hochquarten, diesmal mit der Rechten, so daß ein überhängender Baumzweig sich loslöste und durch die Luft davonwirbelte.

»Deine Begeisterung, mein kleines Ernchen, könnte einen weniger gläubigen und vertrauenden Menschen, als ich es bin, nicht mit Unrecht mißtrauisch machen!«

»Siehst du wohl? Nimm dich in acht! Im übrigen wird nichts verraten! Du wirst dich gleich selbst überzeugen.«

Sie blickte ihn von der Seite an und lächelte auf ihre spitzbübische Art. Martin wurde es kaum gewahr. In seinem Hirn war bereits ein neuer Gedanke reif, sich zu entkapseln.

»Weißt du, Liebchen, was mich außer dem Wiedersehen mit dir noch besonders froh macht?«

Erna hatte die Lippen aufgeworfen und schwieg.

»Es ist die Kleinstadt hier,« fuhr er fort.

»Die Kleinstadt ...?! Wirklich ...?!« Sie lachte hell auf.

»Ja, lache mich nur wieder aus! Es ist dieses Kleinstadtleben, dieses wundervolle Kleinstadtleben, das mich so glücklich stimmt!«

»Aber du kennst es ja noch gar nicht! Du hast ja noch gar keinen Blick hineingetan, um beurteilen zu können, wie es in Wirklichkeit beschaffen ist! ... Ich sage dir, grauenvoll! Mache dir nur ja keine Illusionen darüber, mein Bester!«

»Oh! Weit entfernt von Illusionen! Wer sollte es besser kennen als ich? Habe ich nicht meine ganze herrliche Gymnasialzeit in einer solchen Kleinstadt verlebt? Beinahe noch kleiner als diese! ... Nein, nein, mein geliebtes Ernchen, mich braucht niemand das Glück und die Schönheit der Kleinstadt kennen zu lehren!«

Jetzt war es an Erna Krüger, stehenzubleiben und ihren Verlobten mit einem einzigen langen Blick von Kopf bis zu Fuß zu messen.

»Du wärest imstande, dich nach einer solchen Kleinstadt versetzen zu lassen, wenn ich dich geheiratet habe!«

»Bei Gott! Das wäre ich, Herzchen! Gebe der Himmel, daß es sich verwirklichen läßt! Wäre es nicht beispielsweise beglückend, in der Nähe dieses wundervollen alten Bauwerks zu wohnen?«

»Es ist das Gerbertor,« warf Erna ein, »der Eingang zur Altstadt. Hier muß es im Mittelalter kräftig gestunken haben. Es stinkt noch heutigentags, obwohl vermutlich gar keine Gerber mehr da sind.«

»Sage das nicht, mein kleines übergescheites Ernchen!« rief Martin begeistert und zog mit seinem Stock eine besonders gelungene Tiefterz, die um Zollbreite an dem Zylinder eines sie überholenden, feierlich gekleideten Herrn vorbeipfiff; ohne sich um das unwillige Gemurmel des Vorübergehenden zu kümmern, fuhr Treubier eifrig fort:

»Es wohnen bestimmt noch Angehörige der edlen Gerberzunft hier. Die ganze Luft ist ja voll von dem kräftigen würzigen Geruch des gegerbten Leders. Oh, wie ich das alles genieße! Meine ganze Gymnasialzeit steigt vor mir auf! Ich schmecke es förmlich, das Glück der kleinen alten Stadt! Ich habe es in der Nase! In den Nerven! In den Fingerspitzen! In den Poren! Ich greife es mit Händen! Ich bade mich darin! Herrlich! Herrlich!«

»Hör' auf! Hör' auf! Mir wird schwach von deinem Limonadenbad!«

Erna Krüger schüttelte sich mit einer Gebärde des Abscheus, die zwischen Komik und Ernst gerade die Mitte hielt. Aber Martins Begeisterung, einmal entfesselt, ließ sich nicht so leicht eindämmen.

»Siehst du das einstöckige Häuschen dort in dem Winkel am Tor? Mit den geblümten Gardinen?«

»Jene Baracke mit den karierten Betten, die aus den Fenstern liegen? Ein altes Weib mit einem Kopftuch steht und klopft!«

Treubier nickte zustimmend und bedeutsam.

»Morgen ist das hohe Osterfest. Großreinemachen in der alten kleinen Stadt! Oh, wie steckt das alles so voll einzigartiger Poesie! Und wie heillos nüchtern sind unsere großen Mittelpunkte dagegen!«

»Ja, aber was geht uns das Haus mit den karierten Betten und mit dem alten Weib an? Möchtest du mir das erklären?«

Martin schob mit neuer Vertraulichkeit seinen Arm unter den ihren, sie dichter an sich heranziehend, und beugte sein Gesicht in die nächste Nähe des ihren, so daß sie seinen Atem fühlte und seine wasserblauen Augen feucht erglänzen sah.

»Ernchen! Herzlieb! Kleines! Stelle dir beispielsweise vor, wir selbst hätten jenes wunderliche Häuschen gemietet und es wäre unser Nestchen, wo wir unsern Honigmond verleben würden? Wäre das nicht über alle Begriffe schön?«

Erna Krüger zog mit einem jähen Ruck ihren Arm aus dem seinen.

»Martin Treubier!« sagte sie und Polarkälte schien sich von ihr zu verbreiten. »Wenn du nicht sofort mit dem süßlichen Kohl einhältst und dich benimmst wie ein Mensch von heute, der du doch zu sein hast, dann löse ich unsere Verlobung auf der Stelle auf! So wahr ich Erna Krüger heiße und Assistentin der Chemie bei Doktor Adalbert bin! ... Setze dich dann allein zu den karierten Betten und zu dem alten Weib in die Baracke! ... Und jetzt nur noch zwei Schritte um die Ecke! Hörst du das Stimmchen des Glockenspiels plappern? Wir sind im Dunstkreis des alten Zauberers und Hexenmeisters!«

*

Der Antrittsbesuch des Brautpaars bei Dr. Adalbert war glimpflicher abgelaufen, als Erna Krüger befürchtet hatte. Der »alte Zauberer« hatte sie zwar nicht in der rosigsten Laune empfangen – wann hätte man so etwas bei ihm erlebt! Er hatte sich aber auch nicht gerade von der widerhaarigsten Seite gezeigt. Ein schiefer Blick des Alten hatte die strahlende Erscheinung des Studienassessors zur Kenntnis genommen. Nicht ohne Genugtuung, wie es Erna Krüger erscheinen wollte. Ein gewisses anzügliches Schmunzeln um Adalberts Mundwinkel gab zu denken. Sie ärgerte sich im stillen darüber. Es richtete sich im Grunde doch gegen sie selbst, gegen ihre eigene Wahl, gegen die Sicherheit ihres persönlichen Geschmacks und Instinkts!

Martin Treubier merkte nichts von dem allen. Ein einziges Hochgefühl schwellte seine Brust: sich dem berühmten Prinzipal des schönen Mädchens als deren glücklicher Bräutigam und baldiger Ehegemahl vorstellen zu dürfen. In diesem Zustand geschah es, daß er ein paarmal gleichsam besitzergreifend seine Hand auf Ernas Schulter legte oder den Arm um ihre Hüften schlang. Erna wiederum – vielleicht aus einem gewissen Trotzgefühl gegen den Meister – hatte es ruhig hingenommen, womöglich durch ein nachsichtiges Lächeln noch dazu ermuntert. Was Wunder, daß Martin Treubiers gläubige Knabenseele in einem rosenroten Meer von Seligkeit schwamm!

Dr. Adalbert hatte im übrigen sein Versprechen gehalten und die beiden jungen Leute auf den Abend zu einer kleinen Abschiedsfeier eingeladen. Man solle, da er bis dahin zu tun habe, um acht Uhr kommen und guten Humor mitbringen. Er werde es an dem seinigen nicht fehlen lassen. Für eine stilgerechte Überraschung werde noch besonders Sorge getragen sein. Erna Krüger erinnerte sich später, als alles vorbei war, daß ihr dabei in Dr. Adalberts Miene irgend etwas aufgefallen war, ohne jedoch für den Augenblick in ihrem Bewußtsein haften zu bleiben.

Als das junge Paar sich verabschiedet hatte und wieder draußen auf dem menschenverlassenen Platz stand, richteten sich Martins Blicke auf das steile Ziegeldach der Gertraudenkirche, das düster und drohend über ihnen in die Lüfte stieg. Ein Einfall schien ihn zu beschäftigen. Erna war neugierig, was es sein könne, da es doch irgendeinen Zusammenhang mit dem gerade Vorhergegangenen haben werde, aber sie mußte sich ziemlich lange gedulden. Endlich kam wieder Leben in Martins glasige Augäpfel. Er machte mit dem Kopf eine halbe Wendung zu dem neben ihm stehenden Mädchen und erhob bedeutsam den rechten Zeigefinger.

»Liebchen, weißt du, woran mich dieser außerordentlich hohe und wuchtige Dachstuhl erinnert?«

Erna hatte spöttisch die Augenbrauen emporgezogen und schwieg.

»Nun? Kannst du es dir nicht vorstellen, Kleines? Überlege es dir mal reiflich! ... Nicht? So will ich es dir sagen. Er gemahnt mich in ganz auffallender Weise an die Stirnbildung deines Prinzipals, des Doktors Adalbert!«

Erna Krüger lachte hell auf.

»Du bist wirklich ein Phantast, mein lieber Martin!«

»Nicht so sehr, mein Kleines! Soll ich dir verraten, worin ich das eigentliche Tertium comparationis zwischen diesem alten steilen Kirchendach und der abnorm hohen Stirn deines greisen Erfinders erblicke?«

»Nun?«

»In dem gewissen geheimnisvollen Etwas, das beide auf dieselbe Weise umwittert. Man könnte sich vielleicht ausmalen, daß hinter beiden allerlei dunkle und verborgene Dinge nisten, die man nicht aus ihrem Schlummer wecken soll.«

Erna Krüger war ernst geworden. Sie kreuzte die Arme und schien in Martins Gesicht zu forschen.

»Hältst du Doktor Adalbert für gefährlich?«

»Er sieht aus wie ein Mensch, der seine Geheimnisse hat. Womit nicht gesagt sein soll, daß sie irgendwie von verwerflicher Art sein müßten.«

Ein jäher Windstoß fegte über den menschenleeren Platz. Es heulte in den Lüften und pfiff durch die Turmluken.

»Du kennst das alte Wort?« sagte Martin Treubier und ergriff Ernas Arm, um mit ihr weiterzugehen.

»Welches alte Wort?«

»Von dem Zugwind, den man bekanntlich überall in der Umgebung von Kirchen wahrnehmen kann. Es heißt, es sei das der Teufel in Person, der hinter der armen Seele her sei, um sie einzufangen und mit ihr in die Hölle zu fahren. Man mag über den Aberglauben lächeln, aber auf solchen düstern vergessenen Plätzen wie diesem hier begreift man, wie er entstehen kann.«

Erna Krüger hatte ein unbehagliches Gefühl. Sie suchte es abzuschütteln und lachte etwas gezwungen.

»Man entdeckt fortwährend neue Eigenschaften an dir, mein lieber Martin! Jetzt wirst du Geisterseher! Willst du mich das Gruseln lehren?«

»Unter meinem Schutz bist du sicher!« rief Martin und führte eine seiner gelungensten Quarten gegen einen markierten Feind aus. »Verlasse dich ganz auf mich! Ich würde es um deinetwillen mit dem Urian selbst aufnehmen, ganz ohne Binden und Bandagen, und ich verspreche dir, ihm eine Abfuhr beizubringen, die sich gewaschen hätte!«

Martin Treubier schlug eine fröhliche entwaffnende Lache an und zog seine Braut aus dem Bannkreis der Gertraudenkirche und des alten Zauberers mit sich fort.

*

Die Osterglocken, die das bevorstehende Fest einläuteten, waren verklungen. Der feuchte und windige Apriltag hatte sich mit ein paar grellen Abendsonnenblicken verabschiedet. Die Osternacht war finster und stürmisch niedergestiegen, des erst spät heraufkommenden Mondes harrend. In tiefes Dunkel gebettet lagen Kirche und Platz von Sankt Gertrauden. Unweit des Adalbertschen Laboratoriums flackerte eine Gaslaterne und goß ungewisses Licht um sich.

Pünktlich um acht, als von der nächtigen Plattform des Turms das »Dir, dir, Jehova« über die Dächer der alten Stadt hinausleierte, hatten Martin Treubier und seine Braut die Glocke an dem ehemaligen Klostertor gezogen oder, wie Erna es ausdrückte, den Kettenhund in den Schwanz gekniffen.

Das Laboratorium war festlich beleuchtet. Dies deutete sich dadurch an, daß die drei oder vier Glühbirnen brannten, die an den Pfeilern der Halle angebracht waren. Außerdem leuchteten auf dem in der Mitte des Raums stehenden Werktisch ein paar dicke Wachskerzen, die in Flaschenhälsen steckten. Aber dieser ganze festliche Aufwand reichte bei weitem nicht aus, das langgestreckte einstige Refektorium zu erhellen. In den vielen Winkeln, Ecken und Nischen, hinter den Pfeilern und oben in den Netzgewölben ballte sich tiefes Dunkel. Schränke, Kästen, Gestelle im Bereich der Kerzen und Glühkörper warfen schwarze Schlagschatten hinter sich. Jeder Schritt hallte auf dem Ziegelboden wider. Laute Worte wurden von den Mauerquadern aufgefangen und hoch oben durch die Gewölbe zurückgegeben.

»Ein geradezu mittelalterliches, echt faustisches und alchimistisches Interieur!« äußerte Martin Treubier, indem er auf einem etwas baufälligen Stuhl am Werktisch Platz nahm. »Es wäre, wie mich bedünken will, des Pinsels eines Höllenbreughel nicht unwürdig. Aber wo gäbe es heute den Künstler, der so etwas auf die Leinwand zu bannen vermöchte!«

Dr. Adalbert hatte im Halbdunkel des Hintergrundes herumhantiert, während Erna eine Weinflasche entkorkte und Gläser auf den Tisch stellte. Jetzt drehte er sich um und kam einige Schritte näher, so daß der Schein der Wachskerzen sein Gesicht beleuchtete. Erna Krüger hatte schon beim Eintreten irgendeine Veränderung darin bemerkt. Als jetzt das Licht auf ihn fiel, erstaunte sie noch mehr. War das noch der alte Mann, den sie heute früh gebückt und schwerfällig zu seinem Arbeitstisch hatte schleichen sehen? Eine geheime Spannung schien in seinen Schritten zu federn. In den grasgrünen Katzenaugen brannte eine fremde Flamme, vor der Erna zurückschrak. War es Wirklichkeit oder kam es von dem Flackerlicht der Wachskerzen – sie glaubte um den mächtigen kahlen Schädel, dieses steil emporstrebende gotische Kirchendach, wie Martin es bezeichnet hatte, ein richtiges Strahlenbündel flimmern zu sehen, eine Art von Aura wie bei einer Sonnenfinsternis oder bei mediumistischen Ausstrahlungen, oder auch, so kühn es war, wie einen Heiligenschein auf alten Bildern. Sie schalt sich überreizt und kindisch, aber ihre Phantasie kam von der Vorstellung nicht los.

Ein Gedanke durchzuckte sie. Sollte es möglich sein ...? Hatte er das bisher noch immer vertagte Wagnis unternommen? Und wenn es geschehen war, welchen Ausgang würde es haben? Erna Krüger empfand etwas wie den Anflug einer leichten Trunkenheit, die ihre Sinne entfesselte und ihnen Schwingen verlieh. Die Luft schien geladen mit irgendeinem besondern, vielleicht gefährlichen Rauschmittel. Seine Visionen konnten zum unerhörten Erlebnis werden – unerhört und einmalig wie der Tod! Ja, am Ende war er es selbst, der jetzt auf die Bühne trat und sich bei ihnen dreien zu Gast lud! Ein schneller Schauer sprang sie an, aber sie krampfte die Hände zusammen und tat ihn ab. Wie immer es enden würde, das Abenteuer dieser Nacht, sie war gerüstet, sich ihm ganz zu ergeben, alle seine Lust, all sein Grauen mit weit geöffneten Sinnen zu empfangen ...

Dr. Adalbert streifte im Vorbeigehen Erna Krüger mit einem kurzen, forschenden Blick, vor dessen metallener Härte sie ihre Lider schloß, und trat zu Martin Treubier.

»Sie gefallen mir, junger Mann!« sagte er, indem er ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter tippte. »Sie haben eine beneidenswerte Gabe, mit der unschuldigsten und selbstverständlichsten Miene von der Welt einen gediegenen Unsinn zusammenzureden!«

Treubier schlug sich belustigt, beinahe geschmeichelt mit der flachen Hand auf das Knie.

»Wenn meine Obertertianer Sie in diesem Augenblick hätten hören können, verehrter Herr Doktor, es wäre ein Spaß für die Götter gewesen!«

Dr. Adalbert schnitt eine seiner wohlwollend diabolischen Grimassen. Seine Laune – so erschien es Erna Krüger – wurde von Minute zu Minute besser.

»Sie behaupten, junger Mann, daß kein heutiger Maler die Stimmung des Raumes hier wiedergeben könnte und daß man sich dazu erst den Herrn Höllenbreughel oder einen andern Alten verschreiben müßte? ... Ich nenne das einen blühenden Unsinn! Jedes Zeitalter schafft sich den seiner Geistesverfassung adäquaten Ausdruck für seine Lebensverhältnisse, in der Wissenschaft, in der Kunst und überall sonst. Es gibt demnach für jeden Begriff oder für jedes Ding ebenso viele wissenschaftliche, soziale, künstlerische oder sonstige Formeln, wie es einzelne Perioden und Zeitalter gibt. Kurz gesagt, jede Lösung eines Problems; ist zeitlich bedingt und dementsprechend vergänglich. Wenn also Ihr Herr Höllenbreughel uns heute mit seinen Mitteln malen wollte, so käme, mit oder ohne Respekt zu melden! ein Sch...dreck heraus!«

Er schwieg und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie um etwas wegzuwischen. Er hatte sich in Hitze geredet. Auf seinen Backenknochen zeichneten sich rote Flecke ab. Seine Augen brannten. Erna erinnerte sich nicht, ihn je mit solchem Feuer reden gehört zu haben.

Treubier verbeugte sich mit aufrichtiger persönlicher Bewunderung, der freilich nicht wenige sachliche Bedenken beigemischt waren. Das seien Kundgebungen eines Feuergeistes, so meinte er, die in nichts hinter den Offenbarungen unserer Allerjüngsten und Allerneuesten zurückständen. Ja, es seien geradezu umstürzende und nihilistische Kundgebungen, geeignet, auch die letzten Leuchtfeuer des absoluten Wissens auszulöschen und das Menschengeschlecht erbarmungslos dem uferlosen Ozean der allgemeinen Relativität zu überliefern.

»Schenke Wein ein, Frauenzimmerchen!« befahl Adalbert. »Wir wollen auf die Gesundheit deines Herrn Bräutigams anstoßen. Möge er an Weisheit und Verstand weiter so zunehmen wie bisher! Auf daß einmal eine wohlbestallte Frau Oberstudiendirektor aus dir werde! Oder, wenn das Glück gut geht, eine Frau Provinzialschulrat mit Geheimratscharakter!«

»Meister! Meister!« drohte Erna. »Auf mir dürfen Sie herumhacken, soviel Sie wollen! Ich weiß, was ich Ihnen zu danken habe!«

»Herr! Deine Güte währet ewiglich!« warf Adalbert ein und machte eine ironische Verbeugung.

»Aber wenn Sie mir meinen Verlobten antasten,« fuhr Erna fort, »dann sollen Sie erleben, wie eine Löwin ihr Junges verteidigt!«

Erna hatte mit etwas unterstrichenem Pathos gesprochen. Sie lachte und schenkte die Gläser voll. Martin Treubier griff gerührt nach ihrer Hand und schüttelte sie. Dann wandte er sich an Adalbert.

»Ich verstehe wohl, daß meine kleine Braut meint, mich in Schutz nehmen zu müssen, aber ich bin überzeugt, es bedarf dessen nicht. Trotz des humoristischen Tons Ihrer Rede glaube ich, Ihre wahre Gesinnung gegen mich und mein Bräutchen herauszuhören.«

Er verbeugte sich und erhob sein Glas gegen Adalbert. Dieser verzog ein wenig den Mund, aber nur Erna bemerkte es. Alle drei stießen an und tranken.

»Für später habe ich noch einen besonderen Tropfen im Hinterhalt,« bemerkte der Alte. »Ich hoffe, Sie werden mir damit Bescheid tun. Es ist ein Männertrunk, wie er sich für eine Abschiedsstunde ziemt!«

Er leerte sein Glas auf einen Zug, stellte es auf den Tisch und schien sich auf etwas zu besinnen.

»Ich will euch ein Bild zeigen,« brummte er. »Es gibt einen Begriff, wie gewisse Dinge heutzutage gemalt werden müssen.«

Erna war gespannt, was da kommen werde. Sie hatte nie von dem Vorhandensein eines Bildes im Laboratorium gewußt. Adalbert hatte sich erhoben und war hinter dem nächsten Pfeiler verschwunden. Man hörte ihn aufschließen und herumkramen. Erna erinnerte sich jetzt, daß sich dort eine Truhe befand, der sie keine Beachtung geschenkt hatte. Der Alte ließ aus dem Halbdunkel hinter dem Pfeiler ein Murmeln vernehmen, dessen einzelne Worte man nicht verstand. Martin Treubier hatte das Weinglas am Munde und sog mit beglücktem Lächeln Tropfen für Tropfen. Erna klopfte das Herz. Sie glaubte den Alten gut genug zu kennen, um auch auf das Unwahrscheinlichste gefaßt zu sein. Sie bezweifelte nicht, daß er einen bestimmten Plan verfolge, sei es gegen ihren Verlobten, sei es gegen sie selbst, vielleicht gegen sie beide. Aber sie hatte keine Vorstellung, welcher Art er sein möge. Nur das eine fühlte sie mit Gewißheit, daß irgendwo im Hintergrund Gefahr lauere.

Sie hörte, wie die Truhe abgeschlossen und der Schlüssel herausgezogen wurde. Gleich darauf kam Adalbert hinter dem Pfeiler wieder zum Vorschein. Er trug eine halb entfaltete längliche Leinwandrolle in der Hand. Es schien eine Ölmalerei zu sein. Er schob die Flaschen mit den Wachskerzen sowie die Weingläser beiseite und breitete die Rolle auf dem Werktisch aus, indem er ihre Ränder mit den Flaschenleuchtern beschwerte.

»Kommt her und seht euch die Geschichte an!« sagte er, zu den beiden jungen Leuten gewandt.

Erna und Martin traten nahe hinzu und beugten sich über das Bild, das vom Schein der Wachskerzen beleuchtet war.

»Das ist ja das Laboratorium, täuschend naturgetreu gemalt!« rief Erna. »Die Gestelle an den Wänden! Die Tiegel, Flaschen, Gläser! ... Und da stehen Sie selbst, Meister, am offenen Giftschrank! ... Aber mein Gott! Der angeschnallte Hund auf dem Brett! Die Spritze daneben! ... Und hier die zusammengebrochene Frau über dem Schemel, halb am Boden, mit den entsetzten Augen ...«

»Beinahe mit dem Ausdruck einer Wahnsinnigen!« bemerkte Martin Treubier kopfschüttelnd. »Siehst du, wie ihre Augäpfel herauszuquellen scheinen, Ernchen? Sie sind stier in die Richtung des offenen Schranks geheftet! Man könnte meinen, sie erblicke dort irgendein Gespenst ...«

»Es ist der Geheimschrank des Doktors,« erläuterte Erna. »Du siehst ihn drüben an der Wand. Der Doktor hat seine einzig dastehende Giftsammlung darin verwahrt.«

Martin Treubiers Blicke folgten der von Erna gewiesenen Richtung.

»Eine Giftsammlung? Welch eine eigenartige Liebhaberei! Aber ruht nicht eine furchtbare Verantwortung auf dem Besitzer einer solchen Sammlung? Wie leicht kann der Schrank einmal durch eine Vergeßlichkeit offen bleiben und das Gift in unberufene Hände kommen!«

Dr. Adalbert hatte so lange geschwiegen, in die Betrachtung des Bildes versunken. Jetzt hob er ein wenig den Kopf, ohne im übrigen seine vorgebeugte Stellung zu verändern.

»Bilden Sie sich etwa ein, junger Mann, daß Chemiker oder Bakteriologen mit Fliedertee experimentieren? Wer den Elementen auf ihre Schliche kommen will, muß mit Hölle und Teufel im Bunde sein! Das Adalberten oder dergleichen erfindet man nicht, wenn es einem um das eigene Leben oder um fremdes bange ist!«

»Aber höchstverehrter Herr Doktor ...?!« rief Martin Treubier und streckte mit flehentlicher Gebärde die Arme empor.

Adalbert kümmerte sich nicht darum, sondern fuhr fort: »Die Frau hier auf dem Bild hat das nicht begreifen wollen! Frauenzimmer wollen so etwas nie begreifen! Frauenzimmer kommen immer mit ihren Gefühlen oder Gefühlchen! Damit lockt man natürlich keinen Hund hinter dem Ofen hervor! Es gibt übrigens auch unter Männern Frauenzimmer genug!«

Er warf Treubier, der fassungslos schwieg, einen sarkastischen Blick zu und sprach weiter, indem er sich die Stirn rieb:

»Die Sache hat einen Vorteil gehabt! Die Frau, die eine sehr talentvolle Malerin war oder ist, nebenbei auch ein schönes Weib, wie man auf dem Bilde sieht ... Sie hat sich selbst nicht schlecht porträtiert! Die Frau also hätte das Bild niemals so herausgebracht, wenn sie es nicht aus einem ganz bestimmten Gefühl gemalt hätte.«

»Aus welchem Gefühl?« fragte Erna, noch immer an dem Bilde haftend, dessen Handlung sie eigentümlich erregte, ohne daß sie doch ihren vollen Zusammenhang verstand.

Dr. Adalbert kratzte sich den rötlich blanken Schädel.

»Die Frau hat aus dem Affekt der Angst heraus gemalt! Aus dem Affekt des Schreckens! Des Entsetzens! Was im Leben ihr Schaden war, das wurde in der Kunst ihr Vorteil. Deshalb ist das Bild so naturwahr ausgefallen. Keine Beschönigung! Keine Vorspiegelung falscher Tatsachen! Keine rosenrote oder schokoladenbraune Soße! Das klare, kalte Licht, das alles beherrscht! Das gleichsam den Grundton der ganzen Musik angibt! Der angeschnallte Hund, der gerade die Spritze bekommen soll! Der geöffnete Giftschrank! Das hingestreckte Weib mit allen Symptomen maßloser Hysterie!«

»Und Sie selbst, Meister, wie die verkörperte Unbarmherzigkeit, um nicht zu sagen Grausamkeit!« rief Erna und schüttelte sich. »Ein furchtbares Bild! Und die Malerin, wenn ich Sie richtig verstehe ...?«

»War meine Frau! War meine dritte Frau, um es nicht an der nötigen historischen Genauigkeit fehlen zu lassen. Ich erwähnte schon, sie hat sich selbst auf dem Bild porträtiert. Als wir uns trennten, ließ sie es mir zum Andenken da.«

»Aber weshalb trennten Sie sich? Sie war doch eine schöne Frau, wie Sie selbst zugeben!«

Dr. Adalbert schlug mit der Faust auf die bemalte Leinwand.

»Sie war ein Weib! Demnach eine Illusion! Und mit Illusionen darf man sich nicht zu nahe und nicht zu lange befassen! Ich habe dir das schon heute morgen begreiflich zu machen gesucht. Ich war acht Jahre mit ihr verheiratet. Das ist mehr als ausreichend, um auch der schönsten und dauerhaftesten Illusion den Garaus zu machen!«

»Sie sind fürchterlich, Doktor! Kein Wort weiter vor diesen Ohren!« rief Erna und breitete mit einer halb komisch schützenden Bewegung ihre Arme über Martin Treubier, der noch immer schweigend die Leinwand studierte und an irgendeinem Gedanken zu formen schien.

»Es vollzieht sich damit das gleiche, wie mit dem Inhalt der Flaschen dort,« brummte Adalbert. »Soviel Chemie wirst du bei mir gelernt haben, um zu wissen, daß kein Stoff sich jahrelang in der Flasche hält. Er verdunstet, und wenn er noch so gut verschlossen ist. Die Nutzanwendung kannst du selbst ziehen!«

»Die Liebe also so etwa wie Schwefelwasserstoff?« meinte Erna achselzuckend. »Ein netter Vergleich! Aber ganz im Stil von Herrn Doktor Adalbert!«

Martin Treubier schien das Studium des Bildes beendigt zu haben und mit der daraus abgeleiteten Gedankenarbeit ans Ziel gelangt zu sein. Er wandte sich mit bedeutsam erhobenem Zeigefinger an Dr. Adalbert.

»Wenn mich nicht alles trügt, so handelt es sich bei dein Gemälde um eine Vivisektionsszene. Ich stehe nicht an, zu erklären, daß ich zu den Gegnern der Vivisektion gehöre und sie entschieden bekämpfe. Aber eben darum gewinne ich dem Gemälde erhöhtes Interesse ab. Es wirkt nämlich meines Erachtens durchaus vivisektionsfeindlich. Man betrachte nur den Gesichtsausdruck der neben dem armen Tier niedergebrochenen Frau, die offenbar den Hund zu retten versucht hat. Sie selbst aber, höchstverehrter Herr Doktor, es muß offen gesagt werden, sind auf dem Bilde der zielbewußte, jedoch, wie mein Bräutchen schon richtig betont hat, unbarmherzige Vertreter einer hierin offensichtlich irrenden und über das Ziel hinausschießenden Wissenschaft. Dieses wäre in großen Zügen die Auslegung, die ich dem Bilde zu geben versteht bin.«

»Gott segne Ihre Studia, junger Mann!« rief Adalbert, indem er Martin mehrmals auf die Schulter klopfte und dazu eine besonders infernalische Grimasse schnitt. »Sie haben da einen ganz seltenen Kohl zutage gefördert! Sie werden gleich erfahren, wieso! Aber zuvörderst wollen wir ihn mit einem erlesenen Tropfen begießen. Ich habe ihn in dieser Voraussicht bereits eingeschenkt.«

Er wandte sich an Erna, die mit gekreuzten Armen am Tisch stand und ihr Blut leise gegen die Schläfe ticken fühlte.

»Bring' uns die beiden Pokale her, rotbraune Hexe! Auf der Kommode dort!«

Er machte eine kurz hinweisende Gebärde über die Schulter halb nach rückwärts und kehrte sich dann vollends wieder zu Treubier, während Erna zu der im Dunkeln stehenden Kommode hinüberging.

»Es ist ein Getränk eigener Erfindung und Zusammensetzung,« sagte er zu Martin. »Kalifornischer Wein, auf Kondurangoholz angesetzt und mit ein paar Zutaten gewürzt. Ich bilde mir etwas auf die Komposition ein!«

»Und die Wirkung?« fragte Treubier zweifelnd. »Gibt es keine Kopfschmerzen davon? Nicht, daß ich solche etwa fürchtete! Ich pflege niemals an Kopfschmerzen zu leiden. Aber selbst der bestkonstruierte Schädel ...«

»Muß einmal daran glauben!« fiel Adalbert ein. »Ja, das ist die Pointe des Witzes, den sich die Natur mit uns erlaubt, indem sie uns in die Welt schickt. Nehmen wir zum Beispiel an, junger Freund, rein hypothetisch, diese Pointe – man nennt sie Sterben – wäre schon heute für Sie fällig, Sie müßten noch in dieser Stunde daran glauben ... Wie meinen Sie, daß Sie sich benehmen würden?«

Martin Treubier hatte den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, in einer gewissen knabenhaften Haltung. Jetzt richtete er ihn empor und blickte sein Gegenüber voll an. Um seinen Mund war ein fast verlegenes Lächeln, das von seiner sonstigen burschikosen Unbefangenheit auffallend sich unterschied.

»Ich habe dieser Möglichkeit im Schützengraben mehrere Jahre hindurch sozusagen stündlich ins Auge gesehen, verehrtester Herr Doktor. Jene Pointe, wie Sie sie zu nennen belieben, wäre also durchaus nichts Neues für mich. Es widerstrebt mir eigentlich, davon zu sprechen. Aber Ihre Worte nötigen mich wohl dazu.«

Erna war mit den gefüllten Pokalen an den Tisch getreten. Es waren zwei ganz gleiche silberne Kelche von einfachen gefälligen Formen, ohne jeden Zierat, wenn man nicht die herzförmige Umrahmung der eingravierten Jahreszahlen als solchen ansehen wollte.

»Erbstücke!« bemerkte Dr. Adalbert. »Noch von den Großeltern stammend! Sie haben sie zu ihrer Silberhochzeit bekommen. Es ist rund ein Jahrhundert her. Man beachte die noble, schmucklose Form! Die Leute damals haben noch kein Brimborium aus sich und ihrem Leben gemacht. Sie haben sich nicht wichtiger genommen, als sie waren. Gradlinig gingen sie durch die Welt und wieder aus ihr heraus. Man sollte sie sich zum Beispiel dienen lassen! ... Kredenze uns jetzt den Trunk, du Frauenzimmerchen mit den Meeraugen! Wir wollen ihn uns aus deinen Händen doppelt schmecken lassen! Greifen Sie zu, junger Mann!«

Martin Treubier nahm den Pokal, den Erna ihm reichte, Dr. Adalbert den andern.

»Bemerket wohl, meine Teuren,« sagte der Chemiker, »daß die beiden Gemäße sich in nichts unterscheiden, da sie ja für ein Silberpaar bestimmt waren.«

»Kriege ich denn gar nichts davon ab?« fragte Erna und sah Dr. Adalbert kopfschüttelnd an. »Was sind das für merkwürdige neue Sitten?«

»Stillgeschwiegen, rotbraune Hexe!« gebot der Alte. »Dies ist ein Männertrunk! Ich sagte es schon! Für Frauenzimmer taugt er nicht! ... Wohl bekomm's, junger Mann!«

Er setzte den Kelch an den Mund und trank.

Martin Treubier als alter Burschenschafter verbeugte sich mit der dem Augenblick zukommenden Bedeutung, erhob seinen Pokal und tat Dr. Adalbert mit einem tiefen Schluck Bescheid.

Ernas Blicke ruhten auf den trinkenden Männern. Von neuem wurde ihr klar, wie weltenweit verschieden sie beide voneinander waren. Martin trank mit der seligen Hingegebenheit eines Gläubigen, der den Gralsbecher leert und dabei Raum, Zeit, Umstände vergißt. Der Alte hingegen schien seinen Wein mit voller Bewußtheit und Überlegung hinunterzuschlürfen, während seine harten Katzenaugen über den Rand des Pokals hinweg jede Bewegung des andern verfolgten.

Erna Krüger kam plötzlich ein Einfall, der für einen Augenblick ihr Blut stocken machte, um es dann desto wilder durch die Adern zu jagen. Wenn das, was die beiden da tranken ...? Aber nein! Dies zu denken, wäre mehr als abenteuerlich, wäre Wahnsinn gewesen! Der Sturm in ihren Nerven, der Brand in ihrem Blut gab ihr das ein! Von der überheizten Stimmung dieser letzten zwölf Stunden kam es her! Oder es lag in der verrückten Atmosphäre hier, die gemischt war aus Moderdunst und geheimnisvollen Giften aller Art! Wer nicht seine ganze Seelenkraft dagegen aufbot, war verloren! Sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu erliegen. Und doch! Wie auffallend war es, daß der Alte sie nicht von dem Wein hatte trinken lassen ...! Ein eisiger Schauer lief ihr über den Leib ... Hinaus! Fort! Fort! mahnte eine Stimme in ihr.

»Bei allen Olympiern! Sie haben recht, hochverehrter Meister!« rief Martin Treubier, mit der Zunge schnalzend, und hielt den halbgeleerten Silberkelch hoch in die Luft. »Ein Göttertropfen ist das! Ich entsinne mich nicht, jemals seinesgleichen gekostet zu haben. Das einzige, was man rein gefühlsmäßig gegen ihn einwenden könnte, wäre vielleicht das, daß er nicht naturgemäß aus der Rebe erwachsen ist, sondern planmäßiger Überlegung entstammt. Aber möchte das gleiche nicht gegen jede Waldmeisterbowle zu sagen sein, die ja auch aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt ist und dennoch seit alters her sich weitgehender Beliebtheit erfreut? Lassen wir uns also den Genuß nicht durch außerhalb der Sache liegende Erwägungen verkümmern! Ein Prost der allgemeinen Gemütlichkeit!«

Er neigte in der offiziellen studentischen Form seinen Kopf gegen Adalbert und führte den Pokal von neuem zum Munde, setzte ihn aber, noch ehe er getrunken hatte, wieder ab.

»Ernchen! Liebchen! Was blickst du mich so entgeistert an? Ist dir irgendwie schlecht? Oder bist du böse, weil dir der treffliche Wein entgeht? Wenn dein Meister erlaubt, so würde ich dir ...«

Er machte eine Bewegung, um seiner Braut den Pokal über den Tisch zu reichen, aber Adalbert legte sich mit einer schroffen Gebärde ins Mittel.

»Ich habe es ihr verboten, und dabei bleibt's! Hier ist man gewöhnt, Order zu parieren, junger Mann!'

Treubier gehorchte mit resigniertem Achselzucken und zog den ausgestreckten Arm zurück, indem er einen um Entschuldigung bittenden Blick zu Erna hinübersandte. Dann erhob er seinen Becher gegen sie und trank.

»Wir wenden uns jetzt wieder unserm Thema zu,« sagte der Chemiker, nachdem er ebenfalls einen tiefen Zug aus seinem Pokal getan hatte. »Es war von dem Motiv unseres Bildes hier die Rede. Eine Vivisektionsszene sei gemeint, so behaupten Sie, junger Mann. In dem von Ihnen gedachten Sinne ist das natürlich Kohl! Der angeschnallte Hund soll nur Staffage sein, ebenso wie die danebenliegende Spritze. Beide sind hineinkomponiert, um die Wirkung des von der Malerin beabsichtigten Grauens zu erhöhen. Es kam ihr nämlich darauf an, ihre eigenen Affekte durch das Bild abzureagieren, mit sich selbst auf künstlerischem Wege ins reine zu kommen. Zu diesem Behuf hat sie den Mann am Schrank, der meine Züge trägt, zu einer Art von intellektuellem oder ideellem Mörder gemacht ...«

»Aber bester, verehrtester Herr Doktor ...!« stammelte Treubier, der nicht länger an sich halten konnte.

»Ich wünsche, nicht unterbrochen zu werden, junger Mann! Sie sind der Situation auf keine Weise gewachsen! Es handelt sich hier nicht um ein müßiges Geschwätz, um mit Anstand ein paar Stunden totzuschlagen! Es handelt sich, damit ich deutlich bin, um eine Lebensbeichte!«

»Eine Lebensbeichte?« fragte Erna und rückte unruhig mit ihrem Stuhl. Ihre Bangigkeit war von Minute zu Minute gewachsen und wuchs noch immer mehr. »Eine Lebensbeichte? Wie feierlich das klingt!«

Adalbert wischte mit der flachen Hand über die ausgebreitete Leinwand hin, als wolle er sie liebkosen oder vielleicht auch austilgen, man wußte es nicht.

»Es gibt Lebenslagen, wo Feierlichkeit am Platz sein kann! Nimm an, Frauenzimmerchen, die Lage wäre eine solche! Ich bin dir zum Abschied eine Erzählung schuldig. Ich habe sie dir heute früh versprochen, und ich pflege meine Schulden zu begleichen.«

Der Alte schwieg einen Augenblick, wie nach dem Faden suchend, dann fuhr er fort:

»Der Mann auf dem Bild, der ich sein soll, ist als intellektueller oder ideeller Mörder gedacht ... ich sprach das Wort bereits aus ... die Frau am Boden als sein Opfer. Wie haben wir uns den Verlauf der Handlung vorzustellen? Welches vor allem ist das Mittel, dessen der Mörder sich bedient? Ganz einfach, meine Teuren! Es ist der Schrecken! Es ist die Angst, das Entsetzen! Sie verkörpern sich für die Frau ... und man muß bedenken, daß es eine über und über hysterische Frau war! ... sie verkörpern sich für die Frau in dem Begriff des Giftschranks, den der Mann hier, also sagen wir der Mörder, vor ihr geöffnet hat ...«

»So wäre die Frau am Boden von ihrem Mann vergiftet?« rief Treubier und starrte entsetzt auf die vor ihm ausgebreitete Leinwand. »Es wäre eine Sterbende, die man hier sieht, und Sie selbst, bester Herr Doktor ... Sie selbst wären der Täter? Wie sollte man so etwas im Ernst glauben können? Welch eine Zumutung, die Sie uns stellen! Es kann sich doch nur um eine Art von Spaß handeln, den Sie mit uns treiben? Wiewohl man sagen müßte, daß es ein etwas seltsamer Spaß wäre, sich selbst mit einer Schuld zu belasten, die man gar nicht begangen haben kann, ansonsten wir uns ja hier nicht gegenübersäßen!«

»Sind Sie mit Ihren Deduktionen fertig, Sie Mann des Wenngleich und Wiewohl?« sagte der Alte, indem er mehrmals an seinem Kinn zupfte und seine Raubtierzähne fletschte. »Ich habe von einem intellektuellen oder, besser noch, ideellen Mörder gesprochen. Was versteht man unter einem ideellen Mörder? Doch nicht einen solchen, der jemand leibhaftig und körperlich ersticht oder vergiftet ...«

»Sondern?« fiel Erna hastig und erregt ein.

»Sondern der sich der Phantasie, sagen wir der Mittel der Suggestion oder dergleichen bedient, um sein Opfer durch den Schrecken nicht sowohl zu töten, als es vielmehr in den Glauben zu versetzen, es könne getötet werden, falls es nicht ...«

»Falls es nicht ...?« forschte Erna.

»Falls es nicht in allem und jedem sich dem Willen des Mörders unterwirft!«

»Und wohin könnte dieser Wille zielen?« rief Erna.

»Er könnte zum Beispiel dahin zielen, eine widerstrebende Frau zur Scheidung zu zwingen ...«

»Aber wozu wäre das nötig? Welche Frau wäre denn nicht todfroh, aus dem Bereich eines solchen ... nun ja: eines solchen Monstrums fortzukommen?«

»Und doch soll es Frauen geben und hat es Frauen gegeben, für die ein solches Monstrum eine größere Anziehungskraft besitzt als etwa ein Geheimer Oberpostrat mit dem allgemeinen Ehrenzeichen, am Nabel zu tragen!«

»Was Sie nicht sagen!« stieß Erna hervor und lachte etwas gezwungen. Sie fühlte Adalberts eiskalten Blick wie Feuer auf ihrem Gesicht brennen.

»Nur von dieser Art Frauen und von dieser Art Mann ist hier natürlich die Rede,« fuhr er fort. »Sie verhalten sich zueinander wie die Eisenspäne und der Magnet. Man bringt die Späne nur mit Gewalt von ihm fort! Gewisse chemische Verbindungen explodieren, wenn man sie trennen will. Einen ähnlichen Vorgang, nicht unter anorganischen Stoffen, sondern unter Menschen, was das gleiche ist, stellt das Bild dar. Ein so und so gegebener Mann! Eine so und so gegebene Frau! Beide durch Affinität zueinander hingezogen! Aneinander gefesselt! Feuerwerk der Sinne! Triumph des Eros! Aber schon ist das Taedium da, der Überdruß! Das Weib will immer weiter lieben und geliebt sein. Der Mann will in Ruhe arbeiten, schaffen, erfinden, will Sinnlichkeit, braucht neue Reize! Wäre nun das Weib von Natur aus vernünftig und räumte freiwillig den Platz, so wäre dieses Bild sicher niemals gemalt worden und die Hälfte aller Romanschreiber wäre brotlos! Zum Glück aber für diese höchst überflüssige Sorte von Tagedieben ist dafür gesorgt, daß die Weiber von Natur und Bestimmung unvernünftig sind und bleiben und daß also immer wieder von Männern, die wirklich solche sind, aus Selbsterhaltungstrieb gemordet werden muß! Wenn auch meistens nur in der Phantasie und durch die Phantasie!«

»Und wenn es nun trotz aller Zuhilfenahme von Phantasie nicht gelingt, sich einer Frau zu entledigen, Meister, was dann? Es könnte doch auch Frauen unter uns geben, die für solche Kunstgriffe unzugänglich sind, die sich nicht suggerieren und nicht einschüchtern lassen? Die sich einfach in ihrem Recht und ihrer Stellung oder auch in ihrer Liebe behaupten wollen? Würden die dann körperlich umgebracht, wenn es auf seelische Weise nicht geht? Aber kann das nicht recht gefährlich werden für den, der das täte?«

Erna Krüger hatte ein weiches, um nicht zu sagen ein betörendes Lächeln um ihre Lippen, als sie dies sprach und über ihre gekreuzten Arme hinweg, mit leicht geneigtem Kopf, zu Adalbert aufsah. Eigentlich war es ein Lächeln, das dem klaren Sinn ihrer Worte widersprach und also als unlogisch und widersinnig zu bezeichnen gewesen wäre, wenn es nicht seine wahre Begründung aus den unbewußten Tiefen der Frauenseele geschöpft und damit auch seine Rechtfertigung gefunden hätte. Dr. Adalbert, der mit drei Frauen gelebt hatte und mit ihnen auf seine Weise fertig geworden war, entging weder der Widerspruch in Ernas Lächeln noch dessen tiefere Begründung. Die kalte Flamme in seinen Augen züngelte stärker, wie von einem innern Sturm angefacht. Seine ausgebreitete, von Chemikalien geschwärzte Faust umklammerte das schmale Handgelenk des Mädchens.

»Ein Frauenzimmer, mag es rotbraun sein oder andersfarbig, das so verteufelt klug wäre, wie du es schilderst, und doch wieder nicht klug genug, selbst zu wissen, wann es gehen muß, ein solches Frauenzimmer, kurz und gut, soll der Teufel holen! Jedenfalls darf es seinem Herrgott danken, daß ihm die Probe auf das Exempel erspart bleibt! Es steht nirgendwo geschrieben, daß ein ideeller Mörder nicht auch zum wirklichen Mörder werden kann!«

Er schleuderte mit einem jähen Ruck Ernas Arm beiseite und pochte mit dem Zeigefinger auf die bemalte Leinwand.

»In dem Urbild dieses gemalten Schranks, der dort an der Wand steht, befindet sich eine Auslese wie nicht leicht wieder in der Welt! Glaubt ihr vielleicht in eurer kindlichen Einfalt, meine Teuren, Mutter Natur, die Allerzeugerin und Hervorbringerin, sei so wenig gebärfähig und der menschliche Witz so arm an Erfindungskraft, daß unter tausend Giften nicht mindestens ein Dutzend wären, die jeder nachherigen Analyse spotten, sobald sie ihre Schuldigkeit getan haben? Und muß ich Sie erst darüber aufklären, Sie Mann der Bindewörter und der Bedingungssätze, daß es eine Reihe von sinnreichen Präparaten gibt, die erst nach Stunden, nach Tagen, nach Wochen, ja nach Monaten ihre Arbeit im menschlichen Kadaver verrichten? Präparate, mit denen man Briefe auf Tausende von Meilen parfümieren kann, ohne daß der Empfänger eine Ahnung davon hat, wenn er sie einatmet ...?«

»Großmächtiger Gott! Halten Sie ein! Halten Sie ein!« rief Martin Treubier, der mit offenem Munde den Reden des Alten zugehört hatte. »Man wäre beinahe versucht, sich auszumalen, wir befänden uns hier in der Giftmischerwerkstatt eines Cesare Borgia oder einer Marquise von Brinvilliers! Wäre es nicht, statt sich in die Denkweise solcher finstern und verruchten Zeiten zurückzuversetzen, wahrlich schöner und erhebender, der Stimme der holden Gegenwart zu lauschen und frei nach Horaz den Augenblick festzuhalten, den flüchtigen unwiederbringlichen, dem ich den letzten köstlichen Tropfen aus diesem Silberbecher weihe?«

Eben wollte er mit verzückt überquellenden Augen den Pokal an den Mund führen, als Erna wie in jäher Eingebung aufschrie:

»Trink nicht, Martin! Trink nicht!«

»Aber Ernchen, Liebchen! Was fällt dir ein? Bist du krank? Weshalb sollte ich mir denn diesen höchst schätzenswerten Rest eines ganz einzigartigen Stoffes nicht ebenso munden lassen wie vorhin die Blume? Ich wundere mich über dich, Liebchen! Bei Gott! Ich wundere mich über dich! Dein ganzes Wesen kommt mir auffallend verstört und verändert vor!«

Treubier schüttelte mehrmals bedenklich den Kopf und ließ seine Blicke nicht ohne Sorge auf Erna ruhen. Dann wandte er sich nach links an Dr. Adalbert.

»Sie müssen mein kleines Bräutchen entschuldigen, bester Herr Doktor! Ich kenne mich selbst nicht mehr mit ihr aus. Vielleicht liegt es an der dumpfen Luft, die das Laboratorium erfüllt. Leider sehe ich keine Möglichkeit, eines der gotischen Kirchenfenster zu öffnen.«

Adalbert hatte stumm und ohne mit einer Miene zu zucken die Szene zwischen den beiden Verlobten verfolgt. Jetzt verzog sich sein Gesicht zu einer seiner gewohnten satirischen Grimassen.

»Wir befinden uns hier in einem ehemaligen Refektorium, also in einem Raum, in dem von den Mönchen wohl auf Essen, Trinken, Rülpsen und sonstigen Stoffwechsel, nicht aber auf frische Luft Wert gelegt wurde. Diese Eigentümlichkeit ist dem Raum bis heutigentags verblieben. Auch der gegenwärtige Bewohner mißt frischer Luft keine Bedeutung bei, weshalb auch keine Vorrichtung zum Fensteröffnen besteht. Wer frische Luft will, muß auf die Straße gehen, würde allerdings in diesem Augenblick die Tür verschlossen finden.«

»Danke! Es ist nicht mehr nötig!« sagte Erna mit mühsam wiedererrungener Fassung und versuchte zu lächeln, obwohl ihr Herz noch immer mit starken Schlägen klopfte und ihre Brust flog. »Du hattest recht, mein lieber Martin! Es lag an der merkwürdigen Atmosphäre hier. Sie hat mir richtig den Kopf verdreht! Was habe ich denn eigentlich für einen Unsinn gesagt?«

Treubier hatte seine gute Laune wiedergefunden. Er winkte Erna mit einer heitern und verzeihenden Gebärde ab.

»Schwamm darüber! Und Fiduzit dem fröhlichen Colloquium!«

Er erhob seinen Pokal, zuerst gegen Adalbert, dann gegen Erna, setzte ihn an die Lippen und leerte ihn, hingegeben kostend, bis auf die Neige,

»Machen wir die Nagelprobe!« sagte Adalbert, der im gleichen Zuge wie Treubier getrunken hatte, und kehrte seinen Pokal um.

»Vortrefflich! Vortrefflich!« rief Martin und tat das gleiche.

Aus jedem der beiden Kelche löste sich ein dünner goldbrauner Tropfen und fiel zu Boden.

»Wir haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen!« bemerkte Martin mit Genugtuung. »Die Waffen waren gut und gleich! Siehst du wohl, Ernchen? So ist es wackerer deutscher Männer Brauch, einander nichts schuldig zu bleiben!«

Eine kleine Pause entstand. Dr. Adalbert starrte vor sich hin und rieb seine Handflächen aneinander. Plötzlich sah er auf.

»Die Bemerkung, die Sie eben zu Ihrer Braut machten, hat einen tieferen Sinn, als Ihnen selbst bewußt ist. Wir beide fechten hier nämlich ein Duell aus!«

»Ein Weinduell!« erwiderte Treubier und nickte Erna lustig zu. »Ausgezeichneter Spaß! Warum sollte man nicht ein Weinduell ausfechten! Wäre nur die Frage, um was das Duell eigentlich ginge? Es müßte doch einen Hintergrund haben. Und vor allem müßte eine neue Flasche her!«

Er lachte herzlich und blickte beifallheischend in die Runde. Aber Erna blieb stumm und unzugänglich. Wieder war eine Stille. Dann fragte der Chemiker in das Schweigen hinein:

»Glauben Sie an Unsterblichkeit, junger Mann?«

»Ganz gewiß! Ich glaube daran! Ich glaube an Seelenwanderung und Wiedergeburt! Nur verstehe ich nicht ...«

»Nun sehen Sie! Ich glaube nicht daran! Ich glaube, daß mit dem letzten Atemzug alles aus ist!«

»Es ist eine Gewissensfrage, höchstverehrter Herr Doktor! Jeder hat das Recht, sie auf seine Weise zu beantworten. Ich verstehe nur nicht ganz ...«

»Was verstehen Sie nicht?«

»Wie Sie gerade in dieser aufgeräumten Stimmung darauf verfallen?«

»Das will ich Ihnen erklären! Einer von uns beiden wird nämlich in weniger als einer halben Stunde so weit sein, daß er Bescheid, so oder so, auf die Frage bekommt!«

Der Alte hatte die Arme ineinander verschränkt und schwieg. Seine Augen waren fest auf Treubier geheftet, als wollten sie sich in den geheimsten Winkel seiner Seele bohren. Erna Krüger schien in diesem Augenblick nicht für Adalbert vorhanden zu sein. Sie selbst rührte sich nicht auf ihrem Stuhl. Kein Ton kam von ihren Lippen. Es war wie ein Starrkrampf, was ihre Glieder lähmte. Dabei war ihr Geist klar und hellsichtig wie vielleicht noch nie in ihrem Leben. Jede Einzelheit, die geschah, registrierte sich selbsttätig in ihrem Bewußtsein, wie das schreibende Barometer auf dem Papierstreifen im Wetterhäuschen. Sie glaubte alles, was kommen werde, genau vorauszuwissen, wie man eine Kette mit geschlossenen Augen durch die Finger laufen läßt, und hätte doch nichts davon in Begriffe zu fassen vermocht, so wenig wie sie zu einem Ton oder zu einer Bewegung fähig war. Das Schweigen zwischen den beiden Männern kam ihr wie eine Ewigkeit vor ... Die große Generalpause im Orchester, die kein Ende nehmen will ... Und doch waren vielleicht erst Sekunden verflossen, da sie nun die hohe Tenorstimme des Studienassessors wie aus nebelhafter Ferne an ihr Ohr klingen hörte.

»Meine liebe Erna hat mich ja auf so manches Merkwürdige vorbereitet, als sie mich zu Ihnen führte, verehrtester Herr Doktor. Dennoch hätte ich nie erwartet, daß ich es mit einem so absonderlichen Spaßvogel zu tun bekommen würde. Wenngleich ich das Gefühl nicht ganz unterdrücken kann, als ob mit der Hereinziehung so ernster Dinge wie Tod und Unsterblichkeit in den Bereich des Bierulks oder Weinulks doch etwas zuviel des Guten getan wäre.«

»Sie sind der Situation auch jetzt noch nicht gewachsen, mein Teuerster!« entgegnete Adalbert. »Ich machte Sie bereits darauf aufmerksam, daß wir beide, Sie und ich, in diesem Augenblick ein Duell miteinander austragen. Und zwar auf Leben und Tod! Einer von uns wird auf der Strecke bleiben! Ich gebe dem, den es trifft, keine zwanzig Minuten mehr! Sie können sich darauf verlassen, daß ich mein Handwerk verstehe!«

Martin Treubier zwinkerte Erna, die noch immer regungslos dasaß, verständnisinnig zu und wandte sich dann wieder zu Adalbert.

»Da Sie mit Ihrem Scherz offenbar einen ganz bestimmten Plan verfolgen, verehrtester Meister, so liegt es mir natürlich fern, Ihre Kreise zu stören. Ich schließe mich also durchaus Ihrem Gedankengange an! Es wird ein Duell zwischen uns ausgefochten! Wiewohl ich keine Ahnung habe, warum! Aber bleiben wir dabei! Ich habe ja schon manchen harten Strauß mit wackern Kämpen bestanden! Welche Waffen werden gewählt? Vielleicht eine gute neue Flasche? Weinjunge bis zur Abfuhr?«

Treubier lachte herzlich und beugte sich über den Tisch vor, um keines Wortes und keiner Miene des sonderbaren alten Spaßvogels verlustig zu gehen. Dieser heftete seine grüngelben Katzenaugen unverwandt auf den vergnügten Studienassessor.

»Ihr erinnert euch, meine Kinder, was ich euch über die beiden Pokale sagte. Es sind in Form und Fassungsraum zwei völlig gleiche Gemäße. Beide standen im Dunkeln auf der Kommode und waren mit Wein bis oben gefüllt. Sie waren durch nichts zu unterscheiden und auch in der Tat durch nichts unterschieden als nur durch eine Kleinigkeit ...«

»Welche?« rief Erna plötzlich, wie aus einem furchtbaren Traum, der sie am Halse würgte.

»Aber Ernchen, Kleines ...?!« mischte sich Treubier ein.

»Dem einen Kelch war ein einziger Tropfen einer gewissen Flüssigkeit von mir beigemischt. In diesem einen winzigen Tropfen wohnte der Tod! Es war Gift!«

»Welcher Pokal war es?« schrie Erna, noch immer an allen Gliedern gelähmt.

Adalbert strich sich gleichmütig das harte viereckige Kinn.

»Wer will es wissen! Ich habe mich nicht darum gekümmert, als du die Kelche fortnahmst und hertrugst. Aber wir werden es bald erfahren! Es ist der angenehmste Tod, den es gibt! Ganz ohne vorherige Anzeichen! Man fällt um wie vom Blitz erschlagen! ... Begreifen Sie jetzt, mein Teurer, auf wie unvermutete Weise Sie recht hatten, als Sie davon kakelten, unsere Waffen seien gut und gleich? Beim Teufel! Das waren sie auch, bis auf die eine Kleinigkeit!«

Erna kämpfte verzweifelt gegen den Krampf, der sie fesselte. Ihr war, als läge sie auf dem Boden des Meeres und eine ungeheure Wassersäule stünde auf ihrer Brust. Das Wasser war durchsichtig. Sie konnte alles erblicken und verfolgen, was oben im Licht geschah. Aber der Atem drohte ihr zu ersticken unter dem furchtbaren Druck. Sie hörte sich selbst ächzen, hörte zerrissene Worte, die aus ihrer gemarterten Brust drangen.

»Mich ... mich ... haben Sie ... das Gift ... reichen lassen ...! Mich ... haben Sie ... zur Mörderin ... gemacht ...!«

Studienassessor Treubier runzelte unmutig die Stirn. Adalberts Scherz schien ihm allmählich etwas zu weit zu gehen.

»Erna! Liebchen! Kindchen! Merkst du denn gar nicht, daß Herr Doktor Adalbert sich nur einen grausamen Spaß mit dir erlaubt? Natürlich ebenso mit mir! Nur daß ich als Mann denn doch klarer sehe als meine kleine Braut! Wie kannst du nur an die Ernsthaftigkeit dieser uns vorgespielten Szene glauben? Du, die du sonst so gescheit bist! Und wenn dich nichts anderes überzeugt, so rufe dir einmal die eben gehörte Erzählung deines Meisters über die Genesis dieses Bildes zurück! Welches sind die Mittel, mit denen da operiert wird? Angst! Schrecken! Entsetzen! ... Nun siehst du wohl, Liebchen! Auch du bist auf eine gewisse Weise das Opfer der von Herrn Doktor Adalbert beliebten vivisektorischen Methode geworden!«

Er war, während er diese wohlgeordneten Sätze zu Gehör brachte, aufgestanden und um den Tisch herum zu Erna gegangen. Stand jetzt vor ihr, die noch immer zurückgesunken dasaß, und wollte mit gutem ärztlichen Zuspruch ihre Hand fassen. Da war es, als ginge ein elektrischer Schlag durch alle ihre Glieder, der den Bann von ihnen löste. Sie sprang mit einem Satz auf ihre Beine und schrie Treubier an:

»Du ewiger Schulmeister! Du unheilbarer Pedant! Du kurzsichtiger Buchstabenmensch! Hast du denn gar kein Gefühl, wo du dich befindest und was um dich herum geschieht? Muß man dich erst mit der Nase daraufstoßen? Hast du gar kein Gefühl, in welcher Gefahr du bist? Gar kein Gefühl, mit wem du es zu tun hast? Mit dem tollsten, rücksichtslosesten, grausamsten aller Menschen, aber mit einem Genie! Hast du in deiner angebornen Blindheit keine Augen dafür, um wen es geht oder um was es geht?«

»Ja, um wen und um was soll es denn gehen, du Unglücksmädchen?« stotterte Treubier, etwas aus der Fassung gebracht.

»Um mich!« schrie Erna und warf die Arme hoch über dem Kopf zurück. »Um mich! Um mich! ... Sagen Sie ihm, Meister, daß einer von euch beiden um meinetwillen sterben wird, damit er es endlich, endlich glaubt!«

»Du scheinst jetzt wirklich von dem hier herrschenden Wahnsinn angesteckt!« sagte Treubier, dessen Gesicht sich ein wenig verfärbt hatte. »Im übrigen glaube nicht, daß Furcht in meinem Herzen ist! Mein Leben steht in Gottes Hut! Aber es scheint mir an der Zeit, daß wir uns von hier empfehlen.«

Er faßte abermals Ernas Hand, um das entgeisterte und entrückte Mädchen mit sich fortzuziehen. Adalbert hatte sich groß und schwer von seinem Stuhl erhoben und stand vor dem Brautpaar.

»Weg da mit Ihrer Hand, junger Mann! Sie haben in diesem Augenblick noch kein Anrecht darauf! Die Geschichte wird in wenigen Minuten zwischen uns ausgetragen sein. Ich habe an dieses junge Frauenzimmer mein Leben und Ihres gesetzt! An Ihrem Leben liegt ja nicht viel! Ihresgleichen wächst nach wie Fliegenpilze. Meine Art ist rar! Aber mein Werk ist vollbracht! Das Adalberton ist da und funktioniert!«

Er schwieg einen Augenblick, als lausche er irgendeinem Vorgang tief in seinem Innern, dann sprach er mit fester Stimme weiter.

»Vielleicht war von den vielen Dummheiten meines Lebens diese die größte. Aber ich brauche die Weiber! Ich kann nicht ohne sie sein! ... Ich brauche dich, du rotbraune Hexe! Das Ganze hätte keinen Zweck mehr für mich gehabt, wenn du fort gewesen wärest! Ich bin mir klar, auch das war natürlich Illusion! Aber hol' mich der Teufel! Ich kam nicht davon los! Darum mußte geschehen, was geschah! Ich lege meine Hand auf dich, Frauenzimmer, wenn ich übrigbleiben sollte! Im andern Fall bist du meine Erbin! Es ist alles besorgt! ... Willst du mich, wenn ich bleibe?«

Erna Krüger schwankte auf ihren Füßen, aber sie hielt sich aufrecht. Nebel war vor ihren Augen. Irre Worte rannen aus ihrem Munde, von deren Sinn sie nichts wußte.

»Niemals ... so!« keuchte sie. »Niemals so! ... Niemals! Niemals!«

Treubier hatte sich auf den Stuhl sinken lassen, den vorher Erna inne gehabt hatte, und starrte scheinbar gedankenlos vor sich hin. Sein Gesicht war sehr bleich geworden. Über den beiden verstörten jungen Menschen wuchtete die vierschrötige schwarze Gestalt des alten Zauberers und Hexenmeisters im Flackerschein der heruntergebrannten Wachskerzen. Die Zeit schien stillzustehen und den Atem anzuhalten. Der Arm des Schicksals hatte zum Streich ausgeholt. Wann würde er niedersausen?

Plötzlich setzte hoch oben auf dem Glockenstuhl von Sankt Gertrauden der Hammer der Kirchenuhr zum Schlagen an. Zwölf langhindröhnende metallene Schläge. Es war Mitternacht, und der Ostermorgen brach an. In den sonoren Baß des letzten Schlages fiel die helle singende Kinderstimme des Glockenspiels ein, das soeben wieder seine alte Weise anhob: Dir, dir, Jehova ...

Die drei Menschen lauschten den Klängen aus der Höhe. War es nicht, als ob Friede einziehe in die zerwühlten Herzen? Wozu Haß und Wut und Wahn und Gier und Selbstzerfleischung? Wie oft hatte Adalbert sich über das Gebimmel in der Höhe geärgert und die menschliche Dummheit verwünscht, die dort ihre ewig gleichbleibende Litanei ableierte! Aber in diesem Augenblick ging es ihm weich und lind ein wie irgendein längst vergessenes Kinderlied, mit dem man ihn in den Schlaf gelullt hatte, als er drei, vier Jahre alt gewesen ... Seine Mutter, seine Amme oder weiß Gott wer hatte es gesungen ... Unendlich lang war es her! Wer den Weg von damals bis heute noch einmal zu gehen vermocht hätte! Wer Getanes ungeschehen hätte machen können! Er fühlte einen messerscharfen Stich ganz nahe dem Herzen, wo der Quell des Lebens springt ...

Der Augenblick war vorüber. Die unsichtbaren Mächte auf der nächtlichen Turmhöhe hatten ihr Wort gesprochen und schwiegen jetzt. Der Alte warf einen Blick auf den vor ihm kauernden Studienassessor.

»Glauben Sie noch immer an Unsterblichkeit, junger Mensch?«

»Mehr denn je, nachdem alles andere, was Leben heißt, mir unfaßbar geworden ist!«

Eine diabolische Grimasse lichterte über Adalberts Gesicht. Er beugte sich zu Erna vor und deutete auf ihren Verlobten.

»Selbst solchen Dutzendexemplaren aus der Werkstatt der Schöpfung wie deinem Studienassessor kann man die Zunge lösen, wenn man ihnen einmal gründlich die Krawatte zuzieht! Vielleicht gelingt es mir noch, ihn sogar bis zur Genialität zu steigern ...«

Ein gellender Schrei verschlang seine letzten Worte. Erna war es, die ihn ausgestoßen hatte. Ein fremder junger Mensch stand am Mittelpfeiler des Refektoriums, nur wenige Schritte von der Gruppe der drei entfernt, die ganz ineinander verkrampft nichts von seinem Erscheinen wahrgenommen hatten. Der Schein der Glühlampe am Pfeilerkapital fiel grell auf ein verlebtes, höhnisch verzerrtes Gesicht und unterstrich seine scharf gezeichneten Schauspielerlinien. Schwarze Haare schneckelten sich wirr unter der gelb und grün gemusterten Reisemütze und klebten auf der bleichen schweißgefeuchteten Stirn. Es war Hermann, Adalberts Sohn, der überraschend wie Hamlets Geist aus der Versenkung aufgetaucht schien. Der junge Mensch zog seine Mütze vom Kopf, schwenkte sie mit pathetisch übertriebener Devotion gegen die Anwesenden und sprach, ehe noch einer von ihnen seine Fassung wiedergewonnen hatte:

»Meine Reverenz der geistvollen Kommune! Man entschuldige, daß ich so unerwartet die Bühne betrete! Aber ich wohne der Vorstellung schon lange hinter der Szene bei! Jetzt ist mein Stichwort gefallen!«

»Schere dich zu Satans Großmutter, die dich hergeschickt hat!« schrie Adalbert und machte eine Bewegung, als wolle er sich auf den Eindringling stürzen.

»Achtung! Das Ding ist geladen!« erwiderte Hermann und erhob mit gemachter Nachlässigkeit eine kleine Pistole, die er aus der Tasche gezogen hatte. »Du wirst dir wohl denken können, alter Herr, daß ich mir nach meinem heutigen Besuch sagen mußte: Nie ohne dieses mehr zu dir! Ich habe es mir von dem Geld erstanden, das du mir als letzte Abfindung vor die Füße geworfen hast! Du siehst, gute Werke belohnen sich!«

Adalbert atmete schwer. Man sah, wie seine Brust sich hob und senkte. Er schien mühsam an sich zu halten.

»Wo kommst du her?« fragte er tonlos. »Wer hat dich hereingelassen?«

Der junge Mensch lachte höhnisch auf.

»Als du dich gegen Abend an die Luft begabst, habe ich mich eingeschlichen. Die alte Vettel, die bei dir aufräumt, war etwas besorgen gegangen und hatte die Tür aufgelassen. Die Gelegenheit war wieder einmal günstig! Jetzt wird abgerechnet!«

»Den ganzen Abend bist du hier?«

»Stimmt, alter Herr! Ich hatte ein gutes Versteck! Das alte Gerümpel da, dicht bei deinem famosen Mordschrank! Ich habe alles beobachtet und alles verfolgt! Ich sah, wie du zuerst ein Fläschchen hervorholtest und dir eine Spritze machtest! Es wird wohl das bewußte Mittel gewesen sein, das dich wieder jung machen soll! ... Ha! Ha!«

»Du ... du ... Hundekerl!«

»Bravo, alter Herr! Ich rühme mich ja, dein Sohn zu sein! Carlos und Philipp! Die alte Geschichte! Aber diesmal siegt Carlos! Das ist der neue Schluß! Diesmal hab' ich dich, König Philipp! Du entkommst mir nicht!«

Der große breitschultrige Mann stand vornübergebeugt da, mit geballten Fäusten. Seine Kehle war ausgetrocknet. Die Zunge klebte ihm am Gaumen.

»Was willst du hier? Weshalb bist du gekommen?«

»Was ich will? ... Geld wollte ich! Und Rache! Und mein Recht als Sohn! Was weiß ich, was ich wollte! Aber jetzt weiß ich, was ich will und was du bist!«

»Was bin ich? ... Antworte!«

»Das will ich dir sagen, alter Herr! Ein Mörder bist du! Heute wie von je! Vormals hast du deine Opfer nur mit Hilfe der Phantasie gemordet! Jetzt vergiftest du sie leibhaftig und ganz! Den flachshaarigen Idioten da willst du aus dem Wege räumen! Seine Braut willst du an dich reißen! Niemand hätte dein Gift entdeckt! So war dein Plan! ... Fein ausgesonnen, Pater Lamormain! Alles wäre vielleicht geglückt! Aber Hermann, dein Rabe, erschien! ... Jetzt bist du in meiner Gewalt! Springen sollst du mir, wie ich pfeife! ... Tanzen will ich dich lassen! ... Meine Mutter im Grabe soll ihre Rache haben! ...«

Der junge Mensch hatte sich an seiner eigenen Rede berauscht. Seine schwarzen Augen funkelten und rollten. Seine rechte Hand fuchtelte mit der Pistole hin und her. Es war der größte Augenblick seines Lebens. Er stand auf der Bühne, vor Tausenden von Menschen, und spielte die Bombenrolle des Rächers und des Opfers in einer Person!

»Du bis ins Mark verfaulter Komödiant!« brüllte Adalbert, griff nach einem Stuhl, der vor ihm stand, schwang ihn im Kreise über sich und wollte ihn auf Hermanns Kopf niedersausen lassen, als er mit einem Schlage zusammenbrach. Der Stuhl flog in weitem Bogen durch das Laboratorium, ohne jemand zu treffen.

Studienassessor Treubier und Erna Krüger, die in starrer Spannung, unmächtig jedes Wortes, der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn gefolgt waren, sprangen beide gleichzeitig aus ihrer Betäubung auf und stürzten zu dem am Boden Liegenden hin, um ihn aufzurichten und ihm zu helfen. Aber es war keine Hilfe mehr vonnöten. Dr. Adalbert, der Erfinder des Adalbertons und vieler anderer merkwürdiger Dinge, die seinen Namen in der Welt bekannt gemacht hatten, war verstummt für immer.

»Der alte Nekromant ist am Ziel! Es war das Klügste, was er tun konnte!« sprach Hermann, sein Sohn, und ließ die Pistole, die er gerade auf den Alten hatte abfeuern wollen, auf die Steinfliesen fallen.

Drei Tage später wurde Dr. Adalberts sterbliches Teil unter den uralten Linden und Ulmen des Gertraudenkirchhofs zur letzten Ruhe gebettet. Die Beteiligung der Stadt an dem Begräbnis ihres berühmten Bürgers war über alle Maßen groß, und viele ehrende Reden klangen ihm in das offene Grab nach, zumal über die näheren Umstände seines jähen Endes durch die drei Beteiligten Schweigen bewahrt worden war. Auch eine Straße sollte auf seinen Namen getauft werden, wie der Bürgermeister in seinem flammenden Nachruf verkündigte, da es noch keine Adalbertstraße in Neuburg gab.

Eine Stunde später fand die Testamentseröffnung statt. Erna Krüger war nach Abzug einiger Legate und Stiftungen zur Alleinerbin eingesetzt. Insbesondere waren ihr der Besitz und die Verwertung des Adalbertons zu treuen Händen übertragen worden.

»War das alles nicht wie ein quälender Traum, dem jetzt ein beglückendes Erwachen folgt?« meinte der Studienassessor, als sie nach dem notariellen Akt das Laboratorium verließen und Seite an Seite durch die alten Gassen der Stadt gingen.

Erna Krüger, die in ihrem schwarzen Kostüm bleich und verweint aussah, nickte nur stumm. Ihre Gedanken weilten bei dem wunderlichen, wahnverstrickten Mann, der nun von dem finstern Phantasma seines Lebens genesen war.

»Wunderschön, Ernchen, hebt sich deine Trauergewandung von deinem rotbraunen Haar ab!« sagte Treubier bewundernd. Dann nahm er den bereits angesponnenen Gedankenfaden von neuem auf, indem er mit seinem Stock eine prächtige Doppelterz schlug.

»Nie und nimmer werde ich glauben, daß es mehr als ein Traum oder ein Alpdruck war, was wir in der Osternacht erlebt haben! Die Geschichte mit dem Gifttropfen in dem einen Pokal ist nichts als ein barocker Einfall gewesen, wie er nun einmal im Charakter deines Meisters, unseres Wohltäters, begründet war. Ich gestehe offen, wenn auch nicht ganz ohne Beschämung, daß auch ich für kurze Zeit der suggestiven Gewalt jenes Einfalls unterlegen bin. Aber gibt es einen zwingenderen Beleg für meine Ansicht als die Tatsache, daß die Leichenöffnung des Erfinders nicht eine Spur von Beweis für Vergiftung erbracht, sondern nur einfachen Gehirnschlag festgestellt hat? Sei es infolge der Aufregung mit dem Sohn! Sei es durch unvorsichtige Benutzung seines eigenen Verjüngungspräparats! Wie auch immer! Es war die Handlungsweise eines absonderlichen Originals, dessengleichen nie wiederkommen wird, aber nicht eines Verbrechers! Ehre seinem Angedenken! Sein Schicksal lehrt uns, daß auch das Genie nicht glücklich macht. Bescheiden wir uns darum mit dem, was wir sind, und wandeln wir frei von Vermessenheit unsere Erdenbahn ab!«

»Amen!« murmelte Erna vor sich hin, aber es geschah so leise, daß Martin Treubier sie nicht verstand – wie gewöhnlich!


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