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Ein Meteor

Eine Künstlergeschichte

Ich kannte Fritz Johst seit der Schulzeit. Es wird an die zwanzig Jahre her sein, seit ich seinen Namen zum erstenmal hörte. Er war mir um einige Klassen voraus und blieb es auch, so daß ich auf Sekunda saß, als er bereits, mit dem Abiturientenzeugnis Nummer Eins in der Tasche, unser altersgraues Gymnasialstädtchen verließ, um auf dem entgegengesetzten Ende Deutschlands, in Straßburg die Universität zu beziehen.

Er wird damals wenig über siebzehn gewesen sein. Jedenfalls war er der jüngste Absolvent, der seit langem aus unserem Gymnasium hervorgegangen war. Jedermann interessierte sich für den hübschen, groß gewachsenen, dunkeläugigen jungen Studenten, dem die Welt so früh sich erschließen sollte. Wir Zurückbleibenden beneideten ihn über die Maßen und zählten die Monate oder Jahre, wo wir ihm nachfolgen würden. Ich sehe ihn noch bei der feierlichen Entlassung der Abiturienten in der Aula unseres Gymnasiums die Festrede halten. Alle Augen richteten sich auf ihn, als er schlank und elegant, dabei über seine Jahre reif, das Podium betrat. Besonders die jungen Mädchen der Töchterschule, die bei solchen Gelegenheiten immer sehr zahlreich anwesend waren, reckten sich die Hälse nach ihm aus, denn Fritz Johst, so jung er war, stand im Rufe eines feurigen Liebhabers und Mädchenverehrers. Man erzählte sich Geschichten von ihm, daß er gewagt habe, sich seiner Flamme sogar vorstellen zu lassen, was als höchste Kraftleistung galt, da die meisten von uns ihre Verehrung für die Angebetete scheu im Busen bargen, nur von ferne auf den geheiligten Spuren wandelten und vor jeder näheren Bekanntschaft wie vor einer Entweihung Reißaus nahmen. So war Fritz Johst zum Rufe eines Helden, fast eines Don Juan gekommen, und die anwesenden Mütter und Pensionstanten runzelten bedenklich die Stirn, als die Hälse ihrer Schutzbefohlenen sich so sehnsüchtig nach dem jungen studentischen Festredner ausreckten.

Immerhin war auf mildernde Umstände für den begabten jungen Mann, den einzigen Sohn vermögender Eltern, zu erkennen, wenn er nur jetzt zur Einsicht kommen und nicht im Strudel des Studentenlebens untergehen wollte. Hatte doch so mancher frühere Zögling des Gymnasiums den besten Schutz gegen böse Anfechtungen darin gefunden, daß er mit der Flamme seiner Schülerzeit die Ringe wechselte und nach bestandenem Examen bei achthundert Talern Gehalt sie als seine Hausfrau heimführte.

Ob wohl Fritz Johst an etwas Ähnliches dachte, als er erhobenen Kopfes von seinem Podium über die ansehnliche Festversammlung hinwegsprach und seine rollenden Werte in dem mächtigen Saale laut austönen ließ?

Ich war damals zu jung, um mir über solche Gefühle Rechenschaft abzulegen, aber wenn ich mir heute das malitiöse Lächeln zurückrufe, das auf seinem Gesichte spielte, dann kann ich es mir nur so erklären: »Ihr täuscht euch alle in mir,« schien er sagen zu wollen. Er hat recht behalten. Wir haben uns alle in ihm getäuscht.

Des Themas seines Vortrages kann ich mich nicht mehr genau entsinnen, bezweifle aber nicht, daß es literarischer Natur war. Fritz Johst galt bei uns allen, bei Schülern wie bei Lehrern, für einen zukünftigen Dichter. Zwar hatten wir auf der Sekunda nur eine sehr dunkle Vorstellung, wie man so etwas wird, aber wenn einer den Weg dazu finden konnte, so war es Johst. Er schrieb die besten deutschen Aufsätze, wußte Bescheid in allen Klassikern, konnte Goethesche Hymnen, wie »Prometheus« und »Edel sei der Mensch« aus dem Kopfe rezitieren, hatte mit vierzehn Jahren »Wilhelm Meister« gelesen und war bekannt als schwacher Mathematiker, was in unsern Augen allein schon eine bedeutende dichterische Zukunft verhieß. Doch hatte er zu unserm Erstaunen schließlich auch hier eine Probe seiner umfassenden Begabung abgelegt, indem er bei den schriftlichen Arbeiten zum Abiturientenexamen die mathematische Aufgabe zur Befriedigung des alten mißtrauischen Professors löste und somit einstimmig von der mündlichen Prüfung losgesprochen wurde.

Dies war der höchste Ehrentitel, der einem Abiturienten zuteil werden konnte, und für Johst der würdige Abschluß einer glänzenden Schülerlaufbahn. Beim feierlichen Schlußkommerse trank der Lehrer im Deutschen öffentlich auf das Wohl seines besten Schülers und prophezeite ihm eine siegreiche Zukunft, wobei er ihm noch einmal das klassische Ideal ans Herz legte. Möge er dessen stets eingedenk bleiben und so später einmal eine Zierde unseres Gymnasiums werden.

Amen! glaubte ich Johst, in dessen Nähe ich saß, vor sich hinflüstern zu hören, und meinte wieder das spöttische Lächeln auf seinem hübschen, etwas weichen Gesichte zu bemerken.

Ich kannte Johst damals nur oberflächlich. Der Abstand zwischen einem Sekundaner und einem Abiturienten entfernt Vertraulichkeit. Ich weiß nur, daß ich, wie die meisten andern, Johst bewunderte und ihm das Höchste zutraute. Denn er schrieb nicht nur die besten Aufsätze, er hielt auch an der Kneiptafel die witzigsten Reden und vertrug soviel wie zwei. Solche Menschen mußten zu Großem bestimmt sein, das war die allgemeine Schüleransicht. Zweifellos, aus Johst würde ein Dichter werden, vielleicht auch ein Minister, vielleicht sogar beides, wie Goethe, unser Gott.

Natürlich studierte er Jura, würde also die schönste Zeit haben, nebenbei zu schreiben. Eine Anzahl von Gedichten Jobsts zirkulierte in unsern Kreisen. Es waren meistens Spottverse auf bekannte Persönlichkeiten der Stadt, auch auf spröde Töchterschülerinnen, die Johsts Unwillen gereizt hatten. Hier und da schlugen tiefere Töne an, Weltschmerz, Lebensüberdruß, Einsicht in die Eitelkeit alles Irdischen. Mit sechzehn Jahren weiß man das. Wir kannten die Verse auswendig und betrachteten sie als Johsts dichterisches Vermächtnis an uns Zurückbleibende. Noch lange nachher flogen seine Spottreime von Mund zu Mund.

Jahre vergingen. Immer spärlicher floß die Kunde von dem jungen Studenten, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Offenbar studierte er und sammelte seine Kraft für das juristische Examen.

Inzwischen verließ ich selbst das Gymnasium, trieb mich einige Semester auf kleinen Universitäten herum und ging dann nach Berlin, wo ich bald in die Kreise junger gärender Literaten geriet. Warum? weiß ich selbst nicht. Literarischen Ehrgeiz besaß ich eigentlich nicht mehr. Mein Römerdrama lag schon hinter mir.

Ich hatte überwunden und fühlte mich als Durchschnittsmenschen. Wir können nicht alle Genies sein. Einige wenigstens müssen die ordinären Arbeiten besorgen, wie Aktenschreiben und Krankebesuchen. Ich bereitete mich für das letztere vor. Wenn man sein Auskommen hat, läßt sich ganz gut dabei leben.

Trotzdem schmeichelte mir die neugewonnene Beziehung zur Literatur. Man steigt gern in höhere Sphären. Und ich bewegte mich ja in den allerhöchsten, denn meine neuen Bekannten waren fast durchweg Genies, nur daß sie noch nicht öffentlich als solche anerkannt waren. Aber es würde schon kommen. Die Hauptsache ist, wie man's im Busen fühlt, und da kochte es von Sturm und Drang. Die alten Werte mußten umgemünzt und neue dafür geprägt werden.

Damals kam gerade Nietzsche auf. »Stirb zur rechten Zeit!« hieß eins seiner Worte. Es wurde viel diskutiert und galt bald als unumstößliches Axiom. Meine Freunde waren sämtlich zum freien Tode entschlossen, wenn die Stunde geschlagen haben würde. Über den Zeitpunkt waren sie sich nicht ganz einig, aber das würde sich finden. Im allgemeinen ging die Ansicht dahin, daß man sich nicht überleben dürfe. Sie standen alle zwischen zwanzig und zweiundzwanzig.

Mir leuchtete das sehr ein, nur überließ ich die Kontroversen den andern, hielt mich klüglich und ging viel auf den Sezierboden. Schon damals interessierte ich mich für Anatomie des Gehirns und bin denn auch wirklich ein ganz tüchtiger Spezialist hierin geworden. Vielleicht hat mich der Umgang mit den Genies nicht wenig dafür vorbereitet. Ich bin Fatalist.

Durch meine Zurückhaltung gewann ich mir bald die allgemeinen Sympathien. Auch das größte Genie braucht ein Publikum, und hier waren es ihrer zehn. Ich habe damals so viele Gedichte und Dramen vorlesen hören, daß ich für mein ganzes Leben genug habe. Episches stand seltener auf der Speisekarte. Ich hörte, daß es veraltet sei. In diesem Kreise traf ich auch Johst wieder. Doch kam er unregelmäßig. Er war eigentlich nur Hospitant, stand aber in hohem Ansehen bei den Genies, da er der einzige unter ihnen war, der ein Buch herausgegeben hatte. Es war gerade zu der Zeit erschienen und hieß »Lieder eines Verlornen«. Auch noch heute kann ich nicht umhin, die Gedichte schön und eigenartig zu finden. Wenn ich den schmalen Band mit der eigenhändigen Widmung Johsts aus meinem Bücherschrank hervorziehe und die schon etwas vergilbten Seiten durchblättere, dann fühle ich mich immer von neuem ergriffen, und es weht mich wie ein Hauch jener tollen Sturm- und Drangzeit an, die ich einst selbst als junger Mediziner, wenn auch nur passiv und sozusagen leidend, mitgemacht habe.

Jedenfalls halte ich die »Lieder eines Verlornen« für den stärksten lyrischen Ausdruck, den die Bewegung gefunden hat, für die bindende Form jenes großen Umschmelzungs- und Läuterungsprozesses, der damals in der Literatur vor sich ging, und daß dies auch die Meinung der Zeitgenossen im allgemeinen, nicht nur der erwähnten Genies war, ergibt sich aus dem schnellen Absatz des Buches, gleich bei seinem Erscheinen. Es wurden kurz nacheinander mehrere Auflagen vergriffen. Die Presse bemächtigte sich des Falles, die Anhänger schleuderten den Ball, die Gegner griffen ihn auf und gaben ihn zurück, das Publikum wurde aufmerksam und kaufte, und der Erfolg war fertig. Wer älter wird, kann das Schauspiel alle paar Jahre sich wiederholen sehen. Damals war es mir neu.

Ich kämpfte, soweit meine Zeit es erlaubte, lebhaft mit. Natürlich auf Seiten Johsts. Von den einen als Antichrist in die Hölle verdammt, von den andern in den Himmel erhoben, als der Held, der die neue Richtung zum Siege geführt hatte, war er der Mann des Tages. Seine Sonne war glänzend aufgegangen und überstrahlte alle kleineren Sterne. Er war kaum zweiundzwanzig Jahre alt. Wie früher auf dem Gymnasium seine Lehrer, so prophezeite ihm jetzt die Kritik eine glänzende Dichterlaufbahn. Selbst die Gegner gestanden unter der Hand zu, daß man es mit einem beachtenswerten Talent zu tun habe. Das Publikum und seine Freunde sprachen von Johst als von dem Genie der Zukunft.

Ich war stolz auf meinen ehemaligen Mitschüler. Wir hatten ja immer gewußt, daß etwas Besonderes in ihm steckte. Wir hatten es vorausgesagt, als noch niemand ihn kannte. Was wohl der Lehrer im Deutschen von Johsts »Liedern eines Verlornen« denken mochte? Die heißen Liebesverse und die leidenschaftlichen Anklagen gegen die Welt- und Gesellschaftsordnung stimmten wenig zu dem klassischen Ideal, das dem Lehrer auf jenem Kommerse vorgeschwebt hatte. Um so besser! Ich gönnte es ihm. Mich hatte er nie leiden mögen.

Ich war wie berauscht von dem Feuerwein dieser Strophen und brauchte ein paar Tage, um mich zu erholen und die nötige Sicherheit für das Seziermesser zurückzugewinnen. Am liebsten hätte ich damals noch den ganzen wissenschaftlichen Plunder an die Seite geworfen und wäre mit fliegenden Fahnen zu den Genies abgerückt. Aber zum Glück besann ich mich noch. Der Alltagsmensch siegte. Ich danke meinem Schöpfer dafür.

Als ich Johst wieder traf, drückte ich ihm begeistert die Hand. Viele Worte fand ich nicht, aber es mußte wohl in meinen Augen stehen. Von da an wurden wir Freunde, während wir uns bisher beide zurückgehalten hatten, ich, um mich nicht aufzudrängen, er, weil er mich vielleicht nicht ganz für voll angesehen hatte und außerdem eine verschlossene, einsame Natur war, die sich nur selten anvertraute. Wenigstens wußten die Genies, in deren Kreise er verkehrte, so gut wie nichts von seinem Privatleben. Er liebte, sich mit einem geheimnisvollen Schleier zu umgeben, und war oft tagelang unsichtbar, was übrigens den pikanten Reiz seiner Persönlichkeit für die Außenwelt nicht wenig erhöhte.

Mir gegenüber gab er sich offener. Ganz aus sich herausgegangen ist er wohl auch nicht. Ein bißchen Komödie ist immer dabei gewesen. Jetzt weiß ich das, und ich glaube auch zu wissen, warum. Er war eben nicht der, für den wir ihn alle hielten, deshalb mußte er immer etwas dazutun, und weil er sich selbst am besten kannte, darum flimmerte auf seinem feingeschnittenen Gesicht so oft jenes malitiöse Lächeln, als mache er sich insgeheim über uns und unsere Verehrung lustig und litte doch in tiefster Seele darunter. Aber wie gesagt, das alles ist mir erst viel später aufgegangen. Damals stand ich, obwohl nur wenig jünger, ganz in seinem Bann.

Er war auch wirklich ein glänzender Mensch mit seinen zwei-, dreiundzwanzig Jahren. Alle seine Gaben hatten sich voll entfaltet. Frühreif war er von jeher gewesen. Jetzt schien seine Blütezeit gekommen. Wenn ich mir den jungen Goethe während seiner Straßburger Zeit vorstellen wollte, so mußte ich unwillkürlich an Johst denken. Ich habe selten wieder einen Menschen getroffen, der schon durch sein Äußeres so zu faszinieren und zu überzeugen wußte. Dabei war er nicht eigentlich schön, aber in seinen dunkeln, schwermütigen Augen lag etwas Unergründliches, was auf den ersten Blick interessierte, und wenn er redete, bekamen seine Züge einen hinreißend lebendigen Ausdruck. Man mußte ihm zuhören, ob man wollte oder nicht. Das braune Haar fiel wellig in die Stirn. Der Ton der Stimme war weich und einschmeichelnd, wie der ganze Mensch trotz seiner Zurückhaltung. Ein sinnlicher Reiz ging von ihm aus, der wie ein Narkotikum auf die Nerven der Frauen wirkte.

Es gibt Sonntagskinder des Glücks, und Johst schien eines zu sein. Sorgen kannte er keine. Seine Eltern, wohlhabende Landleute, taten alles für den einzigen Sohn, den Stolz ihrer Tage. Das Leben lag mühelos vor ihm. Nie ist mir ein Zweifel an der Beständigkeit all dieses Glückes gekommen. Auch darin ist er mir überlegen gewesen.

Wir sprachen viel von seiner Zukunft, und ich glaube, es waren die anregendsten Stunden meines Lebens, die ich mit ihm verbracht habe. Von mir war nie die Rede. Was war da auch viel zu sagen! Desto mehr von seinen dichterischen Plänen, die alle ins Große gingen. Sein Studium hatte er natürlich längst aufgegeben und wollte ganz seinem Schaffen leben. Eine Menge von Ideen kreuzte sich in seinem Kopf, eine verwegener als die andere, aber keine genügte ihm für das Zukunftswerk, mit dem er die Welt von der Rechtmäßigkeit seines ersten Erfolges überzeugen wollte. Denn der Gedanke quälte ihn, man könne an der Tragweite seines Talentes zweifeln.

Es gab auch wirklich vereinzelte Stimmen, zu Anfang freilich nur selten, die seine »Lieder eines Verlornen« als einen Zufallserfolg hinstellten und weitere Proben seines Könnens verlangten. Solche Zweifler wollte er durch irgendein unerhörtes Werk widerlegen, vielleicht auch, wer weiß es, die eigenen Bedenken durch krampfhaftes Ringen ersticken. Es war ein ewiges Suchen und Verwerfen und Von-neuem-Suchen, was ihn umtrieb und ihn bei keiner Arbeit so recht Ruhe finden ließ.

Eines Tages machte er mich mit seiner Geliebten bekannt. Unter allen seinen Freunden war ich der einzige, den er dieses Vertrauens würdigte. Sonst hielt er das Mädchen beinahe ängstlich versteckt, zeigte sich nie mit ihr in öffentlichen Lokalen und sprach auch selten von dem Verhältnis. Und doch hätte er mit Maria Aufsehen machen können. Sie trug ihren Namen nicht mit Unrecht. Noch heute denke ich mit einer gewissen Rührung an den kindlich-madonnenhaften Schnitt ihres Gesichtes und den flehenden Ausdruck ihrer braunen Augen. Es lag so etwas wie eine Bitte um Schonung darin und wie eine Ahnung von trübem Ende. Sie hat sich denn auch wirklich einige Zeit später, wie ich nachmals erfuhr, durch einen Sprung in die Spree allem kommenden Jammer, der ja unausbleiblich war, entzogen. Denn Johst war nicht der Mann für eine Heirat oder auch nur für dauernde Treue. Maria war ihm nur ein Spielzeug wie andere auch, freilich eins, an dem er vielleicht zärtlicher gehangen hat, als es sonst seine Art war. Doch wer will behaupten, daß er das Geheimnis dieser seltsam komplizierten und widerspruchsvollen Natur ergründet gehabt hätte! Vielleicht hat Maria doch mehr für Johst bedeutet, als er selbst gewußt oder andern verraten hat, ja vielleicht hätte sie der gute Genius seines Lebens werden können, wenn ... Nun, wenn es eben so bestimmt gewesen wäre! Im späteren Schicksale des Dichters mag man einige Fingerzeige finden, die darauf hindeuten.

Wie dem auch sei, an jenem Nachmittage, dem ersten und letzten, den ich mit dem Pärchen verbracht habe, war von so düstern Betrachtungen keine Rede. Es lag nur wie ein zarter Schleier über Marias Augen. Im übrigen war das Glück der beiden Sünder in seiner Maienblüte.

Sie tollten und küßten sich um die Wette, während wir zu dreien am Rande des Grunewaldes längs der Havel entlang zogen. Ich glaube, ich habe ein etwas trübseliges Gesicht zu dem verliebten Spiel geschnitten, denn die Kleine hatte es mir mit ihren schwermütigen Augen angetan, die freilich manchmal von Lebenslust nur so glühten. Man sah es diesem Madonnengesichtchen gar nicht an, wie ausgelassen es lachen und die weißen Zähne zeigen konnte. Die ganze unverdorbene und ungebrochene Sinnlichkeit, die für die Mädchen aus dem Volk Glück und Lebensschicksal zu sein pflegt, steckte auch in Maria. Wer den Schlüssel zu dieser Sinnlichkeit nicht findet, sieht sie keusch und unzugänglich. Ist der Richtige gekommen, so gibt es kein Aufhalten mehr. Es vollzieht sich nach Naturgesetz. Das Gretchenschicksal liegt ihnen allen im Blut.

Maria erging es nicht anders mit Johst. Wenn ich ihn jemals um sein Glück beneidet habe, so war es an jenem Frühlingsnachmittag. Maria merkte natürlich, wie mir zumute war. So etwas spüren die Frauen sofort. Aber all ihre zarte Teilnahme konnte mich wenig trösten. Immer wieder sah ich, wie ihre Augen zu Johst hinüberspielten und ihre Hände sich mit den seinen begegneten. Ich blieb der komische Dritte, der zusehen muß. Ob Johst mir das absichtlich angetan hat? Solche Übermenschen sind zu allem fähig.

Ich war klug genug, ihm keine weitere Gelegenheit zu diabolischen Triumphen zu geben. So schwer es mir fiel, ich habe alle Einladungen Johsts ausgeschlagen und bin Maria überhaupt nie mehr im Leben begegnet.

Bald danach war das Semester zu Ende. Ich reiste zu den Ferien, und als ich im Winter wiederkam, war Johst verschwunden. Es hieß, er sei auf Reisen gegangen.

Von Maria hörte ich nichts mehr. Niemand aus unserem Kreise hatte sie gekannt. Niemand wußte, was aus ihr geworden sei. Ihren Ausgang habe ich erst später zufällig erfahren. Es muß in jener Zeit geschehen sein.

Wer weiß, wenn ich sie wiedergetroffen hätte ... Aber unser Schicksal steht uns ja allen in den Sternen geschrieben. Was nützt es, dem Unabwendbaren nachzugrübeln!

Wieder vergingen Jahre, Jahre für mich des Brotstudiums, angestrengter Berufsarbeit. Es galt, auf dem heißen Boden Berlins eine Existenz erringen. Für literarische Träume fehlten mir Zeit und Lust. Mit Johsts Weggang war auch der Hauptantrieb fort, der mich noch zu den Genies geführt hatte. Ich kam seltener und seltener und blieb schließlich aus. Auch der Kreis selbst löste sich auf. Mit fünfundzwanzig bis höchstens dreißig Jahren vergeht den meisten Menschen das Genietum. Die Bäume blühen ja auch nur einmal im Jahr, und dann auf kurze Zeit. Meine Freunde waren von der Art gewesen. Nach verrauschtem Sturm und Drang wurden die meisten brave Journalisten. Ein paar nahmen es sich allzusehr zu Herzen, daß nicht alle Blütenträume reiften, und verkamen bei Weibern und Absinth. Einer von ihnen wurde Phthisiker und starb. Zwei nahmen Zyankali. Einer hat schließlich in eine Lederfabrik geheiratet. Ich traf ihn neulich. Er ist der Zufriedenste von uns allen.

Und Johst selbst? Das Genie der Zukunft, der Mann, auf den nicht nur seine Freunde, sondern auch seine Gegner gerechnet hatten, der einzige aus dem ganzen Kreis, der etwas Positives geleistet hatte ...? Man sprach weniger und weniger von ihm. Die Zeitungen brachten noch ein paarmal kurze Notizen über ihn und seine Pläne, dann verstummten sie. Es wurde still von dem Namen. Neue Erscheinungen drängten sich vor. Schließlich hatte man ihn halb und halb vergessen.

Manchmal vor dem Einschlafen mußte ich an Johst und unsere alte Freundschaft denken. Was mochte wohl aus ihm und seinem Schaffen geworden sein? Erschienen war nichts mehr von ihm seit den »Liedern eines Verlornen«, das wußte ich. Ob er noch immer um den entscheidenden Ausdruck seiner Persönlichkeit rang? Ob er es aufgegeben hatte? Was er trieb, was er tat? Ob er am Ende auch nur so ein Pubertätsgenie war, dem es einmal geglückt war und nicht wieder ...? Wer wollte all diese Fragen beantworten!

Ich mußte mich gedulden und auf den Zufall warten, der uns wieder zusammenführen würde.

Ich glaube an eine Gesetzmäßigkeit in diesen Dingen. Man trifft sich unfehlbar wieder, das habe ich oft erfahren. Auch mit Johst. Ich sollte ihn noch nicht zum letztenmal gesehen haben.

Eines Nachmittags – es war im Spätherbst und etwa zehn Jahre nach unserem Abschied – kam er in meine Sprechstunde. Ich hatte schon etwas Ruf als Arzt. Daher mochte ihm mein Name aufgestoßen sein.

Ich erschrak ordentlich, als ich ihn eintreten sah. So verändert schien er mir. Sein Gesicht war schwammig geworden. Tiefe Spuren innerer Kämpfe hatten sich um Mund und Nase eingezeichnet. Die einst freie und heitere Stirn war umwölkt. Die leidenschaftlichen Augen flackerten unstet. Der mephistophelische Zug, der von Jugend auf in seinen Zügen angedeutet gewesen war, hatte sich verschärft. In Augenblicken der Ruhe hing sein Unterkiefer schlaff herab, wie man es bei Leichen sieht.

Äußerlich trug er sich elegant einfach, wie immer, doch ohne die schlanke Grazie von früher. Er war korpulent geworden. Auch sein Gang war lange nicht mehr so agil und elastisch. Das dunkle Haar an den Schläfen war ergraut. Der Frühreife hatte früh gealtert. Alles in allem machte er den Eindruck eines älteren Schauspielers, dem man noch immer den schönen Mann ansieht. Aber der herbstliche Eindruck herrschte vor.

Auch in seiner Sprechweise. Es lag etwas Müdes, Abgelebtes darin, wenigstens zu Anfang, Allmählich wurde er lebhafter, zugänglicher. Das alte Feuer loderte wieder auf.

»Also keine Untersuchung, keine Pro- und Diagnose!« erklärte er bestimmt. »Ich bin zum Menschen gekommen. Nicht zum Arzt. Mit den Ärzten bin ich längst fertig. Ich kenne meinen Zustand am besten und weiß, was ich zu tun habe. Ich wollte dich noch einmal wiedersehen, das ist alles. Ich habe immer eine gewisse Schwäche für dich gehabt.«

Ich lachte und verneigte mich.

»Nein, nein, Scherz beiseite! Ich habe immer was von dir gehalten, und ich freue mich, daß ich mich nicht getäuscht habe. Du bist einer von den Soliden, die sich langsam entwickeln, dafür aber um so länger dauern. Ich gebe dir noch eine Zukunft.«

»Die haben wir hoffentlich beide,« sagte ich.

»Nein, ich nicht!« antwortete er schroff. »Ich habe nur eine Vergangenheit. Siehst du jetzt, daß du der Glücklichere bist? Ich habe dir das immer prophezeit. Du hast es nicht glauben wollen. Heute beneidest du mich nicht mehr, wie vor Jahren.«

Ich wußte nicht recht, was ich ihm erwidern sollte.

»Ich habe meinen Beruf,« sagte ich, »und bin zufrieden. Ich habe mich resigniert mit dem, was ich bin. Man kann nicht alles sein wollen. Man verliert sich zu leicht.«

Er lachte bitter.

»Hör' ich den alten Gordon wieder! Ja, ja, die Alltagsphilosophie! Aber es konserviert! Es konserviert! Man sieht's an dir.«

»Ich habe meine Grenzen immer gekannt,« sagte ich. »Das Allmenschentum überlaß ich Größeren, und auch für die ist es ein gefährliches Spiel.«

Ich sah ihn bedeutsam an. Er schwieg und preßte die Lippen zusammen.

»Denkst du noch an jenen Ausflug längs der Havel?« fragte er plötzlich. »Zusammen mit Maria?«

Ich bejahte leise. Er fuhr langsam fort:

»Es war die beste Zeit meines Lebens. So etwas wird nie wiederkommen.«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Nie wiederkommen!« wiederholte er fest. »Mache mir nichts vor, was du selbst nicht glaubst! Vorbei ist vorbei! Ich hätte Maria nicht verlieren sollen. Das war der Umschlag. Seitdem ging alles quer.«

»Es lag doch an dir?«

»Es lag in mir!« betonte er und schwieg wieder. Von seinem Schaffen hatte er noch kein Wort gesprochen. Ich hielt mich natürlich zurück.

Jetzt begann er, als koste es ihm Mühe.

»Du hältst mich natürlich auch für vollständig passé als Dichter? Bitte, Offenheit! Keine Umschweife!«

Ich sagte, daß mir nichts Neues mehr von ihm bekannt geworden sei. Allerdings sei ich vielleicht nicht ganz auf dem laufenden. Jede Zeile von ihm würde mich interessieren. Ich läse noch heute viel in den »Liedern eines Verlornen«. Ich wüßte nichts, was mir darüber ginge von modernen Werken.

Meine Worte schienen ihm wohlzutun. Er sah wohl, daß ich es aufrichtig meinte.

»Gut!« sagte er. »Du sollst etwas Neues von mir zu lesen bekommen. Es ist zwar ein Fragment, aber es mag dir manches sagen. Vielleicht wird dir mein Wesen klarer werden. Vielleicht auch nicht. Dann tut es nichts. Wir sind uns ja alle fremd. Wenn du in den nächsten Tagen das Manuskript erhältst, lies es, und wenn du dann magst, komm zu mir! Ich hätte dir etwas mitzuteilen. Leb wohl!«

Er drückte mir in einer seltsam gerührten Art die Hand und schied. Ich ahnte nicht, daß es ein Lebewohl für immer war. Ich sehe ihn noch langsam, mit gesenktem Kopf, zur Tür hinausgehen. Das war am Montag. Am folgenden Sonnabend, es war der letzte im November, erhielt ich das Paket mit dem versprochenen Manuskript. Nur wenige Zeilen von Johsts Hand lagen bei.

»Komm morgen früh in meine Wohnung! Ich erwarte Dich bestimmt! Wenn Dir etwas an mir gelegen ist, so komm! Lies aufmerksam! Ein Schuft, wer mehr gibt, als er hat! Über sich selbst kann niemand weg! Bin ich ein Rätsel, so sei es nun gelöst! Am Vorabend meines dreiunddreißigsten Geburtstages! Salut! Fritz Johst.«

Seltsam! Nachträglich wundere ich mich, daß mir der Ton des Schreibens nicht sofort aufgefallen ist.

An jenem Abend fand ich nichts Besonderes daran. Ein Mensch wie Johst hatte wohl seine eigene Art zu schreiben.

Spät abends legte ich mich auf den Diwan und begann zu lesen. Ich merkte bald, daß mit Brandt, dem Helden des Fragments, Johst selbst gemeint war. Um so mehr steigerte sich mein Interesse. Ich lasse das Bekenntnis, so darf ich es wohl nennen, im nachstehenden folgen. Wer sich einmal für Johst interessiert hat, der wird es nicht ohne Teilnahme lesen und vielleicht einen Beitrag zur Erklärung seiner problematischen Persönlichkeit darin finden. Es ist im erzählenden Ton gehalten und lautet wie folgt.

1.

Ein scharfer, frostiger Wind blies durch die zugigen Straßen. Der Himmel erschien finster und wolkenbedeckt im düsterroten Widerschein all des tausendfachen Lichtes, das von Straßen und Plätzen, aus Kaufläden und Werkstätten, aus menschendurchbrausten Tanzsälen und einsamen Grüblerstübchen zu einem einzigen Meere hoch über diesem aufgetürmten Steinhaufen und seiner wimmelnden Menschenbrut zusammenfloß. Wie mit gerunzelter Stirn, tränenlos und drohend, starrte der Nachthimmel tief hinab in all dies unbegreifliche Ameisentreiben. Kein Tropfen fiel aus den schweren Wolken auf den kalten, blendenden Straßenasphalt. Schnee und Eis schienen sich dort oben ineinander zu ballen. Schon spürte man durch die Lüfte das ferne Flügelrauschen des Winters.

Brandt fühlte ein behagliches Frösteln, wie er so in seinem schweren dichten Mantel sich durch die Menge drängte, bald wieder in stilleren Straßen traumverloren vor sich hinschlenderte. Er liebte diese trockene Kälte, die nicht mehr Herbst und doch noch nicht Winter war, wie er alle Übergänge zwischen den Jahreszeiten und alle gebrochenen Stimmungen liebte.

Vielleicht bist du selbst dergleichen, dachte er bei sich, und ahnst in Leben und Natur die verwandte Seele. Zu viel bist du und doch wieder zu wenig. Darum sind dir die anderen voraus, die nur eins sind, aber das Eine ganz. Ja, wer das Leben in seiner Fülle umspannen könnte! Aber dazu ist es zu reich, zu kompliziert. Und wer es doch versucht, den sprengt es auseinander. Das sind die Glücklichen, die gar nicht auf solche Gedanken kommen, die sich hübsch bescheiden mit dem einen Trieb, den ausleben, nicht nach rechts, nicht nach links, immer nur geradeaus sehen, denen keine Nebenabsicht dem besten Text verdirbt, ja, man spielt ein gefährliches Spiel. Aber kann man denn anders spielen, wenn man nun eben die Karten mitbekommen hat? Will man der falsche Spieler sein, der aus fremden Karten spielt? Nein! Soll ich denn an meinen Karten zugrunde gehen, sei's drum! Dann war es wohl von allem Anfang an bestimmt. Ihr habt klug reden von Geschlossenheit und allen guten Dingen. Ihr wart eben immer geschlossen, braucht es nicht erst zu werden, wenn ihr euch das auch nachträglich einbildet. So etwas kann man nicht wollen. Man ist es oder man ist es nicht. Dann wehe! Dunkel, dunkel ist der Weg!

Halblaut flüsterte er die letzten Worte vor sich hin und hob den tiefgesenkten Kopf. Achtlos der Richtung, war er von Straße zu Straße geschlendert. Er mußte weitab geraten sein von seiner Wohnung und von dem breiten Strom der abendlich heimkehrenden Arbeitermassen. Rings um ihn war es einsam und halb dunkel. Ein paar verlorene Gaslaternen flimmerten hin und wieder auf seinen Weg. Das gelbe Licht kämpfte vergebens gegen die Finsternis ringsum. Wie zusammengekauert umschloß es die Laternenpfähle, als wehre es sich gegen den unsichtbaren Feind. So oft Brandt einen solchen engen Lichtkreis durchschritt, erkannte er deutlicher seine eigenen Umrisse und die der wenigen ihm Begegnenden. In schmerzlichster Trauer zog sich sein Herz zusammen. Ihm war, als müsse das jetzt immer so bleiben, und keine neue Sonne mehr werde über seinem Leben aufgehen.

Plötzlich erkannte er im fahlen Gaslicht die Straße und das Haus, an dem er gerade vorbeiging. Er fuhr zusammen und blieb sinnend stehen. Von diesem bejahrten, verfallenden Hause hatte sein Weg die entscheidende Wendung genommen. Manches Jahr war nun schon darüber vergangen. Aber er erinnerte sich mit bestimmter Deutlichkeit an die kleinsten Einzelheiten jenes süß berauschenden Sommerabends. Hier im Erdgeschoß zur Linken das Zimmer mit den niedrigen Fenstern und den weißen Gardinen, die noch genau so hingen wie damals: das war es!

Sein nächster Freund hatte hier ein unruhiges und freudloses Zigeunerdasein geführt, indem er konsequent bei Sonnenuntergang aus dem Bett aufstand und seinen Kaffee zu einer Stunde einnahm, wo andere Leute Abendbrot aßen und sich zum Schlafengehen anschickten. Dann loderte sein Lebensmut mächtig auf. Den Stock in der Rechten, den verschossenen Filzhut auf das wildgelockte Künstlerhaupt gedrückt, zog er hinaus in die abenteuerreiche Nacht. Aber das Ende vom Liede war jedesmal nichts als ein schwerer, bierseliger Kopf und eine späte Heimkehr um Mittag des nächsten Tages.

In jener Zeit hatte Brandt, kaum mehr als zwanzigjährig, seine zärtlichsten Liebestage verlebt. Aus schneller Bekanntschaft war heiße Leidenschaft gewachsen. Wer hätte im Sturm des ersten Liebesrausches an die Zukunft denken sollen! Überschwengliche Gegenwart war alles, toll verliebtes, sehnend banges, sinnenblühendes Heute, das Morgen aber zu weiter auf der Welt nichts nutz, als dem wild überschäumenden Begehren die endliche, allerletzte, tiefzügige Erfüllung zu gewähren. Leib drängte zu Leib, Sinne zu jugendwarmen Sinnen, die Ketten, die noch hemmten, mußten unter dem Drucke übergewaltiger Naturkraft bersten und zerspringen. Gewohnt, sich keinen seiner Wünsche zu versagen, der Leidenschaft, die ihn erfaßte, blindlings nachzugeben, hatte Brandt sich nicht einen Augenblick bedacht, die unerschlossene Rose, die sich schwach und schwächer ihm neigte, zu brechen und im Triumph an seine Brust zu stecken.

Und hier in diesem selben Zimmer, das mit seinen dunklen Fensterscheiben den schauernden Betrachter so seltsam tot und geisterhaft anstierte, hier war es geschehen, hier war der Schauplatz ihrer süßesten Stunde. Der zigeunernde Freund hatte sich Brandts Qual erbarmt und ihm den engen, ach! unvergessenen Raum für einen kurzen heißen Abend zur Verfügung gestellt. Ja, er hatte die Selbstaufopferung so weit getrieben, schon eine Stunde früher als sonst aufzustehen, damit die Wirtin das Zimmer einmal gründlich in Ordnung bringen und es in einen würdigen Zustand für die verliebten Gäste setzen könne.

Das war denn auch geschehen. In nie geahntem Glanze präsentierte sich die vielerfahrene Studentenbude, da Brandt als erster eintrat und einen Rosenstrauß auf den wackligen Tisch, neben den Strauß aber eine veritable Champagnerflasche stellte.

Und nun rollte sich Zug um Zug vor ihm auf, wie er fiebernd auf Maria gewartet hatte, bald bänglich in der düstern Stube auf und ab geschritten war, bald vorsichtig zum Fenster in die dämmernde Straße hinausgespäht hatte, ob sie denn nicht endlich, endlich kommen wollte, oder ob sie ihr Entschluß im letzten Augenblick nicht doch noch gereut habe. Eine bange, schwüle Stunde der Erwartung! Denn er wußte, wie ihre unverdorbene Natur zwischen Scheu und Verlangen kämpfte, und war des Ausgangs unsicher.

Aber dann hatte er doch gesiegt. Ja, sie hatte nicht widerstanden. Leise hatte sie geklopft und geöffnet und war ihm fast unter Tränen um den Hals gefallen. Und dann! Wie dufteten die Rosen so schwül! Das ganze Zimmer war von ihrem Geruch erfüllt. Schmeichelnd küßte er die Sinne und löste mit der Spannkraft der Glieder das letzte schwache zärtliche Sträuben, das schon mehr ein Ansichziehen und Umfangen war. In den Gläsern perlte der bescheidene Sekt. Die alten, baufälligen, verschlissenen Möbel erwachten aus vieljährigem Schlaf und horchten verwundert der neuen, ach! uralten Melodie. Draußen aber sank der Sommerabend schwül und schwer auf das glühende Pflaster, das Kindergeschrei, das noch manchmal durch die verhangenen Gardinen hereingeklungen war, verstummte allgemach, tiefer die Stille, seltener das Geräusch vorüberklappernder Schritte. Die beiden Menschen, der Jüngling und das Mädchen, vergingen miteinander in der Einsamkeit des Menschenmeeres und in dem Schweigen der Nacht.

Brandt überlief es kalt. Er hatte sich gegen die Haustür gelehnt, übermannt von der Flut der Erinnerungen. Jetzt war er wieder bei sich und hatte seine Kraft zurückgefunden. Vorbei war es und unwiederbringlich! Allein und verlassen stand der Mann hier in der Novembernacht und betrachtete schwermütig die dunkle Grabstätte der Vergangenheit. Tief in seinem Innern aber rangen sich Zukunft und neues Leben langsam ans Licht.

Er ging gemach an dem Hause vorüber und sah noch einmal in die toten Fenster. Da war es ihm mit eins, als müsse er selbst sich da hinter der weißen Gardine versteckt halten und plötzlich das Fenster öffnen, um hinauszusehen. Dann würden sie sich beide gegenüberstehen und sich fest ins Auge fassen, der Jüngling und der Mann. Warst du das? Bist du's? Sahst du so aus? Hab' ich dich so geträumt?

Ein plötzliches Grausen vor der gespenstischen Zwiesprache trieb dem Einsamen die Haare zu Berge. Er ging schneller und schneller. Bald blieb die Straße hinter ihm.

Aber der einmal geweckte Gedanke verließ ihn nicht. Wer noch einmal anfangen, wer sich von neuem leben könnte! Nicht ganz von vorn! Nicht wieder die Mühseligkeiten der Kindheit und der Schule! Aber noch einmal zwanzig sein mit den Erfahrungen seines jetzigen Wesens und dann von neuem hinaus in die Welt! Alt und doch wieder jung! Unverbrauchte jugendliche Kraft von männlicher Reife in die richtige Form gefaßt! Oh, dann würde er es sich anders einrichten! Keine Vergeudung mehr! Kein unsicheres Vorbeitasten! Resolutes Zugreifen und unerschütterliches Festhalten! Und vor allem nicht mehr diese unfruchtbare Hypertrophie des rein Geistigen, die jede Tatkraft hemmte und den Menschen unbrauchbar machte für die gesunde, einfache Wirklichkeit. Wer einmal von jenem gefährlichen Safte gekostet hatte, der war verloren für diese reale Welt, in die er nun einmal mit allen seinen Sinnen hineingestellt war, und der er sich doch nie wieder anpassen konnte, weil eben das eine unersetzliche Organ narkotisiert und gelähmt war, der Wille, der Entschluß zur Tat, die Kraft, sich der Welt oder die Welt sich dienstbar zu machen, je nach Neigung und Können.

Oh, wer ihm den Willen wiedergegeben hätte, den ungebrochenen Willen der Jugend, der durch keine Vorspiegelungen der Phantasie, nicht durch gewähnte Schrecknisse, noch durch trügerische Hoffnungen aus seiner eingeborenen Bahn gelenkt wird!

Oh, nur einen Weg noch einmal zurück! Noch einmal zwanzig und dann von neuem anfangen! Wenn es sein mußte als Fabrikarbeiter, Lokomotivheizer oder amerikanischer Hinterwäldler.

Nie hatte Brandt so tief auf den Grund des Faustischen Verjüngungstrankes geblickt, wie in dieser Stunde schmerzlichster Selbstzerfleischung. Wahrlich, ihm wäre es nicht auf den Tropfen Blut aus seinem Finger angekommen, wenn er sich mit dem Wechsel auf das Jenseits die Fülle irdischer Gesichte hätte erkaufen können! Aber die Zeiten waren vorbei, wo der Dämon erschien, um Sterblichen den Becher der Erneuerung zu kredenzen und sie Helenen in jedem Weibe sehen zu lassen.

Und doch, war dies nicht das einzige Mittel, um wenigstens auf Stunden sich selbst zu entrinnen und in kurzer Sammlung neue Kräfte zum bitteren Kampfe mit dem eigenen Ich zu schöpfen? Wenn kein Gott und kein Teufel sich erbarmten, so mußte der Mensch in seiner Qual selbst zum Tranke des Vergessens greifen und ausatmend seinen Kopf an Weibesbrust legen.

Eine große Leidenschaft: ja, das war es, was ihn retten konnte! Eine große Leidenschaft, die ihm wieder Lebensinhalt gegeben hätte, und mit dem Inhalt auch den schmerzlich-süßen Drang, ihn zu gestalten, mit dem Druck von außen den Gegendruck von innen, woraus der zeugende Funke der Kunst entspringt und all ihre leuchtenden Farben aufblitzen, das bunte Regenbogenspiel auf dem tiefen, satten Untergrund des Lebens. O wie lange, wie unabsehbar lange hatte der Gott in ihm geschwiegen! War er denn wirklich für immer gestorben? Erweckte nichts, nichts ihn mehr aus seinem Todesschlaf?!

Er umschloß mit beiden Händen den brennenden Kopf und preßte ihn zusammen wie im Schraubstock, aber von innen klang nur das eine dumpfe Wort: Tot! und widerhallend abermals: Tot!

Gewaltsam lenkte er den Blick von seinem Innern auf die Außenwelt und sah erwachend um sich. Er befand sich wieder in der Nähe seiner Wohnung. Wie zufällig fiel sein Blick in die spärlich beleuchtete Plätterei, wo er seine Wäsche hinzuschicken pflegte. Für gewöhnlich gab es dort nichts, was ihn hätte reizen können. Es war ein enger, niedriger Keller, in dem bei trübseligem Lampenlicht zwei alte Frauen, eine Mutter mit ihrer buckeligen Tochter, ihr Wesen trieben. Brandt hatte, seiner Wäsche wegen, sich schon manchmal in die Höhle der beiden Hexen verirrt und sich stets schleunig wieder in das freundliche Tageslicht zurückgezogen. Aber heute wurde er eines ganz ungewohnten Anblicks gewahr. Er blieb stehen.

Es waren nicht zwei Personen wie sonst, sondern drei, die da standen und bügelten, und diese dritte war ein schlankes, soweit er unterscheiden konnte, noch junges Mädchen von leichten, gefälligen Bewegungen. Er trat verwundert näher und blinzelte durch die feucht angelaufenen Scheiben der Kellertüre. Das Mädchen war gerade nach hinten zum Ofen gegangen, so daß man nur undeutlich ihre Umrisse sah. Jetzt kam sie schnell zurück, in der Rechten eine Zange, womit sie den glühenden Bolzen gepackt hielt, während sie links nach dem Bügeleisen griff und mit kurzem Ruck den Deckel aufklappte. Jetzt in kühnem Schwung den funkenstiebenden Bolzen zur Öffnung geführt, so daß es aussah, als drehe sich ein Feuerrad im Kreis, klapp hinein und wutsch! den Deckel zugeschoben! Alles das Werk weniger Sekunden, aber sie hatten genügt, den im Dunkel verborgenen Betrachter ganz mit dem Bilde des jungen blühenden Mädchens zu erfüllen.

Sie mochte etwa zwanzig Jahre sein. Ihre jugendlich volle, ebenmäßige Brust ging lebhaft auf und nieder. Das Glühlicht des Bolzens zuvor, und jetzt, wie sie sich angelegentlich wieder über ihre Arbeit bückte, der Schein der niedrigen Tischlampe beleuchtete ihr weiches Kindergesicht und die länglich-runden, von Arbeitseifer geröteten Wangen. Ihr blondes, glattes Haar war hoch zurückgekämmt und hinten aufgesteckt, die Gestalt elastisch schlank und eher groß als klein. Im ganzen hatte die Erscheinung wenig von der berufsmäßigen Derbheit einer Plätterin, so gesund und frisch in Formen und Bewegungen sie sich auch gab. Möglich, daß sie aus einer andern Atmosphäre stammte und nur zum Lernen hier war.

Mit eins hatte Brandt eine seltsame Anknüpfung gefunden. Das Mädchen erinnerte ihn an Maria, wie er sie einst gekannt hatte, in den ersten Zeiten ihres Liebesglückes. Bald waren zehn Jahre seitdem vorbei. Damals war sie ein blutjunges naives Landkind gewesen mit der jugendwarmen Fülle der ersten jungfräulichen Entwicklung, geistig und körperlich gleich unberührt, eine knospende Rose, deren feiner, diskreter Duft doch schon Entfaltung über Nacht und nahe Blüte ahnungsvoll verriet. Und jetzt nach so manchen Jahren, da jenes süße Menschenbild längst in Moder zerfallen war, sollte es in seiner rührenden Urgestalt wieder aus dem Staube der Vergangenheit aufgetaucht sein und abermals, vielleicht verhängnisschwer, seinen Weg kreuzen?

War es Täuschung? War es Wirklichkeit? Brandt preßte sein Gesicht dichter gegen die Scheiben und starrte in das ärmliche, düstere Interieur mit den drei schweigend plättenden Frauen, wie geblendet von einem seligen Lichtstrahl, der aus ferner, ferner Zeit herüber vor seine Füße fiel. Erinnerte das im Drang der Arbeit gefällig hin und her bewegte Mädchen da unten denn wirklich an die jugendschöne Maria, so wie sie ihm damals erschienen war und in seiner Erinnerung fortlebte? Ja und nein! In Bewegung und Gestalt, in manchen Zügen des Gesichtes und besonders in der Kindlichkeit des Ausdrucks war wohl eine flüchtige Ähnlichkeit zu lesen, und doch fehlte wieder das, was einst dem Urbilde erst den schönsten Reiz verliehen hatte: die Seele, die durch alle Verschleierungen sichtbar gewesen war, die süße Poesie, irgendein stiller Zauber oder was es sonst nur war. Lag es vielleicht daran, daß er Maria zum ersten Male in dem feuchten, milden Dämmerlichte eines Frühlingsabends erblickt hatte, während jetzt die Nachbildung in der düstergelben Beleuchtung einer blakenden Petroleumlampe an einem rauhen Novemberabend vor ihn hintrat? War es wirklich nur der Einfluß der anderen Umgebung? Oder kam es am Ende daher, daß nichts in der Natur sich wiederholte und der Reiz des Originals durch keine spätere Kopie mehr übertroffen werden konnte? Schwermütiger Gedanke mit allen seinen bitteren Konsequenzen!

Brandt zuckte schmerzlich zusammen. Es war wohl so. Nur der erste flüchtige Eindruck der Erscheinung hatte ihn übermannt. Beim näheren Hinschauen gab sich alles anders. Sinnestäuschung, weiter nichts! Das plättende Mädchen war ein hübsches, frisches Geschöpf, aber mit dem Bilde seiner Jünglingszeit besaß es keine Spur von Ähnlichkeit.

Er zog hastig den Kopf von den kalten, feuchten Scheiben der Kellertür zurück und wollte im Dunkel verschwinden, da gewahrte er, daß man unten auf ihn aufmerksam geworden war. Die bucklige Tochter näherte sich der Treppe, wie um nachzuschauen, die Alte drehte unwillig den Kopf zur Tür, ohne jedoch das Bügeleisen aus der Hand zu lassen, und jetzt, was war das? Er sah ganz deutlich, wie das junge Mädchen einen Augenblick in der Arbeit innehielt und, von den beiden anderen unbeachtet, mit der Linken zur Treppe hinauf ihm zuwinkte und dabei leise lächelnd nickte.

Was war das? Brandts Herz begann schneller zu schlagen. Galt das Zeichen ihm?

Schon klapperte die Kellertür, und die Bucklige lugte mit vorgehaltener Hand in die Nacht hinaus. Umsonst! Von dem unberufenen Zuschauer war nichts mehr zu erspähen.

Brandt hatte sich in dem Schatten eines gegenüberliegenden Haustores versteckt und lachte vergnügt in sich hinein, wie er die giftige Person verdrossen die Kellertür zuschlagen und in die Unterwelt abziehen sah. Da in der engen Straße die Häuser sich ziemlich dicht gegenüberstanden, so konnte er aus seinem Hinterhalte den Keller bequem überschauen und die Vorgänge dort unten Zug um Zug verfolgen.

Er brauchte nicht lange zu warten. Beim ersten Schlag der zehnten Stunde, der von der Turmuhr der nahen Pfarrkirche durch die Nacht zitterte, kam Leben in den mechanischen, uhrwerksmäßigen Arbeitsgang da unten. Man rüstete zum Feierabend. Die Plättbretter wurden abgeräumt, die Bügeleisen beiseite gestellt, das junge Mädchen ließ erschöpft die Arme am Körper heruntersinken und atmete tief auf, die beiden Alten aber faßten einen hoch mit Wäsche gehäuften Korb rechts und links bei den Henkeln und trugen ihn resolut über die Treppe zum Keller heraus und gleich rechts durch das geöffnete Haustor nach ihrer Wohnung hinein.

Jetzt hieß es handeln! Im Nu war Brandt über die Straße weg und stand an der Kelleröffnung. Die Junge befand sich allein. Sie hatte bereits ihren Kapotthut aufgesetzt und schlüpfte gerade in das dunkle, eng anliegende Tuchjackett. Der Versucher stieg langsam und äußerlich gleichgültig die Treppe hinab, als sei er ein Kunde, der noch eine Bestellung zu machen habe. Das Mädchen drehte sich um, als es seine Schritte auf der Treppe knarren hörte.

»Mein Gott! Bin ich erschrocken!« stieß sie heraus und legte die Hand aufs Herz. Dabei sah sie ihn so rührend hilflos mit ihren blauen Kinderaugen an, daß ihm ordentlich weich und warm zumut wurde. In dieser Verfassung hatte sie nun wieder ihren eigenen Reiz, und auch jene Ähnlichkeit, die Brandt zuerst so seltsam angezogen hatte, trat schärfer hervor.

»Warum denn erschrocken?« fragte er lächelnd und schüttelte den Kopf. »Haben Sie mich denn nicht vorher draußen stehen sehen? Sie haben mir ja doch zugewinkt ... Oder galt das jemand anderem?« setzte er stirnrunzelnd hinzu.

Jetzt war das Lächeln an ihr.

»Ach, Sie waren der Herr?« meinte sie und nestelte an ihrem Jackett weiter. Sie war ganz rot geworden. Wie mit Blut übergossen stand sie vor ihm.

»Ja, ich! Allerdings! Wer sonst?« fragte er unmutig weiter, denn er hatte schon etwas an ihr gefunden, was er nicht gerne einem anderen gegönnt hätte.

»Mein Bruder kommt immer mich abholen,« gab sie einfach zurück, »da hab' ich Sie für meinen Bruder gehalten. Sie müssen's mir schon nicht übelnehmen. Ich bin so furchtbar kurzsichtig. Kaum von hier bis da kann ich einen erkennen. Sonst hätt' ich Ihnen doch nicht zugewinkt! Sie müssen mich für schön frech halten.«

Dabei stieg sie langsam die Kellertreppe hinauf, und Brandt gesellte sich an ihre Seite.

Auf seine Bitte, sie begleiten zu dürfen, da doch ihr Bruder ausgeblieben sei, erwiderte sie ruhig lächelnd: »Wenn es Ihnen angenehm ist,« und gab auch sonst auf seine Fragen nur kurze, aber bescheidene Antworten.

Brandt erfuhr daraus, daß sie vom Lande, von der Insel Rügen, stamme und erst seit kurzem an Ort und Stelle sei. Ihre Eltern, ehrsame, ganz wohlsituierte Bauersleute, hatten die Tochter hierher zur Tante geschickt, damit sie auch einmal fremder Leute Brot essen lerne und gleichzeitig unter sicherer Obhut sich im Kochen, Nähen und sonstigen guten Dingen vervollkommne. Nach einem Jahre sollte sie dann in die saatengrüne, meerumbrauste Inselheimat zurückkehren und alsbald die mit allen Wirtschaftskünsten vorgesehene Hausfrau eines braven Jungen von Nachbarssohn werden, mit dem sie schon seit der Säuglingszeit so gut wie verlobt war.

Aber Marianne – dies war der Name der zukünftigen Braut und wahrscheinlichen Stammutter eines zahlreichen Bauerngeschlechtes –, die liebe Marianne mochte von Hause her als einzige Tochter nicht wenig verwöhnt sein und hatte gleich in den ersten Tagen ihres neuen Aufenthaltes einen beträchtlichen Trotzkopf gegen die werte Verwandtschaft aufgesetzt.

Es hatte ein böses Für und Gegen abgesetzt, und das Ende vom Liede war, daß Mariannchen der unfreundlichen Tante einfach durchgebrannt war.

»Es war ja sehr unrecht von mir, daß ich so mir nichts dir nichts ausgerückt bin,« gestand sie zwar, »aber mit Klara und Jenny war es schon rein nicht zum Aushalten.«

Klara und Jenny hießen nämlich die beiden bösen Kusinen, die all das Unheil angerichtet hatten. Denn das hätte es wohl werden können, da Marianne zwar ganz gut auf den elterlichen Äckern und Wiesen Bescheid wußte, dafür aber um so weniger mit den Verhältnissen einer Großstadt vertraut war. Ihre Kenntnisse beschränkten sich auf die aller-allerneuesten Anfangsgründe, daß es nirgends so viel schlechte Menschen wie hier gebe, und auf ein daher stammendes, allgemeines und grundsätzliches Mißtrauen, was sie aber nicht verhinderte, dem wildfremden Herrn an ihrer Seite ganz naiv ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Brandt amüsierte sich köstlich, wie sie sich eine Einzelheit nach der andern von ihm herauslocken ließ und dabei immer überzeugt war, daß jeder zweite Mensch, der ihr auf der Straße begegnete, zum mindesten jeder zweite Mann, so etwas wie ein Menschenfresser und Ungeheuer, jedenfalls aber ein gefährlicher Mädchenverführer sei, vor dem man sich nicht genug in acht nehmen könne. Denn so hatten sie es ihr zu Hause in Rügen gesagt, wo sie es doch kennen mußten, und eben darum, weil sie dies wußte und also gewarnt war, fühlte sie sich auch so sicher und hatte nicht die geringste Befürchtung, daß jemand und nun gar der, der neben ihr ging, ihr irgend etwas antun könnte.

»O du Kind!« dachte Brandt, halb belustigt, halb gerührt. »Du großes, großes Kind! Du hast keine Ahnung, wie naiv du bist! Wenn du wüßtest, wen du an deiner Seite hast! Und kannst schließlich noch froh sein, daß du keinem andern in die Hände gefallen bist!«

»Hatten Sie denn keine Angst, als Sie so fortliefen, Fräulein Marianne?« fragte er lächelnd. »Ei, wenn Sie da so ein böser Mensch aufgegriffen hätte?«

»Ach nein!« meinte sie ruhig und sicher. »Was soll mir geschehen? Mir kann kein Mensch was tun. Ich weiß schon, daß man hier keinem Menschen auf sein Gesicht glauben darf. Wozu hab' ich denn meinen Bruder gehabt? Ich bin gleich zu dem hingelaufen.«

»Richtig! der Bruder! Das war freilich ein Glück, daß Sie den hatten! Na, und was hat der gesagt? Hat er Sie nicht tüchtig hergenommen?«

Das hatte er allerdings getan, aber zur Tante zurückgebracht hätte sie kein Mensch, auch nicht der Bruder, nicht einmal die Eltern selbst! Was die freilich zu der ganzen Geschichte sagen würden, stand noch dahin. Benachrichtigt waren sie jedenfalls schon. Aber ehe man sich zu Hause zum Briefschreiben entschloß und sich dann auch wirklich an den wackligen Tisch setzte und den Federhalter in die steifen Finger nahm, da mußte schon ein besonderer Feiertag kommen. So hatte sie denn im Einverständnis mit dem Bruder vorerst ein kleines, aber hübsches Zimmerchen weiter draußen gemietet und war in die Plätterei bei den beiden Alten eingetreten, um sich zu dem Geld, das sie noch von Hause mitgebracht hatte, ein paar Groschen dazu zu verdienen. Das reichte zum Leben, und mehr wollte sie nicht. Sie konnte sich ganz allein durchhelfen, brauchte keine Tante und niemanden.

Eine stolze Freude, auf eigenen Füßen zu stehen, verklärte ihr hübsches Gesichtchen, wie sie nun Brandt die Hand gab und sich für seine Begleitung bedankte, denn sie waren glücklich an dem Hause, wo sie wohnte, angelangt.

»Auf Wiedersehn!« rief ihr Brandt zu und verabschiedete sich mit einem warmen Händedruck.

»Aufs Wiedersehn!« sagte sie freundlich und ging ins Haus.

Brandt stand noch einen Augenblick und hörte, wie sie das Tor verschloß.

Dann machte er sich still seufzend auf den Heimweg.

2.

Acht Tage waren seitdem verflossen, in denen sich die Bekanntschaft befestigt hatte, ohne doch vorerst weiter zu führen, als zu einem sittsamen Kuß auf den Mund, des Abends unter dem Haustor, wenn man sich Adieu sagte. Aber selbst dabei war es nicht ohne gelinden Zwang abgegangen, allerdings nur beim erstenmal. Später hatte Mariannchen sich nicht weiter gesträubt, sondern den bewußten Kuß gleichsam als eisernen Inventarbestand ihres Verkehrs willig hingenommen und ihn schließlich gar nicht so übel gefunden, da sie ihn zuerst zwar nur schüchtern, bald aber ganz herzhaft und fast innig erwidert hatte.

So sah man doch einen Fortschritt, so langsam es ging, und konnte sich seine Hoffnungen machen. Wirklich war er gestern denn auch ein gutes Stück vorwärts gekommen.

Mariannchen teilte ihre Abende gewissenhaft zwischen dem Liebsten und dem Bruder, so daß abwechselnd heute an den einen, morgen an den andern die Reihe zum Begleiten kam, und an den Abenden, wo Brandt der Beglückte war, irgendein Vorwand, bald ein Besuch bei einer Freundin, bald späte Arbeit oder dergleichen herhalten mußte, um den Störenfried von Bruder fernzuhalten. Dabei war aber immer die Gefahr, daß der argwöhnische Mensch, der als Techniker in einer Fabrik angestellt war und die Abende meistens frei hatte, Verdacht schöpfe und sich auf die Lauer lege, um einmal dahinter zu kommen, wer ihn denn eigentlich jeden zweiten Tag in seinen Funktionen ablöse.

So konnte er jeden Augenblick, hinter einem beliebigen Laternenpfahl oder einer Anschlagsäule hervor, aus dunkeln Haustoren oder um Straßenecken herum, wenn nicht gar aus dem Schatten eines Kirchenportals, als rächender Engel vor die beiden mehr und mehr verliebten Sünder hintreten, und diese bange Nähe der Gefahr hatte nicht wenig dazu beigetragen, in Brandt und vielleicht auch in Marianne den Reiz der Situation zu erhöhen und die beiden eigensinnigen Köpfe erst recht im Festhalten an dem einmal begonnenen Abenteuer zu bestärken.

Gestern war nun das langerwartete Unheil in Gestalt des eifersüchtigen Bruders tatsächlich auf den Schauplatz getreten und wohl eine halbe Stunde lang vor der Plätterei auf und ab patrouilliert. Mariannchen, die gerade im Begriff gewesen war, ihr Bügeleisen fortzustellen, hatte bei aller Kurzsichtigkeit ihn zum Glück noch rechtzeitig erspäht und sofort unter irgendeinem Vorwand sich mit verdoppeltem Eifer über ihre Kragen und Hemden gemacht, als wisse sie auf der Welt von nichts anderem als ihrer Arbeit, am allerwenigsten aber von einem brüderlichen Aufpasser oben auf der Straße. Da mochte dieser Vertrauen geschöpft haben und war seines Weges gezogen.

Für dieses Mal war das Verderben noch glücklich abgewandt.

Aber der Schreck saß der listigen Betrügerin doch in allen Gliedern, als sie nun in Hut und Mantel neben Brandt auf der Straße stand und ängstlich sich nach allem Seiten umsah, ob der Feind nicht vielleicht eine Falle gestellt habe und ehestens wieder um die Ecke biegen werde. Erst nach einer ganzen Weile, da sie schon einige Straßen entfernt und auf einem anderen Wege als sonst hinschritten, hatte sie sich wieder gesammelt und zum ersten Male den ihr gebotenen Arm ihres Begleiters angenommen.

Mochte es nun die ausgestandene Angst oder was sonst sein. Brandt fühlte, wie sie sich dicht und dichter an ihn drängte und fast willenlos an seinem Arm hing. Da bei dem warmen Druck ihres schwer atmenden Busens hatte er sie um ein Stelldichein unter vier Augen gebeten, und sie hatte nicht nein gesagt. Sie hatte nur schwach genickt und sich an seine Schulter gelehnt, mit allem, was er tun würde, einverstanden. Aber nicht heute abend! Morgen würde sie den ganzen Tag frei haben und nicht ins Geschäft gehen. Da könnten sie, wenn es ihm angenehm sei, sich treffen und vielleicht einen Ausflug ins Freie machen.

Dem hatte er sich seufzend gefügt, so schwer es ihm auch wurde, denn er hätte sie am liebsten nicht mehr aus seinem Arm gelassen, aber er sah wohl ein, daß gegen ihren Willen nichts auszurichten sein werde, und wollte ihren Trotzkopf nicht von neuem wecken. Wieder hatten sie sich unter dem Haustor getrennt, diesmal mit glühendem Händedruck und feuchten Blicken.

Das war gestern gewesen. Heute also war der glückliche Tag gekommen, wo vielleicht seinen Wünschen Erfüllung würde. Und wem hatte er das zu danken? Dem Dazwischentreten des feindlichen Bruders, ohne das er sich vielleicht noch lange hätte gedulden müssen. So hatte sich das Übel am Ende in Glück verkehrt.

Brandt saß am Schreibtisch, in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Feder wie bewußtlos in der Hand, und starrte vor sich hin. Das Übel hatte sich am Ende in Glück verkehrt!

Und wenn nun am letzten Ende das Glück sich wieder in Übel verkehrte? Besitzen wollte und mußte er sie, nachdem es einmal so weit gekommen! Vielleicht wäre es besser gewesen, es nicht dahin kommen zu lassen, das Mädchen überhaupt nie zu sehen, aber das Geschehene war nicht rückgängig zu machen. Jetzt wäre er sich als der verächtlichste Schwachkopf unter der Sonne vorgekommen, wenn er noch zurückgetreten wäre. Nein, davon kein Wort! Eine Frucht, die ihm in den Mund hing, nicht abpflücken? Verbrechen an sich selbst und mehr noch an der, die gepflückt sein wollte! Hatte er angefangen, so mußte er auch zu Ende gehen, koste es, was es koste!

Aber war es denn mit dem Genusse abgetan? Hieß die Frage nicht gerade: Was nachher? Fing das Leiden nicht da erst an? Verwünschte Zweifelsucht, die ihm das schönste Glück im voraus vergiftete, die ihn in der süßesten Frucht schon den Wurm ahnen ließ! Und doch, wer konnte wider sich selbst? Wer brach den Zwang der ehernen Gesetze? Von außen und von innen zugleich, aus der lebendigen, greifbaren Welt der Erscheinungen und aus dem eingebornen dunkeln Ich, aus tausend unerforschten Quellen rannen die Tropfen ineinander und vermischten sich untrennbar und unerkennbar zu dem mächtigen Strom, der durch eigene Wucht Schritt um Schritt vorwärts sich sein Bett grub und so naturnotwendig die Bahn durchs Leben dahinzog. Nun hielt ihn nichts mehr auf, nichts lenkte ihn ab, und wenn die Erde sich vor ihm auf tat, er mußte hinunter ins bodenlose Unbekannte, auf Nimmerwiederkehr, all das blühende glückliche Leben mit sich reißend, das seinem Schicksal ahnungslos sich anvertraut hatte.

Und er sah ihn nah und näher rücken, jenen letzten, schwersten, höchsten Augenblick. Dort die unergründet dunkle Tiefe, die war es! Unerbittlich zog sie ihn zu sich heran. Da lag sie nur wenige Schritte vor ihm, auf Atemsnähe entfernt. Er erschaute den Abgrund dicht zu seinen Füßen. Er hatte keine Wahl, er mochte wollen oder nicht! Sei es drum! Nur kein langes Zaudern und Sichbesinnen! Fest zum Sprunge angesetzt, den kurzen Rest des Wegs mit einem Satz durchmessen, die Augen geschlossen und bewußtlos hinunter! Drunten ruhte sich's weich und sicher und ungestört. Friede dem Friedlosen!

Brandt stand langsam von seinem Sitz am Schreibtisch auf und trat ans Fenster. Er war gefaßt wie nie und sah mit stiller Heiterkeit dem Unabänderlichen ins Auge. Keine Angst vor dem Ende schreckte ihn mehr. Die große feierliche Ruhe war über ihn gekommen, die angesichts des Ewigen in die Menschen einzieht. Er sah die Schleier gehoben vom Wesen der Dinge und fühlte mit süßen Schauern, wie die Tragik alles Daseins ihn eisig anwehte. Fremdes Leid und eigener Schmerz erstarben gemeinsam unter ihrem Hauch. Erhabenheit breitete die nächtigen Schwingen über den verloren sinnenden Mann am Fenster aus.

Wie die letzten Blätter aus der breiten Lindenkrone sacht zu Boden sanken! Ein Frost war wohl über Nacht dahingezogen, dem fielen sie, wie die Wärme wiederkam, zum Raube, die verschrumpelten, zusammengerollten Blättchen, so winzig und unscheinbar in ihrer saftlosen Dürre, und ein jedes doch eine Welt für sich, die nun auf immer in Asche und Moder sank! Und der Sonnenball da drüben über dem Kirchendach, so hoch er stieg und so majestätisch er über alles Irdische hinwegstrahlte, auch er würde ausgebrannt einst fallen müssen, wenn seine Uhr abgelaufen wäre, und würde eine ganze Schöpfung, die sich von seinem Glanze kleidete und nährte, im Sturze mit sich reißen.

Und er, der staubgeborene Erdenmensch, der zwischen dem Blättlein und dem Weltkörper in der Mitte stand, als ein einzelner Ring nur in der großen Kette, er wollte sich auflehnen gegen das allmächtige Gebot, das sie alle verbunden zum Untergang zog? Er verlangte Schonung, Barmherzigkeit, wo Gott und Tier gemeinsam litten? Lästerung schon der Gedanke! In Zukunft nichts mehr von Mitleid mit sich und allen denen, die auf gut Glück ihr Schicksal mit dem seinen verknüpft hatten!

So schloß er seine Betrachtungen und begann mit harten Schritten im Zimmer auf und ab zu spazieren. Von seinen Lippen summte es leise, zerrissene, feierliche, verträumte Takte in jähem Wechsel. Da waren die inneren Stimmen wieder, der bedeutungsschwere Gesang aus der Tiefe, dem er so gern sein Ohr neigte, weil er Ideen und Gestalten und goldenen Klang aus verborgenen Quellen mit sich herauf ans Licht führte.

Nach einer langen Weile, da er so gelauscht und gelauscht hatte, setzte er sich auf das Sofa und reckte tief aufatmend die Arme gen Himmel. Unklar noch in den Einzelzügen und doch schon scharf vom dunkeln Hintergrunde abgezeichnet, sah er sich selbst und sein rätselhaftes Erdenschicksal, als sei es losgelöst von dem sinnenden Betrachter und wandle nach eigenem Gesetz, aufbauend, zerstörend, mit fremden, schattenhaften Gestalten ineinanderwebend und wieder zerfließend, um von neuem zusammengeballt zu erscheinen, wie huschende Wiesennebel an einem frühen Herbstmorgen.

So wollte er sich von sich selbst befreien und erlösen. Schon jetzt, im Ahnen und Von-ferne-Schauen, fühlte er, wie der Druck sich leise, leise von seiner Seele löste und gleich einem Morgenwölkchen zur Sonne stieg.

Da sprang er auf und breitete die Arme zu sehnsüchtigem Umfangen.

»Mariannchen! Mariannchen!« jubelte es in ihm. »Heut' wirst du mein! Heut' küß ich deinen roten Mund, hundertmal für eins! Heut' bin ich noch einmal jung! Lachende Sonne und linde Luft und ein jungfrisch Mädel an seliger Brust! O tolle Welt! O Glückstag, Glückstag für den alten Menschen!«

3.

Es war ein Uhr, als Brandt von seiner Wohnung zur Tiefe hinabstieg und leise trällernd aus der stockig kühlen Dämmerung des Hauses in das warme Sonnenlicht der Straße trat.

Ein goldener Novembermorgen war heraufgezogen. Nach manchem trüben und rauhen Tage leuchtete die Sonne wieder rein und warm vom wolkenlosen Himmel. Diese ganze gewaltige Stadt mit ihren unabsehbaren gelblichen Häusermauern lag da in Glanz getaucht, in jenen schmerzlich süßen Spätherbstglanz, der nur noch wie ein zarter, flüchtiger Hauch die Luft durchzittert, wie ein ferner, schnell verwehender Ton aus einer alten, schwermütigen Weise vom Abschiednehmen und vom Sterben.

Und überallher klingt es leise wieder und rüstet sich müde lächelnd zum Scheiden und Vergehen. Lautlos sinken die letzten Blätter von den Bäumen, plötzlicher Todeshauch scheint sie dahinzuraffen. Kein Lüftchen rührt sich. Kein Vogel zieht am mattblauen Firmament dahin. Wie ein großes, verträumtes Auge ruht die Sonne auf niedriger Bahn über der abgeblühten Erde. Es ist, als halte die Natur den Atem an, in unsäglichem Weh, daß wieder ein Geschlecht ihrer liebsten Kinder den Myriaden Vorausgegangenen ins dunkle Erdengrab nachfolgen soll. Rastlos zeugend und gebärend hat sie sprießen und grünen, aufschießen und blühen lassen, und nun muß all dies lobpreisende, jubilierende Leben unbarmherzig wieder hinab in den verschlingenden Mutterschoß, weil seine Spanne Zeit erfüllt ist und schon ein keckes neues Geschlecht aus der Tiefe sich zum Lichte emporringt.

Ob die urewige Mutter des alten Kreislaufs nicht endlich einmal müde wird, sich nach Schlaf und Ende sehnt? Wozu dies ruhelose Einerlei, dies äonenlange Vernichten und Wiederschaffen, nur um von neuem vernichten zu können? Wie eine wehmütige Frage liegt es in der stillen, milden Luft, und der matte Novembersonnenschein lächelt traurig dazu. Mutter Natur will sterben gehen. Da gedenkt sie noch einmal, zum letztenmal, der tausend bunten Färben, womit sie einst ihre Kinder schmückte, und ein Schimmer der Erinnerung übergießt das verwelkte und verwitterte Angesicht. Morgen aber, morgen wird alles grau und tot sein, und die Wasser werden eiliger unter den schnell wachsenden Eiskristallen dahinschießen.

Nur dieses flüchtige Heute, vom späten Aufgang bis zum zeitigen Untergang, gehört noch dem scheidenden Herbste mit all seiner milden Güte. Das wissen die Menschenkinder. Darum verkürzen sie ihre hundertlei Arbeiten in Werkstätten und Bureaus, in dumpfen Kontors und finstern Hofstuben, in feuchten Kellern und zugigen Mansarden, überall wo sie nur können, und eilen, aus der atembeklemmenden Enge rauchgeschwärzter Häusermauern hinauszupilgern in das sonnenweite Land, wie man wohl alles im Stich läßt und sich auf den Weg macht, wenn die Kunde kommt, der liebste Freund gedenke zu sterben und entbiete dir seinen Scheidegruß. Wenn du seine lieben Züge noch sehen willst, mach' schnell! Der Tod zaudert nicht. Und du trittst eilends an das Sterbelager. Da ruht der Scheidende, feierlich ernst, mit jenem letzten Lächeln in den Augen, daß nun das Spiel ein Ende haben wird. Tröste dich, mein Freund! scheint es wortlos zu künden, noch ein paar Stunden, und all dies Auf und Nieder ist überstanden. Noch heute abend werde ich im Paradiese sein. Und du weißt nicht, sollst du weinen, sollst du mit ihm lächeln und ihn beglückwünschen. Leb' wohl! flüsterst du am Ende, im ewigen Kreislauf kehrt ja alles zurück. Warum nicht du und ich?

»Warum nicht du und ich?« wiederholte Brandt wie mechanisch und zog traumverloren seines Weges fürbaß. Seit acht Tagen war er ihn oft genug gewandert und kannte die Richtung kreuz und quer, ohne erst mit den Gedanken aufmerken zu müssen. Die irrten weit ab von den unermüdlich wechselnden und doch immer gleichen Bildern, die an seinen körperlichen Augen vorüberzogen. Nur wie ein Hauch drang es von alledem zu seinem Geiste, so daß er an jeder Ecke, an jedem Knoten des Straßengewirres zu sagen wußte, wo er sich befand, und bei aller Versonnenheit doch gleichsam die Atemzüge des rings ihn umrauschenden Lebens hingenommen einsog.

So kam er langsam bis in die Gegend von Mariannens Haus. Schon von weitem sah er sie am Tore lehnen und an ihren Handschuhknöpfen nesteln. Da war mit einem Ruck die Träumerei wie eine Mantelkappe abgeworfen, die lange die Freiheit seiner Glieder gehemmt hatte. Stolz und kühn richtete sich sein Kopf in die Höhe. Alle seine Sinne spannten sich auf das eine süße Ziel, so nahe seinen Augen und doch der ungeduldigen Sehnsucht wer weiß wie fern!

Und jetzt! Siehe da! Jetzt hatte sie ihn bemerkt. Verschämt ließ sie den Kopf auf die Brust sinken und machte ein paar hastige Schritte auf Brandt zu. Dann aber, als gereue es sie noch im letzten Augenblick, blieb sie wieder stehen und schien unschlüssig nach einem Ausweg zu suchen. Aber Brandt war schon mit einem Sprung an ihrer Seite.

»Zu spät, Fräulein Marianne!« rief er vergnügt. »Sie wollen mir wohl durchbrennen, wie Ihrer Tante? O nein, mein liebes Kind! So leicht kommen Sie mir nicht aus ...!«

Er streckte ihr seine Hand entgegen, in die sie zögernd ihre frisch behandschuhten Fingerspitzen hineinlegte.

»Fingerspitzen werden nicht angenommen!« erklärte er streng. »Sie wissen ja, wer dem Teufel den kleinen Finger gibt ... Jetzt hübsch die ganze Hand! Die zwar nicht sehr kleine, aber liebe Hand!«

Da ließ sie es denn willig geschehen, daß er ihre hübsch geformte, wenn auch von der Arbeit vergröberte Rechte zwischen seine beiden Hände nahm und sie kräftig drückte.

Sie waren während des Gespräches langsam dahinspaziert, ohne weiter des Wegs zu achten. Jetzt verließen sie Mariannens Straße und bogen um die Ecke.

Brandt hatte seinen schweren, braunen Überzieher weit geöffnet und sog in tiefen Zügen die schmeichelnd milde Luft, die ihm Stirn und Hals umkoste. Es war ihm heiß geworden unter der dicken Hülle. Er nahm seinen Hut ab und schwenkte ihn lustig in die Höhe.

»Ist das nicht wie ein Frühlingstag heute? Sagen Sie selbst, Mariannchen! Ist das nicht wie ein Frühlingstag?!«

Sie nickte nur stumm und sah ihm freudig lächelnd in die Augen. Ihr feines und dabei doch frisches Gesicht war von Luft und Sonne zart gerötet. Ein warmer Schein von Glück lag über den ebenmäßigen Zügen und der wohlgewachsenen Gestalt.

Ein blühend frisches Landkind mit vollen, rosigen Wangen, aus Fleisch und Blut und gesunden Knochen fest gefügt, schritt sie sicheren, aufrechten Ganges im klaren Vormittagssonnenschein an seiner Seite. Tiefblondes, schlicht gescheiteltes Haar umschloß den ovalen Kopf, die keck gezogenen Augenbrauen, die wie zwei dunkle Striche den lichten, durchsichtigen Untergrund nur um so schärfer zur Geltung brachten, und das kurze, rundgestumpfte Näschen mischten die gehörige Portion Eigenwilligkeit und Schelmerei in den jungfräulichen Gesamteindruck der Erscheinung.

Ja, es war eine Täuschung, daß sie ihn an Maria erinnerte. Dieses ruhige, gesetzte Wesen bestand zu eignem Recht. Ein Zug von Besonnenheit und Verständigkeit trat immer wieder hervor, der der leidenschaftlichen Maria gefehlt hatte. Aber hatte nicht gerade jene bedingungslose Hingebung, die ungestüm alle Rücksichten hinter sich warf, so recht den Funken in ihm entzündet, aus dem die Leidenschaft mächtig emporgeschlagen war? Nein, zwischen damals und heute gab es nicht die entfernteste Berührung! Einst ein flammendes Gedicht! Ein heißer Schrei ineinanderstürzender Seelen! Heute eine nüchterne Unterhaltung! Ein banaler Zeitvertreib!

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie um die Erinnerung fortzuwischen, die da innen nicht weichen wollte.

Seine Augen verloren sich in dem milden, glanzlosen Sonnenschein, der vor seinen Füßen über das helle, kalte Steinpflaster gebreitet lag.

»Wie ein Frühlingstag!« wiederholte er mehr für sich, und dann zu Marianne gewandt, mit melancholischem Lächeln:

»Und doch ganz anders! Ach, ganz, ganz anders! ... Glauben Sie mir, Mariannchen!«

Sie verstand ihn nicht und sah ihn nur scheu von der Seite an, erstaunt über den düster fremden Klang seiner Stimme.

So schritten sie ein Weilchen wortlos nebeneinander, jedes den eigenen Gedanken hingegeben, er seiner wilden, springenden Traurigkeit, sie, das einfache, süße Geschöpf der Erde, dem harmlosen Behagen an Luft, Licht, Sonne und der langentbehrten Freiheit des Tages.

Es war eine breite, lindengesäumte Straße, die sie jetzt entlang gingen. Eine lange Prozession von Fahrzeugen zog dahin. Die Deckplätze der Straßenbahnen und Omnibusse waren Kopf an Kopf besetzt, da jedermann noch die letzten warmen Strahlen der scheidenden Herbstsonne auffangen und die vom Duft des welken Laubes gewürzte Luft in die verstäubten Lungen einsaugen wollte.

Kindermädchen schoben schwatzend ihre knarrenden Wagen mit der lebendigen Fracht durch das Menschengedränge. Die winzigen Erdenwesen, die da unter den aufgeklappten oder zurückgeschlagenen Verdecken dem Lichte entgegengefahren wurden, ahnten noch nichts vom Sinn und von der Bedeutung dieses rätselhaften Treibens rings um sie herum. Das dunkle Verhängnis des Lebens warf schon seine schweren Schatten über ihren Weg, aber sie lagen da in ihren Bettchen und Kissen mit jenem unsagbar rührenden Ausdruck von Hilflosigkeit und schliefen unberührt von Schmerz und Glück den seligen Kinderschlaf, oder sie starrten mit versiegelten Augen in das Gewirr der Tausende von Lebensläufen, von denen der eine oder der andere in unbekannter Zukunft vielleicht abermals ihre Bahn kreuzen und sich mit ihrem Schicksal verbinden würde.

Unwillkürlich erinnerte der Anblick Brandt an seine eigene verträumte Kindheit, aber er stieß die schmerzlich süßen Gedanken heftig zurück und machte eine jähe Wendung gegen Marianne, so daß sie ordentlich zusammenfuhr und einen kleinen Angstschrei ausstieß.

»Mariannchen!« rief er und faßte das liebe Kind beim Arm. »Ins Freie! Heut' müssen wir hinaus! Bitte, keinen Widerspruch! Den letzten schönen Tag im Jahr müssen wir feiern!«

Sie wollte sich noch ein wenig sträuben, aber er hielt ihren runden Arm umspannt und preßte ihn nur um so fester, je hartnäckiger sie von ihm loszukommen trachtete. Mitten unter den drängenden und stoßenden Menschen rangen die beiden den stummen und geheimen Kampf miteinander, der sich nach außen durch keine andere Bewegung verrät, als höchstens durch ein Zucken der Gesichtsmuskeln oder ein Aufeinanderbeißen der Lippen.

Plötzlich riß sich Marianne mit einem heftigen Ruck von ihm los.

»Um Himmels willen, schnell! Schnell!«

Ehe Brandt sich's versah, war sie im nächsten Hausflur verschwunden. Kopfschüttelnd eilte er ihr nach.

Richtig! da stand sie, in die dunkle Ecke hinter dem Tor geduckt, ängstlich zusammengekauert wie ein Hühnchen, dem jeden Augenblick die Katze das Lebenslicht ausblasen kann.

Brandt trat dicht zu ihr, so daß sie beide gegen die Straße durch das Tor gedeckt waren, und streichelte ihr beruhigend mit der Hand über das schlichte Haar.

»Aber Mariannchen! Was haben Sie? Was ist passiert?«

Doch sie legte den Finger auf den Mund und winkte ihm zu schweigen. Da beschied er sich achselzuckend und wartete des Kommenden. Im Grunde war die Situation so übel nicht. Sie standen eng zusammengedrückt zwischen Wand und Tor in dem dunkeln Winkel, der durch den Gegensatz des breit an der Toröffnung vorüberflutenden Tageslichtes nur undurchdringlicher erschien. Von außen her konnte kein neugieriger Blick hereinfallen, und im Hause selbst war es totenstill. Keine Schritte auf der Treppe. Niemand, der kam. Niemand, der ging. Träumerisch verschlafen lag der gepflasterte Hof, den man vom Flur aus übersah, im versteinerten Sonnenschein.

Brandt fühlte das Blut durch die Adern pulsen, aber er unterschied nicht, war es sein eigenes, war es der Herzschlag des Mädchens, das sich dicht und dichter an ihn schmiegte, bis er den warmen Atem an seinem Halse spürte und ihren Kopf an seine Brust gelehnt fühlte.

Da umschlang er mit der Rechten ihren halb ängstlich, halb zärtlich hingegebenen Leib, während er mit der Linken sanft ihr Gesicht zu sich aufrichtete und einen langen, innigen Kuß auf die willig gebotenen Lippen heftete.

»So!« sagte er endlich, da er die süße Last noch voll in seinen Armen hielt und die rhythmische Bewegung des mädchenhaften Busens wonnevoll genoß. »Also jetzt, Mariannchen, was ist geschehen?«

Da kam es denn zuerst noch ängstlich und stockend, bald aber mutiger und sicherer heraus.

Ein Freund ihres Bruders und Landsmann aus dem Nachbardorfe, der hier bei den Soldaten stand, war urplötzlich, drei Schritte vor ihr, auf dem Trottoir aufgetaucht. War das ein Schreck! Denn der Soldat hätte gewiß die ganze Geschichte ihrem Bruder gesteckt. Wenn er sie nur nicht schon gesehen hatte!

Aber Brandt zog sie von neuem in seine warme Umarmung und beruhigte sie lächelnd.

»Mut, Mariannchen! Mut! Und jetzt keine Widerrede! Wir fahren mit dem nächsten Zug hinaus aufs Land, denken Sie mal, in den grünen, grünen Wald! Geht Ihnen da nicht das Herz auf? Es sind zwar keine Buchen, wie bei Ihnen zu Hause, aber Wald bleibt Wald, wenn's auch Kiefern sind.«

»Um Gottes willen! Wenn sie uns sehen!« rief sie leise. Aber er versiegelte ihre küßlichen Lippen mit den seinen und preßte ihren geschmeidigen Leib nur um so heißer an sich. Was half ihr da all ihr Sträuben und Bitten und Drohen? Sie mußte sich am Ende gefangen geben und sich seinem Willen verschreiben.

Aus dumpfer Häuserenge hinaus ins lichte Land! So führte er das schwindelnde Mädchen aus dem finsteren Flur, in den jetzt von den oberen Stockwerken her eilige Schritte die Treppe hinabpolterten, und durch die Scharen rastloser Menschen im Geschwindschritt zur nächsten Bahnhofshalle.

4.

Draußen war es feierlich still. Wie ein kühler, lindernder Umschlag legte sich das tiefe Schweigen der Natur um die fieberheißen Sinne, die noch von dem Lärm der Stadt und den Erregungen all ihres wilden Lebens nachzitterten.

Nur noch ein paar Arbeiter waren mit Brandt und Marianne auf dem einsamen Vorortsbahnhof ausgestiegen. Doch auch sie verloren sich schnell und ließen das Pärchen allein auf der breiten, baumlosen Chaussee, die schnurgerade von der Station nach dem fern am Waldrand gelegenen Dorfe führte. Da standen die beiden nun und sahen unten in der Böschung den Zug, der sie hierher getragen, erst langsam, dann schneller und schneller von dannen dampfen. Bald war er ihren Augen entschwunden. Eine Weile noch vernahm man sein Rollen und Schnaufen. Dann hörte auch das auf, und alles schwieg wie zuvor.

Wie süß und schmeichelnd klang den überreizten Ohren diese lang entbehrte Stille! Wie leicht und rein die sonnenwarme Luft! Und nach der Schwüle der Stadt so kühl zugleich, daß man Paletot und Jackett schließen und sich fester ineinander hängen mußte.

»Nur hübsch den Arm hergeben, Mariannchen!« bat Brandt. »Hier brauchen Sie sich nicht zu genieren. Die Raben da tun uns nichts.«

»Das sind ja Krähen, keine Raben,« verbesserte sie ihn. »Sie sind mir auch der Richtige! Können noch nicht mal Krähen von Raben unterscheiden.«

Richtig, es waren Krähen. Jetzt erkannte sie auch Brandt. In ganzen Scharen saßen oder trippelten sie auf den sandigen Erdschollen der kargen Äcker, die rechts und links die Chaussee begleiteten. Manchmal erhoben sie sich in dunkeln Haufen über die frisch gepflügte Fläche, um sich gleich darauf wieder an einer anderen Stelle niederzulassen.

»Also Krähen!« konstatierte Brandt. »Um so besser, wenn es keine Raben sind! Die bringen ja doch nur Unglück.«

»Warum denn?« fragte sie ganz verwundert. »Bei uns zu Hause gibt es viele Raben. Deswegen passiert doch keinem was. Sie sind auch der richtige Stadtmensch! Sie sind wohl in Ihrem Leben noch nicht aufs Land gekommen?«

»Bitte sehr,« widersprach Brandt. »Ich bin sogar auf dem Lande geboren und habe meine Kindheit dort zugebracht. Wissen Sie, Mariannchen, da oben an der See, an derselben See, von der auch Sie her sind.«

Er drückte ihren Arm fester an den seinen und sah ihr träumerisch in die klaren, hellblauen Augen.

»Ja, ja, Mariannchen, wenn ich die Krähen da so herumhüpfen sehe, dann muß ich so recht an meine Kindheit denken, die nun schon verdammt lang vorbei ist.«

Er versank in Schweigen und starrte trübe auf den sandigen Weg, der einförmig, Schritt um Schritt, unter seinen Füßen dahinfloß.

Marianne schwieg ebenfalls. Irgendeine Schelmerei bereitete sich in ihr vor und meldete sich auf ihrem Gesichte zum voraus an.

»Was ist das? Kennen Sie das?« fragte sie plötzlich mit verschmitztem Lächeln und deutete auf ein großes, grünes Saatfeld zur Rechten der Chaussee, dem sie sich jetzt langsam näherten. Ein leiser Windhauch strich liebkosend über die zarten saftigen Blättchen. Die alte Novembersonne sammelte mütterlich den letzten, matten Nachglanz erloschener Jugendgluten, um ihn segnend über die kecken jungen Spitzen zu breiten, die vor wenigen Wochen aus dem warmen Erdenschoß zur eisigen Oberfläche emporgekrochen waren und nun, unbekümmert um Frost und kommenden Schnee, lustig dem Lenze entgegengrünten. Wie fröhliche Verheißung von Wiedergeburt und neuem Leben wehten die dünnen, biegsamen Schossen in Wind und Sonnenschein.

»Was das ist?« wiederholte Brandt lächelnd. »Frische Saat, Mariannchen! Junger Roggen ist das!«

»Ach, kein Gedanke!« wehrte sie. »Sehen Sie doch man genauer hin! Das sind ja Runkelrüben.«

»Wart', ich will dich mit Runkelrüben!« rief Brandt ausgelassen. »Roggen ist's und Roggen bleibt's! So wahr ich meines Vaters Sohn bin! Frischer, grüner, junger Roggen! So grün, wie du selbst, du kleine Marianne!«

Damit faßte er sie bei beiden Ohren und zog ihren Kopf an sich heran.

»Herrje, mein Hut!« jammerte sie.

Wie ein kalter Guß trafen Brandt die Worte. Er ließ das Mädchen los, abgekühlt und geärgert.

»Haben Sie sich nicht, liebes Kind!« sagte er herb. »Haben Sie sich nicht! Ich werde Sie nicht weiter berühren!«

Marianne sah ihn betreten von der Seite an. So war es nicht gemeint! Aber die Reue kam zu spät. Er schien gar nicht mehr acht auf sie zu geben, starrte verschlossen vor sich hin. Sie hätte es gern wieder gut gemacht, nur wußte sie nicht wie. Sonderbarer Mensch, der er doch war! Wer konnte klug aus ihm werden! Sollte sie ihn umfassen und ihn bitten? Fast hätte sie es getan, aber sie wagte es nicht. Sein Gesicht war finster und abweisend. Was hatte sie denn so Schreckliches verbrochen? Mit einem Male fiel ihr auch der Altersunterschied zwischen sich und ihm auf. Fast hätte er ihr Vater sein können! Wie alt er wohl war! Das Haar an seinen Schläfen wurde schon grau. Nein, er paßte nicht zu ihr! Am liebsten gleich nach Hause! Und doch tat er ihr leid! Ob sie ihn wirklich so gekränkt hatte? Sie wollte es gut machen.

»Da hinten liegt die Stadt!« brachte sie zögernd hervor, wie um nur ein Wort zu finden. In der Tat, dort mußte sie liegen. Zwar sah man sie nicht, aber man ahnte sie in ihrer gewitterschweren Nähe. In der ganzen Breite des östlichen Horizonts, tief über der Erde hingewälzt, ballte sich ein dicker Dunstknäuel, aus dem hier und da schwache Rauchsäulen himmelauf stiegen. Wie ein trächtiges Ungeheuer bettete sie sich da hinten in die breite Talmulde, die unendliche Stadt, eingehüllt in eine ewige Wolke von Qualm und Schmutz, durch die nur selten ein Strahl des reinen Himmelslichtes brach. Schon hatte sie ihre Pranken diesseits bis an den Rand der weiten Hügelkette vorgeschoben, auf deren Höhe die beiden Ausflügler jetzt angelangt waren und weit und breit das wellige Land überschauten. Dort, dem in die Ferne dringenden Blicke gerade noch erreichbar, aber undeutlich und dunstverwischt, zeichnete sich die langgestreckte Linie der äußersten Häuserreihen und verkündete finster drohend das Heranrücken der alles verschlingenden Riesenbestie.

»Ja, da hinten liegt die Stadt!« wiederholte Brandt mechanisch und atmete schwer.

Vor ihnen aber zeigte sich jetzt eine Anzahl weiß blinkender Landhäuser auf dem schwarzen Hintergrund des ausgedehnten Kiefernforstes, der sich von hier mehrere Stunden weit ins Land zog.

Schweigend gelangten sie in die breite, wie ausgestorbene Dorfstraße, die mit dürrem Laube dicht bedeckt war. Wie es unter den Füßen seltsam rischelte und raschelte und zischelnd von Moder und Verwesung raunte! Aus den Gärten, die überall zwischen den Häusern und Villen zerstreut lagen, hatte der Herbststurm die verwirbelten Blätter hier inmitten des Dorfes zusammengefegt, wo im Regen und Schmutz, unter Menschentritten und Wagenrädern der einstige Frühlingsschmuck sich zu formlosen, faulenden Klumpen zusammenballte.

Rechts und links aber, hinter Gittern und Zäunen, starrten die entlaubten Kronen traurig auf all die zerstobene, ineinander gewehte Pracht und streckten anklagend die nackten Äste zum grünlich matten Novemberhimmel.

Ein schwermütig süßes Bild vom Scheiden im heiteren Mittagssonnenschein! Ringsum alles verlassen und tot! Erstorbene Landhäuser, verödete Parks, frierende Marmorfiguren im kahlen Unterholz, heruntergelassene Läden, geschlossene Geschäfte.

Brandt war traurig bis auf den Grund seiner Seele. Auch er fühlte sich herbstlich und zum Sterben müde. Kaum achtete er noch seiner stummen Begleiterin. Es war nichts mehr mit der Liebe, wie es nichts mit dem Leben überhaupt war. Wozu, wozu dies alles? Wozu noch länger sich abquälen und überflüssig dies dumme Possenspiel fortsetzen? Warum sich nicht lieber hinstrecken in den stillen, lauen Sonnenschein, in dies verträumte süße Schweigen, die Augen schließen und hinüberdämmern, um nie wieder zu erwachen? Oh, wer ein Ende gefunden hätte der traurigen Komödie! Er sah auf und um sich.

Es war halb vier nachmittags, und die Sonne stand gerade über dem Wald tief am Horizont. Noch sandte sie ihre schrägen, blendenden Strahlen über die lauschigen Wipfel der hohen Kiefernstämme auf die einsame Waldstraße, aber binnen kurzem mußten Licht und satte Farben verschwinden, und kalte, graue Schatten würden sich über den Weg breiten. Der Himmel war jetzt gegen Abend in einem hellen, winterlichen Kristallgrün gefärbt. Heiter und wolkenlos, wie er heraufgezogen war, als ein Geschenk der Himmlischen für die lichttrunkenen Erdenkinder, so senkte sich jetzt der kurze Novembertag sacht zur abendlichen Ruhe. Die Kiefernstämme am Waldrand glühten im schrägen Sonnenlicht, wie von tief geheimem Feuer durchleuchtet. Weiter zurück erschien der Forst schwarz und undurchdringlich. Dort wandelte auf leisen Sohlen schon die Nacht.

Brandt erinnerte sich, dies Landschaftsbild schon einmal in gleicher oder ähnlicher Beleuchtung gesehen zu haben, nur konnte er nicht gleich darauf kommen, wann und bei welcher Gelegenheit. Plötzlich durchblitzte ihn das Gedächtnis jener fernen Situation und aller damit verbundenen Umstände. Wie hatte es ihm nur je entfallen können! Diese Stätte war ja historischer Boden für ihn. Hierher, an die gleiche Stelle, wo er jetzt mit Marianne klug und verständig Schulter an Schulter entlang spazierte, hierher hatte er vor zehn Jahren im Rausche erster Liebe die junge Maria stolz und selig am Arm hinausgeführt. Ihr erster Ausflug war es gewesen, bald nachdem sie sich kennen gelernt und beide mit einem Schlage Feuer gefangen hatten. Ja, wie hatte er das nur vergessen können! Oh, jetzt entsann er sich der unbedeutendsten Einzelheiten. Auf einen Pfingstsonntag war das große Ereignis gefallen, und eigentlich hatten sie durch den Wald ganz wo anders hingewollt, aber dann hatten sie sich auf dem elastischen moosigen Boden so lange gehascht und geküßt und zur Abwechslung mittenhinein geschmollt, bis sie in das ärgste Dickicht hineingeraten waren und gar nicht mehr aus und ein gewußt hatten. Und wenn nicht schließlich in der Ferne Stimmen geklungen wären und pfingstlicher Singsang, dem sie dann nachgehen konnten, so säßen sie vielleicht heute noch mitten im Forst, wo er am tiefsten ist, dort in dem schwarzen Wald, der hinter den roten Kiefern so schaurig düsterte, und aus dem sie beide damals hierher ins Lichte hinausgebrochen waren, spät am Nachmittag des Pfingstsonntags, Anno Domini soundsoviel.

Wann war es doch gleich? Richtig, vor zehn Jahren, und ein warmer, feuchter Frühlingstag war es gewesen. Er erinnerte sich noch, was für ein schwerer, satter Brodem ihnen entgegengeschlagen war, und am Mittag, kurz bevor sie sich getroffen, hatte es gegossen, was vom Himmel herunter wollte. Und in jenem Dickicht hatte er Maria zu sich auf das schwellende Moos niederziehen wollen, aber sie hatte sich gesträubt und war ihm entwischt, und er nach und sie eingeholt, und sie hatte geweint und er um Verzeihung gebeten, und sie ihn um den Hals gefaßt und er sie um die Taille genommen, und geküßt hatten sie sich gegenseitig, ein-, zwei-, dreimal nacheinander, und weiß Gott, keine widrige Hutkrempe hafte ihnen den Tag verdorben.

Und spät, spät war die Sonne hinter dem Wald hinabgestiegen und hatte die lauschigen Wipfel vergoldet und die roten Stämme mit tief geheimem Feuer durchglüht. Bei Gott, daran hatte er den Ort und die Stelle erkannt. Das war das einzige, was übriggeblieben war, als ein Abglanz fernen, fernen Glückes, die alte Sonne und der feurige Wald und das ausgeglühte Herz dazu.

Nein, es kam nicht wieder! Es kam nie wieder, was gewesen war! So kam es nie wieder! Kein Glück wiederholte sich! So wie es einmal den entzückten Sinnen vorübergezogen war, so blieb es köstlich, einzig und ewig unersetzbar, wenn seine Zeit dahin war. Umsonst, Schatten heraufzubeschwören und Geister zu zitieren! Die Vergangenheit ließ sich nicht wieder lebendig machen. Nur Gespenster stiegen aus der Tiefe und vergifteten das reine Tageslicht. Maria und Marianne, der Jüngling von einst, der Mann von heute, so grundverschieden wie jener schwüle, duftschwere Pfingstsonntag und dieser herbe, klare Novembernachmittag. Und er hatte Ähnlichkeiten entdecken, hatte an Mariannens Busen die junge Maria wiederfinden wollen, und hatte nicht einmal die Stelle wiedererkannt, den unvergeßlichen Ort, wo sie beide einst glücklich gewesen waren!

Und sie waren es gewesen! Diesen Besitz entriß ihm niemand! Am Birnbaum wachsen keine Rosen, aber er wußte doch, daß einst Rosen geblüht hatten, er roch noch den Duft, den aus der Vergangenheit der Wind zu ihm herüber trug. Und jetzt tapfer Birnen schütteln! Es lag nun einmal in der Jahreszeit!

»Was, Mariannchen, tapfer Birnen schütteln?! Sie kleines, verständiges Geschöpf! Ihnen sind die Birnen auch lieber als die Rosen.«

Er klopfte ihr freundlich auf die Schulter und reichte ihr dann seinen Arm.

»Seien Sie unbesorgt. Ich tue Ihnen nichts. Jetzt führe ich Sie nach der Bahn und bringe Sie hübsch nach der Stadt, und drinnen geben wir uns noch einen vernünftigen Kuß, den letzten zum Abschied, und darin sagen wir uns schön Adieu. Jeder geht seines Weges, wie es sich für artige Staatsbürger ziemt. Meinen Sie nicht auch, Mariannchen?«

»Wie es Ihnen angenehm ist,« antwortete sie bescheiden und hing sich leicht in den angebotenen Arm.

So führte der schweigende Mann das hochgewachsene, schlanke Mädchen durch den kühler dämmernden Herbstabend dem erleuchteten Bahnhof und der ferne flammenden Stadt entgegen.

5.

Dunkle Nebeltage folgten. Tiefer und tiefer senkte sich das graue Wolkenmeer auf den schauernden Erdgrund hinab. Wie eine undurchdringliche Kappe legte es sich um alles Wesen und erstickte die letzten schwachen Atemzüge der sterbenden Natur. Glück und Glanz schienen für ewig aus der Welt geschieden. Seit Brandt an jenem Nachmittag in Mariannens Gesellschaft das segnende Gestirn zwischen den vergoldeten Kiefern zur dunstigen Tiefe hatte hinabsteigen sehen, durchbrach kein Sonnenstrahl mehr das finstere Gewölbe, das, wie auferbaut aus Abschiedstränen und Todesseufzern unbarmherzig dahingeraffter Geschöpfe, bleiern sich über die Erde hinwegspannte. Ein trockener Frost bereifte die nackten Äste, vereiste den kahlen Boden. Härter klangen Huftritte und Wagenrollen auf dem gefrorenen Grund. Grau zog der späte Morgen herauf, und grau senkte sich der frühe Abend herab, und zwischen ihnen beiden erhellte graues Dämmerlicht die spärliche Tagesfrist.

Mit Brandt ging es bergab. Gleich einem späten Sonnenfalter um Abendwerden gaukelte Mariannens Bild vor seiner verödeten Seele. Noch einmal hatte das Glück mit lustigen Augen ihm zugeblinzelt und lächelnd ihm gewinkt: Willst du mich? Willst du mich? Frischen Jugendmut hätte er in den zärtlich geöffneten Armen des Mädchens, an dem runden, jungfräulichen Busen schöpfen können, fröhliche Erneuerung von ihren schwellenden Lippen trinken! Noch einmal hätte sein Leben, vom Wildbach junger Leidenschaft getragen, sprudelnd, tosend, jauchzend über Sandbänke und Klippen hinwegbrausen können! Noch einmal, zum allerletzten Male, war die Wahl an ihn ergangen: Leben oder Tod? Und er hatte sich verdrossen vom Leben abgekehrt. Er hatte gewählt, und die Wahl hieß: Tod! Die innere Glut war erloschen, die einst den Zwanzigjährigen zu verliebten Versen und wilden Abenteuern begeistert hatte. Darum hatte er in Marianne nicht finden können, was Maria ihm einst gewesen war. An ihm lag es, nicht an ihr, dem süßen Geschöpf der Erde, das sich mit all seiner mädchenhaften Fülle ihm entgegengebracht, und das er zurückgestoßen hatte in greisenhafter Unduldsamkeit!

Ja, mit dem Wort war alles gesagt! Er war alt und ausgebrannt. Keine Farbe des Lebens würde ihm mehr leuchten. Düsterer und düsterer wurde es ringsumher.

Nur ein letztes gab es noch für ihn. Weh ihm, wenn auch dieser Trost versagte! Das war sein Werk. Das Bild seines eigenen Ich, wie es an jenem hellen Morgen vor der Begegnung mit Marianne geisterhaft vom Kerne seines sterblichen Wesens sich losgelöst und hoch über Erdenqual und Kampf zu ewiger Klarheit sich hinaufgerungen hatte, gleich einem Morgenwölkchen, das am Ende in Sonnengold und Himmelsblau verschwand.

Wo Brandt auch ging und stand, ob er in der feierlichen Stille seiner Wohnung unruhevoll zwischen Tür und Fenstern auf und ab schritt oder traumwandelnd mit rückwärts gekreuzten Händen durch dunkle Menschenmassen dahinsteuerte, ob er mit offenen Augen in seinem Bette dalag und schlaflos die wirren Felsblöcke seiner Gedanken weiterwälzte, überallhin verfolgte ihn der Gedanke an sein Werk und verließ ihn zu keiner Stunde.

Aber wenn er dann dem Drange nachgeben wollte und sich im schwermütigen Grau des Vormittags oder beim milden Lampenschein an sein bejahrtes Schreibsekretär setzte, die keuschen weißen Quartbogen vor sich hinbreitete und aufgestützt die Augen mit der Linken verschattete, um sich ganz den inneren Gesichten hinzugeben, so wich das Bild, das er noch eben so deutlich geschaut hatte, vor der tastenden Hand ferner und ferner zurück, und nur schwache, undeutliche Umrisse wurden auf das Papier gebannt.

Was war das nur? Vermochte er nicht mehr, seine Kräfte zusammenzufassen, seine Sinne auf einen Punkt zu sammeln? War er zu schwach geworden, was geisterhaft in unabsehbarem Zuge seiner Phantasie vorüberschwebte, mit kurzem Griffe festzuhalten und den dumpfen Schatten von seinem lebendigen Blute einzuflößen, damit sie als Menschen menschlich über die feste Erde wandelten? Oder war es vielleicht nur ein momentanes Nachlassen, dem ein um so stärkerer Aufschwung folgen würde, die Ebbe vor der Flut, wie sie im Wesen alles Schöpferischen begründet lag? Aber wie kam es denn, daß die Ebbe nun schon so lange Jahre anhielt und noch immer kein Zeichen der kommenden Flut, kein fernstes Zeichen, am finsteren Horizont sich ankündigte? Glatt und bleiern lag die regungslose Fläche, tief unten nur ein dunkles Murren und Stöhnen, erstickte Rufe aus unerstiegenen Abgründen, dem lauschenden Ohre kaum vernehmbar. Oh, wenn sie übergeschäumt, wenn sie gellend laut heraufgedrungen wären, aber die Kraft fehlte, die aus sich selbst naturnotwendig Form und Gestalt erzeugt und die Leidenschaft, die das Geschaute und Gehörte ungestüm ans Tageslicht hinaufträgt! So blieben sie ungesagt und ungeklagt, Qual und Leid seines Erdenseins.

War es wahr, was in regenschweren Stunden oft und öfters wie ein riesengroßer Schatten durch seine Seele wandelte und all sein Gebein gespenstig durchfröstelte? War es vielleicht nicht bloße Einbildung, nicht blasse Furcht allein, kein Phantom überhitzter und doch unbefriedigter Phantasie, nein, greifbare, unumstößliche Gewißheit, die klirrenden Fußes neben ihm dahinschritt und ihm keinen Ausweg, keine Rettung ließ, als den Revolver gegen die eigene Stirn zu richten und all dem Jammer ein schnelles Ende zu machen, wenn nicht auch dazu schon der Mut versagte? War er bankrott? Ausgeschöpft an Kopf und Sinnen? Reif zum Fortgeworfenwerden?

Ja, da war es heraus, was er sich immer verheimlicht und doch zagend schon längst geahnt hatte. Er hatte sich ausgegeben und würde nie wieder etwas schaffen, was seinem Frühern gleich käme. Zu einer Zeit, wo andere sich noch lange im Aufstieg gipfelan befanden, war schon seine beste Kraft dahin, und abwärts, steil hinunter ging der Weg. Erst anfangen hätte er sein Leben sollen, da war es vorbei. Einer von den allzu Frühen und allzu Schnellen war er gewesen, in der Märzensonne jäh emporgeschossen und vom Maienfrost über Nacht entblättert und geknickt! Seilte er nun dem kommenden Sommer zum Hohn und Spott vertrocknet dastehen? ...

Furchtbare Rätselfrage! Was soll, was kann das Leben nach diesem noch bringen? Mit jungen Jahren ein armer Mann! Ja, wenn er den Reichtum nie gekannt, den wunderbaren Zauberspiegel nie besessen hätte! Aber zu wissen, daß man es einmal gehabt und für immer verloren hatte, das köstliche Vermögen!

Durch wessen Schuld? Durch eigene? Durch fremde? Durch unabwendbares Schicksal? Ja, blindes Verhängnis war es, unter dem die Kreatur schuldlos litt! Vorbestimmte Naturanlage, ihm als Geschenk mit auf den Weg gegeben, sie hatte ihn nach dem Höchsten greifen und vor der Zeit seine Hand herabsinken lassen! ...

O Zukunft! Unausdenkbar öde Zukunft! Endlose graue Jahre ohne Zweck und Inhalt! Steppen nach Steppen, und abermals dürre, sandige Steppen! Ungezählte Jahre der Verödung, müßt ihr alle, alle, alle durchgelebt und ausgekostet werden bis auf den letzten, schalsten Tropfen? Myriaden von Augenblicken, und nicht ein einziger mehr, der mich noch befriedigen kann? Gräßlich! Gräßlich ... Zur Unfruchtbarkeit verdammt sein und zuschauen müssen, wie andere Leben und Gedeihen um sich schaffen? ...

Nein! ... Nein! ... Wer will mich zwingen, das Unerträgliche zu ertragen? Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, kurz entschlossen! Mit klaren Sinnen den Sprung ins Dunkle getan, dem noch kein Sterblicher auf den Grund gekommen ist!

Stirb zur rechten Zeit! spricht der Philosoph ...

*

Hier brach das Manuskript jäh ab. Stirb zur rechten Zeit! lauteten die letzten Worte. Unwillkürlich sah ich nach der Uhr. Es war kurz nach halb drei. Ich hatte bis spät in die Nacht gelesen.

Am nächsten Morgen, Sonntag früh, nach ein paar Stunden wüsten Schlafs, machte ich mich auf den Weg zu Johst. Er hatte mich so dringend eingeladen. Ich wollte ihn nicht warten lassen. Es war ein grauer, nebliger Novembermorgen. Die frische Luft tat meinen überreizten Nerven wohl.

Gegen acht Uhr trat ich ins Haus. Johst hatte im zweiten Stock eine eigene Wohnung. Ich ging die zwei Treppen in die Höhe und schellte. Der Diener machte mir auf. Der Herr schlafe noch, sagte er. Da ich nicht viel Zeit hatte, bat ich, ihn zu wecken. Ich weiß nicht, mir war sonderbar zumute. Eigentlich begriff ich nicht, warum ich so früh hingegangen war. Eine unbestimmte Unruhe trieb mich.

Der Diener klopfte an die Schlafzimmertür. Alles blieb still. Dann klopfte er stärker, aber es half nichts.

»Der Herr wird nicht nach Hause gekommen sein,« sagte er.

»Haben Sie ihn denn nicht gehört?« fragte ich. Nein, er hatte ihn nicht gehört, weil er nach hinten hinaus schlief. Das Berliner Zimmer lag dazwischen. »Sehen Sie doch mal nach, ob abgeschlossen ist,« sagte ich.

In der Tat, es war abgeschlossen. Also mußte er doch nach Hause gekommen sein. Wir klopften noch einmal gemeinsam und sehr laut. Ohne Erfolg.

»Jetzt brechen wir die Tür auf,« sagte ich.

Ich wußte schon alles. Das Manuskript sprach deutlich genug.

Als wir durch die aufgebrochene Tür eintraten, lag er vor dem großen Standspiegel mit dem Gesicht auf dem Boden. Der Revolver lag daneben. Rechts und links waren zwei Kerzen tief heruntergebrannt. Er hatte sich in die rechte Schläfe geschossen, war dann vornübergesunken. Sein letzter Blick mußte in den Spiegel gefallen sein. Der Tod ist sofort eingetreten. Er war schon kalt.

Auf dem Tische qualmte die Petroleumlampe. Daneben lagen eine Photographie und ein aufgeschlagenes Buch. Es war Nietzsches Zarathustra. Stirb zur rechten Zeit! las ich blau unterstrichen auf dem offenen Blatt. In der Photographie erkannte ich das Bild Marias. Als ich sie aufnahm, fand ich einen Brief darunter. Die Aufschrift lautete an Dr. Eduard Hannemann und war von Johsts Hand. Also für mich bestimmt! Ich öffnete und las.

Es waren seine letzten Aufzeichnungen.

»Leb' wohl und vergiß mich! Ich will Ruhe haben, das ist alles. Marias Bild schenk' ich Dir. Du hast sie gern gehabt.

Sonntag, den 28. November, nachts zwei Uhr.
Fritz Johst, verkrachtes Genie.«

»Halb drei.

Noch wenige Minuten! Dunkle Mündung, führst du ins Lichte? Ich glaube an eine Wiederkunft. Die Erde ist nur ein Durchgang. Au revoir, mon ami, dans l'immortalité! Mein Tiefstes bleibt ungesagt ...«

Gleich danach mußte er abgedrückt haben. Es wird kurz nach halb drei gewesen sein. Um dieselbe Zeit hatte ich zu Hause sein Fragment zu Ende gelesen und nach der Uhr gesehen.

Ich löschte die Kerzen und drehte die Lampe ab. Durch die dunkeln Vorhänge dämmerte der junge Morgen und schien trübe auf den toten Mann am Spiegel. Er war auf den Tag dreiunddreißig Jahre alt geworden.

Ich stand lange und sah ihn an. Unsere Schülerzeit fiel mir wieder ein. War das das Ende von allem? Für ein Genie hatten wir ihn gehalten. Er war nur ein Meteor gewesen. Die »Lieder eines Verlornen« waren sein Lebenswerk geblieben.

Am Dienstag, den 30. November, haben wir ihn draußen auf dem Zwölf-Apostel-Kirchhof begraben. Es war ein milder, sonniger Nachmittag. Zum letztenmal grüßte der Herbst seinen scheidenden Sohn.

Jetzt ist es wieder Frühling geworden. Bald werden über dem Grabhügel des Dichters die Amseln schlagen und die Maiblumen blühen.


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