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Algerische Erinnerungen

(1890)

I

Algerien gehört nach seiner ganzen physischen Natur und Geschichte zu Europa, nicht zu Afrika; das beweist sowohl seine geologische Zusammensetzung und Entwicklung, wie seine ursprüngliche Tier- und Pflanzenbevölkerung. Mit diesem Satze sollte jede Beschreibung Algeriens beginnen. Er wird zwar manchem Leser, sehr befremdend erscheinen, ist aber nichtsdestoweniger wahr, und durch die neueren geologischen und chorologischen Forschungen sicher begründet.

Unsere übliche Unterscheidung der »fünf Erdteile«, durch ihr Alter geheiligt, entspricht in keiner Beziehung den historischen Tatsachen der Entwicklung. Nicht einmal »alte und neue Welt« sind naturgemäße geographische Begriffe. Wie Nord- und Südamerika früher als getrennte Erdteile bestanden, so war auch das nordwestliche Afrika – von Marokko bis Tunis – vor nicht langer Zeit noch ganz vom eigentlichen Afrika geschieden, hing dagegen unmittelbar mit Europa zusammen. Das mächtige Atlasgebirge, welches heute Algerien von der Sahara trennt, bildete damals das südliche Faltenland des gewaltigen Kontinents Eurasien; dieser umfaßte ganz Europa und den größten Teil Asiens, nur Vorderindien, Syrien und Arabien ausgenommen.

Das eigentliche Afrika, ein selbständiges uraltes Tafelland, beginnt erst jenseits des Atlas, mit der Sahara. Da dasselbe auch Madagaskar, Arabien und Vorderindien, sowie einen (jetzt versunkenen und als Lemurien bezeichneten) Teil des indischen Ozeans umfaßt, wird es von der neueren Geologie » Indo-Afrika« genannt. Durch sehr lange Zeiträume, Jahrmillionen umfassend, war dieser südliche Kontinent der »alten Welt«, das Tafelland Indo-Afrika, von dem nördlichen Kontinente, Eurasien, völlig getrennt. Erst in verhältnismäßig neuer Zeit traten beide Erdteile der alten östlichen Halbkugel in Verbindung.

Der breite Wüstengürtel der Sahara, welcher das Kettengebirge des Atlas vom eigentlichen Afrika trennt, ist reich an kretassischen Versteinerungen und war noch zur Kreidezeit vom Meere bedeckt. Hingegen ist die Hauptmasse des indoafrikanischen Tafellandes, das »Gondwana-Land«, seit uralter Zeit, seitdem vor vielen Millionen Jahren die Steinkohlen abgelagert wurden, nicht wieder vom Meere überflutet worden. Das jüngere nordafrikanische Tafelland, außer der Sahara auch noch Ägypten, Syrien und Arabien umfassend, hat Süß in seinem klassischen Werke, »Das Antlitz der Erde«, als die große Wüstentafel bezeichnet. Dieselbe bildete noch während der Kreidezeit, zum Teil selbst noch während der nachfolgenden Tertiärzeit (der känozoischen Periode), ein ausgedehntes Saharameer.

Das nördliche Ufer dieses mächtigen Saharameeres bildete Jahrtausende hindurch das Kettengebirge des Atlas, in unmittelbarem Zusammenhange mit den Faltengebirgen Südeuropas. Die schmale Gibraltarstraße, welche heute Afrika von Europa trennt, ist erst viel neueren Ursprunges, in der Quartärzeit entstanden. In der älteren Tertiärzeit bildete die Westhälfte des Mittelmeeres ein geschlossenes Binnenmeer, umgeben von einem hohen, ringförmig zusammenhängenden Gebirgswall: dem Atlas im Süden, der bätischen Kordillere Spaniens im Westen, der Alpenkette im Norden und dem Apennin (Italiens und Siziliens) im Osten. Da hier im Osten Sizilien ebenso unmittelbar mit Tunesien zusammenhing wie im Westen das marokkanische Ceutagebiet mit dem spanischen Andalusien, so war das westliche Mittelmeerbecken von dem östlichen völlig abgetrennt. Jenes westliche Becken ist es, welches die Franzosen als ihr natürliches Eigentum beanspruchen und mit Stolz (zum großen Ärger ihrer lateinischen Schwesternationen Spanien und Italien) als das » französische Mittelmeer« bezeichnen. Tatsache ist es, daß tagtäglich ein mächtiger französischer Verkehrsstrom, Hunderte von Menschen und Tausende von Frachttonnen umfassend, die beiden gegenüberliegenden Küsten des »französischen Mittelmeeres«, Südfrankreich und Algerien, in der lebendigsten Verbindung erhält; diesem Strome gegenüber kann der Verkehr zwischen seinen beiden anderen Küsten, dem westlichen spanischen und dem östlichen italienischen Gestade, kaum in Betracht kommen. In noch viel höherem Maße würde sich dieser Unterschied geltend machen, wenn Tunis vollkommen dem italienischen Einfluß entzogen und Frankreich einverleibt sein würde.

Die geognostische Zusammensetzung des Atlasgebirges, die Struktur seiner Felsmassen und die Beschaffenheit seiner Versteinerungen lassen keinen Zweifel darüber, das dasselbe gleichen Ursprunges und gleicher Entwicklung ist wie die anderen südlichen Kettengebirge des Festlandes Eurasien, wie der Apennin im Osten, die Alpen im Norden und die bätische Kordillere im Westen. Daß diese zusammenhängenden Gebirgsketten Jahrtausende hindurch das französische Mittelmeer rings umschlossen haben, geht aber auch außerdem aus vielen chorologischen Tatsachen hervor, aus besonderen Erscheinungen in der geographischen Verbreitung der Tier- und Pflanzenformen; von diesen will ich nur zwei Beispiele hier anführen, die Zwergpalme und den Berberaffen.

Die Zwergpalme (Chamaerops humilis) ist die einzige Palme, welche heutzutage noch in Europa wild wächst. Sie findet sich in großen Mengen im westlichen Sizilien, an vielen Punkten der Westküste Italiens (besonders an vorspringenden Kalkfelsen der Küste, z. B. den Vorgebirgen Circello und Argentaro), und ferner an der Ostküste Spaniens. Dieselbe Art kommt außerdem nur noch im nordwestlichen Afrika vor, vorzugsweise in Marokko und dem westlichen Algerien; sie wächst hier in solcher Menge, daß die aus ihren Blättern gefertigten Pflanzenhaare (Crin végétal) einen wertvollen Handelsartikel bilden. Meist bleibt der Stamm kurz, und das Büschel der fächerförmigen Blätter tritt scheinbar direkt aus dem Boden hervor. Wo jedoch die Zwergpalme an geschützten Stellen wächst, wie z. B. an den senkrechten Felsen hinter dem Fort Santa Cruz bei Oran, oder auf dem Buzareaberge bei Algier, da bildet sie Stämme von mehreren Metern Höhe. Über Tunis geht die Zwergpalme nach Osten nicht hinaus. Sie fehlt im östlichen Mittelmeerbecken ganz. Ihr Verbreitungsbezirk ist also ausschließlich auf das westliche Becken beschränkt.

Dasselbe gilt von dem Magot oder Berberaffen (Inuus ecaudatus). Dieser schwanzlose Affe ist in mehrfacher Beziehung von besonderem Interesse und der einzige Vertreter der Affenordnung im nordwestlichen Afrika. Es ist dieselbe Art, welche gewöhnlich in Affentheatern ihre dramatischen und mimischen Künste produziert und welche früher so häufig von wandernden Savoyardenknaben gezeigt wurde. Der Berberaffe ist noch heute in den Gebirgsschluchten des Atlas und besonders der großen Kabylie sehr häufig; in der Nähe von Algier ist die vielbesuchte Affenschlucht bei Blidah (Gorge des Singes) sein nächst gelegener Wohnort. Er findet sich aber außerdem auch noch auf den Felsen von Gibraltar, wo ich im März 1867 eine kleine Herde lebend beobachtete. Man hat bis heute viel darüber gestritten, ob der Berberaffe – der einzige Affe, der heute noch in Europa wild vorkommt – ursprünglich auf dem Gibraltarfelsen heimisch oder von der gegenüberliegenden Ceutaküste eingeführt sei, und wie er die Meerenge überschritten habe. Da sich versteinerte Knochenreste desselben auch noch in anderen Teilen Spaniens finden, und da so viele andere chorologische Tatsachen den früheren ununterbrochenen Zusammenhang der berberischen und bätischen Gebirgsketten beweisen, so ist es höchstwahrscheinlich, daß er in der Quartärzeit eine viel ausgedehntere Verbreitung in den Schluchten dieses Faltengebirges besaß und aus seinen europäischen Wohnsitzen erst durch die fortschreitende menschliche Kultur verdrängt wurde. Ursprünglich wird der Magot sich in dem südwestlichen Zipfel Eurasiens aus einer älteren Affenart entwickelt, dann weit über die Küstengebirge des westlichen Mittelmeers ausgebreitet haben und später wieder auf den Atlas beschränkt worden sein.

Die Araber sowohl als die Kabylen hassen den Berberaffen, der ihren Pflanzungen großen Schaden tut und namentlich in den Fruchtgärten große Verwüstungen anrichtet. Sie wagen ihn aber nicht zu töten, da sie als gläubige Mohammedaner jeden Affen für einen verwunschenen Menschen halten, für einen Freigeist, der zur Strafe für seinen Unglauben und seine Verhöhnung orthodoxer Kirchenlehren in Affengestalt verwandelt wurde. (Monistische Ketzer, welche etwa durch diese Ansicht erschreckt werden könnten, dürfen sich mit dem Glauben der Mohammedaner trösten, daß der verzauberte Affe nach Ablauf der Strafzeit wieder Mensch wird!) Um nun die lästigen Affenherden loszuwerden, wenden die kabylischen Feldhüter ein ebenso sinnreiches als wirksames Mittel an. Haben sie einen Affen, der sich in Fruchtsaft berauscht hat, gefangen, so hängen sie ihm an einem Drahthalsband eine Schelle um und nähen seine Brust in eine enge Weste von derbem roten Zeug ein. Dann lassen sie ihn wieder laufen. Die ganze Affengesellschaft wird durch diese unheimliche Verkleidung ihres früheren Genossen so erschreckt, daß sie vor ihm flieht, und die Gegend, wo solche Wunder geschehen, verläßt.

Wie der Berberaffe und die Zwergpalme, so sind auch viele andere charakteristische Tier- und Pflanzenarten dem europäischen und afrikanischen Küstengebirge des westlichen Mittelmeerbeckens gemeinsam und beweisen nicht minder als die geologischen Tatsachen den früheren Zusammenhang der Kontinente. Die ganze Flora und die ursprüngliche Fauna von Marokko und Algerien zeigen in der Hauptsache dieselbe wesentliche Zusammensetzung wie diejenige von Spanien, Südfrankreich, Italien und Sizilien. Wer die mediterrane Tier- und Pflanzenwelt dieser europäischen Gebiete gut kennt, wird in jener Provinz von Nordwestafrika (besonders unter Berücksichtigung der jüngst ausgestorbenen tertiären Bevölkerung) zwar manche verschiedene Arten, aber keine neuen charakteristischen Gruppen finden. Diese typische Übereinstimmung der mediterranen Flora und Fauna, oder mit anderen Worten: ihre chorologische Einheit, d.h. die geschlossene Einheit ihres Verbreitungsbezirks, tritt uns überall entgegen, gleichviel ob wir die Waldbedeckung der Gebirge oder die Grasdecke der Steppen, die Gebüsche der Hügel und Flußtäler, oder die Kräuter der Wiesen und des Meeresstrandes vergleichen.

Die Wälder des Atlas sind aus denselben Baumarten zusammengesetzt wie diejenigen des Apennin, der Seealpen und der Sierra Nevada. Unter den Nadelhölzern ist ganz überwiegend die gemeine Aleppokiefer ( Pinus halepensis); sie bildet mehr als vier Fünftel des ganzen Nadelwaldes; der Rest ist aus Lebensbäumen (Thuja), Zedern und Strandkiefern zusammengesetzt. Unter den Laubhölzern herrschen drei Arten von Eichen vor: die immergrüne Steineiche, Korkeiche und Sommereiche; sie setzen zwei Drittel des ganzen Laubwaldes zusammen; das übrige Drittel besteht vorzugsweise aus Eschen, Eukalyptus, Karuben (Johannisbrot) und wilden Ölbäumen. Beiläufig bemerkt, bedecken diese Wälder Algeriens noch jetzt einen Flächenraum von 2 800 000 Hektaren, mehr als alle Forsten Frankreichs zusammengenommen. Von welchem hohen Werte dieselben sind, geht allein schon daraus hervor, daß in einem der letzten Jahre die Korkeiche (einen Flächenraum von 440 000 Hektaren bedeckend), nahezu fünf Millionen Kilogramm Kork lieferte, im Werte von ungefähr sechs Millionen Franks.

In den herrlichen Fruchtgärten von Algerien, die jetzt einen Flächenraum von siebzehn Millionen Hektaren bedecken, gedeihen Wein und Oliven, Orangen und Zitronen, Feigen und Granaten nebst allen anderen Fruchtbäumen Südeuropas, ebenso wie in Sizilien und Spanien, und auch die charakteristischen Gesträuche sind hier wie dort dieselben. In den immergrünen Schluchten sind die Wände ebenso hier wie dort dicht bedeckt mit Lorbeer und Myrte, Erdbeerbaum und Heidebaum; dazwischen schlingen sich die südeuropäischen Stechwinden, Smilax und Ruscus, und am Boden glänzen die schönen dunkelgrünen Blätter von Acanthus und Arum. Die kiesigen Flußbetten sind mit Oleander und Tamarisken geschmückt. Die ausgedehnten Heideflächen der trockenen Gegenden sind mit Pistazien und Phyllireen, weißen Zistrosen und goldgelbem Ginster dicht bedeckt; Rosmarin und Lavendel, Salbei und Thymian verbreiten weithin ihren würzigen Duft, ebenso wie viele andere charakteristische Lippenblüten der Mittelmeerflora. In gleicher Weise finden sich auch die meisten Kompositenarten, Liliaceen und Orchideen der letzteren in Algerien wieder.

Der nordische Wanderer, welcher zum ersten Male die Alpen überschritten hat, in die gesegneten hesperischen Gefilde hinabsteigt und die Olivenregion betritt, wird vor allen anderen Gestalten der südlichen Pflanzenwelt durch einige wenige Charakterformen derselben gefesselt. Diese erscheinen so fremdartig und eigentümlich, daß sie auch im Vordergrunde der mediterranen Landschaftsbilder überall wiederkehren, ebenso in den Ansichten von Spanien und Südfrankreich, von Italien und Griechenland, wie in denjenigen von Tunesien und Algerien. Unter diesen auffallenden Charakterpflanzen der Mittelmeerländer sind sonderbarerweise gerade die drei fremdartigsten erst durch den Menschen eingeführt: die Dattelpalme schon im grauen Altertum aus Arabien; die amerikanische Aloe (Agave) und die Feigendistel (Opuntia) erst nach der Entdeckung der neuen Welt, aus Mittelamerika. Die beiden letzteren dienen in Algerien ebenso wie in Spanien und Italien mit ihren stacheligen, graugrünen, fleischigen Blättern und Stämmen allgemein als Heckenverzäunung und Schutzwehr der Gärten und Felder; die Dattelpalme wird hier wie dort als edler Zierbaum allenthalben angepflanzt; als nutzbarer Fruchtbaum in Massen kultiviert, tritt sie erst jenseits des Atlas in der Sahara auf.

Wie die einheimische Pflanzenwelt der Berberei, von Marokko bis Tunis, ganz und gar dem Mittelmeergebiet angehört, so auch die Tierwelt. Die charakteristischen Wirbeltiere, die zahlreichen Formen von Insekten und Spinnen, Krustazeen und Würmern, Schnecken und Muscheln, welche wir in Algerien und Tunesien finden, kehren in gleicher Weise in Sizilien, Italien und Spanien wieder, teils in identischen, teils in nahe verwandten Speziesformen. Der Zoologe, welcher dieselben genau vergleicht, überzeugt sich bald, daß er sich in einem einheitlichen, zusammenhängenden geographischen Gebiete befindet.

Wenn man in algerischen Reisebeschreibungen von den Löwen und Panthern des Atlasgebirges liest, von den Hyänen und Schakalherden der Teilsteppen, so könnte man leicht verleitet werden, in diesen Raubtieren echt afrikanische, Europa fremde Typen zu erblicken. Das würde aber durchaus unrichtig sein. Dieselben Raubtierarten bevölkerten früher auch Südeuropa, und in den diluvialen Knochenhöhlen von Sizilien und Italien, von Südfrankreich und Spanien finden wir dieselben Säugetierspezies wie in denjenigen von Marokko, Algerien und Tunesien. Ebenso sind noch die meisten charakteristischen Arten von Vögeln, Reptilien und Amphibien in den ersteren Gebieten dieselben wie in den letzteren. Wenn heutzutage jene großen Raubtiere in Südeuropa fehlen, so sind sie nachweislich erst durch die Ausbreitung der menschlichen Kultur daraus verdrängt worden. Die echt afrikanische Fauna fehlt in der ganzen Berberei, von Tanger und Wadi Draa bis nach Tunis und Gabes; sie beginnt erst südwärts von der großen Atlaskette, in der Sahara.

Während vieler Jahrtausende – vielleicht länger als eine Million Jahre hindurch – bildete die lange Atlaskette einen unübersteiglichen Grenzwall zwischen den südwestlichen Provinzen von Eurasien und den nordwestlichen Teilen von Indo-Afrika. Ganz unabhängig voneinander, und unter sehr verschiedenen Existenzbedingungen, entwickelte sich in beiden großen Gebieten Tier- und Pflanzenwelt. Daran ist nicht mehr zu zweifeln, seitdem unsere heutige, von Charles Darwin neu begründete Entwicklungslehre auch für jene großen chorologischen Tatsachen die natürliche Erklärung gefunden hat. Die damit verknüpfte Migrationstheorie findet, wie schon vor langer Zeit Moritz Wagner zeigte, gerade in der Berberei schlagende Beweise; überraschend besonders dann, wenn man von den südlichen Abhängen des großen Atlas hinabsteigt und das Gebiet der Sahara betritt. In dieser großen Wüstentafel tritt plötzlich und unvermittelt dem Naturforscher eine ganz neue Welt entgegen, die südliche Fauna und Flora des uralten Indo-Afrika. Ihren ganzen Reichtum entfaltet dieselbe freilich erst südlich vom großen Wüstengürtel, in dem wunderbaren Gondwanalande. Aber auch die arme Flora und Fauna der Sahara läßt deutlich erkennen, daß man sich nicht mehr in Eurasien befindet.

Die Grenze zwischen dem Nordrande dieses Tafellandes und dem Kettengebirge am faltenreichen Südrande von Eurasien ist von Süß scharf bezeichnet worden. Sie beginnt am atlantischen Gestade bei der Einmündung des Wadi Draa, gegenüber der kanarischen Insel Fuerta-Ventura, zieht längs der großen Atlaskette an ihrem Südfuße hin, gegen Nordost, und geht zwischen dem großen Salzsee, Schott Melrir, und dem Südrande des Auresgebirges durch. Dann wendet sie sich nach Westen und endet bei Gabes, am Gestade der kleinen Syrte. An vielen Stellen, besonders im Süden der Provinz Konstantine, ist die Grenze so scharf, daß man »zugleich mit den Füßen in der Wüste stehen und mit der Hand noch den Atlas berühren kann«. Steil, gleich einem riesigen Festungswall, steigt hier das zerklüftete Pliozängebirge des Atlas aus dem flachen Quartärbecken der Sahara auf; die wunderbaren roten Farbentöne mit blauen Schatten, in denen das erstere bei Abendbeleuchtung glänzt, heben sich scharf von den gelben und grauen Sandflächen der Wüste ab. Als ich, vom Auresgebirge herabkommend, Biskra kurz vor Sonnenuntergang erreichte, überraschte mich die purpurn leuchtende Felsenkette jener Grenzmauer, mit duftigen lasurblauen Schatten modelliert, durch ein magisches Farbenspiel von unvergeßlicher Pracht. Für den echten Afrikaner, der von Süden aus der großen Wüstentafel kommt, bedeutet diese Festungsmauer die Grenze einer neuen Welt, die Pforte der uralten Kulturwelt Eurasiens.

 

II

Das mächtige Atlasgebirge setzt sich in Algerien aus zwei verschiedenen Bergketten zusammen, dem großen und kleinen Atlas. Beide verlaufen im ganzen parallel, ungefähr in der Richtung von Westsüdwest nach Ostnordost. Beide sind durch eine breite Hochebene geschieden, das Steppenplateau der Schotts. Der große Atlas oder » Saharaatlas«, das südliche Grenzgebirge, erhebt sich in vielen Gipfeln zu 2000 Meter Höhe; im Auresgebirge, in der Provinz Konstantine, steigt der Cheliagipfel zu 2330 Meter auf. Der kleine Atlas oder » Tellatlas«, die niedrigere nördliche Kette, hat viele Gipfel zwischen 1200 und 1500 Meter, erhebt sich aber nur selten über 2000 Meter; in der Provinz Algier erreicht der Quarsenis 1985, in der großen Kabylie der Lella Khedidja 2308 Meter. Die schimmernden Schneehäupter dieser braunvioletten zackenreichen Hochgebirge, in langer Reihe über dem Küstenlande und dem blauen Meere aufsteigend, bilden für viele algerische Landschaften einen großartigen Hintergrund.

Die »Steppentafel«, d. h. die Hochebene der Schotts oder Salzseen, zwischen den beiden Atlasketten eingeschlossen, umfaßt einen Flächenraum von 11 Millionen Hektaren und hat eine durchschnittliche Meereshöhe von 800 bis 900 Meter, steigt jedoch allmählich von Osten gegen Westen an, zugleich sich verbreiternd; die tieferen Teile liegen in 600, die höheren in 1100 Meter Höhe. Während der Regenzeit, im Frühjahr und Herbst, ist dieses Steppenplateau von zahlreichen arabischen Hirten bevölkert, deren Herden hier reiche Weide finden. Während der trockenen und heißen Jahreszeit ist es den Sandstürmen ausgesetzt und verödet. Die zahlreichen Salzseen und Sümpfe desselben trocknen dann zum Teil aus. In größter Menge wächst auf diesen Hochsteppen das Halfagras (Stipa tenacissima); durch seine zähe und feste Faser zur Papierfabrikation vorzüglich geeignet, hat dasselbe in neuester Zeit eine hohe Bedeutung als Handelsartikel erlangt. Wegen des »Ozeans von Halfa«, welcher den größten Teil der Steppentafel bedeckt, hat man sie auch geradezu als die »Halfaregion« bezeichnet. Obgleich schon die Phönizier und die alten Griechen den Wert dieses zähfaserigen Grases, ihres »Leukolinon« kannten, und auch die Römer es vielfach als Surrogat für Flachs und Hanf benutzten, wurde bisher doch erst ein kleiner Teil desselben verarbeitet. Viele Quadratmeilen der Halfatafel sind noch unbenutzt. Erst seitdem man in neuester Zeit bessere Methoden gefunden hat, die ebenso feste als geschmeidige Pflanzenfaser der Halfa leichter zu isolieren und feiner zu präparieren, ist ihr hoher Wert erkannt worden. Nicht nur zur Fabrikation von Papier, sondern auch von künstlichen Haaren u. dgl. ist die Halfa so wertvoll, daß sie sich zu einem der wichtigsten Exportartikel der Berberei emporschwingt.

Der bei weitem wichtigste und der als Kulturland wertvollste Teil der algerischen Kolonie ist jedoch der Tell»Tellus« der alten Römer – d. h. der kleine Atlas und alles Land zwischen ihm und dem Mittelmeer; hier findet der europäische Kolonist das herrlichste Klima, den fruchtbarsten Boden, eine Fülle von Wasser, und jene Gesamtheit von ungewöhnlich günstigen geographischen Bedingungen, welche die wertvollsten Küstenstriche des Mittelmeeres auszeichnet. Alle die beneidenswerten Verhältnisse, welche wir an den schönsten und fruchtbarsten Küstenstrichen der spanischen, südfranzösischen und italienischen Mittelmeerküste antreffen und welche dieselben zu einem »Hesperidengarten« machen, alle diese finden wir auch im Teilgebiete wieder. Selbst die Temperaturverhältnisse des letzteren sind von jenen der ersteren nur wenig verschieden; viel weniger als man nach der südlicheren Lage erwarten sollte. Die Nähe der hohen Atlaskette einerseits, der Einfluß der weiten Meeresfläche andererseits, mildern die hohen Wärmegrade, welche die jenseits des Atlas gelegene Sahara herübersenden könnte; die mittlere Jahrestemperatur des Tell ist 16 bis 18° C.; die mittlere Temperatur in den Wintermonaten (Januar, Februar, März) 12° C., in den Sommermonaten (Juli, August, September) 28° C. Das Klima Algeriens ist somit viel weniger »afrikanisch« als man gewöhnlich bei uns annimmt.

Das Tellgebiet selbst zerfällt wieder in drei natürliche Abteilungen, die man mit den Arabern als Sahel, Utah und Djebel unterscheiden kann. Der Sahel, d. h. Küstenstrich, besteht meistens aus Reihen von niederen Hügeln, die unmittelbar an der Meeresküste oder in geringerer Entfernung von derselben aufsteigen. Selten erheben sich die Gipfel derselben über dreihundert Meter. Da an diesen Küstenhügeln die ersten Niederschläge der feuchten Meeresluft erfolgen, sind sie meist sehr wasserreich und von üppigster Fruchtbarkeit. In dem dichten Buschwerk ihrer feuchten Felsenschluchten findet der Botaniker die reichste Fülle des südlichen Pflanzenwuchses, und auf ihren frei vorspringenden Aussichtspunkten entzückt den Landschaftsmaler ein entsprechender Reichtum der herrlichsten Motive. In der unmittelbaren Umgebung der Hauptstadt Algier sind die anmutigen Hügelketten, welche im Westen über Frai-Vallon und Buzarea, im Süden über Mustapha und Birmandreis sich hinziehen, berühmte und vielbesuchte Beispiele der Sahelpracht. An ihren Abhängen, in deren grünen Gärten Tausende von weißen Landhäusern zerstreut liegen, bauen sich die prächtigen Küstenstädte auf.

Als Utah bezeichnet der Araber die fruchtbaren Ebenen, welche im Norden von den Sahelhügeln der Küste, im Süden von dem Kettengebirge des kleinen Atlas eingeschlossen werden. Diese flachen Ebenen, von sehr wechselnder Breite, bieten den europäischen Kolonisten den besten Garten- und Ackerboden. Wo sie gut kultiviert und bewässert sind, wie z. B. in der Mitidja zwischen Algier und Blidah, da geben diese üppigen Gefilde den reichsten Ertrag. Indessen ist der größte Teil der Utah zur Zeit noch nicht oder nur mangelhaft kultiviert. Vor allem müßte hier für genügende Bewässerung gesorgt werden, und müßte die vielfach begonnene Regulierung der zahlreichen vom Atlas herabkommenden Bäche allgemein durchgeführt werden. An einigen Stellen ist dieselbe durch zweckmäßige Dränierung und durch Anlage von großen »Barrages« bereits erreicht. Aber im größeren Teile der Utah vermißt man noch die genügende Anzahl von Kanälen und Dämmen, ebenso wie von Brücken und Vizinalwegen. Die französische Regierung läßt es hier an den nötigen Baumitteln fehlen. Außerdem fehlt es noch sehr an ausreichenden Arbeitskräften. Tausende von überschüssigen Arbeitern, die Europa alljährlich durch Auswanderung in fremde Weltteile verliert, würden hier als Kolonisten vortrefflich fortkommen; vorausgesetzt, daß die Regierung besser als bisher für ihr Fortkommen Sorge trägt. Der jährliche Zuwachs der französischen Bevölkerung, die sich bekanntlich nur schwach vermehrt, reicht bei weitem dafür nicht aus.

Der Djebel, die vielgipflige Gebirgskette des kleinen Atlas, zum Teil noch heute mit schönen Wäldern bedeckt, entsendet nach beiden Seiten, nach Nord und Süd, Tausende von Bächen und Hunderte von kleinen Flüssen. Die südwärts abfließenden verlieren sich in den salzigen Sümpfen und Seen der Schotthochebenen, welche im Sommer großenteils austrocknen. Die nordwärts hinabfließenden Wasserläufe durchströmen die fruchtbare Utah-Ebene und sammeln sich in einer geringen Anzahl größerer Flüsse; diese müssen die Sahelkette durchbrechen, um das Meer zu erreichen. Schiffbar sind sie nicht. Unzweifelhaft bietet der Tellatlas bei seinem Wasserreichtum und seinen günstigen klimatischen Verhältnissen die besten Bedingungen für üppige Waldentwicklung. Zur Zeit ist jedoch nur ein kleiner Teil desselben bewaldet. Die verderbliche Unsitte der arabischen Nomaden, die Wälder abzubrennen, und der Schaden, den ihre Herden dem jungen Waldwuchs zufügen, sind das größte Hindernis einer ausgedehnteren Forstkultur. Wie die Engländer in Zypern, so haben die Franzosen in Algerien sich bisher vergeblich bemüht, den Kampf mit diesen uralten Feinden des Waldbaues durchzuführen. Wo jedoch zahlreiche Forstbeamte den Wald vor den beständigen verderblichen Angriffen der Araber in Schutz nehmen, da entwickelt sich der algerische Forst, im kleinen wie im großen Atlas, in herrlicher Üppigkeit; so die Eichenwälder von Bougie und Bona, die Zedernwälder von Teniet el Had und Batna.

 

III

Die Bevölkerung Algeriens ist über den weiten Flächenraum von zwölftausend Quadratmeilen sehr ungleichmäßig verteilt. Der bei weitem größte Teil kommt auf das Sahelgebiet, auf die großen Küstenstädte und die zahlreichen Dörfer des Küstenlandes. Die nahezu vier Millionen Einwohner verteilen sich, auf die drei Provinzen Algeriens dergestalt, daß die Westprovinz Oran ungefähr 600 000, die Ostprovinz Konstantine 1 600 000 und das zwischen beiden gelegene Algier 1 800 000 enthält. Unter diesen vier Millionen befinden sich nur etwa 220 000 Franzosen und ungefähr die gleiche Zahl Fremde von verschiedenen Nationalitäten. Die übrigen dreieinhalb Millionen sind größtenteils Eingeborene, von Religion Mohammedaner. Der Grundstock dieser eingeborenen Bevölkerung setzt sich aber aus zwei ganz verschiedenen Elementen zusammen, aus Kabylen und Arabern.

Die Kabylen, die eigentlichen »Ureinwohner« Algeriens und Tunesiens, bilden einen Zweig der Berberrasse oder im weiteren Sinne des libyschen Stammes. Andere und nächstverwandte Zweige dieses Stammes sind die Marokkaner und Guanchen (die Ureinwohner der Kanarischen Inseln), sowie die Tuariks oder Imoscharh. Den libyschen Stamm selbst leiten wir von der altägyptischen Rasse her, aus welcher auch die Kopten des heutigen Ägypten, sowie die Altnubier oder Äthiopier entsprungen sind. Alle diese Völker hängen durch die charakteristischen Grundzüge ihres Körperbaues, ihrer Sitten und vor allem ihrer Sprachentwicklung eng zusammen und werden als Zweige der uralten Hamitenrasse aufgefaßt. Die Einwanderung der alten Hamiten in Nordafrika, wahrscheinlich von Ägypten ausgehend und allmählich bis zur atlantischen Westküste und den Kanarischen Inseln vordringend, hat wohl schon mehrere Jahrtausende vor Christus begonnen. Als die semitischen Phönizier, ungefähr achthundertachtzig Jahre vor Beginn unserer christlichen Zeitrechnung, zuerst an der berberischen Küste landeten und Karthago gründeten, fanden sie überall die längst eingesessene Urbevölkerung der Kabylen vor. Diese bildeten die Hauptbevölkerung der alten Königreiche Numidien und Mauritanien, welche achthundert Jahre später in römische Provinzen verwandelt wurden.

Ganz anderen Ursprunges und ganz verschiedener Natur sind die Araber, ein Hauptzweig der Semitenrasse. Die Ethnographen nehmen zwar jetzt meistens an, daß die tieferen Wurzeln der semitischen und hamitischen Rasse zusammenhängen, und daß diese beiden großen Rassen vereinigt, als eine Hamosemitenrasse, einen der vier selbständigen Stämme der mediterranen Menschenart bilden (wie die Stammbäume auf S. 4579 und 596 in der zwölften Auflage meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« zeigen). In der Tat ist es auch sehr wahrscheinlich, daß die gemeinsame älteste Wurzel aller Hamosemiten im südwestlichen Asien zu suchen ist. Allein die Trennung der beiden Hauptstämme derselben ist dennoch uralt, und in ihrer weiteren Entwicklung entfernten sie sich immer weiter voneinander. Die Hamiten, sich nach Westen wendend, fanden zunächst ihre günstigste Ausbildung im alten Ägypten und wanderten von da teils nach Süden (Äthiopier), teils weiter nach Westen (Libyer oder Berber). Die Semiten hingegen gingen teils nordwärts nach Kleinasien (Mesopotamier, Syrer, Phönizier und Hebräer), teils südwärts nach Arabien. Der nördliche Zweig dieses arabischen Stammes war es, welcher im siebenten Jahrhundert, mit der Gründung und Ausbreitung des Islam, Nordafrika überflutete und in raschem Siegeslaufe auch die ganze Berberei unterwarf. Acht Jahrhunderte hindurch (vom achten bis sechzehnten Jahrhundert) blieb dieselbe unter arabischer Herrschaft und unter dem Einflüsse der hohen Kultur, welche das arabische Khalifenreich damals am größten Teile der Mittelmeerküste (vor allem in Spanien) entfaltete.

Der zähe Charakter der Kabylen und die ursprüngliche Selbständigkeit dieser hamitischen Urbewohner von Tunesien, Algerien und Marokko setzte jedoch dem tieferen Eindringen der arabischen Kultur einen unüberwindlichen Widerstand entgegen. Zwar wurden die ersteren gezwungen, sich den letzteren äußerlich zu unterwerfen und auch die Religionsform des Islam anzunehmen. Allein die Berber wurden niemals so gute und gläubige Mohammedaner wie die Araber. Und nachdem die arabische Herrschaft im sechzehnten Jahrhundert zerfallen war und die Berberei sich unter türkischer Oberhoheit zu dem gefürchteten Piratenstaate der Barbaresken entwickelte, trat die innere ursprüngliche Verschiedenheit des hamitischen und semitischen Wesens aufs neue wieder hervor. Noch mehr geschah das innerhalb der letzten sechzig Jahre, seitdem unter französischer Herrschaft die eindringende europäische Kultur jenen beiden feindlichen Gegensätzen einen freieren Spielraum der Entwicklung gewährte. Die genauere Kenntnis der beiden Rassen und eine Reihe gründlicher Untersuchungen ausgezeichneter Ethnographen hat uns seitdem einen tieferen Einblick in die Beziehungen und die Bedeutung derselben gewährt. Übrigens erkennt der aufmerksame Beobachter schon auf den ersten Blick die anthropologische Kluft, welche beide Rassen trennt.

Der Kabyle ist im allgemeinen von mittelgroßem und gedrungenem Körperbau; sein Kopf ist breit, Nase und Lippen sind dick, die Augen meistens blau, die Haare blond, rot oder hellbraun, der Bart wenig entwickelt, die Hautfarbe hell, mehr rötlich-gelb als braun. Der Araber hingegen ist von hoher und schlanker Statur; sein Kopf länglich-oval, Nase und Lippen schmal, Augen und Haare schwarz, der Bart lang, die Hautfarbe dunkler, mehr bräunlich. Ganz verschieden ist in beiden Stämmen die Lebensweise und Verfassung. Die Kabylen sind vorzugsweise fleißige und tüchtige Ackerbauer und hängen mit zäher Vorliebe an ihrem kleinen Grundbesitze; ihre Verfassung ist durchaus demokratisch, in vieler Beziehung derjenigen der alten Germanen ähnlich. Die Araber hingegen sind noch heute, wie vor Jahrtausenden, vorzugsweise unstäte Nomaden, welche mit ihren Viehherden das weite Land durchziehen und ihre Weideplätze wechseln; sie verachten die seßhafte Lebensweise und den Grundbesitz; die Verfassung der einzelnen Stamme ist aristokratisch. Mit besonderer Vorliebe pflegen die Araber die Pferdezucht und sind bekanntlich vorzügliche Reiter. Die Kabylen bekümmern sich darum nicht, und zogen es schon in den punischen Kriegen vor, zu Fuß zu fechten. Ganz verschieden ist in beiden Rassen die Stellung der Frau und somit des Familienlebens. Bei den Kabylen ist die Hausfrau die treue, hochgeachtete Lebensgefährtin des Mannes, seine ausdauernde, gleichgestellte Mitarbeiterin, und im Kriege seine tapfere Mitkämpferin. Genauere Kenner des kabylischen Familienlebens behaupten sogar, daß das »Pantoffelregiment« sich hier oft recht entwickelt finde. Daran ist beim Araber gar nicht zu denken. Für ihn ist die Frau nur untergeordnete Sklavin, auf der einen Seite ein nützliches Haustier, das die schweren Hausarbeiten zu verrichten hat, auf der anderen Seite ein Werkzeug sinnlichen Vergnügens. Außerdem werden beim orthodoxen Araber alle Lebensbeziehungen durch den mächtigen Einfluß der mohammedanischen Religion unmittelbar bestimmt, während diese beim Kabylen nur einen oberflächlichen Firniß darstellt und unter demselben die uralten heidnischen Vorstellungskreise ihren maßgebenden Einfluß bewahrt haben. Der Koran, als Grundlage der ganzen Weltanschauung, besitzt daher für letzteren nicht entfernt die Bedeutung wie für ersteren.

Die vielen Ähnlichkeiten, welche im Körperbau und Charakter zwischen den Kabylen und der germanischen Rasse bestehen, haben einige Ethnographen auf die Vermutung gebracht, daß zwischen beiden ein unmittelbarer Zusammenhang bestehe. Diese Vermutung ist wahrscheinlich insofern begründet, als die Vandalen während ihrer zweihundertjährigen Herrschaft (vom Ende des vierten bis Ende des sechsten Jahrhunderts) tiefe Spuren in der Berberei hinterlassen haben. Allein auf der anderen Seite ist zu bedenken, wie viele, ganz verschiedene Völker, seit fast drei Jahrtausenden abwechselnd dieses Land beherrscht haben: die Phönizier (sieben Jahrhunderte), die Römer (fünf Jahrhunderte), die Vandalen (zwei Jahrhunderte), die Araber (acht Jahrhunderte), die Türken (drei Jahrhunderte) und zuletzt die Franzosen, seit 1830. Alle diese verschiedenen Völker haben mehr oder minder großen Einfluß auf die kabylische Urbevölkerung ausgeübt und sich vielfach mit ihr vermischt, ohne doch jemals imstande gewesen zu sein, sie völlig zu unterwerfen und die originale Selbständigkeit ihres zähen Rassencharakters auszulöschen. Nachdem die Franzosen die Oberherrschaft der Araber in Algerien vernichtet und ihren bedeutendsten Führer, Abd-el-Kader, gefangen genommen hatten, glaubten sie nunmehr Herren des ganzen Landes zu sein. Sie waren aber nicht wenig überrascht, beim Eindringen in die Gebirge noch den heftigsten Widerstand seitens der Kabylen zu finden. Erst nach langen blutigen Kämpfen gelang es ihnen, auch dieses kräftigen Urvolkes Herr zu werden, und seit 1837 sind auch sie französische Untertanen. Äußerlich ist jetzt ganz Algerien in den Händen der Franzosen; aber von einer inneren Aneignung, von einer wahren Assimilation der eingeborenen Bevölkerung sind die heutigen Herren des Landes noch weit entfernt.

Unter diesen Umständen bleibt für die Zukunft der kostbaren algerischen Kolonie die wichtigste Frage: »Wie wird sich dauernd das Verhältnis der Masse der eingeborenen mohammedanischen Bevölkerung zu den französischen Herren des Landes gestalten?« Diese Frage läßt sich schon jetzt mit Wahrscheinlichkeit dahin beantworten, daß das Schicksal der beiden verschiedenen eingeborenen Rassen sich entgegengesetzt entwickeln wird. Die Araber, eine in Rückbildung und Verfall begriffene Rasse, werden alljährlich mehr zurückgedrängt und gehen langsam ihrem Untergange entgegen. Die Kabylen umgekehrt treten vermöge ihrer natürlichen Energie und Tüchtigkeit in immer nähere Beziehungen zu der europäischen Kultur und werden voraussichtlich mit ihrer Hilfe sich aufsteigend entwickeln.

Der Verfall der arabischen Rasse in Algerien ist überall deutlich sichtbar, ganz besonders aber in den größeren Städten, und vor allem in der Hauptstadt Algier. Der reiche Grundbesitz, den hier die früheren Herren des Landes hatten, die zahlreichen maurischen Schlösser und Paläste, Villen und Gärten sind schon jetzt größtenteils in europäischen Händen. Nachdem die Eroberung des Landes durch die Franzosen vollendet war, verkauften die meisten wohlhabenden Araber ihren Grundbesitz, oft zu einem Spottpreise, in der sicheren Überzeugung, daß die Fremdherrschaft von vorübergehender Dauer sei, und daß sie nach deren baldigem Ende umsonst wieder in ihre früheren Rechte eintreten würden. Darin haben sie sich bitter getäuscht. Kein gründlicher Kenner des Landes hält es für möglich, daß die Araber jemals die verlorene Herrschaft wiedergewinnen werden. Die zahlreichen maurischen Adelsherren, reichen Kaufleute und Großgrundbesitzer, die damals in Scharen auswanderten und nach Tripolis, Ägypten, Kleinasien und Konstantinopel gingen, in der Hoffnung, bald in das befreite Algerien zurückzukehren, werden ihr Vaterland nie wiedersehen. Aber auch der Rest, der im Lande geblieben ist, erweckt kein Vertrauen auf eine bessere Zukunft. Schon die äußere Tracht der algerischen Araber macht meistens einen dürftigen Eindruck. Da sie seit dem letzten Aufstande keine Waffen mehr tragen dürfen, fehlt die lange Flinte, welche den stolzen Beduinen im Oriente ziert. Auch fehlt die charakteristische lange Pfeife des letzteren; die Araber der Berberei rauchen statt deren Papierzigarretten. Die Gewandung ist meistens schmuckloser und ärmlicher als im Orient. Die arabischen Quartiere, welche in Algier, Konstantine, Oran und anderen größeren Städten noch jetzt existieren, scharf getrennt von den glänzenden, mit europäischem Luxus und Komfort ausgestatteten Frankenvierteln, machen allenthalben den kümmerlichen und dürftigen Eindruck des zunehmenden Verfalls. Und noch kümmerlicher, noch dürftiger erscheinen die Rohrhütten und Zelte der nomadischen Araber, die mit ihren Herden die weiten Weideflächen des Landes durchziehen. Wenn man auf der Eisenbahn an Hunderten derselben vorüberfährt, immer denselben Eindruck des alttestamentlichen Hirtenlebens vor Augen, kann man sich nicht der Überzeugung verschließen, daß diese traurigen Überbleibsel einer untergehenden Semitenrasse im Kampf ums Dasein mit der übermächtigen europäischen Kultur unterliegen werden. Die unwürdige Stellung des Weibes, der Fatalismus des Koran, welcher alle Unternehmungslust ausschließt, verbürgen keine bessere Zukunft.

Ganz anders die Hamitenrasse der Kabylen. Freilich erscheinen ihre äußeren Verhältnisse auch nicht glänzend, und ihre elenden Steinhütten in den Gebirgen der Kabylie mit ihrer dürftigen Ausstattung zeugen auch von keinem Reichtum. Aber die kleinen Gärten und Felder, welche diese Bauernhütten umgeben, sind auf das Sorgfältigste angebaut. Mann und Frau arbeiten hier fleißig um die Wette, und ihr munteres Familienleben verrät Interesse am Dasein und dessen Gestaltung. Neuerdings gehen auch die Kabylen mehr und mehr in die Städte und verrichten dort allerlei Arbeiten mit Fleiß und Geschick. Die Berranis, Biskris und Mozabiten, von Alters her Todfeinde der Araber, sind solche strebsame Berber. Es entstehen franko-kabylische Schulen, in denen die Berber – bisher des Lesens und Schreibens unkundig – mit Begierde die Elemente europäischer Zivilisation in sich aufnehmen; ganz im Gegensatz zu den Arabern, welche dieselbe mit Geringschätzung oder selbst mit Abscheu von sich weisen. Erwägt man nun dazu noch die natürlichen Charaktertugenden dieser kräftigen Berberrasse, die sie von ihren numidischen und mauritanischen Vorfahren geerbt hat; bedenkt man, wie sie dieselben, trotz der wechselnden Oberherrschaft fremder Eindringlinge, Jahrtausende hindurch treu bewahrt, und dabei doch von den letzteren mancherlei gelernt hat, so wird man in ihr die Keime zu einer neuen kräftigen Kulturentwicklung nicht verkennen können. Wenn die Franzosen dieses Verhältnis richtig erkennen und sich die Kabylen zu assimilieren verstehen, so werden sie sich in diesen strebsamen Ackerbauern die besten Kräfte für die Bewirtschaftung ihrer wertvollen, zum größten Teile noch brachliegenden Kolonie heranziehen können.

Weiterhin ist zu bedenken, welche große Rolle schon wiederholt die Berber in der Weltgeschichte gespielt haben, welche Bedeutung Karthago schon vor zweitausend Jahren erlangt hatte. Helden wie Hamilcar und Hannibal, Masinissa und Jugurtha bedrohten damals das heranwachsende römische Weltreich mit dem Untergange. Als dann aber das letztere den Sieg gewann, wurde die reiche mauritanische Provinz, im Wettstreite mit Sizilien, zur Kornkammer Roms. Späterhin gingen Tausende von Kabylen mit ihren arabischen Oberherren nach Spanien hinüber, und es ist sehr wahrscheinlich, daß den ersteren ein Hauptanteil an der glänzenden Kulturentwicklung zufällt, zu welcher sich Spanien damals aufschwang und welche man gewöhnlich nur den Arabern zuschreibt.

Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man daher dem Berberstamme noch eine bedeutende Rolle in der Zukunft der algerischen Kolonie versprechen; sei es, daß sie mit den Europäern zu einem franko-berberischen Mischvolke verschmelzen; sei es, daß ihre wieder erwachende Nationalität sich noch einmal zu einer selbständigen Blüte entfaltet.

 

IV

Daß Algerien und Tunesien an sich höchst wertvolle Besitze sind, daß diese Länder der Berberei, von Tunis bis Gibraltar, alle Bedingungen zu einer glänzenden Kulturentfaltung in sich tragen, kann nicht bestritten werden. Die geographische Lage, der geologische Aufbau des Landes, der Wasserreichtum seiner Gebirge, der fruchtbare Boden seiner Ebenen, das herrliche Klima der südlichen Mittelmeerküste vereinigen alle Bedingungen, um diese nordafrikanische Kolonie zu einem Hesperidengarten zu machen. Auch brauchen wir bloß einen Blick auf die Geschichte von Numidien und Mauritanien zu werfen, um zu erkennen, was dieselbe früher gewesen ist. Der einzige Name Karthago und die Erinnerung an seinen Kampf mit Rom genügen, uns davon zu überzeugen. Die großartigen Ruinen der mächtigen Römerstädte, die wir noch heute in Lambessa, Timgad und Tebessa bewundern, führen uns leibhaftig den entschwundenen Glanz dieser alten römischen Provinzen vor Augen. Warum sollte es nicht möglich sein, heute, wo alltäglich mehrere große Dampfschiffe einen lebhaften Verkehr zwischen der südlichen und nördlichen Küste des französischen Mittelmeeres unterhalten, jenen erloschenen Glanz neu zu beleben und ihm eine weitere Ausbreitung zu geben?

Um zu erkennen, was Frankreich in den sechzig Jahren seiner Herrschaft aus Algerien gemacht hat, muß man vor allem daran erinnern, was dasselbe 1830 war. Die ganze Küste der Berberei, von Tunis bis Gibraltar, trug die Charakterzüge orientalischer »Barbarei«; sie stand damals noch unter der immer mehr verfallenden türkischen Oberherrschaft, unter der Mißregierung einzelner arabischer Fürsten oder Deys. Zwar flößten die Piratenflotten dieser »Barbaresken-Staaten« nicht mehr den Schrecken ein, welchen sie drei Jahrhunderte hindurch an allen Mittelmeerküsten verbreitet hatten; aber immerhin stand die Seeräuberei noch in üppiger Blüte. Der Handelsverkehr zwischen den berberischen und europäischen Küsten war von geringer Bedeutung. Der innere Verkehr beschränkte sich beim Mangel fahrbarer Wege auf den Transport durch Kamele, Esel und Pferde. Die Städte Algeriens und Tunesiens besaßen überwiegend arabischen Charakter; für den Kulturfortschritt waren sie ohne Wert. Der größte Teil der natürlichen Hilfsquellen des Landes lag brach, oder wurde nur zum Nutzen der herrschenden Klasse ausgebeutet.

Heute, nach sechzig Jahren französischer Herrschaft, sind dem reichen Lande alle Pforten des modernen Kulturlebens geöffnet. Das Drahtnetz des elektrischen Telegraphen und Telephons, das Nervensystem der heutigen Kulturstaaten, durchzieht das ganze Gebiet der Berberei, von der Küste des blauen Mittelmeeres bis zum gelben Sandmeer der Sahara. Ferner ist dieses ganze ausgedehnte Gebiet mit einem Netze guter Verkehrswege überzogen. Zahlreiche Diligenzen und kleinere Postwagen vermitteln täglich die Kommunikation zwischen den größeren und kleineren Ortschaften. Eine ununterbrochene Eisenbahnlinie erstreckt sich durch das ganze fruchtbare Gebiet, von Tunis im Osten bis zur marokkanischen Grenze, bis Tlemcen und Lalla Marnia im Westen; sie verbindet geraden Weges eine lange Reihe von mächtig aufblühenden Städten: Guelma, Konstantine, Alger, Blidah, Milianah, Orleansville, Oran. Zweigbahnen gehen von dieser Hauptlinie nordwärts zu den Küstenstädten: Bona, Philippeville, Bougie, Mostaganem, Arzew. Andere Zweigbahnen, südwärts abgehend, führen bis in die Sahara hinein, von Perregaux nach Tiout, von Relizane nach Tiaret, von Konstantine nach Biskra, von Souk-Arras nach Tebessa. Wenn auch der kühne Plan der Franzosen, eine Eisenbahn durch die Sahara selbst bis Timbuktu zu legen und von da nach dem Senegal fortzuführen, zunächst nicht ausführbar ist, so zeigt er doch die Großartigkeit der Kolonisationspläne, durch welche Frankreich die ganze nördliche Hälfte von Westafrika in seine Gewalt zu bringen sucht.

Der Aufschwung des inneren Verkehrs, welcher durch das neue Eisenbahnnetz und die zahlreichen Poststraßen in Algerien herbeigeführt ist, wird noch weit übertroffen durch die lebhafte Steigerung des Seeverkehrs zwischen den berberischen und europäischen Küsten. Zahlreiche Dampfer gehen jetzt täglich von den vortrefflichen Häfen aus, welche die französische Regierung unter großen Schwierigkeiten und mit hohem Kostenaufwande an der algerischen Küste angelegt hat. Die neuen Magazine und Warenhäuser an den stattlichen Kais reichen vielfach bereits nicht mehr aus für den anwachsenden Schiffsverkehr. Dieser wird sich mit jedem Jahre um so großartiger gestalten, je mehr die natürlichen Hilfsquellen des Landes erschlossen und ausgebeutet werden. Die ausgedehnten Strecken fruchtbaren Teilgebietes, welche heute noch von den arabischen Hirten als Weideland benutzt werden, lassen ahnen, was sie künftig, nach ihrer Dränierung und ihrer Verwandlung in fruchtbares Kulturland, werden leisten können. Was aber auf der kultivierten Strecke bereits erreicht worden ist, das sieht man auf den herrlichen Frucht- und Gemüsemärkten der algerischen Städte, an den mächtigen Getreidemagazinen, an den ausgedehnten Olivenwaldungen und Orangengärten, an den stetig zunehmenden Weinbergen und Tabakpflanzungen. Und doch hat der gegenwärtige Aufschwung des Acker- und Gartenbaues bei weitem nicht die Höhe erreicht wie unter der Herrschaft der alten Römer! Was wird sich aber erst aus diesem herrlichen Lande gewinnen lassen, wenn die begonnene Kanalisierung des Tell überall durchgeführt ist, wenn die Waldkultur auf den langgestreckten Atlasketten erst wieder größere Ausdehnung erreicht und damit zugleich größere Wassermengen zur Berieselung des fruchtbaren Küstenlandes gewonnen werden. Von den reichen Mineralschätzen des Atlas haben die zahlreichen neuerdings angelegten Bergwerke (über fünfzig an Zahl) auch erst einen kleinen Teil auszubeuten begonnen. Von einhundertfünfzig Thermalquellen sind erst einige wenige in Benutzung gezogen.

Angesichts der großen Umwandlung, welche der algerische Barbareskenstaat unter der französischen Herrschaft innerhalb eines halben Jahrhunderts erfahren hat, muß der Vorwurf verstummen, daß die Franzosen »nicht zu kolonisieren verstehen«. Freilich teile ich die Ansicht, daß die Franzosen für die Kunst der Kolonisation bei weitem nicht so geeignet sind wie die Holländer und Engländer. Aber trotzdem muß ich einem der erfahrensten Kenner von Nordafrika, Gerhard Rohlfs, beipflichten, wenn er der französischen Kolonisation von Algerien volle Anerkennung zollt und ihre Erfolge sehr hoch schätzt.

Um einen unbefangenen Vergleich zwischen »Sonst und Jetzt« in Algerien zu ziehen, und um die großen Verdienste der französischen Kolonialregierung gerecht zu würdigen, erscheint besonders lehrreich ein Blick auf die Hauptstadt Algier selbst. Ich besitze ein gut illustriertes Werk über Algerien aus dem Jahre 1839, von einem Schweizer, Dr. Adolph Otth. Die dreißig Tafeln dieser »Esquisses Africaines«, mit gewissenhafter Naturtreue vom Künstler gezeichnet und höchst sorgfältig lithographiert, geben uns ein lebendiges Bild davon, wie die Hauptstadt und ihre Umgebung vor einem halben Jahrhundert aussahen. Der Unterschied von dem Gemälde der Gegenwart ist überraschend groß und gibt viel zu denken. Wenn man diese lebensvollen und offenbar sehr naturgetreuen Landschaftsbilder von Algier und seiner Umgebung mit den heutigen Zuständen vergleicht, so hat man Mühe, sich zurechtzufinden und die identischen Örtlichkeiten wiederzuerkennen. Was damals, unter der arabischen Herrschaft, eine offene und unsichere, nur durch einzelne Felseninseln geschützte Reede war, ist heute ein schönes, von sicheren Molen umschlossenes Hafenbecken. An die Stelle der zerrissenen Felsenküste, die zwischen Hafen und Stadt lag, ist der unvergleichliche Prachtbau der zwei Kilometer langen Mortonterrasse getreten, der herrliche Boulevard de la République, dessen beide Bogenreihen, sechsundzwanzig Meter hoch, 350 Gewölbe einschließen; ein großer englischer Bauunternehmer, Morton Peto, hat diese großartige Strecke auf eigene Kosten hergestellt, unter der Bedingung, daß er neunundneunzig Jahre das Recht behält, die Bogengewölbe als Läden und Magazine zu verpachten. Ansehnliche Magazine, vortreffliche Lazarette, Schulen, Kirchen und andere öffentliche Bauten hat die Regierung in großem Maßstabe ausgeführt. Der Prachtbau der École des sciences (Universität und Polytechnikum), auf hoher Terrasse vor Bab-Azoun gelegen, beweist, daß man neuerdings auch der Wissenschaft mehr Pflege zuwendet. Diese war leider bisher sehr vernachlässigt; so z. B. sind die Mittel der Stadtbibliothek, deren trefflicher Leiter, Maupas, sich auch als Naturforscher auszeichnet, immer noch sehr ungenügend. Viel mehr ist für das Kriegswesen geschehen. Mächtige Festungswerke schützen Hafen und Stadt von Algier, und zahlreiche detachierte Forts auf den Hügeln der Umgebung schrecken jeden Angriff der Araber ab. Die alte Barbareskenkapitale Algier, die weiße Masse von maurischen Steinwürfeln, welche über dem Hafen auf steilen Terrassen emporsteigt, gekrönt von der alten Zitadelle der Kasba, tritt heute ganz zurück gegen die glänzenden europäischen Quartiere, welche sie rings umgeben und welche in den sechzig Jahren der französischen Herrschaft eine stetig wachsende Ausdehnung erlangt haben. In ihren stattlichen Hauptstraßen finden wir dieselben prachtvollen Läden und schönen Luxusbauten, dasselbe lebhafte Getreibe von Handel und Verkehr wie in den größeren Städten Frankreichs. Durch den Tramwagen, der alle fünf Minuten von einem Ende der Stadt zum anderen geht, durch zahlreiche Omnibusse und billige Droschken ist für leichten und raschen Verkehr so gut wie in den größeren europäischen Städten gesorgt. Der Europäer, welcher Algier zum ersten Male betritt und hier das charakteristische Leben des Orients erwartet, wird sehr enttäuscht sein – besonders wenn er den wahren Orient in Ägypten und Syrien kennt, wenn er die lebenden Märchenbilder auf den Straßen von Kairo und Damaskus, von Smyrna und Konstantinopel schon gesehen hat. Viel mehr Ähnlichkeit als mit diesen echten Orientstädten besitzt Algier mit Marseille; das französische Element ist ganz überwiegend, während das eingeborene arabische heute schon ganz in den Hintergrund getreten ist und alljährlich mehr zurückbleibt.

Nicht weniger als die Stadt Algier selbst hat sich ihre nähere und fernere Umgebung im Laufe eines halben Jahrhunderts verwandelt. Die ausgedehnten Hügelreihen des Sahel, welche die Stadt rings umgeben und in Buzarea bis zu vierhundert Meter emporsteigen, erscheinen auf den Abbildungen von Otth dicht bedeckt mit wildem Gebüsch, aus welchem hier und da einzelne Landhäuser auftauchen. Heute muß man, aus den Ringmauern der eigentlichen alten Stadt austretend, erst lange Zeit durch ausgedehnte europäische Vorstädte fahren, ehe man die freie Umgebung erreicht, und dann tritt man nicht etwa in eine grüne Wildnis, sondern in ein prachtvolles Gartenland, geschmückt mit Hunderten von schönen Villen, eleganten Sommerpalästen und kleineren Landhäusern; stundenweit ziehen sich diese Gärten und Pflanzungen, reich an den edelsten Blumen und Früchten, an den schönsten Bäumen und Schlingpflanzen, nach allen Richtungen hin. Die Spaziergänge auf den vortrefflichen Wegen, welche die üppigen Schluchten dieses prangenden Hügellandes durchziehen, gewähren eine Fülle der herrlichsten Aussichten auf die weiße Stadt und ihre grüne Umhüllung, auf das blaue Meer und den violetten Gebirgskranz des wundervollen Golfs. Die Genüsse, welche der Naturfreund hier in den Schluchten von Obermustapha und Birmandreis, von Frais-Vallon und Buzarea findet, wetteifern mit den schönsten an anderen Prachtorten des Mittelmeeres, mit Neapel und Palermo, mit Smyrna und dem Bosporus.

In gleicher Weise, wie Algier selbst, sind auch die anderen größeren Städte der algerischen Kolonie europäisiert und im Laufe eines halben Jahrhunderts in französische Städte verwandelt worden. Überall erscheint die ursprüngliche Araberstadt räumlich getrennt, nach außen zurückgedrängt und im Verfall begriffen, der maurische Charakter verwischt und geschwächt. Vollends die kleineren Städte und die Hunderte von Dörfern, welche in dem fruchtbaren Küstenlande während dieser Zeit entstanden, sind ganz und gar französisch und erinnern überhaupt nicht an »Afrika«. Erst wenn man ihre geraden langweiligen Straßen verläßt, das Gebiet der umgebenden Kulturfelder durchschritten hat und draußen auf der Grassteppe die zerlumpten arabischen Hirten vor ihren elenden Zelten findet, wird man daran erinnert, daß man nicht in Frankreich selbst, sondern in seiner berberischen Kolonie ist.

Angesichts dieser Tatsachen erscheint der Vorwurf unbegründet, daß Frankreich ungeheuere Summen in Algerien verloren habe. Verloren sind diese riesigen Kapitalien nicht, sondern in einer großartigen Kolonialunternehmung angelegt, und diese Unternehmung beginnt bereits ihre wertvollen Früchte zu reifen, jedes Jahr in zunehmender Fülle. Daß dazu Zeit gehört, versteht sich von selbst, so gut wie zum Wachstum eines Fruchtbaumes. Man darf nicht, gleich den Kindern der Fabel, heute einen Dattelkern in die Erde legen und verlangen, daß morgen bereits der edle Palmenbaum mit zahlreichen Früchten daraus hervorgegangen sei.

Man darf zugeben, daß die französische Regierung bei der Kolonisation Algeriens viele und große Fehler begangen hat. Aber welche Regierung hat das nicht getan? Sind nicht bei der Anlage und dem Ausbau der größten Kolonien, z. B. in Indien, von den besten Kolonialregierungen, englischen und holländischen, ebenfalls viele und große Fehler gemacht worden? Gewiß steht die lateinische Rasse, der Franzose ebenso wie der Spanier, an Kolonisationstalent der germanischen Rasse bedeutend nach. Er versteht sich viel weniger in den Ideenkreis und die Bedürfnisse der Eingeborenen einzuleben als der Engländer, der Holländer und der Deutsche. Aber trotzdem hat der Franzose in Algerien schon sehr viel erreicht. Wenn die französische Regierung es versteht, die Kabylen noch mehr zur Kulturarbeit heranzuziehen und dem europäischen Kolonisten zu amalgamieren, wird sie noch weit rascher glänzende Resultate erzielen.

Viele und große Fehler in der französischen Verwaltung Algeriens sind beseitigt, seitdem die frühere militärische Administration in die Hände der Zivilregierung übergegangen ist, und besonders seitdem die berüchtigten »arabischen Bureaus« aufgehoben sind. Manche der großen begangenen Fehler sind freilich nicht wieder gut zu machen und werden mit Recht von den Franzosen selbst heftig getadelt. Als zwei Beispiele unglaublicher Mißgriffe führe ich hier den Jardin d'essay und das naturhistorische Museum an. Der » Versuchsgarten« oder » Hammagarten«, auch Akklimatisationsgarten genannt (Jardin d'essay oder Jardin du Hamma), ist ein botanischer landwirtschaftlicher Garten ersten Ranges. Er liegt in der weiten Vorstadt Hussein-Dey, fünf Kilometer entfernt vom Südtore der Altstadt. Gegründet wurde derselbe 1832 von M. Hardy; im Laufe eines Menschenalters hat ihn dieser ausgezeichnete Gartenbauer mit Hilfe des herrlichen Klimas und der vorhandenen Wasserfülle zu bewunderungswürdiger Blüte erhoben. Der Garten hat achtzig Hektare Ausdehnung und die denkbar günstigste Lage. Sein östlicher Teil berührt den Meeresstrand, erfüllt die fruchtbare Ebene zwischen ihm und den Hügeln der Sahelkette und besitzt infolge der Verschiedenheit seiner Bewässerung teils trockene, teils nasse Standorte; der natürliche Wasserreichtum des Landes ist durch die arabische Benennung »Hamma« (Sumpf) angezeigt. Der westliche Teil steigt an den steilen Abhängen jener Hügel selbst empor und bietet durch die Terrainverhältnisse eine Fülle günstiger Bedingungen für verschiedene Baumkulturen. Nicht allein alle Pflanzen der gemäßigten und der subtropischen Zone, sondern auch zahlreiche echte Tropengewächse finden hier den günstigsten Boden. Kein einziger Garten außerhalb der Tropen kann in bezug auf Reichtum und Verschiedenartigkeit der darin versammelten Pflanzenarten mit dem Hammagarten verglichen werden. Er erinnert an die berühmten Tropengärten von Peradenia (Ceylon), Kalkutta und Buitenzorg (Java). Fast alle die herrlichen und wunderbaren Pflanzengestalten der Tropenzone, welche wir mühsam und langsam in unseren Treibhäusern aufziehen, gedeihen hier ohne besondere Pflege im Freien.

Die vollkommene Akklimatisation der Tropengewächse im Hammagarten ist um so merkwürdiger, als das Klima von Algier, trotz seiner bevorzugten Lage zwischen dem Meere und der Hügelkette des Sahel, keineswegs ganz frei von Nachtfrösten ist. Jeden Winter kommen einzelne Nächte vor, in denen das Thermometer einige Grade unter den Gefrierpunkt sinkt; Algier steht in dieser Beziehung unter dem nördlicher gelegenen Palermo. Aber die einzelnen Nachtfröste tun nur wenigen und vorübergehenden Schaden, weil die innere Temperatur des Pflanzensaftes von derjenigen des Grundwassers oder der mittleren Jahrestemperatur des Ortes abhängt. Diese beträgt in Algier fast 19° C, während sie bei uns nur auf 6–8° C. sich beläuft. Daher wird der Pflanzensaft bei uns viel leichter in Eis verwandelt als dort. Selbst in dem ausnehmend kalten Winter von 1877–78 in welchem der Frost bei Algier im Januar sechs Tage, im März drei Tage hintereinander anhielt und das Thermometer bis auf 4° C. unter Null sank, wurden dadurch von 258 tropischen Pflanzenarten im Hammagarten nur sechsundzwanzig vorübergehend geschädigt und nur eine einzige getötet (der Bananenbaum von Madagaskar, Ravenala).

Großartige breite Alleen von vierhundert Meter Länge durchschneiden die Ebene des unteren Hammagartens in verschiedenen Richtungen. Eine von diesen herrlichen Alleen (von der Landstraße zum Meere hinabgehend) wird bloß von riesigen indischen Feigenbäumen oder Gummibäumen gebildet, mit einem Walde von Luftwurzeln (Ficus Roxburghii); eine andere Allee, der ersteren parallel, besteht aus mächtigen schattenreichen Platanen; eine dritte ist zusammengesetzt aus abwechselnden Drachenbäumen (Dracaena), Dattelpalmen und Fächerpalmen (Latania). Diese imposanten Längsalleen werden geschnitten durch breite Queralleen, von denen die eine aus chinesischen, eine zweite aus borbonischen Fächerpalmen zusammengesetzt ist; eine dritte bildet einen Tunnel von prächtigem Bambusdickicht. Nicht weniger als vierzig verschiedene Palmenarten wurden im Hammagarten kultiviert. Herrliche tropische Schlingpflanzen (Bougainvillea, Caesalpinia u.a.), zum Teil mit prachtvollen Blüten geschmückt, klettern an den Stämmen der Palmen empor; andere Lianen wuchern in dem Gebüsch, welches auf den zahlreichen Rasenplätzen und am Ufer der Teiche malerisch verteilt ist. Auf den Wasserflächen der Teiche öffnen tropische Seerosen (Nelumbium, Nymphaea) ihre großen schimmernden Blumenkelche.

Während der eine Teil des unteren Hammagartens so das Auge des Botanikers entzückt und ihn aus der Mediterranwelt in die Vegetationspracht der Tropenzone versetzt, erfreut ein anderer Teil den Sinn des Landwirts. Alle jene herrlichen Fruchtbäume, Nutz- und Gemüsepflanzen, welche aus der wärmeren Zone in Algerien eingeführt sind und dort so vortrefflich gedeihen, vor allem die Bananen und Ananas, die verschiedenen Spielarten von Orangen und Limonen, Tabak und Baumwolle usw., ferner die zahlreichen Rassen der massenhaft im Lande kultivierten Feld- und Gartengewächse werden hier in großartig angelegten Pflanzschulen kultiviert, Samen und Ableger an die Kolonisten zu billigen Preisen abgegeben. Wenn dieser Teil des Hammagartens auch neben der Pracht jenes Tropenparks wenig imponiert, so ist dagegen sein Nutzen um so größer.

Der obere Teil des Hammagartens, der vom unteren durch die nach der Kubbah führende Landstraße getrennt ist, steigt an den jenseits gelegenen Sahelhügeln bis zu dem europäischen Friedhofe empor; einem freien Punkte, von dessen vorspringendem Felsenrande man einen prachtvollen Blick über die weite Bucht von Algier, die weißschimmernde Stadt und die grünen, villenreichen Hügelketten von Obermustapha und Aga genießt. Die Terrassen dieses oberen Gartens waren früher vorzugsweise zur Pflanzschule für Forstbäume bestimmt und mit vielen verschiedenen Arten exotischer Waldbäume bepflanzt. Seit längerer Zeit schon ist derselbe aber sehr vernachlässigt. Außer Araukarien und Grevillien fallen wenige Ausländer besonders auf. An den verwilderten Abhängen überwiegen Eukalypten und Kasuarinen, zwei australische Charakterbäume, die in Algerien ganz vorzüglich gedeihen. Insbesondere hat die Kultur der Eukalypten jetzt einen überraschenden Aufschwung genommen. Wenn man das Land mit der Eisenbahn durchfährt, erblickt man allenthalben kleinere Gebüsche oder auch größere Wälder von Eucalyptus globulus in der Nähe der Stationen und zerstreut in den Ebenen. Das fabelhaft schnelle Wachstum des Stammes, drei bis vier Meter in einem Jahre, die Nutzbarkeit des vortrefflichen Holzes, der dichte Schatten seiner blaugrünen Belaubung, die Überzeugung, daß Fiebergegenden durch Eukalyptenpflanzungen gesunder werden, haben diesen australischen Einwanderer zum Liebling des algerischen Kolonisten gemacht, und jetzt schon, nach vierundzwanzig Jahren, sind Millionen desselben über das Land zerstreut. Da er in vier Jahren eine Höhe von zwölf bis fünfzehn Metern erreicht und im Alter über hundert Meter hoch werden soll, wird dieser stattliche Baum bald auch für den landschaftlichen Charakter der Kolonie bestimmend werden. Ausgedehnte Pflanzschulen desselben bestehen bereits an verschiedenen Orten.

Die üppige Pracht des Hammagartens ist in den Reise werken von Kobelt und Tchihatchef ausführlich geschildert W. Kobelt, Reise-Erinnerungen aus Algerien und Tunis. Frankfurt a.M. 1885. – P. de Tchihatchef, Spanien, Algerien und Tunis. Leipzig 1882.. Seine hohe Bedeutung für das Gedeihen der algerischen Kolonie hat insbesondere Charles Martins, der ausgezeichnete Botaniker von Montpellier, in seinen interessanten Reiseerinnerungen »Von Spitzbergen zur Sahara« (Jena, 1868) gebührend gewürdigt. Er besuchte den Hammagarten zweimal, in den Jahren 1852 und 1864, und ist erstaunt über die wunderbare Entwicklung, zu welcher dieser unvergleichliche »Paradiesgarten« – dank den außerordentlich günstigen Vegetationsbedingungen der vorzüglich gewählten Lokalität – im Laufe dieser zwölf Jahre sich emporgeschwungen hatte. Das wohlverdiente Lob, welches Martins damals der französischen Regierung für die Sorgfalt und Freigebigkeit spendete, mit der sie diese bedeutungsvolle Anstalt förderte, ist aber leider heute nicht mehr gerechtfertigt. Auf die früheren Gouverneure und Präfekten, die eifrigen Gönner des Gartens, sind später leider andere gefolgt, die weder Verständnis für seine vielseitige Bedeutung noch Mittel zu seiner kräftigen Förderung besaßen. Im Jahre 1867 überließ die algerische Regierung, in unbegreiflicher Verblendung, den Hammagarten einer privaten Aktiengesellschaft, der »Société franco-algérienne«. Allerdings wurde letztere in dem Vertrage dazu verpflichtet, die dreifache Bestimmung des Gartens aufrecht zu halten: 1. als öffentliche Promenade; 2. als Pflanzschule zur Vervielfältigung und Verbreitung der einheimischen Nutzpflanzen; 3. als botanischer Garten und wissenschaftliches Institut, insbesondere zur Akklimatisation neuer exotischer Gewächse. Aber nur die beiden ersten Bedingungen sind von der franko-algerischen Gesellschaft teilweise erfüllt worden; um die dritte und wichtigste hat sie sich sehr wenig gekümmert. Was kann auch eine »Aktiengesellschaft«, deren einzige Sorge in dem reichen Geldertrage ihrer Aktien liegt, außerdem an Interesse für Wissenschaft übrig haben? Ideale Interessen für allgemeine Ziele sind nicht bei der modernen Rasse der »Aktienmenschen« zu erwarten, welche unter »Interessen« bloß die klingenden Zinsen ihrer Kapitalien verstehen. So beutet denn auch die franko-algerische Gesellschaft den herrlichen Hammagarten nur als milchende Kuh aus, hat den botanischen Teil ganz vernachlässigt, einen großen Teil des unvergleichlich günstigen Terrains zu Baustellen parzelliert und so dem großartigen Institute statt zunehmender Förderung vielmehr empfindlichen Schaden zugefügt. Unter Aufwendung der nötigen Geldmittel hätte der Hammagarten, bei der unvergleichlichen Gunst der natürlichen Verhältnisse, noch viel höher sich entwickeln können, und ein genialer Direktor hätte unter Benutzung des vielgestaltigen Terrains ein wahres Paradies daraus herstellen können. Statt dessen verliert der prachtvolle Garten jedes Jahr mehr an Bedeutung, und dieser Rückgang ist um so mehr zu bedauern, als die Universität von Algier sich jedes Jahr mehr hebt, und die tüchtigen Botaniker an derselben ein unschätzbares Arbeitsfeld für Beobachtungen und Versuche in dem Hammagarten besaßen.

Mit demselben bedauerlichen Mangel an Interesse, den die algerische Regierung durch das Aufgeben des Versuchsgartens zeigt, hat sie auch ein anderes, sehr wertvolles, wissenschaftliches Institut verfallen lassen. Durch die eifrigen Bemühungen von gebildeten Privatleuten, Beamten und Offizieren war ein algerisches Museum gebildet worden, welches sich zu einer möglichst vollständigen Sammlung der Naturprodukte, Kunst- und Industrieerzeugnisse des Landes entwickeln sollte. Die Grundlage dazu bildete die »Exposition permanente des produits de l'Algérie«, welche Major Loche mit rühmlichem Eifer zusammengebracht hatte. Die Sammlung hatte sich bereits so vielverheißend entwickelt, daß die 1881 in Algier tagende Association française einstimmig vorschlug, die reichhaltige Privatsammlung in ein Staatsmuseum zu verwandeln. Die Regierung hat indessen diesen zweckmäßigen Vorschlag nicht angenommen und die zur Ausführung nötigen Mittel nicht bewilligt. Ein Teil der kostbaren Sammlungen (insbesondere der naturwissenschaftlichen) ist sogar öffentlich zu Spottpreisen versteigert worden. Die Bedürfnisse des Universitätsunterrichts werden bald genug die kostspielige Wiederanschaffung derselben nötig machen.

 

V

Wenn ich schließlich noch einiges über meine persönlichen Eindrücke, welche ich an den Hauptpunkten Algeriens empfangen habe, mitteilen darf, so muß ich zunächst bemerken, daß von den acht Wochen meines dortigen Aufenthaltes nur die Hälfte auf die Bereisung und Betrachtung des ganzen Landes verwendet werden konnte; die andere Hälfte war den speziellen wissenschaftlichen Zwecken meiner Reise gewidmet, Untersuchungen über Seetiere. Nachdem seit vierunddreißig Jahren die Tierwelt des Mittelmeeres zum Lieblingsobjekte meiner zoologischen Forschungen geworden war, und ich an den verschiedensten Küsten desselben die Lebensverhältnisse der Fauna – und speziell die pelagische Tierwelt des »Plankton« studiert hatte, war es seit Jahren mein Wunsch, auch die letzte größere, mir noch unbekannte Strecke, die berberische Küste von Oran bis Tunis kennen zu lernen. Obgleich ich mit der Ungunst des Wetters in diesem Jahre (besonders im März) viel zu kämpfen hatte, konnte ich doch einen Teil der gewünschten Untersuchungen anstellen, besonders während meines längeren Aufenthaltes in Oran.

Oran, die Hauptstadt der gleichnamigen Westprovinz, zählt heute bereits 70 000 Einwohner, und hat sich in den sechzig Jahren der französischen Herrschaft zu solcher Blüte entwickelt, daß es nächst Algier die bedeutendste Handelsstadt von ganz Algerien geworden ist. Unter der europäischen Bevölkerung sind nur 15 000 Franzosen, dagegen doppelt so viel Spanier. Fast drei Jahrhunderte hindurch, von 1509, bis 1792, stand Oran unter spanischer Herrschaft und unterhielt den lebhaftesten Verkehr mit dem nahen Mutterlande, insbesondere mit dem nordwärts nächstgelegenen Karthagena. Auch heute noch geht der Haupthandel über Karthagena, und auch heute noch sind die Spuren des überwiegenden spanischen Einflusses überall sichtbar. Indessen wird die Hoffnung der Spanier, dereinst Oran zugleich mit der benachbarten Nordküste von Marokko wiederzugewinnen, hier im Westen Algeriens wohl ebenso vergeblich sein wie im Osten die Hoffnung der Italiener, den Franzosen noch in letzter Stunde Tunis entreißen zu können.

Die Lage von Oran ist ähnlich derjenigen von Algier, wenn auch die Umgebung bei weitem nicht so schön ist. Der größte Teil der Stadt bildet ein Amphitheater, das vom Meere an ziemlich steil zu den Felsenhügeln des Sahel emporsteigt. Ein tiefer Einschnitt scheidet die europäische Stadt in zwei Teile, das westliche, ältere und winklig gebaute spanische Viertel, und das östliche, moderne und elegante französische Viertel, mit prächtigen Boulevards, schönen Plätzen und glänzenden Ladenreihen. Im Süden, auf der Hochebene über der Europäerstadt, schließt sich das Araberviertel an, mit achttausend Eingeborenen, unter denen sich zahlreiche Neger befinden (daher »Village nègre« genannt); eine fremde Welt, voll der seltsamsten Figuren und Szenen, deren Anblick besonders abends höchst interessant ist. Im Osten von Oran ziehen sich über dem steil abfallenden Rande der Felsenküste ausgedehnte, gut kultivierte grüne Flächen hin; hier liegen zahlreiche elegante Landhäuser von schönen Gärten umgeben (besonders in der Vorstadt Gambetta). Im Westen hingegen erhebt sich, steiler aufsteigend, bis zu fünfhundert Meter, unmittelbar über der Stadt, der langgestreckte Sahelrücken des Djebel-Mourdjadjo, dicht mit Strandkieferwald bedeckt (Pinus maritima). Seine vorspringenden Gipfel bieten herrliche Aussichtspunkte, so von den Ruinen des früher erwähnten Fort Santa Cruz, von der kleinen darunter gelegenen Votivkapelle, deren Turm eine Madonna trägt; besonders aber von der höher gelegenen arabischen Wallfahrtskapelle, der Koubba Abd-el-Kader. Bei klarem Wetter erkennt man hier über dem blauen Meeresspiegel nordwärts einen schmalen Landstrich, die gegenüberliegende Küste Spaniens bei Karthagena. Im Westen zieht sich die felsige Küste in weitem Bogen nach Kap Falkon hin. Südwärts schimmert das breite Silberbecken des Schott-Sebkha, eines großen Salzsees. Im Osten aber fesselt das Auge der schöne, dem Vesuv verglichene Doppelgipfel des Löwenberges; in seinen Schluchten sammelte der berühmte Löwenjäger Gérard seine Lorbeeren. Jetzt sind aus diesem Sahelgebirge, wie aus allen anderen von der Eisenbahn durchschnittenen Gegenden Algeriens die früher so häufigen Löwen gänzlich verdrängt, und wenn man ja irgendwo einem Löwen noch begegnen sollte, so könnte es nur ein blinder oder Menagerielöwe sein, wie ihn Alphonse Daudet in seinem berühmten »Tartarin de Tarascon« so trefflich geschildert hat.

Der interessanteste, obwohl bisher wenig besuchte Punkt der Provinz Oran ist Tlemcen, die alte marokkanische Königsstadt. Seitdem vor kurzem die Eisenbahn von Oran nach Tlemcen vollendet worden ist (über St. Barbe du Tlelat und Sidi Bel-Abbés) erreicht man dasselbe sehr bequem in sieben Stunden. Tlemcen ist nur wenige Meilen von der marokkanischen Grenze entfernt und soll demnächst mit dem jenseits gelegenen Orte Oudjida durch einen Schienenstrang verbunden werden. Seine herrliche Lage, die üppige Fruchtbarkeit seiner wasserreichen Gefilde, die günstigen Verbindungen nach allen Richtungen hin, sichern der alten Hauptstadt des » Maghreb«, des arabischen Westens, eine blühende Zukunft, wenn sie auch den früheren Glanz nicht wieder erreichen wird. Seine höchste Blüte, von der Mitte des vierzehnten bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, entwickelte sich unter der Herrschaft der Abd-el-Quaditen. Die glänzende Chalifenstadt hatte damals 125 000 Einwohner, unterhielt einen lebhaften Handelsverkehr mit den meisten großen Häfen des Mittelmeeres, war blühender Sitz der Künste und Wissenschaften, und beherrschte ein Gebiet, das außer einem großen Teile von Marokko die heutigen Provinzen Oran und Algier umfaßte.

Obgleich die meisten Denkmäler dieses früheren Glanzes in den nachfolgenden Kriegen zerstört wurden, können wir doch aus den wenigen Überresten auf die Höhe der entschwundenen Pracht schließen. Da sind vor allem in der Stadt selbst und in ihrer Umgebung die herrlichen Monumente arabischer Baukunst und Skulptur, zahlreiche Moscheen mit schlanken Minarets und reich verzierten Kuppeln und Türmen. Die feine Ausführung ihrer Marmorskulpturen, die unerschöpflich reiche Phantasie in der Komposition ihrer Arabesken, das feine Ebenmaß der Verhältnisse läßt diese Bauwerke mit dem Schönsten vergleichen, was die maurische Baukunst in den berühmten Moscheen und Grabdenkmälern von Ägypten und Damaskus, in Konstantinopel und der Alhambra hervorgebracht hat; in Nordwestafrika können nur noch die Deypaläste in Algier und Tunis damit verglichen werden. Die zierlichen Säulen von durchscheinendem Marmor (Onyx), der reiche und unendlich mannigfaltige Schmuck ihrer Kapitäle, die zierlich durchbrochene Gitterskulptur der Fensterbogen, der phantasiereiche Deckenschmuck der Gewölbe, alles das ist von hoher Vollendung. Unter den zahlreichen Moscheen in der Stadt selbst findet man die vollendetste Schönheit in der kleinen Djama Abou l'Hassan; weiterhin in der Djama Sidi El Haloui; die Krone von allem aber ist die herrliche Moschee Sidi-Bou-Medin, zwei Kilometer entfernt im Südosten auf der Bergeshöhe des Dorfes El-Eubbad prachtvoll gelegen.

Wie durch diese Perlen maurischer Baukunst, so wurde ich auch durch die herrliche Lage und Umgebung vielfach an Granada in Spanien, an Brussa in Kleinasien erinnert; man könnte Tlemcen das algerische und Brussa das bithynische Granada nennen. Stolze, kühn geformte Gebirge erheben sich ostwärts über den grünen quellenreichen Hügeln, an deren Fuß die Stadt sich ausbreitet. Rings umgibt sie ein reicher Kranz der üppigsten Gärten. Weithin schweift der Blick nach Süden und Westen über die weite fruchtbare Ebene, die sich unterhalb der höher gelegenen Stadt ausbreitet; am Horizont begrenzt von der langen gipfelreichen Kette der marokkanischen Grenzgebirge. Die üppige Vegetation der Vegagleichen Fruchtebene zeigt, was der Boden unter diesem herrlichen Klima bei genügendem Wasserreichtum hervorbringen kann.

Eine höchst lohnende Wanderung unternahm ich von Tlemcen aus am 24. März, einem sonnigen Frühlingstage. Ein niedlicher kleiner Araber von zehn Jahren, voll naiven Kinderverstandes, trug meine Wandertasche mit dem Proviant und Aquarellgeräte. Durch das Tor von Fez, an der Südwestecke der Stadt austretend, gelangte ich bald zu einem schönen maurischen Torbogen von zehn Meter Höhe, vier Meter Tiefe, dem Bab-el-Khremis, und von da zu den ausgedehnten Ruinen der »Siegesstadt«, El Mansurah. Von dieser fast ganz verschwundenen Schwesterstadt von Tlemcen, im vierzehnten Jahrhundert ihrer gefährlichen Nebenbuhlerin, sind heute nur noch die Ruinen der mächtigen Umfassungsmauer übrig, mit zahlreichen viereckigen Türmen und mit einem Flächenraum von hundert Hektaren; ferner die rechteckige Ringmauer einer großartigen Moschee, hundert Meter lang und sechzig breit, und darüber ein viereckiges, reichverziertes Minaret von vierzig Meter Höhe. Oberhalb el Mansurah steigen felsige Höhen auf, über welche Wasserfälle herabstürzen. An denselben hinauf klimmend, gelangte ich auf eine weidereiche Hochebene, auf der arabische Hirtinnen ihre Herden weideten, und weiterhin zu einer merkwürdigen Wallfahrtskapelle, dem Marabou de Lella Setti. Aus weiter Entfernung pilgern hierher die arabischen Frauen, welche von Allah (durch Vermittlung des Heiligen Lella Setti) Kindersegen erflehen wollen. Ein stattlicher schöner Araber, der hier seit Jahren als Stellvertreter des Heiligen fungiert, versicherte mir in gutem Französisch, daß die Wallfahrt meistens ihre Frucht trage. Er gestattete den Zutritt zu der Kapelle, in welcher gerade ein Dutzend buntgeschmückte Pilgerinnen Kaffee und Süßigkeiten in sehr heiterer Stimmung verzehrten.

Von der Höhe dieser weithin sichtbaren Kapelle beherrscht der Blick den ganzen weiten Talgrund von Tlemcen, rings umschlossen von der blauen Kette der schöngeformten marokkanischen Grenzgebirge. Eine wechselnde Reihe herrlicher Ansichten erfreut das Auge des Wanderers, wenn er von hier nordwärts geht, die Schluchten des eingeschnittenen Plateaus durchkreuzt und seine Wanderung bis zu der prächtigen Moschee von Sidi-Bou-Medin fortsetzt.

Die Hauptstadt Algier, der Sitz des Gouverneurs und der obersten Regierungsbehörden der Kolonie, mit 75 000 Einwohnern (davon der dritte Teil Franzosen) ist so oft beschrieben und gepriesen, und nach ihrer Bedeutung als natürliche Metropole der Kolonie gewürdigt worden, daß ich hier nichts weiter hinzuzufügen brauche. Es genügt, an die großartigen oben erwähnten Veränderungen zu erinnern, welche die glänzende Hauptstadt der Berberei während der sechzig Jahre französischer Herrschaft erfahren hat. Wenn auch die großen Hafen- und Handelsstädte der beiden anderen Provinzen, Oran im Westen und Bona im Osten, manche einzelne Vorzüge vor Algier besitzen, so wird das letztere, gleich weit von beiden entfernt und in der Mitte der algerischen Küste gelegen, doch seinen natürlichen Vorrang dauernd behaupten. In bezug auf die glanzvolle Entwicklung des europäischen Kulturlebens innerhalb der Stadt, des Handelsverkehrs in ihrem Hafen, der herrlichen Villen in ihrer gartengleichen, mit der üppigsten Vegetation geschmückten Umgebung, übertrifft Algier alle anderen Städte in Nordwestafrika. Der europäische Besuch nimmt alljährlich in großem Maßstabe zu, umsomehr als sein Ruf als klimatischer Kurort steigt.

Siehe Bildunterschrift

Oase Sidi Okkab bei Biskra

Da das Leben in den reizenden Vorstädten von Algier ebenso angenehm, komfortabel und billig, wie in einer größeren Stadt Frankreichs ist, haben neuerdings viele Europäer, namentlich Engländer, die ihre Renten in behaglicher Muße, im Genüsse des herrlichen Mittelmeerklima angenehm verzehren wollen, sich dauernd hier niedergelassen. Auch an geselligem Verkehr mit gebildeten Europäern verschiedener Nationen fehlt es nicht. Die schönen Tage, welche ich in Algier, dank der unübertrefflichen Gastfreundschaft des deutschen Konsuls Dr. Galli und seiner liebenswürdigen Familie, in dessen Hause verleben durfte, gehören zu den angenehmsten Erinnerungen meiner algerischen Reise. Sie wurden noch besonders gewürzt durch den freundschaftlichen Verkehr mit Freiherrn von Soden, dem ausgezeichneten und verdienstvollen Gouverneur unserer hoffnungsvollen deutschen Kolonie Kamerun; auf der Rückreise von Kamerun nach Berlin hielt er sich einige Wochen in Algier auf, wo er selbst früher als deutscher Konsul fungiert hatte.

Von Algier hatte ich beabsichtigt, über Tizi-Ouzou nach Fort National zu gehen und von dort zu Maultier durch das wilde malerische Felsengebirge der großen Kabylie nach Bougie zu reisen, dann durch die berühmte, der Via mala ähnliche Felsenschlucht Chabet el Akra (»die Schlucht des Todes«) nach Sétif. Indessen wurden diese und einige andere Exkursionen (namentlich auch der Ausflug in die Zedernwälder von Teniet el Had) durch das ausnehmend schlechte Wetter des März vereitelt. Schon oft hatte ich die Erfahrung gemacht, daß der März am Mittelmeer zu den schlechtesten Monaten gehört, kälter und regenreicher als der Dezember und Januar ist. Aber ein so schauderhafter März, wie der diesjährige, war »seit Menschengedenken« nicht dagewesen; so wurde mir wenigstens allenthalben versichert. Sowohl in Algier als in Oran betrug die Temperatur im Zimmer nur 10–12° C, draußen am Morgen nur 4–6°; Sonnenschein war selten; Regengüsse von tropischer Heftigkeit waren aber um so häufiger. Auf dem Mittelmeere wüteten solche heftige Äquinoktialstürme, daß fast täglich Hiobsposten von verunglückten oder beschädigten Schiffen einliefen. Großartig war das Schauspiel der schäumenden Brandung, die sowohl in Oran als in Algier tagelang unter donnerndem Getöse die hohen Mauern der Kais und Molen überflutete. In den letzten Märzwochen hatten die andauernden Regengüsse solche Wasserfluten und mitgerissene Erdmassen vom Atlas herabgeführt, daß die Eisenbahnen an mehreren Strecken tagelang unterbrochen waren.

Als ich am 1. April nach dankbarem Abschiede von meinen lieben deutschen Gastfreunden Algier verließ, um ohne Unterbrechung ostwärts bis Sétif zu fahren, waren die Nachwirkungen jenes Unwetters und die dadurch bedingten Verkehrsstörungen noch allenthalben sichtbar: Umgerissene Telegraphenstangen und Bäume, durchbrochene Mauern und Brücken, eingestürzte Hütten und Häuser, überflutete Gärten und Felder zeugten von der Wut des Orkans und der herabgeschwemmten Gebirgsmassen. Auf langen Strecken waren Hunderte von kabylischen Arbeitern beschäftigt, um den Bahndamm wieder in Ordnung zu bringen, zu dessen Seiten hohe Erd- und Steinhaufen lagen; über ein Dutzend größerer Bergstürze, mit allen Wirkungen ihrer mächtigen Zerstörungskraft, konnte ich bewundern. Eine besondere Überraschung wurde uns aber in der Nähe von Palestro zuteil, der italienischen Kolonie traurigen Angedenkens, deren europäische Bewohner bei dem großen Araberaufstände 1871 von den Eingeborenen in grausamer und verräterischer Weise niedergemetzelt wurden. In einem der vielen Tunnels, welche hier die zerklüfteten Gebirgsketten des Djurdjura durchbrechen, hielt plötzlich der Zug unter lautem Pfeifen an. Die Kupeetüren wurden aufgerissen, und eine Horde von zerlumpten Kabylen stürzte in die Kupees hinein, um sich unseres Gepäcks zu bemächtigen. Im ersten Augenblick glaubten wir nicht anders, als daß ein räuberischer Überfall der Araber unsere abenteuerliche Fahrt unterbreche; einige französische Damen fingen laut an um Hilfe zu rufen, während andere in Ohnmacht sanken. Indessen klärte sich der Überfall bald sehr harmlos auf. Da die Bahnstrecke mitten im Tunnel unterbrochen war, wollten die biederen Kabylen bloß unser Gepäck bis zum Ende desselben hinaustragen; wir selbst mußten aussteigen und eine längere Strecke in dem schlecht beleuchteten Tunnel durch Wasser waten. Am Ausgang desselben stand ein anderer Zug bereit, der uns zur Weiterfahrt aufnahm; doch dauerte es über eine Stunde, bis die Umladung des ganzen Gepäcks bewerkstelligt war. Übrigens war uns diese Unterbrechung sehr angenehm; denn sie gab uns Gelegenheit, die wilde Szenerie des berühmten Engpasses, Gorges de Palestro zu bewundern. Tief unten braust, zwischen hohen Felsenmauern eingeschlossen, der schäumende Fluß Isser, während die Eisenbahn hoch oben das wilde Gebirge durchschneidet, vielfach durch Tunnels und über hohe Viadukte sich windend.

Fünf Stunden später, zwischen El Achir und Bordj, abermalige Unterbrechung; der Zug hält mitten in der öden weiten Steppe, und wir müssen nochmals umsteigen. Der vorhergehende Zug (den ich ursprünglich am letzten März hatte benutzen wollen), war an einer Kurve entgleist und den Bahndamm hinabgestürzt; unten lagen am Fuße desselben die umgestürzte Lokomotive mit Tender und Packwagen, oben quer über dem Bahndamm mehrere zertrümmerte Passagierwagen. Außer einigen mehr oder minder schwer verletzten Personen waren die meisten Passagiere mit dem Schreck davongekommen. Doch hatte eine englische Familie in einem auf den Kopf gestellten Kupee erster Klasse mehrere Stunden aushalten müssen, ehe es gelang, sie zwischen den ineinander geschobenen Trümmern herauszuholen. Das Umsteigen und Umladen in einen dritten, jenseits der unterbrochenen Stelle bereitstehenden Zug erforderte wiederum über eine Stunde. Ich benützte dieselbe zur Aufnahme mehrerer Skizzen von den hohen Schneegipfeln des Djurdjura, sowie von einigen Araberzelten, die mitten in der einsamen Steppe die einzigen menschlichen Bewohner verrieten. In diesem Teile waren große Strecken fruchtbaren Landes noch gar nicht bebaut. Wir fuhren stundenlang durch ödes Heideland. Mit vier Stunden Verspätung erreichten wir erst am späten Abend Sétif, die erste größere Stadt der Provinz Konstantine.

 

VI

Je weiter man in Algerien von Westen nach Osten vordringt, desto interessanter wird das Land, desto mannigfaltiger die Landschaft, desto orientalischer der Charakter ihrer Bewohner. Die Reise durch die Provinz Konstantine bereicherte mich mit einer Fülle von merkwürdigen Eindrücken. Da ist zuerst die stolze Festung Konstantine selbst, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, berühmt durch ihre großartige feste Lage, mit 45 000 Einwohnern (davon kaum der vierte Teil Franzosen). Der wilde Rumelfluß, von Süden aus dem Atlas herabkommend, hat sich auf dem steil abfallenden Felsplateau, an dessen Rande Konstantine thront, in harter Arbeit von Millionen Jahren ein tiefes Bett eingegraben, dergestalt, daß er fast hufeisenförmig den östlichen und nördlichen Umfang des viereckigen Plateaus umfaßt. Dieses stürzt beinahe senkrecht in die wilde vom Flusse ausgegrabene Schlucht ab, in einer Höhe von mehr als hundert Meter. Tief unten schäumt der tobende Fluß über Steinblöcke, geht dreimal unter natürlichen Felsenbrücken hindurch und stürzt dann, vor der Nordecke der Stadt, in einer Reihe von staffelförmig übereinander gebauten Wasserfällen in die fruchtbare Ebene. Enthält der Fluß infolge anhaltender Regengüsse – wie es gerade jetzt der Fall war – sehr viel Wasser, so bieten diese Kaskaden, unmittelbar an der Seite und am Fuße der ansehnlichen, sie hoch überragenden Stadt, in der Tat ein großartiges Schauspiel. Zahlreiche Geier, Falken und Raben schweben über der Schlucht und nähren sich von den Abfällen der Gerbereien, die oben an ihrem Rande im arabischen Viertel angebaut sind. Die schönste Übersicht über die herrliche Lage von Konstantine (ähnlich der von Ronda in Andalusien), über die waldigen Gebirge an ihrer Ostseite und die weite Ebene an ihrem westlichen Fuße, genießt man oberhalb des großen Hospitals, welches sich im Nordosten jenseits der Rumelschlucht erhebt.

Halbwegs zwischen Konstantine und Biskra, an der südostwärts führenden Eisenbahn liegt Batna, am nördlichen Fuße des wilden Auresgebirges. Die waldigen Gipfel des letzteren steigen in den nahen, nur zehn Kilometer westlich entfernten Zedernpik zu 2100 Meter empor. Noch höher (über 2300 Meter) erhebt sich ostwärts, in einer Entfernung von fünfzig Kilometer der Scheliagipfel. Die schönen Wälder dieser einsamen, früher von zahlreichen Löwen und heute noch von Panthern bewohnten Gebirge bestehen größtenteils aus Eichen und Zedern; unter letzteren sind uralte Baumriesen mit mächtigen breiten Schirmdächern, die sicherlich mehrere Jahrhunderte zählen. Prachtvoll ist die Aussicht vom Gipfel des Zedernpik, eine der schönsten in ganz Algerien. Wie auf einer Relieflandkarte liegt die ganze Provinz Konstantine zu Füßen; im Osten die dunkeln, reihenweis übereinander sich auftürmenden Waldgebirge des Aures, in Westen gegenüber die weite Hodnaebene, und jenseits derselben die Bergketten von Hodna, Biban und Djurdjura; während der Blick nordwärts bis zum blauen Mittelmeer schweift, umfaßt er südwärts das gelbe Sandmeer der Sahara; wie grüne Inseln tauchen aus derselben die Oasen des Siban hervor. Die Pyramide des Zedernpik ist zugleich Markstein und Wasserscheide zwischen Eurasien und Indoafrika; an seiner Nordseite fließen die Bäche dem Rumelfluß zu, und mit diesem zum Mittelmeer; an der Südseite eilen die Abflüsse dem El-Kantarahbache zu, und mit diesem in das Sandmeer der Sahara.

Wenn einerseits der Besuch des wilden Auresgebirges, und vor allem des nahen Zedernpik, einen Aufenthalt von einigen Tagen in Batna reichlich lohnt, so tun dies andererseits nicht minder die nahen Exkursionen nach den großartigen Ruinen der alten Römerstädte Lambessa und Timgad. Ein Omnibus fährt in einer Stunde nach dem nur elf Kilometer entfernten Lambessa, unter Cäsar Augustus die Lagerstadt der dritten Legion, Lambaesis. Das stattliche Prätorium derselben ist noch gut erhalten, teilweise auch mehrere Tore und Triumphbogen; aus den Trümmern des Forum, mehrerer Tempel und Amphitheater, Säulenhallen und-Thermen kann man auf den früheren Glanz der alten Römerstadt schließen. Noch viel großartiger und besser erhalten sind jedoch die römischen Ruinen von Timgad (Thamugas); sie liegen siebenunddreißig Kilometer von Batna entfernt. Man kann die Exkursion dahin, die ich leider wegen der Kürze der Zeit nicht ausführen konnte, mit Wagen, trotz des schlechten Weges, in einem Tage hin und zurück machen; sie soll sehr lohnend sein.

Die Eisenbahn, welche jetzt in zehn Stunden von Konstantine über Batna nach Biskra führt, gestattet in kürzester Zeit und größter Bequemlichkeit einen Besuch der Sahara. Die meisten Reisenden führen denselben direkt aus, ohne sich auf einer Zwischenstation aufzuhalten, und doch ist ein Besuch von El Kantarah, halbwegs zwischen Batna und Biskra, nicht weniger interessant und lohnend, als derjenige der beiden letztgenannten Orte. El Kantarah, d.h. »die Brücke«, führt diesen Namen von einer alten Römerbrücke, in dem wilden Engpaß, welcher aus dem öden Grenzgebirge in die Sahara führt. Hier war der » Calceus Herculis« der alten Römer, durch welchen die berühmte dritte Legion bis zur Wüste vordrang. Heute windet sich durch dasselbe enge Felsentor, oberhalb der alten Römerstraße, und hoch über dem Flusse, die Eisenbahn nach Biskra. Diesseits liegt nahe dem kleinen Bahnhofe ein einsames Wirtshaus, das nebst einem Militär- und Douaneposten hier allein die europäische Kultur vertritt. Ein hoher, zackig zerklüfteter und unübersteiglicher Felsenwall erhebt sich jenseits des schäumenden Flusses und schließt scheinbar den einsamen Felsenkessel von der Wüste ab. Erst wenn man vom Wirtshause die neue Straße zur Brücke hinabgeht, wird man überrascht durch die enge Spalte, durch die sich beide hindurchzwängen; die Araber nennen sie bezeichnend »Fum es Sahara«, den Mund der Wüste. In grellem Gegensatze zu der nackten Öde des ganzen Passes und der gelben Wüste, die sich hinter demselben ausbreitet, sowie dem roten Felsengebirge im fernen Hintergrunde, erscheint unmittelbar hinter dem Ausgang, in der Mitte des seltsamen afrikanischen Bildes eine dunkelgrüne, ringsum scharf abgesetzte Masse; es ist die erste Oase, zusammengesetzt aus zwanzig tausend dichtgedrängten Palmenbäumen, in deren Schatten drei verschiedene Dörfer liegen.

Die Lage dieser Oasendörfer zu beiden Seiten des steil abfallenden Flußufers, umschlossen von dem grünen Kranze der Dattelpalmen und überragt von den steil aufsteigenden Felsenmauern ist ebenso malerisch als fremdartig; nicht minder der Blick von Süden auf den engen Felsenspalt des »Mundes der Wüste«. Ebenso bietet das Innere der Dörfer mit ihren elenden Lehmhütten und den originellen Familienbildern der Oasenbewohner dem Maler eine Fülle von interessanten Motiven. In dem einsamen kleinen Wirtshause von Madame Bertrand waren auch keine anderen Gäste als zwei Maler, ein Pole und ein Schweizer, sowie eine französische Malerin, die mit ihnen um die Wette Skizzen sammelte. Ich trat als vierter in den Bund und verlebte mit den Künstlern einen sehr vergnügten Abend – eine frohe Erinnerung an die vielen schönen Stunden, die ich früher in den »Deutschen Künstlerkneipen« Italiens genossen hatte. Aus dem polnischen Künstler, Herrn Orzeszko, entpuppte sich im Laufe des Gespräches ein eifriger Naturfreund, begeistert für die Fortschritte der neueren Naturwissenschaft und insbesondere der Entwicklungslehre. Mit Bezug auf letztere empfahl er mir dringend, eine gewisse »Natürliche Schöpfungsgeschichte« zu lesen, und war dann nicht wenig erfreut, als ich ihm später den Verfasser derselben leibhaftig vorstellte. Man kann sich denken, wie diese zufällige Begegnung im »Munde der Wüste« meine Autoreneitelkeit schmeichelte, und vielleicht ist dies mit der Grund, daß mir El Kantarah in so freundlicher Erinnerung blieb.

Ein anderer Grund war aber ein Bild, zu dem mich Herr Orzeszko am anderen Morgen führte, und das mir unter den zahlreichen, auf dieser algerischen Reise gesammelten Bildern als eines der originellsten ganz besonderen Genuß verschaffte. Am südlichen Ende des Dorfes tritt aus der Oase ein Bach heraus, der sich bald darauf in den Fluß ergießt. Über dem felsigen Bachufer erheben sich rechts die dichten grünen Massen der Palmen, links ein Hügel mit den letzten Hütten des Dorfes; hoch darüber der rot schimmernde Felsenwall des Grenzgebirges. Der Weg, der zum Dorfe hinaufführte, war von einer Kamelkarawane belebt; in dem Bache aber tanzte ein Dutzend arabischer Frauen und Mädchen, umgeben von zahlreichen Kindern. Der Zweck des Tanzes war eigentlich sehr prosaisch, nämlich die Reinigung der Wäsche. Wie an vielen anderen Orten Algeriens, so waschen auch hier die Eingeborenen nicht mit den Händen und der Seife, sondern mit den Füßen und Steinen. Sie werfen die schmutzige Wäsche einfach in den Bach und trampeln mit den Füßen so lange auf derselben herum, bis sie weiß erscheint. Billiger ist diese Methode freilich als die Seife; ob auch besser für die Wäsche, möchte ich bezweifeln. Jedenfalls ist sie aber unterhaltender und lustiger. Die Berberdamen von El Kantarah – unverschleiert wie meistens die weiblichen Wüstenbewohnerinnen – führten dabei ihren Wäschetanz so regelrecht im Takte, und mit solcher natürlichen Grazie aus, daß wir nicht müde wurden, dem poetischen Schauspiel zuzusehen. Die bunte Kleidung war sehr malerisch; um sie nicht zu durchnässen, wurde sie beim Tanze so weit aufgenommen, daß man die schöne Form der braunen Glieder unverhüllt bewundern konnte. Auch die Gesichter der Mädchen und der jüngeren Frauen waren zum Teil von origineller Schönheit, echte Wüstentypen. Dabei war das Benehmen der tanzenden Schönen einerseits so unbefangen und naiv, andererseits so dezent und maßvoll, daß dem Künstlerauge inmitten der großartigen Oasenlandschaft diese Staffage von unübertrefflichem poetischen Reize erschien. Man sah, daß nur selten ein Europäer sich in diesen abgelegenen Oasenwinkel verirrte. Wie abschreckend häßlich sind dagegen die sogenannten »Tänze«, welche die arabischen Damen in Biskra und anderen Orten Algeriens den Fremden gegen Bezahlung zum Besten geben!

Biskra selbst, die zweite Oase, wird neuerdings viel besucht. Dieses »Paris der Sahara«, mit 8000 Einwohnern (darunter 500 Franzosen), liegt bereits mitten in der eigentlichen Wüste; ihre weite nackte Ebene dehnt sich nach Süden, Osten und Westen unbegrenzt bis zum geradlinigen Horizont aus. Im Norden hingegen erhebt sich über der Wüste die lange Gipfelkette des hohen Auresatlas. Ihre zerklüfteten rosig schimmernden Gipfel, mit den blauen Schatten der Klüfte, gewähren bei Sonnenuntergang ein entzückendes Schauspiel. Sie heißen mit Recht »das Rosenwangengebirge«. Nach Osten schließen sich die niedrigen Berge der Sibankette an. Der Fluß, welcher bei El Kantarah aus dem Gebirge tritt und der Oase Biskra noch reichlich Wasser liefert, verliert sich weiterhin, gleich vielen anderen vom Atlas herabkommenden Flüssen, im Sande der Wüste. Seine Gewässer tragen zur Füllung des unterirdischen Netzes von Wasseradern bei, welches die Schotts der Wüste speist. Neuerdings sind aus diesem ausgedehnten Kanalnetze durch Bohrung zahlreiche artesische Brunnen gewonnen worden: Quellen für die Anlage neuer Oasen und große Wohltaten für die Wüstenbewohner. Die unterirdischen Wasserbecken sind von kleinen Fischen bewohnt (Cyprinodonten); ich sah mehrere Arten derselben in Batna, in der Sammlung des verdienstvollen Ingenieurs Jus, der mehrere Hundert artesische Brunnen gebohrt hat.

Das europäische Biskra besteht eigentlich nur aus einer großen Straße, vor der ein schöner öffentlicher Garten liegt. Die übrige Stadt ist ganz arabisch. Die charakteristische Physiognomie der Sahara-Oasen findet man aber erst in dem nahen Dorfe Alt-Biskra, dessen Lehmhütten mitten im Palmenhaine der Oase zerstreut liegen; diese besteht aus 140 000 Dattelpalmen und 6000 Oliven. Außerhalb der Stadt, unweit des Flusses, Hegt ein herrlicher Garten, dem vielgereisten Herrn Landon gehörig; hier kann man deutlich erkennen, welche Fülle der schönsten Tropenpflanzen der Boden der Sahara bei genügender Bewässerung und sorgfältiger Pflege hervorzubringen vermag. In den kühlen Schatten dieses einsamen Bambusen- und Palmenhaines, der direkt aus Indien nach der Sahara durch Zauber versetzt zu sein scheint, zieht sich Herr Landon mit Vorliebe zurück, wenn er aus fernen Weltteilen in seine Oase zurückkehrt.

Zwanzig Kilometer südöstlich von Biskra liegt eine dritte Oase, Sidi-Okba, hochverehrt von den Arabern als religiöser Vorort des Siban. In der Moschee, dem ältesten Denkmal des Islam in Algerien, findet sich das Grabmal des Heiligen Sidi-Okba. Ich besuchte diese Oase mit zwei liebenswürdigen Franzosen, in deren Gesellschaft ich mehrere Tage reiste, Professor Faure aus Bordeaux und Dr. Laianne aus Lateste. Diese Herren hatten eine Empfehlung an den angesehenen Scheich der Oase; er empfing uns mit arabischer Höflichkeit, bewirtete uns in seinem Garten, am Ufer des Oasenbaches, mit Erfrischungen, und geleitete uns dann in die Moschee. Von dem Minaret derselben hatten wir eine gute Übersicht über die ganze Oase, über den grünen Palmengürtel, der das Dorf einschließt, und die Sahara, die sich endlos jenseits ausbreitet. Im Norden gibt auch hier das gipfelreiche Auresgebirge dem Wüstenbilde einen eigenartigen Abschluß.

Einer der interessantesten Punkte in Algerien, und für den Geologen wohl der merkwürdigste von allen, ist Hammam-Meskutine, »das Bad der Verfluchten«. Dieses Thermalbad liegt in der Nähe von Guelma, an der Eisenbahn von Konstantine nach Bona, ungefähr halbwegs zwischen beiden Orten. Die heißen Quellen desselben sind so mächtig, daß sie in jeder Minute über hunderttausend Liter kochendes Wasser liefern. Dichte Dampfwolken verraten die zahlreichen Stellen, an denen das Mineralwasser aus einem siebförmig durchlöcherten Felsengrunde hervorsprudelt, entlang einer Erdspalte von zwei Kilometer Länge. Der hohle Erdboden, mit großen unterirdischen Grotten, tönt an vielen Stellen unter dem Tritte des Wanderers; eine von diesen Grotten ist leicht zugänglich; sie enthält einen kleinen Teich und ist mit zahlreichen Stalaktiten geschmückt. Das Merkwürdigste in Hammam-Meskutine ist aber der » versteinerte Wasserfall«. Das kochende Wasser, welches viel Kalk gelöst enthält, setzt sich beim Erkalten ab, und so hat sich an einer Stelle, wo die Thermalwasser über eine breite Felsenwand in ein kleines Tal herabstürzen, eine Kaskade von Travertin gebildet, im eigentlichsten Sinne des Wortes »ein versteinerter Wasserfall«. Die dampfende Wassermenge, welche über seine gewölbten Absturzflächen hinabrieselt, ist nicht bedeutend; aber im Laufe der Jahrtausende hat sie so viel kohlensauren Kalk abgesetzt, daß daraus eine stattliche, in Staffeln abgeteilte Felsenbank von zwanzig Meter Höhe und der doppelten Breite entstanden ist, ähnlich den berühmten Sinterbänken von Pambuck-Kalessi in Kleinasien, von Rotomahana in Neuseeland und von Yellow-Stone in Kalifornien. Die phantastischen Formen der versteinerten Wasserschleier und tafelartigen Stalaktiten, ihre glänzend weiße Farbe (an einigen Stellen durch Eisen orangegelb und rot gefärbt), der Kontrast zu der grünen Gebüschumrahmung, und die darüber emporsteigenden Dampfwolken, geben der ganzen Szenerie ein höchst abenteuerliches Aussehen.

Nicht minder seltsam ist der Anblick von zahlreichen weißen Steinkegeln, die sich oberhalb des versteinerten Wasserfalles auf einem grünen kleinen Plateau erheben. Diese Kegel, über hundert an Zahl, von zwei bis fünf Meter Höhe, sehen fast wie Termitenhaufen aus; sie sind dadurch entstanden, daß das kochende Wasser unmittelbar um seine Austrittsstelle einen ringförmigen Travertinabsatz bildete, der im Laufe der Zeit immer höher und an der Basis breiter wurde. Die Araber, die den ganzen Ort mit abergläubischer Scheu meiden, halten diese Kegel für versteinerte Hochzeitsgäste. Ein reicher Scheik, welcher eine wunderschöne Schwester besaß und deren Besitz keinem andern Manne gönnte, wollte sie selbst heiraten. Allah aber, erzürnt über diese Verhöhnung des Sittengesetzes, verwandelte beim Hochzeitsmahle alle Teilnehmer desselben in Stein. Um Mitternacht gewinnen diese verzauberten Gestalten wieder Leben; der Neugierige aber, der an ihrem Feste teilnimmt, wird selbst in Stein verwandelt. Daher wagt es kein Araber, dieses »Bad der Verfluchten« in der Geisterstunde zu besuchen. Römische Mosaiken und Säulentrümmer beweisen, daß die »Aquae Tibilitanae« bereits von den alten Römern benutzt wurden. Später wurden sie gemieden, vielleicht auch weil das Klima nur im Winter gesund, im Sommer durch böse Fieber berüchtigt ist. Erst seit die Franzosen hier ein Militärhospital errichtet haben und besonders seit die Eisenbahn den Besuch erleichtert, hat sich derselbe wieder gehoben. Immerhin sind die Einrichtungen noch sehr primitiv, und die Ausnutzung der Thermalquellen, deren heilsame Wirkung namentlich bei Gicht und Rheumatismus gerühmt wird, entspricht nicht entfernt dem natürlichen Reichtum der Wassermenge.

Unter den zahlreichen Spuren, welche die Römerherrschaft in Algerien hinterlassen hat, sind wohl die interessantesten diejenigen von Tebessa, dem alten »Theveste«; dieselben sind in neuester Zeit durch eine Eisenbahn zugänglich gemacht, welche von der Bona-Tunis-Bahn südwärts geht und bei der Station Souk-Arras sich abzweigt. Man braucht sieben Stunden, um diese Strecke von 123 Kilometern zurückzulegen. Täglich geht nur ein Zug, und dieser führt gewöhnlich nur einen Passagierwagen, mit einem viersitzigen Kupee erster, einem achtsitzigen Kupee zweiter und einem größeren Kupee dritter Klasse. Als ich am 11. April diese Strecke befuhr, saßen in letzterem nur ein paar Araber. In ersterem fand ich als Reisebegleiter einen schweizer Touristen und zwei Engländerinnen. Die Bahn führt teils durch wilde Gebirgsschluchten, teils über öde Steppen, auf denen nur hier und da die Herden und Zelte von arabischen Nomaden sichtbar sind. Wenn auch heute noch der Verkehr auf der neuen Bahn sehr gering ist, so wird er doch voraussichtlich später wieder große Bedeutung gewinnen; denn Tebessa hat eine sehr günstige Lage am Fuße der östlichen Ausläufer des Auresgebirges. Von Süden her münden hier die Karawanenstraßen der östlichen Sahara. Die weiten Ebenen im Westen liefern große Mengen des besten Halfagrases. Im Osten ist die tunesische Grenze nur siebzehn Kilometer entfernt, und hier öffnet sich ein leichter Zugang in die Täler von Kairouan. Heute zählt Tebessa kaum viertausend Einwohner, und unter diesen befinden sich nur ein paar Hundert Franzosen. Wie ansehnlich die Bevölkerung während der römischen Herrschaft war, ergibt sich daraus, daß der alte Zirkus gegen siebentausend Zuschauer faßte.

Die meisten und besten römischen Baudenkmäler von Theveste stammen aus dem Anfang des dritten Jahrhunderts, aus der Regierungszeit des Septimius Severus. Eines der merkwürdigsten ist der Triumphbogen des Caracalla, unmittelbar vor dem Nordosttore der heutigen Stadt gelegen. Er zeigt dieselbe seltene Bauart, wie der berühmte Bogen des Janus quadrifrons in Rom, ist aber reicher verziert und besser erhalten; jede seiner vier Flächen hat einen besonderen Rundbogen von zierlichen Säulenpaaren getragen. Außer dieser beiden viermündigen Triumphbögen sind keine weiteren Beispiele dieses Typus bekannt. Wenn man vom Caracallabogen auf der Nordoststraße dreihundert Schritte weiter geht, kommt man zu den ausgedehnten Ruinen einer großen Basilika, mit schönen Mosaiken, eines Forum mit schlanken Säulenreihen, eines Tempels usw. An anderen Stellen des Stadtgebietes sind ein paar Dutzend Bäder, viele Türme, Trümmer von Palästen, Theatern usw. gefunden worden. Innerhalb der Stadtmauern, die aus schönen römischen Quaderblöcken erbaut sind, steht ein wohlerhaltener Minervatempel, der heute als katholische Kirche dient. Ein alter Römerturm ist in das Minaret der heutigen Moschee verwandelt.

Während uns die Ruinen von Tebessa noch lebhaft in die beste Epoche der römischen Kaiserzeit zurückversetzen, ist dagegen eine andere große Römerstadt Algeriens, Hippo Regius, fast vom Erdboden verschwunden. Nur eine mächtige Zisterne, eine halbe Stunde südlich vom heutigen Bona gelegen, und Ruinen einer alten Wasserleitung, sowie Säulenreste und Palasttrümmer in Weinbergen zerstreut, verraten noch die Stelle des fruchtbaren Küstenlandes, wo vor mehr als zweitausend Jahren die Phönizier Ubo gründeten. Später residierten hier, bis zum dritten punischen Kriege, die Könige der Massylier. Nach ihrer Unterwerfung erhob sich die Römerkolonie zu solcher Bedeutung, daß Hippo eine Zeitlang Karthago den Rang der mächtigsten Stadt in Nordafrika streitig machte. Eine kleine Statue des heiligen Augustinus, unmittelbar über der Zysterne, erinnert daran, daß dieser große Kirchenvater (der Lokalheilige von Bona) Hippo im Jahre 430 vierzehn Monate lang vergeblich gegen die Vandalen verteidigte. Was diese nach der Eroberung der Stadt noch übrig gelassen hatten, wurde 691 von den Arabern vollends zerstört.

Das heutige Bona, sehr anmutig am Fuße des hohen waldreichen Berges Edough gelegen, ist eine ganz moderne Stadt und gleicht viel mehr einer eleganten französischen Hafenstadt, als einem afrikanischen Barbareskenneste. Unter den dreißigtausend Einwohnern befinden sich kaum siebentausend Eingeborene, hingegen neuntausend Franzosen und zwölftausend andere Europäer, größtenteils Italiener. Auf dem Lande ringsum ist die italienische Bevölkerung noch mehr in der Überzahl; die meisten Bauern sind Kalabresen und Sizilianer. Wie im Westen Algeriens die spanische Nation, so tritt hier im Osten (ebenso wie in Tunis) die italienische in lebhafte Konkurrenz mit der zwischen ihnen seßhaften und herrschenden französischen. Die Sympathien zwischen diesen drei »lateinischen« Nationen sind keineswegs so natürlich und so lebhaft, wie man sie häufig in den Journalen, und ganz besonders in den französischen dargestellt findet. Vielmehr bedingt der »Kampf ums Dasein« zwischen ihnen eine natürliche Abneigung, die mir oft genug in Privatgesprächen mit Italienern und Spaniern in Form eines glühenden Hasses entgegengetreten ist. Unzweifelhaft wird derselbe noch früher oder später seine Wirkungen äußern, und in entscheidender Weise in dem immer näher rückenden Zeitpunkte, in welchem der große »Kampf ums Mittelmeer« die gegenwärtige politische Gruppierung seiner Küstenbewohner wohl gewaltig verändern wird.

Der mächtige Djebel Edough (oder »Mont Edour« der Franzosen), welcher unmittelbar über der Stadt Bona im Westen bis zu neunhundert Meter Höhe aufsteigt, ist noch heute zum größten Teile mit prächtigem Walde (hauptsächlich Korkeichen) bedeckt. Allerdings hat die überall zunehmende Waldverwüstung (eine der größten und verderblichsten Torheiten der modernen Kulturvölker) auch die langgestreckten Abhänge dieses stattlichen Bergrückens bereits eines großen Teiles seines berühmten Waldschmuckes beraubt. Aber immerhin ist noch genug übrig, um die zahlreichen Quellen zu unterhalten, welche auf seinem wolkensammelnden Haupte entspringen. Da außerdem der bei Bona in das Meer mündende Seybousefluß dem weiten Tal eine reiche Wassermenge zuführt, erfreut sich die Umgebung der Stadt der üppigsten Fruchtbarkeit. Die Gärten der zahlreichen schönen Landhäuser legen davon beredtes Zeugnis ab. Aber auch die Hügelketten in dem weiten Seybousetal, die fruchtbaren Ebenen zwischen dem Küstenlande und der weiter südlich aufsteigenden Atlaskette von Guelma und Nador, sind mit den herrlichsten Weinbergen, Gemüsegärten, Orangen- und Olivenwäldern bedeckt, so daß der Bezirk von Bona die bewunderungswürdige Ertragsfähigkeit des gut kultivierten algerischen Bodens in glänzendster Weise offenbart. Dazu kommt nun noch, daß der Hafen von Bona einer der besten am ganzen Mittelmeere ist. Die aufblühende Stadt verdient ihren Namen, die »Gute«, wirklich, und es ist nicht zu verwundern, daß die betriebsamen Bewohner derselben sich mit der Hoffnung tragen, dereinst den Glanz des alten Hippo wiederzugewinnen.

Einen überraschenden Einblick in die natürlichen Hilfsquellen dieses gesegneten Landes, in die paradiesische Fruchtbarkeit seiner Ebenen und den Wasserreichtum seiner waldigen Gebirge, gewährt die vierzehnstündige Eisenbahnfahrt von Bona nach Tunis. Es ist der Mühe wert, dieselbe nicht in einer Strecke zu fahren (wie gewöhnlich geschieht), sondern in Absätzen und mit Exkursionen in den üppigen Teil und den wilden Atlas. Auch in malerischer Beziehung ist diese Fahrt sehr lohnend, viel interessanter als die Reise durch das einförmige westliche Algerien. Anfangs geht die Bahn in gerader Linie südwärts von Bona bis Duvivier, immer durch das breite fruchtbare Tal des Seybouse, des ansehnlichsten Flusses in Algerien. In Duvivier gabelt sich die Eisenbahn; der eine Ast geht westwärts nach Guelma und Konstantine, der andere südöstlich nach Souk-Arras und dann ostwärts zur tunesischen Grenze bis Ghardimaou. Diese Strecke durchschneidet einen der interessantesten Teile des östlichen Tellatlas, erhebt sich steil ansteigend bis über siebenhundert Meter Höhe und bietet alle Reize einer malerischen Gebirgsbahn: zahlreiche Viadukte und Tunnels, überraschende Blicke in die reichen Flußtäler und die wilden Schluchten des Waldgebirges, auf fette Weidetriften und zackige Berggipfel. Von der tunesischen Grenze an, bei Ghardimaou, bleibt die Bahn größtenteils in dem fruchtbaren Tale des Medjerda und verläßt diesen Fluß erst hinter Tebourba, um in südöstlicher Richtung nach Tunis hinüber zu gehen. Die ausgedehnten Weinberge und Olivenwälder im Medjerdatal, die reichen Kornfelder in seinen Ebenen, die prächtigen Orangegärten in der Nähe seiner Städte und Dörfer beweisen, daß der Teil von Tunesien demjenigen von Algerien nicht nachsteht.

Unter allen Städten von orientalischem Charakter, welche die östlichen und südlichen Ufer des Mittelmeeres schmücken, ist Tunis gegenwärtig am meisten besucht und am leichtesten in kürzester Zeit zu erreichen. Sehr viele Italienfahrer, welche die hesperische Halbinsel durchzogen und zuletzt Sizilien besucht haben, machen hier einen Abstecher nach Tunis, in einer nächtlichen Dampferfahrt von zwölf Stunden bequem erreichbar. Sicher ist dieser Abschluß der italienischen Reise sehr lohnend. Denn wenn der Aufenthalt in Tunis auch nur wenige Tage dauert, so gibt er doch demjenigen Europäer, der den eigentlichen Orient noch nicht kennt, ein recht gutes Bild des farbenprächtigen orientalischen Lebens und Treibens; viel charakteristischer und unverfälschter als alle Städte Algeriens. Anders freilich für den Reisenden, der bereits Ägypten, Palästina, Syrien, Kleinasien oder Konstantinopel gesehen hat; dieser wird zwar auch in Tunis vielfach an jene echt orientalischen Märchenbilder erinnert werden, aber doch finden, daß der bezaubernde Glanz derselben nach Westen hin abnimmt und in Tunis schon mehr verwischt ist. Das gilt sowohl von den arabischen Bauwerken, den Moscheen und Palästen, als von dem bunten Treiben in den Straßen und Bazaren.

Eine besondere historische Weihe gibt dem Aufenthalte in Tunis natürlich der Gedanke, auf dem klassischen Boden von Karthago zu stehen. Das ausgedehnte Gebiet, auf dem die Straßen und Paläste der alten punischen Weltstadt sich ausbreiteten, ist acht Kilometer lang, halb so breit, und liegt zehn Kilometer in nordöstlicher Richtung vom heutigen Tunis entfernt, auf dem hügeligen Vorgebirge, dessen ostwärts vorspringende Spitze noch heute »Kap Karthago« heißt. Im Süden ist das Trümmerfeld der punischen Metropole durch den Bahirasee von Tunis getrennt, im Norden durch den See von Kamart, im Westen durch die Hügelkette Ariana begrenzt. Letztere trennt es vom Tale des Medjerdaflusses, jenseits dessen das Gebiet von Utika aufsteigt. Auf der Höhe des malerischen Vorgebirges ragt ein Leuchtturm empor, umgeben von den arabischen Kuppelhäusern des Dorfes Sidi-Bu-Said; unter diesen ist die Kubba eines besonders heilig gehaltenen Marabu bemerkenswert. Als ich in glühender Mittagshitze die engen Gassen des Dorfes durchschritt, ertönte allenthalben aus den Häusern lärmende Tambourinmusik und trillernder Gesang; es war gerade ein Festtag des berühmten Heiligen und eine Prozession von buntgekleideten verschleierten Frauen zog zur Kapelle. An der westlichen Abdachung des Hügels von Kap Karthago thront in herrlichster Lage über dem Meere der glänzende Sommerpalast des Kardinals Lavigerie, des berühmten Kirchenfürsten, der »die Kunst des Lebens« aus dem Grunde versteht, und dessen Spuren man hier überall begegnet. Von der Höhe des Leuchtturms schweift der Blick frei nach allen Richtungen über das welthistorische Ruinenfeld, auf welchem so große Szenen der Römischen Geschichte gespielt haben. Der Wanderer aber, der in das weite einsame Gefilde hinabsteigt und nach den Denkmälern der entschwundenen Herrlichkeit sucht, wird sehr enttäuscht. Von größeren Bauten sind nur noch die Zisternen und Bogenreihen der großartigen Wasserleitung übrig. Die zahllosen Säulen und Statuen, Grabmäler und Inschriften, die Marmorsteine der Treppen und Säulenhallen, Paläste und Theater, welche vor zweitausend Jahren Karthago schmückten, sind verschwunden; jahrhundertelang sind hier die »Steinsucher« unermüdlich tätig gewesen; viele Schiffsladungen voll jener edeln Trümmer sind während des Mittelalters nach Europa gewandert. Ein großer Teil der herrlichen Paläste, Kirchen und Theater von Sizilien und Italien, von Spanien und Südfrankreich ist aus den Marmorblöcken und Säulen von Karthago aufgebaut. Von den kleineren Kunstwerken, Statuen, Gefäßen, Mosaiken, Waffen und anderen Altertümern findet sich eine verhältnismäßig unbedeutende Sammlung in dem Seminar von St. Louis. Dieses Gebäude steht an der Stelle der früheren Akropolis von Karthago, neben der Kapelle, welche Ludwig IX., dem Heiligen, errichtet wurde; angeblich an demselben Orte, wo derselbe auf seinem Kreuzzuge im Jahre 1270 starb. Hinter der Kapelle erhebt sich, ihrer Vollendung nahe, die prachtvolle Kathedrale von Karthago, 1884 gegründet, ebenfalls ein Werk des Kardinals Lavigerie.

Seit dem kleinen französisch-tunesischen Kriege vom Jahre 1885 steht Tunis unter französischem Protektorate; die lebhafte Phantasie der Franzosen betrachtet diesen östlichen Barbareskenstaat bereits als vierte der algerischen Provinzen und erwartet seine vollständige Einverleibung in Algerien schon von der nächsten Zeit. Auf der einen Seite ist diese Inkorporation allerdings schon sehr weit gediehen und schreitet alljährlich weiter fort; die Herrschaft des Bey von Tunis ist nur noch dem Schein nach frei, in der Tat aber ganz von der Willkür des französischen Machthabers abhängig; die ganze Militärgewalt und das ganze Finanzwesen liegt in des letzteren Händen. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, daß Italien seit Jahrhunderten viel größere natürliche und historische Anrechte auf Tunesien hat als Frankreich, und daß es die Ansprüche des letzteren nur mit gerechtem Unwillen bekämpft.

 

VII

Wie wird sich die Zukunft Algeriens gestalten? Und welches Verhältnis wird das kolonisierte Nordwestafrika zu Europa einnehmen? Diese wichtigen Fragen, die sich jedem denkenden Besucher der mächtig emporblühenden Kolonie aufdrängen, bilden nur einen Teil von einer der größten politischen Zukunftsfragen, von der gewaltigen Mittelmeerfrage. Die ganze Neugestaltung des modernen Europa und die gesamten gegenseitigen Beziehungen seiner großen Kulturnationen hängen ab von der Lösung dieses großen »Mediterranproblems« und der damit verknüpften »orientalischen Frage«.

Nachdem ich seit vierunddreißig Jahren das Mittelmeer nach allen Richtungen durchstreift, alle Küsten dieser ehrwürdigen Kulturwiege kennen gelernt und mehrere Jahre an deren interessantesten Punkten zugebracht habe, wird der freundliche Leser mir vielleicht gestatten, kurz die Vorstellungen zu erörtern, die sich mir dabei aufgedrängt haben. Für ganz sicher halte ich zunächst, daß die asiatischen und afrikanischen Küsten des Mittelmeeres, vor zweitausend Jahren die Stätten der blühendsten Kultur, Kunst und Wissenschaft, sich wieder zu glänzender Blüte entwickeln werden, sobald das Türkenreich gefallen und die Herrschaft des Islam von den Küsten in das Innere von Asien und Afrika zurückgedrängt sein wird. Die überaus günstige geographische Gliederung der Mittelmeerküsten, ihr Reichtum an Höhen und Vorgebirgen, Inseln und Halbinseln, ihr herrliches Klima, der fruchtbare Boden, der Gesamtcharakter ihrer Flora und Fauna sind heute noch dieselben wie vor zweitausend Jahren. Was damals die Phönizier und Ägypter, die Numidier und Karthager, die Griechen und Römer unter viel ungünstigeren Verhältnissen erreicht haben, das muß den modernen europäischen Kulturstaaten unter viel günstigeren Verkehrs- und Kulturbedingungen, mit ungleich größeren Hilfsmitteln, viel leichter erreichbar sein. Die hohe Blüte, zu der sich einzelne Hauptstädte jener Küsten, z. B. Smyrna, Beirut, Alexandrien, Tunis – trotz der türkischen Mißwirtschaft – unter dem Eindringen moderner abendländischer Kultur neuerdings wieder gehoben haben, läßt erkennen, wie glänzend sich ihre Entwicklung erst nach dem Aufhören der osmanischen Fremdherrschaft gestalten wird.

Bei dem früher oder später bevorstehenden Zerfall des türkischen Reiches wird es eine der größten Sorgen der hohen Politik sein müssen, durch die Verteilung ihres Erbes das europäische Gleichgewicht aufrecht zu erhalten; das kann aber nur geschehen, wenn jede der großen europäischen Kulturnationen bei dieser definitiven Erbregulierung und der damit verknüpften Teilung des Mittelmeeres berücksichtigt wird. Der schwierigste Punkt der »orientalischen Frage«, der Besitz Konstantinopels, würde wohl am besten durch Gründung eines neugriechischen Kaiserreiches erledigt. Das junge Neu-Griechenland hat sich in den letzten Dezennien so sehr gehoben und das lebensvolle griechische Element in dem Handelsverkehr der Südküste der Türkei, in Thessalien, Mazedonien und Thrazien eine solche Bedeutung gewonnen, daß der Anspruch des aufstrebenden Neohellenenreiches auf den Besitz dieser Provinzen und Konstantinopels unter allen am meisten gerechtfertigt scheint. Die Kolonisation des wilden Albaniens und Montenegros würde eine wichtige Kulturaufgabe für Österreich bilden, dem ohnehin schon Bosnien und die Herzegowina als fester Besitz gesichert erscheinen.

Was die Südküste des Mittelmeeres betrifft und die Teilung von Nordafrika, so darf man wohl als sicher annehmen, daß England den Besitz von Ägypten, als der wertvollsten und unentbehrlichen Etappe nach Indien, festhält. Im Interesse des europäischen Gleichgewichts wäre es aber dann sehr zu wünschen, daß Italien der ganze Küstenstrich zwischen Ägypten und Algerien zufiele, und daß namentlich Tunesien in den Händen Italiens bleibe, mit dem es seit Jahrhunderten in so enger und naturgemäßer Verbindung steht. Freilich wird Frankreich, das jetzt schon Tunis als seine vierte algerische Provinz betrachtet, diesen wertvollen Besitz im Osten von Algerien nicht aufgeben wollen. Wenn ihm aber dafür im Westen Marokko zufällt, dürfte ihm dies wichtiger sein, schon wegen der Verbindung mit dem Senegal. Allein diese großen Machtfragen werden wohl erst in dem europäischen Kriege, den die Auflösung der Türkei und die Teilung des Mittelmeeres notwendig hervorrufen muß, durch »Blut und Eisen« entschieden werden. Wenn es Frankreich gelingen sollte, seinen Hauptwunsch zu verwirklichen und das ganze Nordwestafrika in seine Gewalt zu bringen, dann würde das neue »Groß-Algerien« aus fünf mächtigen und reichen Provinzen bestehen: Marokko, Oran, Algier, Konstantine, Tunis; dann würde das westliche Mittelmeerbecken in Wahrheit ein »französischer See« sein.

Gleichviel wie weit sich diese Ansprüche Frankreichs auf das westliche Mittelmeer verwirklichen, so wird Europa, und vor allem England, keinesfalls gestatten dürfen, daß es sich auch der östlichen Hälfte bemächtigt. Die Absicht dazu besteht, und seit ihrer Expedition nach Syrien betrachten viele patriotische Franzosen auch bereits dieses Land als eine französische Provinz der Zukunft, manche schlagen dazu sogar noch Ägypten. Sollten jemals auch noch diese wertvollen Länder in französische Hände fallen und sich damit einer der gewaltigen Pläne Napoleons I. erfüllen, dann würde das ganze Mittelmeer ein »französischer See« sein; dann würde ganz Europa von der Gnade und dem Willen Frankreichs abhängen. Daß dies nicht geschehe, dafür scheint uns durch die bestehenden Machtverhältnisse des europäischen Konzerts hinreichend gesorgt zu sein.

Die Zukunft der Ostküste des Mittelmeeres, die Geschicke Syriens und Kleinasiens, bilden ein viel schwierigeres und dunkleres Problem als diejenigen von Nordafrika. In diesen asiatischen Küstengebieten des Mittelmeeres sind die Mischungsverhältnisse der neu vordringenden europäischen Kultur viel bunter und verwickelter als in den afrikanischen; keine einzige Nation spielt dort schon jetzt eine beherrschende Rolle. Das tätige und energische Volk der Neugriechen beginnt auch hier bereits an vielen Orten hervorragende Geltung zu gewinnen. Es dürfte indessen leicht seine Ansprüche auf diese Gebiete aufgeben, wenn es dafür durch Konstantinopel und den größten Teil der europäischen Türkei entschädigt wird. Rußland ist ebenfalls eifrig bestrebt, an mehreren Hauptpunkten, z. B. in Beirut und Jerusalem, festen Fuß zu fassen; aber des gewaltigen Zarenreichs natürliche Hauptaufgabe liegt wohl mehr in der Kolonisation des ungeheuren Gebiets von Mittelasien.

Als ich zum ersten Male 1887 den Boden Syriens betrat und gleich bei der Landung die blühende deutsche Kolonie in Joppe oder Jaffa sah, als ich in seinen herrlichen Orangegärten schwäbische Bauern eifrig bei der Arbeit fand und in der Württemberger Schule mir blonde und blauäugige Kinder deutsche Volkslieder mit heller Stimme vorsangen, da drängte sich mir von selbst der Gedanke auf: »Was könnte aus diesem prachtvollen, von der Natur mit allen edlen Gaben geschmückten Lande wieder werden, wenn seine reichen, jetzt zertretenen, verwüsteten und gemißhandelten Fluren in deutschen Besitz übergingen; wenn deutscher Fleiß und deutsche Intelligenz die wertvollen, seit einem Jahrtausend brach liegenden Schätze dieses klassischen Bodens ausnützten?« Und als ich dann weiter gegen Norden zog, als ich in Beirut und Smyrna die kräftige Beteiligung deutscher und österreichischer Kaufleute an dem regen internationalen Handelsverkehr sah, da befestigte sich jener Gedanke immer mehr; im Gespräche mit gleichgesinnten wackeren Landsleuten wurde dann gar oft der Wunsch und die Hoffnung laut: Auf diese östlichen Mittelmeerküsten müssen, bei der einstigen Teilung der Türkei, Deutschland und Österreich ihre Hand legen; hier ist der Boden, auf welchem an den gesegneten Küsten des Mittelmeeres unser Vaterland seine Ackerbaukolonien gründen und in friedlichen Mitbewerb mit den anderen großen Kulturnationen Europas treten kann. Als bald darauf unser vortrefflicher Landsmann Carl Humann, den ich 1873 in Smyrna als einfachen Ingenieur kennen lernte, die pergamenischen Altertümer entdeckte und mit unvergleichlichem Geschick sie unserem Museum in Berlin zu sichern verstand, betrachtete ich diese klassischen Marmorbilder als ein Palladium, welches uns einen Anspruch auf dauernden Kolonialbesitz in jenen herrenlosen Gebieten sichere. Herrenlos sind diese türkischen Provinzen eigentlich schon jetzt; denn die ohnmächtige »Hohe Pforte« in Stambul vermag nicht einmal ihre eigenen Paschas im Zaume zu halten. Eine Reise durch das unkultivierte Innere von Kleinasien aber ist schwieriger, als durch die meisten Teile von Australien oder Afrika.

Niemand kann sagen, wie die mächtige, seit einem Dezennium mit überraschender Energie anwachsende Kolonialbewegung sich in Zukunft gestalten und wie die Teilung der Erde unter den großen Kulturnationen Europas sich vollziehen wird. Nur eins scheint schon jetzt klar: Deutschland kann nur dann seinen berechtigten Rang als selbständige und unabhängige Macht behaupten, wenn es auf dem Wege seiner Kolonialpolitik mit energischer Ausdauer fortschreitet, und zwar brauchen wir eben sowohl fruchtbare Ackerbaukolonien, in welche der Überschuß unserer stetig zunehmenden Bevölkerung auswandern kann, als günstig gelegene Handelskolonien, in welchen unser Welthandel feste Stützpunkte, unsere Flotte gute Kohlenstationen findet.

Es würde mir nicht einfallen, meine »Algerischen Erinnerungen« mit diesen kolonial-politischen Betrachtungen zu schließen, wenn ich nicht, auf Grund dreißigjähriger Beobachtungen und zahlreicher Reisen in drei Weltteilen, überzeugt wäre, daß die große Kolonialfrage für Deutschland eine Lebensfrage ist. Jeder deutsche Staatsbürger, der sein Vaterland aufrichtig liebt, wird beständig daran denken müssen, daß infolge unserer geographischen Lage und historischen Entwicklung die Stellung des neuen Deutschen Reiches in Europa die gefahrvollste und sein »Kampf ums Dasein« mit den andern Nationen Europas der schwierigste ist. Wer heute durch Frankreich und Algerien reist, wird in dieser Beziehung viel lernen können. Überall rüstet sich dort ein mächtiges, talentvolles, von höchstem Nationalgefühl beseeltes Volk, um sein vor zwanzig Jahren verlorenes »prestige« wiederzugewinnen.

Der Kampf ums Dasein einzig und allein ist das große Realprinzip, welches die Existenz und Entwicklung der organischen Welt regelt und bedingt, ebenso in der Konkurrenz der Völker, wie im Mitbewerbe der Tiere und Pflanzen. Bei der zunehmenden Übervölkerung Europas und der fieberhaften Entwicklung des modernen Kulturlebens gewinnt daher die Auswanderungsfrage und die damit verknüpfte Kolonialpolitik eine Bedeutung wie nie zuvor. Deutschland, wie Italien, gehören zu jenen übervölkerten Staaten, die alljährlich Tausende der besten Kräfte an das Ausland verlieren. Bei den kosmopolitischen Neigungen unseres Volkes und der geringen Tiefe des deutschen Nationalgefühls verschmelzen dieselben bald mit dem fremden Elemente. Werden diese wertvollen Kräfte in deutschen Ackerbau- und Handelskolonien angelegt, so werden sie zur Kräftigung und zur festen Stütze des deutschen Mutterlandes dienen, statt demselben verloren zu gehen. An Talent zur Kolonisation fehlt es uns sicher nicht. Eine Kolonie wie Algerien würde unsere Weltstellung und Nationalkraft in unschätzbarer Weise erhöhen. Deutschland darf Frankreich um den Besitz eines solchen Kleinodes ebenso beneiden, wie um sein entwickeltes Nationalgefühl. Diese Überzeugung bleibt einer der mächtigsten Eindrücke meiner Reise durch Algerien.


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