Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wissenschaft. Literatur.

Fester haben sich die Wissenschaften zu stellen gewußt. Mit ihnen versöhnte sich der Zeitgeist, weil er ihrer bedurfte. Sie werden des Sonntags gefeiert, weil sie an den Wochentagen im Dienst der Menschheit graben und arbeiten müssen. Der Ungebildetste sagt, von ihnen falle doch noch etwas Erkleckliches ab, durch sie bekomme man Mehl aus Kartoffeln, Pferde aus Wasserdämpfen, Zucker aus Runkelrüben. Die Wissenschaften haben einen Ehrenplatz an der Tafel der Großen, und selbst ohne habit habilé dürfen sie bei Hofe erscheinen in bestäubter alter Perücke, in Holzschuhen und in dem abgeschabten Frack eines alten pedantischen Geizhalses. Der Arzt muß unser Leben erhalten, der Jurist unser Eigenthum und unsere Ehre, der Theolog hält uns den Himmel offen und nun gar erst die Technologie, die rationelle Landwirthschaft und überhaupt die Physik und Naturgeschichte. Das ist Tempelweisheit, vor welcher die Laien anbetend in den Staub fallen.

Wer müßte es nicht anerkennen, daß die Zustände, in welchen wir leben und die beglückte Seite derselben ein Werk der Wissenschaften sind? Sie haben durch die tiefsinnigsten Erfindungen die Schwierigkeit der Existenz, welche auf der Menschheit lastet, erleichtert, sie gaben mit einigen mathematischen Linien auf dem Papiere Ideen an, deren Verwirklichung tausenden von Arbeitern Verdienst schaffte. Sie haben dem Handel kürzere Wege des Verkehrs bezeichnet, ohne selbst die Meßelle in die Hand zu nehmen; sie haben das Verfahren der Technologie vereinfacht und die Kraft der Menschenhand verdoppelt; sie zauberten aus öden Landstrichen blühende Gärten und wußten mit dem Schöpfer zu wetteifern, indem sie das Fruchterträgniß der Gewächse vermehrten. Aber nicht bloß in dem, was unseres Leibes Nahrung und Nothdurft betrifft, bewährten sich die Wissenschaften, sondern auch unsere moralische Existenz wurde durch ihre rastlose Strebsamkeit verbessert. Sie trugen die Fackel der Aufklärung in die dumpffeuchten Höhlen der Vorurtheile, sie nahmen von dem Guten in der Tradition die Spinnenwebe fort, und dem Falschen entzogen sie das Postament, worauf es ruhte; sie sprangen dem Menschen gegen den Bürger, dem Bürger gegen den Staat bei; sie widerlegten zur Befreiung desselben die Märchen von Königen, die mit Zepter und Kronen essen, trinken und zu Bette gehen. Sie ließen die milde Sonnenwärme der Humanität auf die zu kaltem Eis gefrornen Traditionen der Gesetzgebungen scheinen, sie sicherten dem Individuum sein positives und sein menschliches Recht und selbst noch, wenn es verscherzt war, sicherte die Wissenschaft dem Verbrecher gerechtes Urtheil und die Möglichkeit einer reuigen Bekehrung. Auch den höchsten Wahrheiten entzog sich ihr redlicher Beistand nicht; die Wissenschaften schüzten uns, daß wir aus der Andacht keine todte Tugend machten, und wir, in dem Drange, an das Unvernünftige uns hinzugeben, etwa an das Gegenvernünftige uns überantworten würden. Die Wissenschaften haben in diesem Bereiche schönere Früchte gezeitigt, als die Künste, denen das Gebiet eigentlich gehören sollte. Ach, wir sahen, daß diese, statt zu veredeln, selten aus dem Dunkel der Verflachung zum Lichte der Schönheit rangen; wo sie hätten segnen sollen, fluchten sie, wo den Streit mildern, fachten sie ihn an. Da haben die Wissenschaften oft ihre Stelle vertreten; denn in manchen Richtungen der Naturwissenschaft lag mehr Poesie, als in der gleichzeitigen Kunst; die wunderbarsten Verknüpfungen zwischen den trockensten Spekulationen der Fachwissenschaften und dem höhern Daseyn der Menschheit haben Statt gefunden, wie auch dadurch die Dichtkunst eine so schwierige Stellung erhalten hat, daß es scheint, als müsse sie hinfort den ganzen Ideenreichthum in sich aufnehmen, den die Wissenschaften nicht nur entwickelten, sondern auch poetisch auf die Gemüther manchmal konnten wirken lassen. Wem sollten jene Richtungen der Geschichtschreibung, der Philosophie, der Naturwissenschaft und selbst der Medizin, die wir hier meinen, nicht einfallen?

Freilich haben die Wissenschaften sich in neuer Zeit meist immer der günstigsten Umstände zu erfreuen gehabt. Da man wohl fühlte, daß nicht nur das moralische und gesittete, sondern auch das gesellschaftliche Wohl der Menschen in ihre Hände gegeben war, so beeiferte man sich, ihnen entgegen zu kommen, sie freundlich aufzunehmen und zu pflegen. Die neue Zeit hat vom Mittelalter sich nur durch die Wissenschaft befreit; die Wissenschaft schlug die 95 Thesen an die Schloßkirche von Wittenberg, die Wissenschaft hielt die Elemente, die durch und mit der Reformation in Gährung kamen, im beständigen Zufluß der streitenden Stoffe. Ohne sie konnte kein Vorrecht mehr behauptet, ohne sie keines bestritten werden. Und wenn sie das Pulver erfand, wenn sie Amerika entdeckte, so wußte sie doch noch etwas Gewaltigeres darauf zu setzen, die Presse, die mächtiger war, als das Pulver und überredender, als das Gold Amerika's. Gewalt ging nicht mehr vor Recht, Leidenschaft nicht mehr vor Vernunft. Was man durch irrthümliche Beweisführung antastete, konnte durch Waffengewalt wohl gesichert werden, aber vor allem Volk nicht anders gerechtfertigt, als durch die siegreiche Widerlegung, durch Gegengründe. Selbst der schlechte Zweck heiligte zwar nicht das Mittel, sprach aber oft ein gutes Mittel um Hilfe an, oder machte, daß selbst das in der Moral schlechte wissenschaftliche Mittel doch für die Wissenschaft manchmal gut zu nennen war. Die scharfsinnigsten Wahrheiten wurden an einander gereiht, um leider eine Lüge zu beweisen. Der Zweck diente einer augenblicklichen Bestechung, einer despotischen Laune, die nächste Folge kam ihr zu Gute; aber die entferntere floß doch wieder in die Wissenschaft zurück und mehrte ihren Reichthum. Die Leiden der Gesellschaft strengten das wissenschaftliche Nachdenken an, um ihnen abzuhelfen. Ja, was sind nicht für außerordentliche wissenschaftliche Resultate aus der Auflösung politischer Verhältnisse hervorgegangen, gerade wie die Medizin sich nicht auf die Gesundheit, sondern die Krankheit der Menschen stüzt. Als die Feudalität und der Lokalgeist von der Centralisation des souverainen Monarchismus besiegt wurde, als die Aufrechthaltung einer unmittelbar aus Gott fließenden königlichen Würde, von den Trabanten des Ehrgeizes, der Sinnlichkeit und der durch beide hervorgerufenen Habsucht umgeben war, da wurden z. B. die Fabriken in eine krampfhafte Thätigkeit versezt, die zum Entdecken zwang. Der Leichtsinn der Finanzverwaltung schuf die wunderbar komplizirte Mathematik des noch jezt geltenden Bankwesens. Mitten im Gedräng der immer höher steigenden materiellen Schwierigkeiten für Handel und Gewerbe, stellte Adam Smith seine unsterblichen Nationalreichthumsmaximen auf, welche die Grundlage einer neuen Wissenschaft, weil einer neuen Methode, geworden sind und so kam Gutes und Böses zusammen, um die Wissenschaften zu heben und sie zu den eigentlichen Herrscherinnen der Welt zu machen.

Fassen wir alle Thätigkeiten im Schooße der Wissenschaften und namentlich die spekulative Beförderung derselben unter dem Namen der Literatur zusammen, so ist dies freilich ein Begriff, der formell zu eng ist für jenen Inhalt, den er umfassen soll. Literatur schließt einen formellen Endzweck mit ein, eben so die literarische Aeußerung der Kunst und sagt weit weniger, als das, was sich Alles als wissenschaftliche Leistung, wenn auch nur durch das Mittel der Schrift bewährt. Hier kommen wir namentlich, wenn wir das Verhältniß der Literatur zur Gesellschaft und zur Ordnung derselben bedenken, gleich zu einer zeitgenössischen Erfahrung. Die Wissenschaften sind in aller Munde, die Literatur wird nur von wenigen ausgesprochen; den Wissenschaften gesteht man weltbezwingende Wirkungen zu, und als Prinzip die größtmöglichste Unabhängigkeit; die Literatur aber ist ein trübes, schwankendes, verlockendes Meer, und ihr soll kaum der Schatten von jener Sonne der Freiheit, die den Wissenschaften leuchtet, gestattet werden. In der That, beide Begriffe sind nicht mehr dieselben, ebenso wie auch der Begriff der Presse weit umfangreicher ist, als Literatur und Wissenschaft. Den Wissenschaften gestattet man Alles, der Literatur Einiges, der Presse nichts. Die Buchdruckerei überfluthet und überwuchert die Literatur und die Wissenschaft. Und die nothwendige polizeiliche Beschränkung, welche allerdings für den Gesammtbegriff der Presse nothwendig ist, hat sich denn auch von selbst für die Literatur und Wissenschaft ergeben, und doch mit der Zeit Einiges an der günstigen Lage beider verrückt und geändert.

Daß die Erfindung der Buchdruckerkunst eine große Wohlthat war, ist gewiß; allein wie sie doch auch so manches unvermeidliche Uebel brachte, so gehören dazu auch die Mißlichkeiten in Unterscheidung der Begriffe, Wissenschaft, Literatur, Presse. Das Gedrucktwerden der wissenschaftlichen Forschungen ist bei der Leichtigkeit des Druckes so unumgänglich oder sich wenigstens von selbst verstehend geworden, daß zwischen einem Kathedervortrage aus dem Stegreife, einem aus Heften und einem dritten endlich, dem ein gedruckter Leitfaden zum Grunde liegt, gar nicht unterschieden wird. Weil die Presse nicht nur gewöhnlich auch von der Wissenschaft benuzt wird, sondern auch dies Benutzen völlig freigegeben ist, so hat die Feindschaft, welche allmälig von den öffentlichen Thatsachen gegen die Presse unterhalten wurde, sich auch auf die Wissenschaft übertragen, oder doch wengistens gemacht, daß die spezielle Wissenschaft unter dem Schicksale der allgemeinen Presse leidet. Der preßliche Inhalt der Wissenschaft wird von ihrem sonstigen Wesen nicht mehr unterschieden und fast in ganz Europa (Frankreich, England und Belgien ja nur ausgenommen) ist der gelehrte Forscher eben so der Censur unterworfen, wie der Libellist, wie der Krämer, der in den Zeitungen seine Waare ankündigt. Somit wären wir durch das polizeiliche Verfahren des Staates wenigstens gerechtfertigt, wenn wir zur größern Vereinfachung unsrer nachfolgenden Bemerkungen uns der Ausdrücke Presse, Literatur und Wissenschaft beinahe wie synonym bedienen. Wir müssen ohnedies die Form vom Inhalt unterscheiden und werden dabei vielleicht ohnedies finden, daß die Literatur im Allgemeinen dieselben Phasen in sich durchgemacht hat, durch welche auch die Wissenschaft ging.

Die Form der Wissenschaft und Literatur ist die Presse. Namentlich seitdem die Politik öffentlich und täglich besprochen zu werden anfing, wurde die Presse so ausgedehnt, daß es fast scheint, als liefe sie schon allen Momenten und Zuständen unseres Daseyns parallel. Man kann dem Staate nicht verdenken, daß er alles, was er von der Presse verlangte, auch auf die Literatur übertrug; denn hat die lezte in neurer Zeit nicht ganz das Gepräge der Journalistik angenommen; knüpft sie ihre Entwicklungen nicht an Tag und Stunde an und hat sie sich nicht auch längst geneigt gezeigt, den Inhalt der politischen Presse, wenn auch nicht ganz in seiner journalistischen Roheit, doch in seinen Tendenzen, in ihr eigenes Bereich aufzunehmen? Doch geben wir diese Gedankenverbindung auf, und halten wir uns zunächst an das Reinformelle der Presse, welches in den Fragen über Schrifteigenthum, Nachdruck, Censur und Buchhandlungsmethode für unsre Zeit so außerordentlich wichtig geworden ist.

Wenn die Presse politisch nicht gesichert ist, so liegt dies in dem für unsere Zeit schon natürlich gewordnen Verhältniß derselben zum Staate; der Staat ist Position, die Presse Negation. Wo jener ein Interesse der Befestigung hat, hat diese ein Interesse der Auflösung, und wenn Philosophen den Begriff des Werdens in die beiden Faktoren des Seyns und der Negation auflösen, so ist wohl gerade die Presse die Stütze und das weiteste Gewand jenes negativen Prinzipes, durch welches im Staate etwas wird. Allein daß die Presse noch nicht einmal juristisch bestimmt ist, daran ist vor allen Dingen die Bildung der Juristen schuld, die Tradition des Rechtes und vielleicht auch jene Gleichgültigkeit gegen die Interessen der Presse, welche man bei einem von ihr bedrohten Staate voraussetzen muß. Allerdings sind durch positive Gesetze Schrifteigenthum und Verlagsrecht gesichert, aber doch noch nicht überall, und völkerrechtlich nirgends. Nicht nur, daß die Amerikaner unsere englische Literatur, die Belgier die französische nachdrucken, sondern in einem Lande, wo die Wissenschaft so große Triumphe gefeiert hat und man möchte fast sagen, ein literarisches Bewußtseyn das politische ersezt, druckt noch eine Provinz der andern, der Süden dem Norden nach. Ein Hauptgrund dieses mangelhaften Zustandes liegt in dem anmaßlichen Vorgeben der Jurisprudenz, daß sich juristisch der Nachdruck entschuldigen lasse. Rom und Griechenland, die die Presse nicht kannten, sollen eine Verletzung der Rechte, die man durch sie erwirbt, gestatten. Man überträgt vom Abschreiben die Analogie auf das Abdrucken und sagt: so wenig unangenehm es dem Horaz war, von seinen Gedichten möglichst viele Abschriften verbreitet zu sehen und so gern er den Sosiern zu Haus und übers Meer den Absatz derselben gestattete, ebenso sollen auch Byron, Schiller und Göthe zufrieden seyn, wenn sie nur ja recht verbreitet werden. Es ist unzart, die Dichter zu zwingen, daß sie nun hier entgegnen müssen: »Wir leben von unsren Gedichten!« Die Juristen lachen darüber, weil die Römer den Verlag nicht kannten. Im Gegentheil haben sie noch eine Menge Analogien, um nach dem Schema: »wenn ich mich meines Rechtes bediene, thue ich Niemanden Unrecht,« den Nachdruck als ein natürliches und ehrliches Gewerb hinzustellen. Denn einmal sagen sie, hab ich das Recht, mit meinem Eigenthum zu machen, was ich will, d. h., ein gekauftes Buchexemplar tausendfältig zu vervielfältigen und wieder zu verkaufen; könnte man sie aber nicht füglich fragen, ob man mit einem gekauften Stocke thun könne, was man wolle und schlagen, wen man wolle? Sodann behaupten sie in der That, und wie mich anders gesinnte Kenner des römischen Rechts versichern mit allzugroßer und unbegründeter Keckheit, daß man jedes Gewerb treiben, jeden Gewinn machen könne, wenn man dadurch auch die Existenz des Andern untergräbt, daß man sich einen Brunnen in seinem Garten graben könne, wenn man dadurch auch dem Nachbar das Wasser abschneidet. Man muß nur ein wenig mit dem römischen Rechte vertraut seyn, um zu wissen, daß der Römer das Meiste, was zu den unmittelbaren Gaben der Natur gehört, wo möglich freigab, daß er das Graben eines Brunnens für ein natürliches, im Bedürfniß gegründetes Recht hält. Weit mehr scheint mir noch dies andere Beispiel von doppeltem Interesse, dessen sich die ersten Anfänger der Institutionen noch erinnern werden, für einen selbst dem römischen Recht nicht fehlenden Grundsatz der Billigkeit, wie wir ihn für das römische Recht in Anspruch nehmen, zu streiten. Wenn nämlich aus des Nachbars Garten ein Baum mit seinen Zweigen herüberhängt, so kann ich diese zwar abschneiden, wenn sie mir die Aussicht versperren und meinem Eigenthum schädlich sind. Allein laß ich sie hängen, so gehört die Frucht davon nicht mir, sondern dem Nachbar, der das Recht hat, zu mir herüberzukommen und regelmäßig die Früchte abzubrechen, die doch in mein mir gehöriges Gebiet hineinragen, deren Blüthen ich genießen darf und wo alles sich zu vereinigen scheint, mir gewissermaßen ein Recht auf jenen Ueberhang zuzugestehen. Allein wie schwer ist es, aus solchen Analogien irgend etwas Praktisches für unser modernes Preßrecht zu schließen! Die Juristen sehen immer nur darauf, daß sie fragen, kann in diesem und jenem Kollisionsfalle eine actio, eine Klage Statt finden? Die Klage auf Schadenersatz wollen sie nicht zugeben; so haben andere eine Klage auf Injurie im römischen Sinne des Worts für die Preßrechtsverletzung herausräthseln wollen. Allein das römische Recht gibt keine Analogie, weil es die Presse nicht gekannt hat und das steht als heilige Ueberzeugung bei gewissenhaften Rechtslehrern fest, daß die Römer, hätten sie die Presse in unserm Sinne gekannt, gegen den Nachdruck würden gestimmt haben.

Es ist nicht anders möglich, in dieser Frage zu einer strikten und klaren Theorie zu kommen, als durch die Bestimmung des Begriffes der Presse. In alten Zeiten, wo die Hilfsmittel des Schriftwesens so beschränkt waren, konnte der Autor allerdings nur wünschen, daß man sich seiner Gedanken bemächtigte und seine Schriften so oft kopirte, als Interesse für sie vorhanden war. Jezt aber liegt in der Auflage, die der Verfasser von seiner Schrift veranstaltet, der bestimmt ausgesprochene Wille, daß die Schrift nur so weit ihre Bahn mache, als diese Exemplare reichen; denn, kann ihm nicht sehr daran gelegen seyn, daß z. B. von einer theologischen Schrift, die für die Masse nicht taugt, nur fünfzig oder hundert Exemplare zu erhalten sind? Wird eine Vermehrung dieser Auflage ihn nicht zum Verbrecher an der Staatsreligion machen, während er mit den hundert Exemplaren beweist, daß er nur der Wissenschaft gegenüber ein Mann der freien Forschung seyn wolle? Ich sage nicht, daß solch eine Unterscheidung von Laien- und Tempelweisheit zu billigen ist; allein tritt uns hier nicht ein Wille entgegen, der ein individuelles Recht hat? Wer hat die Presse so emanzipirt, daß sie größere Gewalt haben soll, als der, der ihr den Inhalt seiner Gedanken gibt? welch ein Recht hat die Buchdruckerei außer dem, was sie nur vom Autor empfing? Die Presse ist eine beauftragte, vom Autor beauftragte, sie besorgt eine Kommission, die in dem Augenblicke, wo der Autor befriedigt ist, auch zu Ende geht, die unberufner Weise von einer dritten, vierten Presse, der ich gar keinen Auftrag gegeben habe, nicht kann ausgeführt werden, und wenn man sagt, daß in diesem Falle nur Eines nicht geschehen müßte, nämlich, daß die Bücher für Geld verkauft würden, so liegt doch in diesem Kaufe und Verkaufe gerade der stillschweigende Vertrag zum Grunde, daß man dies Buch nur im Betreff der Ausgabe, die davon veranstaltet worden, sich aneignen wollte, in Betreff des Preises, den die Ausgabe gestattete (daher auch der sogenannte feste Ladenpreis), in Betreff der einen Presse, die nur durch und mit dem Willen des Autors ein Recht zum Drucke hat.

Wenn man das Preßrecht auf das Gedankeneigenthum gründen will, so ist dieser Ausdruck allerdings unbestimmt und sich selbst widersprechend. Man wendet gegen ihn mit Recht ein, daß man über seine Gedanken kein Eigenthum hätte (höchstens über seine dummen Gedanken), und daß wenigstens nie eine Reformation zu Stand gekommen wäre, wenn Luther für seine Gedanken ein Recht des Besitzes in dem Sinn angesprochen hätte, daß andere sie nicht hätten fortpflanzen sollen. Mit einem Worte, fortgepflanzt kann alles werden, was man spricht, was man auf dem Katheder dem Inhalte nach vorträgt, was auf der Kanzel gesprochen wird u. s. w. . Allein ein Buch ist mehr, als ein Gedanke, ein Buch ist vor allen Dingen die Form des Gedankens und diese Form ist mein Eigenthum. Es ist meine Individualität, die ich in dem Buch offenbare; kein Gedanke tritt darin auf, ohne das Risiko meiner Person, die Klarheit und Dunkelheit der Ideen, alles kömmt auf meine Rechnung. Dies ist das unveräußerliche Eigenthum, welches der Schriftsteller an seinem Buche hat und welches durch die Auflage erst Eigenthum eines Verlegers wird. In der Auflage sprech ich meinen Wunsch, so oder so verbreitet zu werden, aus, und so wie ich in jedem Exemplare dieser Auflage in meinem Ich auftrete, so werd' ich wohl auch das Recht haben, das wie oft dieser Male zu bestimmen, da doch keine civilisirte Gesetzgebung dem Individuum, ob es sich nun durch Handel oder Gewerb äußert, das Recht schmälern darf, sich so zu geben, wie es will, und z. B. beim Schriftsteller durch den Umfang einer Auflage das Recht und die Hinterthür offen zu lassen, seine etwaigen Irrthümer möglichst schnell berichtigen zu können, oder auch den Inhalt eines Werkes wieder in sich zurücknehmen, dadurch, daß das Werk nicht wieder aufs Neue aufgelegt wird. Tritt hier der Nachdruck dazwischen, so ist es nicht Entschädigungsklage, die man gegen ihn erheben, sondern die Klage auf Gewaltthätigkeit und eine meine Persönlichkeit verletzende Mißhandlung. Durch den Preis, welchen man für mein Buch bezahlte, erkaufte man nichts anders, als autoptische Theilnahme zu haben an der Manifestation und Austragung irgend einer schriftstellerischen Individualität oder eines sonstigen preßlichen Inhaltes. Ein Buch ist wie ein Gerücht, das ich bekannt machen will und wo ich durch den Preis, den man dafür bezahlt, dem Gerüchte gerade die ausdrückliche Bestimmung gebe, daß es sich in der Sphäre der Auflage halten soll. Wer dieses Gerücht austrägt, d. h. nachdruckt, der plaudert es nicht aus (wer würde ihn daran hindern?), sondern er entstellt es, er entzieht ihm das Merkmal, welches ich ihm aufdrückte, nämlich geheim zu seyn, und ich habe vollen Grund zu klagen gegen willkürliche Verläumdung und Beeinträchtigung meiner Person. Schon, wenn der Nachdrucker seinen Diebstahl billiger gibt als das Original, so kann der Verleger des Originales klagen, daß er durch den Nachdruck in den Verruf einer ehrlosen Wucherei käme, indem er verschiedene Preise für ein und dieselbe Sache stellte. Und hier gilt auch die Einrede nicht, daß je auf dem Titel eine andere Firma als die rechtmäßige gestellt wäre, denn diese Firma ist nur eine Note für den Geschäftsverkehr, nicht für das Publikum, welches an der ganzen Sache die Hauptrolle spielt, durch seinen Beutel. Mit einem Worte, der Gesichtspunkt, von welchem aus der Nachdrucker rechtlos ist, liegt nicht im Honorar des Schriftstellers, nicht in dem Verlust des rechtmäßigen Verlegers, sondern in der Infamie und Gewaltthätigkeit des Nachdruckers, der den Autor verhindert, sich nach seinem freien Willen mit dem Buchhandel, und dem Verleger, sich nach seinem freien Willen mit dem Publikum zu vermitteln.

Die Anarchie der Literatur ist leider selbst Schuld daran, daß es so gänzlich an klaren Begriffen über das Preßwesen mangelt. Blicken wir aber auf den Umfang, den einmal die Presse gewonnen hat, auf den innigen Zusammenhang derselben mit der Existenz so vieler Tausende, blicken wir andrerseits auch auf den Staat, der unter den Einflüssen dieser Anarchie selber leiden muß, so sollte man sich überzeugen, daß endlich die Zeit gekommen ist, die Presse in ihrem Wesen und ihrer Bestimmung fest ins Auge zu fassen und ihr eine eben so organische Freiheit, wie organische Nothwendigkeit zu geben; daß z. B. die Presse vom Völkerrechte ausgeschlossen wird, ist eine jämmerliche Inkonsequenz unseres so eifrig nach Recht und Ordnung strebenden Zeitalters. Warum sollte es nicht möglich seyn, die Presse ihrem Inhalte nach an den Staat, der Form nach an die Sprache zu binden? Amerika druckt in einer einzigen Zeitung wörtlich einen kaum in London erschienenen Roman ab; belgische Nachdrücke werden durch Diebstahl in den Pariser Offizinen oft früher zur Erscheinung reif, als das Original in Paris. Ist eine solche Verletzung des Völkerrechts und der Völkermoral in einem Jahrhundert möglich, wo nicht nur die Philosophen, sondern auch die Fürsten angefangen haben, über die Möglichkeit eines ewigen Friedens zu träumen? So lange sich das Gewissen der Gesetzgebungen nicht gegen diese Gewaltthätigkeiten empört, wollen wir auch nicht glauben, daß unser Zeitalter schon reif genug ist, um angesehen zu werden, als emanzipirt aus den Zeiten des Faustrechts.

Aus einer gründlichen Deduktion des Begriffes der Presse würden sich auch die allein wahren Grundsätze über die Freiheit und Beschränkung derselben ergeben. Durch die Anarchie in der Literatur wurde die Preßlicenz und die Zensur geboren. Als die Presse über die Literatur hinaus erweitert wurde, wurde sie das willige Hilfskorps der politischen Parteien und eroberte sich in England faktisch jene Preßfreiheit, welche juristisch ihre Beschränkung in dem Libellgesetz erhielt. Frankreichs Preßfreiheit ist jüngern Ursprungs und wurde als ein Naturrecht verlangt, und als solches nicht verweigert; allein täglich muß der Staat in Frankreich einsehen, daß eine Presse im Naturzustand auch ewig in dem natürlichen Zustande des Krieges liegt. Wenn die Preßfreiheit Frankreichs sich nicht so rücksichtslos äußert, wie die in England, so liegt davon der Grund theils in der schärfern Ahndung, mit welcher in Frankreich die Preßvergehen verfolgt werden, theils in einem den Franzosen angeborenen größern Schicklichkeitsgefühle und den meist anständigen Individuen, welche dort die Presse bedienen. In England erlaubt sich die Presse Alles. Ehre und Ruf -- nichts schont sie; das leichte Gerücht stempelt sie zur gewissesten Wahrheit. Sie hält die Lüge für die geschickteste Waffe, um den Gegner zu vernichten. Die englische Presse ist so zügellos, wie eine englische Armee, wenn man sie nicht mehr unter die Peitsche stellt. Es liegt nun einmal im Charakter dieses Volkes eine unausrottbare Zügellosigkeit und eine grausame Gewaltthätigkeit, eine Folie, die es allein erklären kann, wie darauf der Name eines Gentleman, der Inbegriff des Anstandes und der Selbstbeschränkung, so grell abstechen kann. In unserer Presse aber herrscht der Gentleman nicht mehr. Dort ist der Firniß der gesellschaftlichen Bildung wieder abgewischt und die gewaltthätigste Rohheit der unter dem Druck hervorschimmernde Hintergrund. Besonnene Gesetzgeber haben über die Abschaffung dieses Uebels nachgedacht. Allein die Kollision mit dem politischen und parteiischen Theile der Presse hinderte sie immer, der Presse einige vernünftige Schranken zu ziehen. Durch das Zeitungswesen und die Begriffe, die a priori der politischen Opposition zum Grunde liegen, hat der Widerspruch so sehr die Physiognomie eines natürlichen und menschlichen Rechtes bekommen, daß es unmöglich ist, da den Staat und die durch gewisse Gesetze zu bildende bürgerliche Gemeinschaft zu substituiren, wo gerade in dem Bewußtseyn des natürlichen Menschenrechtes der Bewegungsgrund zur Opposition liegen soll. Die Presse ist somit, wie das Lallen des Kindes, der unartikulirte Ausdruck unseres modernen Menschen im Naturzustand, sie gilt als eine ursprüngliche Begleiterin und Amme, ja als das mit Wasser gefüllte Ei, aus welchem der Embryo reif hervorbricht. Die Presse ist hier schon ganz aus dem politischen Gesichtspunkt herausgerückt und gibt unter dem Schutz des Libellgesetzes auch dann erst zur Klage Veranlassung, wenn die Jurisprudenz aus ihr injuriöse Thatbestände entnehmen kann. Es ist eigen mit der Preßfreiheit; sie ist für jeden Einzelnen immer ein großes Glück und für die Gesammtheit nicht selten ein großes Unglück.

Die Preßfreiheit, so mangelhaft ihre endlose Unbeschränktheit ist, hat doch den großen Vorsprung, daß man zur Abhilfe ihrer Uebertreibungen und Ausschweifungen kein anderes Mittel hat, als die Zensur. Dies muß eine fürchterliche Anstalt seyn. Dem natürlichen Bewußtseyn menschlicher Freiheit steht nichts näher, als durch die Presse seine Gedanken auszutragen. Die Schöpfung, der man sich hingibt, ist ein zarter und heiliger Prozeß, in welchen man, ehe er vollendet, Niemand möchte hineinblicken lassen. Jezt eine solche Arbeit erst einer vom Staat gesezten Behörde vorzulegen -- dies muß ein eben so peinliches Gefühl seyn, als wenn der Autor irgend einem Leser seiner neuesten Schrift gegenübersizt und er aus jeder Miene entnehmen kann, welches Urtheil sich allmälig in ihm bildet. Auch würde die Zensur noch eher erträglich seyn, wenn sie nicht von vorn herein als Zweig der administrativen Bureaukratie den Stempel der literarischen Inkompetenz trüge. Ein Beamter, der vielleicht alle Kommentarien des vaterländischen Rechtes studirt hat, nie aber ein Werk, das einer andern Wissenschaft oder gar einer Kunst zugehört, ein Beamter, dessen Ideen alle auf die kleinen Räume des Administraturgebäudes gerichtet sind, der nur einen Gott hat, nämlich den Vorgesezten, und nur einen Himmel, nämlich die Beförderung, -- ein solcher Mann soll nun ein Urtheil über deine Schrift abgeben, er soll wissen, wie hoch man in dieser oder jener Streitfrage, die ihm kaum dem Namen nach bekannt ist, die Saiten spannen darf; er soll überdies unparteilich seyn, wo gerade die Juristen die exklusivsten Menschen von der Welt sind und Beamte sich gewöhnt haben, alles, was nicht unmittelbar mit dem Staat zusammenhängt, gleichgültig und nicht selten feindlich zu behandeln. Die literarische Debatte hat ihre Stichwörter, der Zensor versteht sie nicht; sie hat ihre Prämissen, der Zensor kennt sie nicht und streicht ihre Konsequenzen. Meinem Gegner war durch irgend eine tolerante Zensur gestattet, mich einen Verläumder zu nennen und mir will man nicht erlauben, einen Narren darauf zu setzen. Der Zensor ist selten in dem Gebiet zu Haus, wofür er als Wächter vom Staat eingesezt ist und dies ist um so schädlicher und drückender, als gerade in unserer Zeit die meisten Wissenschaften und übrigen Literaturfächer in ihrem eigenen Bereiche viel innerliches und zum Theil der Schule noch speziell angehörendes Leben entwickeln. Die negative Richtung des Gedankens ist doch einmal da; die Debatte bewegt sich einmal in dem Widerspruche gegen das Gegebene, und welcher Zensor wäre tiefblickend genug, um an einem Produkte, das einmal im Gewande des Tages auftritt, das Hervordämmernde, Bessere und Goldhaltige zu entdecken? Wird er nicht, da die ganze Form und Abfassung einer solchen Schrift negativ gehalten ist, in einem Staate, wo die Zensur das einzige blühende Institut ist und Handel und Gewerbe im Gedeihen übertrifft, sie mit einem einzigen Strich verwerfen. Weil es uns gerade jezt in den Literaturen an den hervorragenden Persönlichkeiten gebricht und das Originelle an die Masse hingegeben ist; weil wir in allen Gebieten mehr objektive und solche Gährungen haben, welche den Prinzipien gelten und an welchen alle Theil nehmen; weil wir mit einem Worte uns in Sachen der Kunst und Literatur in einem Uebergangsstadium befinden; so hat gerade in dieser Rücksicht die Zensur ein Amt zu verwalten, wo Ungerechtigkeiten und Unbesonnenheiten im Nu verübt sind. Durch die Unterdrückung an der einen Stelle bricht der Uebermuth an der andern hervor, und weil die Zensur nur mechanisch gehandhabt werden kann, so zeigen sich in ihr Breschen genug, durch welche die immer lauernde und wühlende Belagerungsarmee der Literatur sich, den Moment rasch benutzend, Bahn bricht. Der Staat verlangt von den Schriftstellern, daß sie sich nur in dem unmittelbaren Interesse des Staates fühlen und begreifen sollen. Welch eine Zumuthung in einer Zeit, wo sich die Regierungen doch gestehen müssen, daß eine gewaltsame Unterdrückung der Opposition unmöglich ist und die Lösung der Widersprüche erst möglich werden kann, wenn sich die Regierung mit ihnen ausgleicht, wenn sie sich zu sogenannten Konzessionen versteht, und die allmälige Verjährung der Leidenschaften glücklich zu benutzen weiß! Warum soll nun die Literatur, die gerade die beste Vermittlerin mit den zwiespaltigen Interessen seyn könnte, nur so denken und schreiben, wie es die Regierung verlangt! Wie kann ein Autor, der kein Beamter ist und bei jetzigen Verhältnissen niemals die Aussicht hat, einer zu werden, sich so in den Mittelpunkt des Staates versetzen, daß er, das wogende Meer der Meinungen und Zeitideen verlassend, nur aus ihm herausschriebe. Was die Ungerechtigkeit dieser Forderung steigert, sind die Antezedentien der Literatur. Noch nie hat man an sie diese Zumuthungen gemacht, wie jezt. Die Freiheit, die man jezt nicht mehr gestatten will, war früher da; was jezt nicht mehr gesagt werden soll, ist alles schon einmal gesagt worden; die Schriftsteller fühlen sich der vergangenen Literatur verwandter, als dem heutigen Staate, sie denken nicht an das, was sie sehen, sondern an das, was sie gehört haben.

Ich will nicht sagen, daß der Staat mit gleichgültigen Blicken abwarten solle, wohin die Literatur in ihrer jetzigen Verwirrung hinaus will. Wenn unsere Schrift überall darauf gerichtet war, zu zeigen, daß die meisten Dinge in der Fluxation begriffen waren, so mußten wir dem Staate doch ein Recht einräumen, seine Kräfte alle zusammenzunehmen, um in dieser Fluth nicht fortgeschwemmt zu werden. Allein der Staat soll noch mehr. Er soll nicht bloß das Bestreben zeigen, sich dadurch zu erhalten, daß er den eisernen Anker seines unbeweglichen Schwerpunktes auswirft, sondern er soll auch in dem Grade zugänglich seyn, als nöthig ist, um die ihn umgebenden Widersprüche in sein Interesse aufzusaugen und diese Widersprüche selbst zu veranlassen, sich im Staate zu lösen und zu beruhigen. Das Machtwort, das Quos ego der Zensur wirkt nur abstoßend und nährt den Widerspruch. Das ist höchste Staatsweisheit, in heutigen Verhältnissen den Widerspruch zur Erkenntniß seiner bodenlosen Stellung zu bringen, den guten Keim in ihm von der flüchtigen Schale zu trennen und in die Gärten der positiven Interessen selber zu verpflanzen. Die französische Politik Ludwig Philipps ist auch darin so tief und fein, daß sie gerade die am meisten gährende und dem Staat abgewandte Literatur, die heimische, mit den öffentlichen Thatsachen zu versöhnen sucht. Leider liegt es im Charakter der Franzosen, in ihrer Bestechlichkeit und ihrer Geldgier, daß ihre Aussöhnung nicht selten skandalös ist und der äußerlich so glänzenden, innerlich so schwachen Literatur keine Ehre macht. Allein doch ist es sichtbar, wie Louis Philipp gerade jener extremen Meinungen, die aus dem Saint Simonismus mit so viel träumerisch sophistischen Philosophemen hervorgegangen sind, sich zu bemächtigen sucht, und wenn es mit Vermeidung des Doktrinalismus möglich ist, sich aus ihnen eine Umgebung schafft, welche nicht bloß den Glanz des Wortes, sondern auch die neueste Politur der Tagesphilosophie hat und die, wie bei Michel Chevalier gerade aus dem Widerspruch hervorgehend, aus der Theorie des modernen Sozialismus, dem einseitigen Parteigewirre des Tags und der liberalen Phrase mit Stolz und Würde gegenübersteht. So sollte es weiser Politik überall möglich werden, sich der bedenklichen Richtungen in der Literatur zu bemächtigen, und wahrlich, es wird auch Nationen geben, die dabei uneigennütziger denken, als die Franzosen und keine Pensionen verlangen, sondern nur ewige, ihren Prinzipien angemessene Reformen und -- Duldung!

Es muß eine Zensur im höhern Sinne des Wortes geben, eine Superiorität des Staates über die Presse; denn wo will man anders das Strafrecht des Staates herleiten, wenn es sich um Preßvergehen handelt? Die Zensur soll eben darin bestehen, daß sich der Staat seines innigen Zusammenhangs mit der Wissenschaft und Ideenwelt bewußt wird, daß er nicht nur bereit ist, jede Eroberung im Reiche der Gedanken, jede gereifte Frucht auf dem Felde selbst der vom Wind bewegten Debatte anzuerkennen und sich zu eigen machen, sondern auch Eroberungen dieser Art zu unterstützen und die Reife in der Saat wenigstens durch Milde und Sonnenschein zu befördern. Wenn mit dieser höhern Zensur die Preßfreiheit als Modalität für die unmittelbare Produktion verbunden ist, dann wird der Staat noch Mittel genug haben, ordnend, leitend, und selbst beschränkend auf die Presse einzuwirken, ohne gewaltsam in die Produktionen einzugreifen. Mit einem Worte, die Zensur sey das Mittelbare, die Preßfreiheit das Unmittelbare!

Den formellen Standpunkt mit dem materiellen vertauschend, sehen wir im Gebiet der Wissenschaften stets zwei Gegner mit einander im Kampf liegen, die Empirie und die Spekulation. Jene ist bald Sammlerfleiß auf der untersten Stufe, bald auf höherer scharfsinnige Kombination einzelner, zerstreuter Thatsachen. Diese kömmt aus einem ganzen Stück und wird den Strom der Thatsachen hinauf oft nur von der Phantasie als Ruder weiter geführt. Die Erfahrung verknüpft einzelne Wahrnehmungen zu Resultaten, denen sie den Stempel des Gesetzes aufdrückt. Die Spekulation trachtet nach derselben Nothwendigkeit ihrer Behauptungen und nimmt dafür zunächst die Anerkennung ihrer Prinzipien in Anspruch.

Die Erfahrung und Spekulation bezeichnen beide eine verschiedene Weise, den Stoff der Wissenschaften zu bewältigen. Sie drücken sogar eine Parteiung aus, wie sie fast im Gebiete jeder Wissenschaft sich gegenübersteht, wo die einen nur glauben, was sie sehen, und die andern sagen, selig wären die, welche, noch ehe sie sahen, schon glaubten. So gingen auch beide Methoden in der Entwicklung der Wissenschaften immer parallel, nicht aber auch immer Hand in Hand. Die eine Methode verwarf die andere. Wenn auch der Inhalt der Forschungen derselbe war, so entfremdete ihn die entgegengesezte Form. Der eine vermißt sich, die Welt schaffen zu wollen, bloß durch seinen Willen und durch philosophische Formeln; der andere verlangt zu demselben Zweck einige Millionen Sonnenstäubchen als Baumaterial. Sie glauben dasselbe leisten zu können, nur auf verschiedene Art und verfolgen sich nicht selten, wie zwei Handwerker, die nach Kundschaft streben.

Die Empirie ist jünger als die Spekulation; denn die Phantasie hat früher die Materie zu erklären gesucht, als das physikalische Experiment. Der einfachsten empirischen Methode des Unterrichts ging die Dichtung voran. Die ersten Spuren von Philosophie sind spekulativer, nicht empirischer Art. Man muß im Gebiet der Empirie noch unterscheiden, erstens das historische Wissen, welches die Kritik bedingt, und zweitens die spekulative Empirie, welche den Uebergang zu einer Versöhnung beider Methoden bildet und ihr bezeichnendes Merkmal darin hat, daß sie vor dem Denkprozesse erst die Fähigkeit zum Denken, vor der Beute erst die Fangarme untersucht. Das historische Wissen ist die erste Form, in welcher das spezielle Wesen der Gelehrsamkeit auftrat. Ein Gelehrter ist zunächst nur der, welcher in irgend einer Wissenschaft den ganzen Vorrath von Fragen, auf die es darin ankommt, und sodann die vollständige Kenntniß aller der darauf gegebenen Antworten besizt. Diese Art von Gelehrsamkeit konnte erst in einer Zeit möglich werden, wo sich eine Vollständigkeit in dem literarischen Apparate irgend einer Wissenschaft erreichen ließ. Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst war diese unmöglich, und es galt damals überhaupt für die Aufgabe eines Gelehrten, daß er durch Spekulation sein kleines Feld Empirie zu ergänzen und auszudehnen suchte. So verbanden die Scholastiker mit ihrer Anhänglichkeit an die Ueberlieferung doch eine unruhig schwärmende Grübelei, für welche die spätere Zeit die Bücher substituirte. Denn nach dem Buchdruck ward es mit der Zeit möglich, die Gelehrsamkeit in die Vollständigkeit zu setzen und den für weise zu halten, der alles wußte. Die Gelehrsamkeit des sechzehnten und siebenzehnten Jahrhunderts bestand größtentheils in einer oft Staunen erregenden Stoffanhäufung, welche bei dem einen eine rohe und ungeordnete Masse blieb, bei dem andern durch die Eleganz damaliger Bildung, durch lateinischen Styl und passende Art zu zitiren gelichtet und zum Genuß geläutert wurde. Diese rohste Art der Empirie, welche sich in dem historischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Gebiete ausbreitete, steht auf der untersten Stufe. Eine zweite war schon die Schematisirung des weitläufigen Stoffes. Ein Verfahren, das leicht in Spekulation übergehen konnte, indem nämlich der Erfahrungsstoff als etwas sich von selbst Verstehendes und als Erfahrung längst Bewiesenes, in einige logische Klammern gezwängt wurde, die bald anfingen (man denke nur an die Philosophie von Wolf!) für sich betrachtet und von der Spekulation belebt zu werden. Seither trennte sich die gelehrte Thätigkeit in die beiden Arme der Empirie und Spekulation. Bloßes Wissen der Ueberlieferung hörte bald auf, für Gelehrsamkeit zu gelten, z. B. in der klassischen Alterthumskunde mußten solche Gelehrte, wie Fabricius, deren ganzes Wissen Gedächtnißsache und Sammlerfleiß war, dem Scharfsinn eines Bentley weichen.

Der Flor der Empirie begann mit den Naturwissenschaften zunächst wohl am eifrigsten im Interesse der Heilkunde. Die Holländer, deren philologische Bildung noch die Schulen beherrschte, fingen auch die Universitäten an durch ihre Entdeckungen, namentlich in der Physiologie, zu beherrschen. Das Vergrößerungsglas zeigte die noch bisher verborgen gewesene Seite der stetigen Naturbildung; das anatomische Skalpett zerlegte den Menschen in seine feinsten Theile. Die Lehre von den Nerven bekam eine neue Gestalt. Noch war auch der Zwiespalt Spekulation und Empirie nicht so weit ausgedehnt, wie späterhin. Die Werke des Kartesius z. B. beginnen mit seinem unsterblichen Satze: ich denke, -- folglich bin ich, und den tiefen, mathematisch-strikten Folgerungen, die sich aus demselben für die Metaphysik ergeben, und hören mit sehr fleißigen Untersuchungen über Statik und Meteorik auf. Die eigentliche Empirie, die hauptsächlich durch Newton begründet ist, gab diese Verbindung der Physik mit der Metaphysik gänzlich Preis und trachtete nach eignen aus der Natur entlehnten, aber auch auf diese nur anwendbaren Erfahrungssätzen über den Fall, über den Stoß, über den Ton und die Brechung und Schnelligkeit des Lichtes. Von jezt an bekam die Physik eine andere Gestalt, als sie noch in den scholastischen Encyklopädien der Schule hatte. Was hier noch immer behauptet wurde, war dort längst widerlegt. Eine Menge sinniger Erfindungen kamen dem Entdeckungsgeiste der Empirie zu Hilfe, berechnete unzufällige Experimente ergaben neue Gesetze und diese wieder neue Folgerungen für das Allgemeine. Auf diesem Wege ist die Empirie bis auf die neueste Zeit fortgeschritten und hat namentlich den Naturwissenschaften diese imposante Geltung verschafft, die sie sich noch um so mehr zu erhalten wußten, als sie für die praktischen Bedürfnisse unserer Existenz eine Menge der sinnreichsten Erleichterungen und Beförderungen abwarfen. Gelehrte, wie Oersted, Berzelius u. A., vereinigen allen Glanz in sich, den eine europäische Berühmtheit widerstrahlen kann. Sie stehen in unserem Zeitalter so groß da, wie die Abälard, die Erasmus und die Melanchthon in dem ihrigen.

Neben diesen Fortschritten der Erfahrung und einer auf bewiesene Wahrnehmungen in den einzelnen Wissenschaften selbst zu begründen versuchten Systematik lief die Spekulation mit ungleicher Bewegung einher. Bald war sie der Empirie voraus, bald hinter ihr zurück. Bald verrieth sie etwas durch feine geistreiche Ahnung, bald mußte sie von der andern Methode Belehrung und Berichtigung annehmen. Sie schuf die Systeme im Grundriß, sie baute das Gerüst auf und überließ es dann der Erfahrung, die Fächer auszubauen. Sie versuchte mit logischen und mathematischen Formeln ebenso die Bildung des Embryo im Ei zu beschreiben, wie die Empirie, die die schwierigsten Versuche nicht scheut, um ihren Augen zu trauen. Welche Philosophie sich in dieser Rücksicht keine Wunder zutraute, die verließ den Raum und die Zeit und hielt sich mehr an die moralische Weltordnung. Jene Männer sind groß, wenn es Etwas durch die Lupe zu betrachten gibt, eine Blüthenkapsel, in ihre linneischen oder jüssieu'schen Merkmale zu zerlegen, wenn es sich um die Bestandtheile eines auf dem Felde gefundenen Steines handelt. Diese sind es, wenn man über die Möglichkeit frägt, wie etwas aus Nichts geschaffen werden konnte, wenn man über die Weltseele und die Offenbarung spricht. Jene verstehen es, in dunkeln Perioden Namen und Jahreszahlen anzugeben, die Reihenfolge türkischer Herrscher nebst den Jahren ihrer Regierung u. s. w. Diese wissen ihren Charakter zu schildern und die Sitten der Zeit, in der sie lebten, wissen die Epochen mit einander zu vergleichen und die Fingerzeige einer göttlichen Weltordnung in dieser oder jener Erscheinung nachzuweisen. Jene nennen uns, wenn wir des Nachts mit ihnen wandeln, jeden Stern am Himmel, wissen uns seine Bahn zu beschreiben, seine Größe und seine Entfernung von uns und der Sonne anzugeben, diese werden erst beredt, wenn es sich um die Geheimnisse des menschlichen Gemüthes handelt, wenn man nach der besten Methode der Erziehung frägt und über die Neigungen der Altersstufen und der Stände belehrt seyn will. Dort erfährt man, welche Mittel den Staaten zu Gebote stehen, was sie in Krieg und Marine leisten können, wie viel Schulden sie zu decken, wie viel Einnahmen und Ausgaben sie gegen einander zu verrechnen haben; hier dagegen, welches der Geist ihrer Regierung und Geschichte ist, welche Tendenzen von ihren Staatsmännern befolgt werden, welche Stellung sie in der Gesammtheit der europäischen Politik einnehmen. So lassen sich von dem selbstdenkenden und selbstforschenden Gelehrten an, der die Wissenschaften bereichert, bis zu dem, nur mit dem Hausbedarf einer flüchtigen Bildung ausgestatteten Laien, die Unterschiede von Empirie und Spekulation im Großen und Kleinen verfolgen.

Beide theilen Vorzüge und Fehler; durch vieles äußerliches Tasten und Fühlen verlernt die Empirie das innere Begreifen; vor den Massen von Lichtmaterie, die in das Auge der Spekulation stürzen, wird sie nicht selten blind. Die Empirie zögert, Schlüsse zu machen, wo doch Ober- und Untersatz gegeben sind. Die Spekulation macht auch da welche, wo der zweite Satz nur das Echo des ersten ist. Die Empirie macht Alles zu einer Sache der Untersuchung, selbst dasjenige, was unmittelbar gegeben und an und für sich gewiß ist. Die Spekulation will selbst den Zufall in die Form der Nothwendigkeit zwingen und ohne Gott zu seyn, aus Begriffen Wesen schaffen. Empirie und Spekulation, beide sind trotzig, beide glauben keiner Ergänzung bedürfend zu seyn. Jene verliert sich oft in die Irrgänge des Skeptizismus, diese in die Irrgänge des Aberglaubens. Gleich an Tugenden und Fehlern würden sie immer das Beste thun, wenn sie sich unterstüzten und von einander Belehrung annähmen. Aeußerlich freilich geht dies nicht.

Ein Versuch der Annäherung war die englische Philosophie des vorigen Jahrhunderts und die sogenannte kritische in Deutschland. Um den Inhalt der Empirie in die Philosophie einzuführen, entlehnte man der ersten zuvörderst die Form. Ehe man dachte, untersuchte man die Werkzeuge des Denkens, man polirte den Rost von der Konzeption und dem Vermögen, Begriffe zu bilden, ab, und suchte eine Theorie des Erkennens aufzustellen, welche allerdings darauf hinauskam, daß wir nur mangelhaft und in der Bedingung von Zeit und Raum erkennen. Diese Philosophie bewegte sich auf die Länge immer nur in einem und demselben Zirkel, in dem Erkennen des Erkennens; sie machte die Einleitung zur Philosophie, zur Wissenschaft selbst, sie blieb in ihrer Einseitigkeit wie ein unvollendeter Bau, den die Arbeiter und die Mittel verlassen haben, stehen. Kant ist eine solche Ruine, die schon Ruine war, ehe sie fertig gebaut wurde; großartig, wie der Dom von Cöln, sieht man doch in seinen innern Räumen, die nicht geschlossen sind, das Tageslicht durch das Dach fallen. Was er zur Begründung einer bessern Religions-, Rechts- und Naturlehre gethan hat, folgerte er aus den praktisch-moralischen Bedürfnissen. Die Philosophie selbst, der reine Gedanke blieb bei ihm in der Einleitung stecken; der Anlauf ist da, aber das Ziel so unermeßlich weit entlegen, daß er aufgeben mußte, es auf die Art, wie die Kritik der reinen Vernunft zu wollen schien, zu erreichen. So war denn auch die Folge, daß die Philosophie nach ihm wieder zwei verschiedene Wege einschlug, einen logisch-empirischen und einen logisch-spekulativen Weg, wie wir unten dies näher bezeichnen wollen.

In den Naturwissenschaften überwog die Empirie und wurde namentlich erst dann von der Spekulation bestritten, wenn sie sich dem Menschen näherte in der Arzneikunde. Die großartigsten Entdeckungen haben im Gebiete der Physik und Chemie den Fleiß und Scharfsinn der Forscher gekrönt; neue Gesetze sind aufgefunden, ja sogar neue Urstoffe, die sich nicht mehr theilen ließen. Die alte Lehre von den vier Elementen ist eine mythologische Fabel geworden. Elemente nennt der Naturkundige nur noch das, was im Schmelztiegel der Chemie den äußersten Potenzen der Hitze und Neutralisation widersteht und als untheilbar zurückbleibt. In der Physik und Chemie hat man den Weg der Wahrnehmung jeder andern Methode vorziehen müssen, da der Ausbau eines Systems bei der täglich sich mehrenden Masse neuer Entdeckungen unmöglich wurde. Das theoretische Bedürfniß mußte sich begnügen, daß ihr die Praxis zugestand, die gefundenen Wahrheiten in mathematischen Formeln auszudrücken und festzustellen. Die Mathematik ist das theoretische Regulativ der Empirie geworden. Eine andere Ordnung gestatten die Naturforscher nicht, am wenigsten eine metaphysische, wo die Formeln früher da seyn sollen, als ihre faktischen Beweise im Experiment. Es läuft dabei freilich viel Hylozoismus, viel massive Empirie unter.

Wir haben schon oben in dem Kapitel »der Stein der Weisen« die Bemerkung gemacht, wie außerordentlich die Wissenschaften in Spannung gesezt worden sind durch die praktischen Bedürfnisse, welche in der menschlichen Existenz lagen. Die Vereinfachungsmethoden der Gewerbe sind die Folge der außerordentlichen Fortschritte, welche in neuerer Zeit die Chemie gemacht hat. Liest man die Werke eines Berzelius, so ergreift uns Erstaunen über die Herrschaft, welche die Wissenschaft über die Natur hat gewinnen können. Alle Handgriffe der Schöpfung scheinen dem Demiurgos abgelernt. Die Gattungen in der Natur fließen in einander über, was kaum noch das Eine war, ist schnell das Andere geworden. Die Luft, welche uns auf dem Felde Meteorsteine herabwirft, kann ebenso im chemischen Apparat behandelt werden, so daß sie einen sichtbaren Niederschlag zurückläßt, ja schon über die Sphäre des Unorganischen hinaus soll es möglich werden, Leben zu erzeugen, so daß wenigstens von Seite der Thierwelt jenes Märchen der Alchymie vom Homunkulus sich verwirklichen zu wollen scheint (die Crossische Thiererzeugung).

Es ist, als hätte die Zeit in der That nun jene Kraft gefunden, die zwischen der Materie und dem Gedanken in der Mitte liegt und den Uebergang aus dem großen Worte des Schöpfers: »es werde,« in die faktische Sichtbarkeit des Unermeßlichen: »es ward,« bildet. Der Elektromagnetismus ist dieses geheimnißvolle Leben, welches als Galvanismus selbst in das Todte kömmt, wenn man nur versteht, den schlummernden Pol durch den ihm entsprechenden Gegenpol zu wecken. Der Dampf ist die Seele der Mechanik geworden, aber etwas unendlich Geheimnißvolleres die der Physik. Sollte eine Spekulation erforderlich seyn, um die zerstreuten Erfahrungen der Physik zu einem höhern Ziele zu führen, dann müßte sie an die Elektrizität anknüpfen, in welcher es deutlich genug ausgesprochen liegt, daß schon die Beziehungen der Dinge unter einander Leben wirken und das Geheimniß aus der Materie die eingeschlossenen Funken der Schöpferkraft zu schlagen, nur in der Auffindung der Analogie liegt, in der Auffindung entsprechender Stoffe, welche eine Friktion zulassen. Die meisten der großen Resultate, welche der neuern Physik geglückt sind, machten sich durch die Vermittlung des elektromagnetischen Prozesses. Noch sind alle Werkstätten der Naturforschung in voller Thätigkeit, um die höchsten Grade dieser Kraft auszumessen und wir bemerkten schon früher, daß es vielleicht noch gelingt, die Wirkungen des Dampfes durch die der Polarität zu überflügeln.

Wenn die neuere Chemie und Physik mehr ein sonder Gut der Wissenschaft ist, so ließen einige andere Naturwissenschaften zu, daß das größere Publikum an ihnen Antheil nahm und sie dadurch fast in die Mode gebracht sind. Welch eine Anregung ist nicht allen Gebildeten durch die Verdienste Cuviers gegeben worden! Mit wie vielem Eifer verfolgte man nicht die interessanten Untersuchungen über die Schöpfung, welche die Geologie auch in einer den Laien verständlichen Sprache führte! Die Betrachtungen über die Urwelt kamen dem so sehr auf die Historie gerichteten Sinne unserer Zeit auf halbem Wege entgegen. Die Geschichte der Erde wurde die Einleitung zur Geschichte des Menschen. Cuvier hat nicht nur den Wissenstrieb, sondern auch die Phantasie seiner Zeitgenossen zu beschäftigen gewußt. Er fügt ihnen die ungestalten Ueberreste einer vergangenen Thierwelt zu konsequenten Gebilden zusammen und schuf eine Welt, die, wenn sie auch fabelhaft ist, darum gerade unsrer Einbildungskraft so viele Nahrung gab. Wer bürgt uns, daß die Thiere, welche Cuvier zusammensezte, richtig sind, daß dieser Kopf auch wirklich dem Mastodon angehört, jene Rippe dem zwischen Fisch und Vierfuß die Mitte haltenden Urweltsamphibium! Aber wir haben diese problematische Mosaik gläubig hingenommen, weil sie so gräulich interessant ist. Ich sage hier nur, daß dieser Theil der Zoologie eine Modesache geworden ist, ohne die großen wissenschaftlichen Resultate in Zweifel zu ziehen, welche sich aus den Urweltsknochen für den Verlauf der zoologischen Naturbildung ergeben. Auch die Erdbildung beschäftigt viel die allgemeine Theilnahme; es wundert mich, daß noch kein Romantiker darauf gekommen ist, Ansichten der Urwelt zur Unterhaltung zu schreiben, etwa die Liebesgeschichte zweier Geister auf dem ersten Erdniederschlage oder philosophische Betrachtungen eines jener gewaltigen Quadrupeden, die sich durch die ungeheuern Schilfwälder der Urwelt schlichen und die, da die Menschen noch nicht lebten, nach Cuvier weit klüger und verständiger gewesen seyn sollen, als jezt noch der Elephant. Und der Elephant war doch nur ein Kolibri der Urwelt.

Eine hier einschlagende Wissenschaft, welche den ganzen Verlauf des Ganges zwischen Empirie und Spekulation durchgemacht hat, ist die Medizin. Man braucht nur auf den Zustand zu sehen, in welchem sich diese Wissenschaften befinden und wird sich bald von der Feindseligkeit der Prinzipien überzeugt haben, die sich auf diesem Gebiete wechselseitig bestritten. Jedes neue philosophische System hat auch auf die Medizin reagirt. Galt es eine Heilung der kranken Geister, so konnte man gewiß seyn, daß auch immer eine Methode zur Heilung der kranken Leiber folgen würde. Was ist Krankheit? Sie muß ihre Ursachen haben, sie muß etwas Anomales seyn, da der Tod in seiner Normalgestalt nur die Entkräftung ist. Ist die Verdauung gehindert; sind die Nerven belegt; ist das Blut entzündet? Da hat man die Hauptfragen, welche die verschiedenen Systeme der Medizin an den leidenden Körper richten. Der eine wählt Mittel zum Deprimiren, der andere zum Steigern. Der eine sagt: Krankheit ist ein Ueberfluß und entzieht; der andere: Krankheit ist ein Mangel auf dieser Seite und steigert und potenzirt auf der andern. Ja es gibt sogar Aerzte, welche die physischen Krankheiten moralisch heilen wollen und statt Abführungen und Brechmittel Gebete und Bußübungen verschreiben. Die philosophischen Systeme, die Stimmungen des Zeitgeistes, der Aberglaube, die Mystik, alles hat auf die Lehre vom Kranken und zu heilenden Menschen Einfluß gehabt.

Wer ist dabei mehr zu bedauern, als der Patient? Er stöhnt und ächzt, der Arzt wird an sein Lager gerufen, dieser freut sich der Gelegenheit, von einem Vorschlage, den er so eben in einem Buche gelesen, die Anwendung zu machen; das Leiden wird die willkommene Gelegenheit zu einem Experimente. Ein anderer hat gute anatomische Studien gemacht, er würde die Todten, wenn sie krank würden, sehr gut heilen können; wie aber die Lebenden? So ist die Medizin eine Kunst, die wir am meisten verwünschen und die wir doch am meisten bedürfen. Ohnehin sind die Aerzte diejenige gelehrte Klasse, welche vielleicht am eifersüchtigsten über ihre so zweifelhaften Kenntnisse wacht. In keinem Fach vermessen sich die Schüler mit so gräßlichen Schwüren auf die Lehren ihrer Meister, als in der Medizin. Was sie in den Schulen gelernt haben, scheint ihnen meistentheils unwiderleglich; eine Ueberzeugung, die sie einmal gewannen, können sie, selbst wenn hundert Fälle dagegen zeugen, nie wieder aufgeben. Ein Mittel, das einmal half, wenden sie immer wieder an, wenn es später auch zehnmal fehlschlug. Die Aerzte fühlen allerdings, daß sie eine traurige Figur spielen, wenn sie selbst an ihrem Erlernten zu zweifeln anfangen. Darum halten sie keck an dem, wofür sie einmal auf der Schule das Lehrgeld bezahlt haben und geben somit dem Nachen Charons immer noch Ueberfracht zu seinem gewöhnlichen Passagiergute. Auch ist es ihrer Gewinnsucht ganz angemessen, daß sie sich weit weniger um die Gesundheit, als die Krankheit bekümmern. Es gibt Bücher genug, welche lehren, wie man die Krankheit heilen kann, und nur wenige, welche darüber sprechen, wie man sich seine Gesundheit erhält. Die diätetischen Handbücher sind es nicht, welche diesen Mangel ersetzen, sondern es müßte Schriften geben, welche gerade wie die Heilmittel für die einzelnen Krankheiten aufgeführt werden, so auch die Schutzmittel dagegen enthielten. Was nützen die Vorschriften: sey mäßig, trinke Wasser, schlafe nicht zu viel und zu wenig! wenn man nicht weiß, wodurch man gerade einer Lungenentzündung entgeht; was man meiden muß, wenn man Neigung zu Nervenleiden hat; was man zu essen, zu trinken, zu thun und zu lassen hat, wenn man sich vor der Schwindsucht fürchtet? Wenn ich nun hier hinzufüge, daß die Aerzte Kundschaft haben wollen, so werden sie mich verdammen und auch andere werden sagen: der Vorwurf ist platt. Allein als Korporation und der ganzen Menschheit gegenüber sind die Aerzte immer uneigennützig und einzig nur auf deren Wohl bedacht; allein im Einzelnen, jeder für sich genommen, mit seinem Wagen und seinen beiden Pferden, und namentlich mit seiner nicht sehr ausgedehnten Kundschaft, in einer großen Stadt, die mit Aerzten besezt ist, oder auf dem Lande, wo die Leute die Gewohnheit haben, gesund zu seyn, da nehmen sie sich anders, und, wer gesteht es nicht, oft weit gehässiger aus.

Man kann sagen, daß ich hier Sitten und nicht Wissenschaft schildere; allein wie sehr diese durch jene bedingt wird, erkennt man auch daraus, daß es kein geringer Fehler der medizinischen Systematik ist, wenn sie für die Krankheiten aller Länderstriche ein und dieselbe Behandlung vorschreibt. Das Klima und die Lebensart sind meist immer der Sitz der Krankheiten und ihre Behandlung sollte darnach sich richten. Man hat gut lächeln, wenn man hört, daß in Italien Alles nach der Methode des Gegendrucks geheilt wird; allein beim Italiener ist die Krankheit fast immer Ueberreizung und seine Natur und Gewohnheit nicht von der Art, daß bloß die Entziehung und Depression ihn wieder ins Gleichgewicht bringt, sondern der Ueberreiz auf der einen Seite erfordert fast einen eben so großen auf der andern, eine Heilungsmethode, die für Deutschland und England, auf die Länder der nüchternen Reflexion nicht paßt. Ja selbst die Blutreinigungsmethode der Franzosen scheint mir vollkommen für diese Nation angemessen; die Ueberreizung entsteht mehr aus der Sinnlichkeit bei den Italienern, die Entzündung aber bei den Franzosen aus einem Temperament, das mehr nach Außen als nach Innen lebt und jede innerliche Regung gleich äußerlich zu bethätigen sucht. Der Italiener will mit dem Zügel durchgehn; da nüzt es nur, wenn man den Zügel scharf anzieht und den Kranken gleichsam zwingt, seinen harten Mund auf dem Gebiß zu brechen. Der Franzose aber ist ein Luftball, den, wenn er stark angefüllt ist, unsere Seile nicht zurückhalten, sondern bei dem man nur nöthig hat, mit der Nadel in den Ball zu stechen, wo das ausströmende Gas ihn schon hier unten fesseln und auf den Normalstand beschränken wird. Um dies weiter auszuführen, muß man weniger Patient, wie ich, und mehr Arzt seyn.

Von Frankreich aus wird durch einen alten Mann, Namens Hahnemann, jezt ein neues medizinisches System verbreitet, das sehr unschädlicher Natur seyn soll, und es mehr, wo es etwas versieht, durch Unterlassen als Zuvielthun verschuldet. Herr Hahnemann, ein Deutscher, hat seine Lehren schon in seinem Vaterlande zu befestigen gewußt; er rechnete aber durch seine Ansiedelung in Paris darauf, auch die übrige gebildete Welt für sein System zu gewinnen. Es besteht dasselbe in der konsequenten Durchführung des Satzes, daß Verwandtes durch Verwandtes geheilt wird, das heißt: daß Frost durch Schnee, daß das Fieber, welches wir durch China erzeugen können, auch durch China wieder geheilt werde. Der Naturphilosophie widerspricht ein solcher Satz keinesweges, denn die organische Entwicklung macht sich selten durch Chemie, durch Vermischung heterogener Bestandtheile, sondern immer nur durch die Wirkung des Gleichartigen auf das Gleichartige, durch Assimilation. Zeigt das Quecksilber nicht deutlich, daß es ebenfalls dieselben Schäden verursacht, für deren Heilung es mit so vielem Glück angewandt wird? Können die Aerzte bei einem durch Quecksilber Geheilten bestimmen, ob sekundäre Zufälle oder Nachwehen die Folge des Heilmittels, oder die Folge der noch nicht getilgten Krankheit sind? Gewiß würde man sich diesem Satze, daß nur das Gleiche auf Gleiches wirkt und namentlich auf eine dem Organismus zuträgliche Art wirkt, so daß die hier erzeugte Heilung keine anderswo erzeugte Krankheit zur Folge hat, sich leichter bequemen, wenn die Homöopathie nicht auch zugleich den Grundsatz hätte, ihre Mittel im Zustande der Verdünnung zu geben. Das alltägliche Gefühl widerstrebt dieser Maxime, welche freilich darauf gebaut ist, daß ja eine zu starke Portion gerade die Krankheit befördern müßte, welche durch die kleine nur in ihrem Verlaufe berührt, gestört und auf den naturgemäßen Organismus wieder zurückgeführt werden soll. Die Heilkraft des menschlichen Körpers ist im Grunde das einzige Mittel, welches kräftig wirkt und es kommt nur darauf an, diese Heilkraft in Thätigkeit zu setzen, ihr eine Anregung zu geben und sie da zu wecken, wo sie schlummert oder übertäubt ist.

So sollen denn auch jedenfalls die kleinen Portionen der Homöopathie nur dazu dienen, den Krankheiten in ihrem Laufe zu begegnen, sie zwar nicht mit mächtiger Gewalt zurückzuschleudern, wohl aber so lange zu hemmen, das heißt: nur einfach zu bestimmen, zu modifiziren, bis die schlummernde Heilkraft die Krankheit eingeholt und überflügelt hat. So haben also die Heilmittel der Homöopathie auch keine positive Kraft, sondern nur eine negative, indem sie selbst nichts wirken, als eine noch stärkere und mächtigere Wirkung, nämlich die Reaktion der Natur. Ist es im Moralischen nicht ganz dieselbe Erscheinung, die man in der Erziehung anwenden könnte, wenn nicht die Handlungen der Menschen auf Ueberzeugung, Lehre und Urtheil gegründet seyn sollten! Mag es einen unverwüstlichen Trieb zum Bösen geben, es gibt aber auch, wenigstens in der gesitteten Welt, einen unverwüstlichen Trieb zum Guten. Braucht man in der Erziehung mehr, als dem Laster das Bild seiner selbst vorzuhalten, um es zur Tugend zurückzuführen? Ist das böse Beispiel nicht oft vom Bösen abschreckender, als das Gute? Und bedarf es bei natürlich unverdorbenen Menschen wohl oft mehr, um sie zum Guten zurückzuführen, als ihnen die Konsequenzen des Bösen zu zeigen; und weil gerade die Homöopathie somit einzig und allein nur auf die Heilkraft der Natur gegründet ist, so mußte sie diese auch auf jede Art zu heben und zu beleben suchen; sie mußte sie von den Einflüssen einer unmäßigen Lebensweise befreien, mußte Speis und Trank den Gesetzen der strengsten Diätetik unterwerfen und alles zu verhüten suchen, was die heilende Nähe der Natur verschleiert und zurückhält. Diese homöopathische Diät aber ist die einzige Seite des Systems, die bis jezt erst allein nur Glauben gefunden hat. Diese rühmt man, als wenn die Homöopathie einzig und allein auf den frivolen Satz begründet wäre, daß man sich als Kranker mäßig halten müsse! Es ist eben so, als wenn man an einem philosophischen Systeme bloß die schöne Konsequenz oder an dem Christenthume die schöne Moral als etwas so Neues und Treffliches zu schätzen erbötig ist! Was aus der Homöopathie werden wird, mag die Zukunft wissen. Ihr Schicksal wird wahrscheinlich von irgend einer neuauftauchenden Krankheit abhängen, welche sie vielleicht nur allein zu heilen im Stande wäre. Leider hat sie sich an der geheimnißvollen Cholera nicht bewähren können, denn dies ist gerade eine Krankheit, die in ihrem heftigen krampfhaften Charakter ganz mit dem gewaltsamen Charakter der herrschenden Heilmittellehre zusammenzuhängen scheint, wiewohl heftige Medikamente im Stande sind, einen Ueberreiz zu erzeugen, der sich kaum wieder bewältigen läßt.

Nach diesen fragmentarischen und von einem Laien kommenden Bemerkungen über den gegenwärtigen Zustand der Naturwissenschaften steigen wir zum geistigen Gebiete empor, zu dem historischen Fache. Historie ist in ihrem weitesten Sinne zu nehmen, als Inbegriff aller positiven, die moralischen Interessen des Menschen betreffenden Wissenschaften. Die Rechts- und Staatslehre mit ihren viel verzweigten Nebenfächern gehört hier eben so her, wie die Geschichte selbst und, was die Geschichte betrifft, auch alles, was in den höhern, spekulativen Wissenschaften, z. B. der Theologie historisch-philologisches Material ist.

In diesem Gebiete haben sich nun Empirie und Spekulation nicht weniger bestritten, wie im vorigen. Dem positiven Rechte stellte sich ein Naturrecht gegenüber; an die Stelle einer kritischen Behandlung der Geschichte trat beim einen politisch-pragmatische, beim andern eine philosophisch-konstruktive. Ja der ungeheuere Stoff, den die Jahrhunderte aufgestapelt haben und den jeder Tag mit seinen regellosen Erfahrungen aufs Neue vermehrt, erheischte eine Vereinfachung, eine Trennung der Haupt- von den Nebensachen, Licht und Ordnung. War in der Naturwissenschaft das Experiment und die mathematische Formel der Regulator ihrer wüsten und unabsehbaren Mannigfaltigkeit, so ist es im historischen Gebiete die Kritik. Sie trennte die Spreu vom Waizen, sie vertheilte Licht und Schatten in den Massen, ja sie sollte es wenigstens thun, sie sollte nicht am Einzelnen haften, und die Historie aus dem Zustand einer chronikartigen Anhäufung auf guten Glauben überlieferter Thatsachen in den andern einer unabsehbaren bloß kritischen Umackerung werfen. War in den alten Geschichtswerken, in den Kompendien der Jurisprudenz, in den Handbüchern der klassischen Alterthumskunde sonst alles Material, eine rohe und ungeordnete Masse, wo Wahres und Falsches oft barok in einander vermischt lagen; so gewann es bald das Ansehen, als hätten sich diese Fächer nur in Kritik verwandelt, in eine unendliche Reihe von Fragezeichen, in einen Kirchhof kleiner aufgeworfener Untersuchungshügel, wo man wieder das Alte hatte, nur das Innere nach Außen, das Vordere nach Hinten gekehrt. Die Zweifelsucht hat auf diese Art das ganze Material der Geschichte durchwühlt. Kein Name wurde mehr in seiner überlieferten Geltung angenommen, die Mythologie wurde tief bis auf jenes Gebiet, was man früher für Geschichte gehalten hatte, ausgedehnt; ehemalige historische Fakta mußte man gegen Sagen austauschen.

Und wenn auch von jenen Männern, an die ein Jeder durch diese Beispiele erinnert wird, Wolf, Niebuhr und Andere, Ausgezeichnetes und wahrhaft Nützliches geleistet worden ist, so zeigt sich doch z. B. auf dem Gebiet der Jurisprudenz offenbar die schädliche Wirkung einer bloß kritischen Zersetzung der Stoffe. Das römische Recht z. B. hörte bei vielen Juristen auf, vom bloß logischen Gesichtspunkt betrachtet und als Aushilfe für positive Gesetzgebungen benuzt zu werden; das Corpus Juris fiel in seinen Elementen auseinander und schuf jene für Juristen wenigstens so unzweckmäßige römische Rechtsgeschichte, die man billig den Philologen hätte überlassen sollen. Es gibt nun Rechtslehrer, welche nur noch historisch-kritische Notizenjäger sind, die den zusammenhängenden Bau des römischen Rechtes getrost auseinanderfallen ließen und sich Tag für Tag nur mit dem Einzelnen beschäftigen. Die Institutionen sind praktisch lehrreicher geworden, als die Pandekten. Die Leztern sind ein Tummelfeld für ein meist scharfsinniges, aber zweckloses Treiben. Die Folge dieses Verfahrens, das man als normal in die Wissenschaft einführen wollte, war verderblich genug; denn dieser Zersplitterung verdankt man es, daß man an dem Berufe unserer Zeit für die Gesetzgebung zu zweifeln anfing und statt eine frische, aus dem Geist der Zeitgenossen emporblühende Gesetzgebung zu befördern, sich auch in politischen Fragen völlig an die Vergangenheit und das Gegebene anlehnte.

Wenn die Spekulation diese planlose Zerfahrenheit beschränkte, wenn sie dem behaglichen Kritizismus Schranken sezte und ihn zwang, was man zu sagen pflegt, in ernsten Dingen bei der Stange zu bleiben, dann hat sie für die historischen Wissenschaften viel geleistet. Hätte sie nur nicht öfters die Einheit, die sie dem Stoffe derselben geben wollte, von fremden Gebieten her entlehnt, hätte sie sich nur mehr aus dem Materiale selbst emporheben können und das faktische Schiboleth dem philosophischen vorgezogen. Ich sage nicht, daß die Spitzen, welche die Spekulation der Historie gegeben hat, die faktischen Zielpunkte verfehlt hätten, allein das Streben der Spekulation würde umfassender und wirksamer gewesen seyn, wenn sie sich von Formeln befreit und einzig und allein nur an die Sprache der Thatsachen gehalten hätte. Wenn in dem Material eine höhere Einheit liegt, so genügt es ja schon, daß sie sich aus ihm selbst herauswickelt. Die philosophische Begründung eines Gegenstandes muß durch und durch die ursprüngliche Farbe desselben tragen. Wenn der trockne Begriff der Blume, ihr Zweck und Ziel im Sinne der Philosophie auch nur das Samenkorn ist, so wird man doch die Menschen schwer überzeugen, daß nicht die eigentliche Bestimmung der Blume darin lag, dies Samenkorn gerade in der bunten Gestalt der Blätter und Blüthen und gerade in dem süßen Dufte der Pflanze zu offenbaren. Was hier gerügt wird, trifft nicht bloß die Philosophie der Geschichte, sondern eben so sehr auch die philosophischen Begründungen anderer der Geschichte zugetheilter positiver Fächer.

Wenn sich in unserer Zeit Empirie und Spekulation zu versöhnen scheinen, so gilt dies von den historischen Wissenschaften bis jezt noch am wenigsten. Hier liegt die Kritik mit der Philosophie noch im Kampfe, hier gelangt bis jezt nur erst eine Versöhnung beider Methoden, entweder durch moralische Humanitätsrücksichten, oder durch einen Pragmatismus, der sich hier politisch, dort mehr schön-geistig äußert. In dem engern Gebiet der Weltgeschichte selbst hat einstweilen noch die Charakteristik und die synoptische Behandlung eine harmonische Regelung des Stoffes erzielt, namentlich hat in neuerer Zeit durch das Memoire sich ein eigenes Inkarnat auf die Haut der Geschichte gelegt, und ihr dies schöne, verlockende Ansehen gegeben, welches sich in einigen Werken der neuern französischen Geschichtschreibung so reizend ausprägt. Es scheint, als wenn das, was der Franzose lumières nennt, also die geistreiche, vorurtheilsfreie Weltbildung hauptsächlich sich noch bis jezt am glücklichsten in der Bewältigung der Historie bewähren konnte. Es scheinen außerordentliche weltliche Kenntnisse und die reichsten Erfahrungen innerhalb des höheren Staatslebens dazu zu gehören, daß einer jezt den Stoff, den er zuvor als Gelehrter sich zuzurichten wußte, auch als Historiker auf ansprechende Weise überwindet. Ob unter diesen Umständen sich auch nicht für die Geschichte die nachtheiligen Folgen äußern werden, welche die nur bloß geistreiche Virtuosität zu begleiten pflegen, das muß die Zukunft entscheiden. Inzwischen haben in den Hilfs- und Nebenwissenschaften der Historie die kritischen Intensionen sich zwar erhalten, aber gemäßigt, ja auch eine Einheit für die Behandlung im Ganzen und Großen hat sich ergeben, wenn auch nur eine praktische und provisorische, nämlich so, daß einerseits gewisse unumstößliche moralische Wahrheiten und andererseits manche dem Herzen wohlthuende Gefühlsthatsachen gleichsam jene Fähnchen in der Geschichte bilden, nach welchen der Feldmesser das Terrain absticht und seine Augenmerke nimmt.

Warum macht die Philosophie all diesen unbestimmten Lagen und Methoden der Wissenschaft kein Ende? Warum benuzt sie den großen Vorsprung, den sie in ihrem einmal gegebenen unveränderten Gegenstand besizt, nicht, um in die streitenden Elemente der empirischen Wissenschaften Friede und eine ihrem Stoffe fortdauernd angemessene Methode zu bringen? Allein die Philosophie selbst ist wohl die bewegteste aller Wissenschaften. Die Feststeckung ihres Gebietes nüzt ihr nichts, denn es ist eine unsichtbare Region. Wie oft bestreitet sie nicht selbst jenen Inhalt, den ihr Jahrhunderte zugestanden haben. Unter diesen Verhältnissen ergab sich das auffallende Resultat, daß die Philosophie in unserer Zeit weit weniger Achtung genießt, als im Alterthum. Sie, die hätte vor allen leuchten und die Fackel tragen sollen, wurde von den historischen und Naturwissenschaften überflügelt, und was man auch an Einrichtungen und Gesetzen in unserer Zeit trifft, selten hat man die Philosophie um Rath gefragt und beachtet sie, wenn sie selbst aus freien Stücken einen gibt.

In England hat sich überhaupt bei dem Worte Philosophie der metaphysische Nebenbegriff verloren. Wenn man von einer philosophischen Maschinenlehre, von einem philosophischen Rezept zur Stiefelwichse spricht, so ist damit nur noch eine Methode bezeichnet, die sich der Paragraphen und Kapitel bedient. In England werden die Fragen der Gesetzgebung, die doch mit der Philosophie in genauer Berührung stehen, niemals durch die leztere erläutert. Die empirischen Wissenschaften haben die Oberhand und die Philosophie ist weniger dazu bestimmt, Gedachtes zu überliefern, als denken zu lehren; sie soll keine Begriffe einpflanzen, sondern die, welche man schon hat, nur regeln und ordnen.

Und doch hatten die Engländer so vielen Beruf, in der Philosophie die erste Rolle zu spielen. Sie hatten Phantasie und nüchternen Verstand genug, um keiner von beiden Geistesthätigkeiten ausschließlich anheimzufallen. Die vorzüglichsten Bewegungen innerhalb der Philosophie verdankt man Engländern. Bako von Verulam wirkte zwar großartiger auf die Naturwissenschaften, als auf die Philosophie, allein seine Theorie der Phänomene war es schon, auf welche Locke und Hume weiter fortbauten. Welchen Einfluß hatten nicht diese beiden Heroen der englischen Literatur auf die allgemeine europäische Bildung im vorigen Jahrhundert! Wenn auch Europa mehr seine philosophische Richtung durch Frankreichs skeptische Maximen bekam, so war es doch hauptsächlich Locke, der ihren Ton angegeben hatte, der nicht bloß in der Philosophie ein neues Verfahren schuf, sondern auch, unterstüzt von den umfassendsten Kenntnissen, auf Politik und Gesetzgebung einzuwirken wußte. Montesquieu und Voltaire sind die Schüler seines Geistes. In der Richtung, welche die Philosophie damals nahm, in ihrer Einwirkung auf die geoffenbarte Theologie wagte Hume noch mehr als Locke. Dieser hatte nur die Elemente eines Skeptizismus, jener bildete sie vollständig aus. Der große Einfluß, den Locke auf Frankreich gehabt hatte, fiel Hume'n in Deutschland zu. Kant entnahm ihm die Prinzipien seiner berühmten kritischen Methode, denen er mit der Zeit freilich eine andere Richtung gab, als Hume, welcher sich in den Propyläen des Kritizismus erhielt und das Allerheiligste der Ontologie nicht nur für verschlossen erklärte, sondern ganz ohne allen Zugang für eine hohe Mauer ohne Thüre. Der Erfolg der Hume'schen Philosophie war ein endloser Skeptizismus. Die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes waren einmal untersucht, die höhern Untersuchungen über die Wesenheit der Dinge für Täuschungen erklärt und in dieser negativen Art hätte auch wohl die Philosophie aufhören müssen, ferner eine Wissenschaft zu seyn. Es war das Streben der von Reid gestifteten und von Stewart weiter ausgeführten schottischen Schule der Philosophie, ihre Wissenschaftlichkeit zu erhalten. Obgleich die schottische Schule zu denselben Resultaten kömmt, wie Hume, so trachtete sie doch darnach, selbst in den negativen Elementen, worin sie sich bewegte, doch einiges Positive und die ganze Philosophie Aussprechende, im Gewande des Systems festzustellen. Man hält es für sonderbar, wenn man der schottischen Philosophie das Verdienst einräumt, sie hätte die Philosophie wieder fixirt. Ja es war dies der Hume'schen Philosophie gegenüber, die nur den Verstand untersuchte und das Uebrige auf sich beruhen ließ, ein großes Verdienst. Schon die Polemik gegen Dogmatismus und Phantasterei erforderte, daß die Gegner Ordnung in ihre Reihe brachten und diese begann Reid damit herzustellen, daß er in die Philosophie wieder die Konsequenz einer Wissenschaft einzuführen trachtete.

Die schottische Philosophie geht sogleich von dem unmittelbaren Dualismus unsrer Erfahrungen aus, der uns überall auf entweder etwas Geistiges oder etwas Körperliches stoßen läßt. Wenn wir in der Kenntniß der Materie größere Fortschritte gemacht hätten, als in der des Geistes, so liegt dies ihr zu Folge theils in der falschen Methode, theils in der mangelhaften Abgränzung der Philosophie und endlich in ihrer Verwechslung des Wesens mit der Erscheinung, der Ursache mit der Wirkung. Die Methode, welche sie nun befolgten, geht vollkommen wieder von Hume aus; ihr Weg ist die empirische Erfahrung, ist die Erkenntniß des Zunächstliegenden und die Schlußfolgerung von ihm auf das Entferntere. So dicht gedrängt die Erfahrungen im Anfange der Wissenschaft gesäet sind, so spärlich werden sie auf dem höhern Gebiete in der Metaphysik; hier werden ganze Gebiete, welche früher die Philosophie behauptete, preisgegeben, hier zucken die Philosophen die Achseln, beklagen, daß man nichts wisse, finden aber gerade die Wissenschaft darin, zu beweisen, daß man hier nichts wissen könne. Die schottische Philosophie ist daher nur Psychologie. Sie beschäftigt sich mit den Ursachen und Bedingungen unserer Erkenntniß, sie baut ein System von sinnlichen und wohl auch mehr oder weniger geistigen Wahrnehmungen auf, läßt hier und da etwas ahnden oder vermuthen, kehrt aber immer wieder auf den Menschen, als das Maß der gegebenen Dinge zurück. Diese Philosophie, so unvollständig ihr äußeres Aussehen ist, hat doch unstreitig viel wohlthätige Resultate für manche praktische Fragen abgeworfen. Sie hat nicht nur der Theologie nützen können, sondern auch den Naturwissenschaften und besonders jenem Theile der Arzneikunde, welcher den Krankheiten der menschlichen Seele gewidmet ist. Diese Philosophie ist überhaupt nichts, als eine geistige Physiologie, die gerade ebenso, wie die körperliche, durch Erfahrungen geleitet wird, das Verwandte mit einander vergleicht, das Aehnliche vom Täuschenden sondert und etwa sich ergebende Widersprüche auf billige und zurückhaltende Weise zu schlichten sucht.

Die vorzüglichsten Erscheinungen der französischen neuern Philosophie sind Uebertragungen und Modifikationen des schottischen Empirismus. Die Franzosen, ich erinnere an Royer Collard, Jouffroy, Cousin und Andere, konnten sich nicht überwinden, ihrem für das Abstrakte sehr geneigten Geiste das Opfer zu bringen, daß sie die enge Beschränkung, welche die Schotten der Philosophie gegeben hatten, nicht etwas weiter auszudehnen suchten. Sie lüfteten, wenn auch mit behutsamer Hand, den Schleier der Metaphysik und versuchten zu beweisen, daß eine nähere Beschäftigung mit ihr und hier und da ein gefundenes Resultat die Voraussetzungen der schottischen Philosophie durchaus nicht verletze und wohl mit ihnen übereinstimme. So fügte man sich in Frankreich auch nicht der strengen Abscheidung zwischen dem Geist und Körper, sondern gestattet Uebergänge in einander, indem man nur zwischen physischen und intellektuellen Erscheinungen sondert. Von deutscher Philosophie entlehnten die Franzosen den Satz, daß es in unserem Geiste unmittelbare Ueberzeugungen gäbe, die nicht von einer äußern Erfahrung abhingen. Dies sind die kantischen Kategorien, welche die Franzosen aus der Philosophie nicht in die Hypothesensucht der Scholastik verbannt wissen wollen. Einige mystische Tendenzen gehen in Frankreich dieser überwiegenden Richtung seiner vorzüglichsten Geister parallel. Die Doktrinärs in Frankreich, Guizot an der Spitze, haben sich alle in der Hauptsache als Anhänger der schottischen Philosophie erklärt.

Weit reicher, glänzender und zugleich verworrener ist die Kunde, die uns von der Philosophie in Deutschland zukömmt. Diese tiefsinnige Nation hat gerade in Zeiten politischer Erniedrigung sich durch Ausbildung seiner geistigen Schätze zu trösten und zu veredeln gesucht. Der französischen Revolution folgt hier eine Revolution der Geister, die in der That alle Phasen ihres Vorbilds durchmachte, die Ideen in Anklagestand versezte, sie zur Guillotine schleppte, und nachdem die durch Kant hervorgerufene kritische Gährung vorüber war, den Despotismus Napoleons in Gestalt Fichte'scher und Schelling'scher Machtsprüche wiedergab. Sucht man in der neuern Geschichte nach einem Punkte, wo sich die höchste Geisteskraft der Generation sammelte, und wo alle die Zeit bewegenden Ideen mit einer gewissen nothwendigen Entwicklung sich unter einander gruppirten, so muß man die Geschichte der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel als eine solche anerkennen. Dies war eine Epoche, welche den widerwärtigsten Zeitereignissen zum Trotz in unserer Zeit wie eine Oase in der Wüste lag. Unterirdische Kanäle verbanden sie mit den Geheimnissen des Orients und den schönsten Blüthenmonden des dichterischen Geistes der Griechen. Cartesius, Spinoza, Leibnitz und das Christenthum wurden im Schooße dieser so organischen und methodischen Gährung neu geboren; es ist dies ein Punkt, von welchem wenigstens ideell alle Strahlenbrechungen der Zeit ausgegangen zu seyn scheinen, obgleich die Zeit nichts mit ihm unmittelbar gemein hatte, und sich hier das merkwürdige Schauspiel wiederholte, daß mitten im Gewühle des Krieges eine Reihe ernster und weiser Philosophen schweigsam ihre Zirkel zeichneten.

Es herrscht in der deutschen Philosophie ein überschwänglicher Idealismus. In die subtilsten Nadellöcher wußte sie den, bis zur Unsichtbarkeit gespizten Faden ihrer Dialektik einzufädeln, in der Luft fand sie Bahnen, vom Unsichtbaren wußte sie die Schatten zu zeichnen. Diese Philosophie ist ein außerordentlicher Beleg für den Scharfsinn und die Einbildungskraft der deutschen Nation. Es wird eine Zeit kommen, wo man, wie zum Theil schon jezt, von dem philosophischen Werthe der meisten Leistungen des deutschen Idealismus abstrahiren, aber in ihrer systematischen Abrundung, sie als die erhabensten Dichtungen bewundern wird, und wer vermag zu sagen, wo die Gränze liegt, welche in dieser Philosophie in der That das Mögliche vom Unwahrscheinlichen trennt. Wo ist noch Gewißheit und heller Sonnenschein, wo schießen schon die Nebel auf und tanzen wie Irrlichter der Dämmerung? Die deutschen Philosophen gehen nicht von der unmittelbaren Erfahrung aus, weil diese niemals zu einem Systeme führen kann und ihr Vorsprung ist es, daß wir das Gefühl einer harmonischen Weltordnung als unmittelbare Thatsache in uns tragen. Darauf fußend beginnt diese Philosophie mit den Begriffen des Seyns, des Daseyns, der Schöpfung, und ist dabei wenigstens ihrer eigenen Versicherung nach so weit entfernt, nur bloß mathematische Formeln geben zu wollen, daß sie vielmehr selbst die Logik zur Metaphysik gemacht hat und in der höchsten Potenz ihres Idealismus damit endete, daß, wie in Gott, Denken und Gedachtes Eines sey, so auch die ganze Weltordnung, die Ontologie eine Logik im erhabensten Style seyn müsse. Die Materie störte diese kühnen Träume nicht; ob da ein Baum rauscht, ein Fluß sich schäumend von einem Berge stürzt, ob da im Menschen selbst durch Schmerz und Krankheit sich das Gefühl von Seele und Leib, von Leben und Tod, wie eine unwiderrufliche Wahrheit ausspricht; die deutsche Philosophie kümmert dies nichts. Ich bin gleich Ich, bin gleich Nicht-ich; ich, mein Gedanke beherrscht die Welt.

Wenn man in der schottischen und französischen Philosophie, und z. B. in so kläglichen Schematismen, wie sie der Saint Simonismus aufgestellt hat, mit Recht über die Weitläuftigkeit und Schwierigkeit erstaunt, welche diesen Methoden die Materie darbietet, so hat die deutsche Philosophie, die sich vom Fetischdienst der Materie, vom Aberglauben der bloßen Erscheinung trennte, sie auf das würdigste überflügelt. Mögen wir das unmittelbare Gefühl des Dualismus haben und im nächsten Bewußtseyn Geist und Materie nicht verwechseln, so lebte in uns doch nicht weniger die thatsächliche Ueberzeugung, daß die Materie in den Fesseln des Geistes liegt, daß sie Staub ist und ihre Bestimmung darin finden wird, einst im leeren Nichts zu verwehen. Die deutsche Philosophie hat die Spekulation eben so sehr von der kindischen Furcht vor der Materie, wie vor der Geheimnißkrämerei dessen, was man das eigentliche Wesen der Dinge nennt, befreit. Kant, der eine aus Skeptizismus und Dogmatismus gemischte Philosophie aufstellte, hatte ein versiegeltes Vermächtniß hinterlassen, welches seine Erben öffneten, nämlich, daß wir die wahre, die eigentliche, die an sich seyende Natur der Dinge nicht erkennen könnten. Kant hatte gesagt, von einem Apfel weiß ich, daß er herbe schmeckt, hinlänglich rund ist, ein Herz mit Samenkörnern hat, ich kenne alle seine Eigenschaften, und dennoch nicht, was er eigentlich ist. Kant meinte, man wisse also nicht, was dieser Apfel im Bewußtseyn Gottes wäre, wie er sich in jener unbegreiflichen Macht, die die Welt geschaffen hat, manifestire, und gegen dieses Bedenken waren die Systeme seiner kühnen Nachfolger gerichtet. Ungleich der schottischen Philosophie und der Kant'schen, die bloß die Erkenntniß der Erscheinungen und Eigenschaften für möglich hielten, behaupteten sie, gerade in den Erscheinungen läge die eigentliche Wesenheit der Dinge und es wäre einerseits die Hohlheit der Materie, daß sie nur ihr Aeußeres wäre, und andererseits ihre von Gott so einmal gegebene Bestimmung. Freilich, wenn Alles, was wir sehen, keine andere Innerlichkeit hat, als bloß seine Aeußerlichkeit, wenn die Schale der Kern ist, oder der Kern nicht in der Erscheinung, sondern in dem Gesetze der Erscheinung liegt, dann bricht die Materie bald in ihrem Innersten zusammen, sie ist hohl und hindert uns nicht, in ihre äußersten Anfänge, in die metaphysischen Ideen zurückzukehren. Und darin liegt gewissermaßen eine Aussöhnung mit der Empirie, daß die neueste Gestaltung der deutschen Philosophie sich wohl hütet, die Erscheinung so oben hin zu behandeln, wie sie die Philosophie des Ich gleich Ich behandelt hatte. Es ist das Bild des Baumes, der uns die Methode und das Wesen der jetzigen Kulmination der deutschen Philosophie versinnlichen kann. So wie der Baum aus einem Saatkorn entspringt, Wurzeln faßt, zum Lichte aufschießt, Aeste treibt, Blätter, Blüthen, Früchte und zulezt wieder dasselbe Samenkorn, von dem es ausgegangen ist, so hat diese Philosophie im höchsten Idealismus, darin auch den Realismus anerkannt, daß sie diese fortwährende Erscheinung des Wesens für etwas Wesentliches hält, daß sie nachweisen konnte, wie in dem ersten Keime des Samens schon Blatt, Blüthe und Frucht konkret enthalten sey, ja daß durch die Produktion des Samens aus dem, was auch nur vom Samen gekommen ist, durch die Selbsterzeugung und Einheit des Anfangs und Endes auch der ewige Zirkel der Göttlichkeit und die auf jeder Stufe der Erscheinung, auf dem Blatt, der Blüthe immer unmittelbare Nähe der Wesenheit bewiesen ist. Und wenn man dieser Philosophie den Vorwurf des Pantheismus machen will, so nimmt sie ihn einmal an in dem edleren Sinne, nach welchem Alles, was da ist, Gottes ist und weist ihn zurück in dem gemeinern, nach welchem Alles, was da ist, auch göttliche Verehrung genießen solle. Wenn es unläugbar ist, daß die Schöpfung so gut, wie unser Geist eine Offenbarung Gottes ist, so werden wir einmal einsehen, daß doch am Baume der Stamm nicht so verehrungswürdig ist, wie die Blüthe und werden zweitens auch nicht die Blüthe zum ausschließlichen Zielpunkte unserer Andacht machen, sondern uns nur jener Totalität der Gotteskraft, die im Ganzen und Großen wirkt, hingeben; der ächte Pantheismus, den kein Philosoph von sich weisen sollte, ist der, daß wir sagen, Alles ist zwar Gott, aber nicht Jedes, Jedes ist nicht Gott, aber Gottes; die Harmonie ist Gott, aber die einzelne Note als Einzelne kaum göttlich.

Suchen wir nun einige Hauptresultate dem gegenwärtigen Stande der Philosophie zu entnehmen, so tritt uns zuerst im Betreff der Wissenschaft selbst ein großes Ergebniß entgegen.

Mag der Kampf einzelner Tonangeber in der Philosophie gegen ihre Rivale auf Tod und Leben gerichtet seyn, die erste Generation ihrer Schüler wird den Fanatismus theilen, die zweite aber schon nach einer Versöhnung trachten. Der Hauptgrund des Zwiespaltes ist fast immer die Methode und auch diese nicht einmal in dem Grade, daß man nicht behaupten dürfe, der nüchterne verstandesmäßige Skeptizismus z. B. wäre überall abgeschärft, bei den Schotten, weil sie ja gegen Hume auftraten, bei den Franzosen, die gegen die Schotten die Metaphysik geltend machen wollen und nun erst gar bei den Deutschen, einer Nation, die sich für das Auge Gottes selber hält. Einer der mächtigsten Gründe schon, welcher die zeitgenössische Philosophie zur Eintracht führen muß, liegt in der offenen gelichteten Fernsicht, welche unsere Zeit in der Geschichte der Philosophie gewonnen hat. Welches neue philosophische System würde sich noch so plump ankündigen, daß es die ganze philosophische Vergangenheit mit dem Fuße von sich stieße, und nicht vielmehr, wie in ihrem eigenen Ahnensaale mit stummem Ernste wandelte, und jeder Säule, jedem Bildniß eine sinnige Betrachtung zuwendete! Faßten diese hohen Denker nicht meist alle Alles zusammen, was zu ihrer Zeit zu denken würdig und zu wissen möglich war? Stehen an der Spitze der Zeitperioden in der Historie schon Ideen, die in das verworrene Gewühl von Namen und Jahreszahlen erhellende Schlaglichter warfen; sollten da nicht die Philosophen so viel Blitzesstrahlen in ihre verewigte Hand gefaßt haben, als sie bewältigen konnten, um in die schwüle Zeit ihre elektrischen Luftreinigungen zu donnern?

Wenn die Geschichte der Menschheit ein sinniger Bau ist, dann ist es auch die Geschichte der Philosophie, das sehen wir mit klaren Augen, das entnehmen wir aus der Achtung, die wir dem Scharfsinn aller dahin gegangenen Denker zollen müssen, das entnehmen wir aus den Grundlagen, die befestigt, aus den Irrthümern, die begangen seyn mußten, daß wir selbst einen Bau aufführten und die Wahrheit, unsere Wahrheit, unsere Ueberzeugung als Kuppel darauf sezten. Wenn die jezt herrschenden Philosophien durch die Gegenwart nicht gebunden werden, so bindet sie die Vergangenheit.

Das zweite Resultat der modernen Philosophie, unabhängig von der Wissenschaft, möge ihrer positiven und historischen Stellung gelten. Die Geschichte beweist, daß die Philosophie nicht immer in die Fugen der Zeit, welche sie gebar, passen wollte. Sokrates galt für den Weisesten, aber nicht für den Besten der Griechen, er mußte den Giftbecher trinken; die Philosophie des Heilandes wurde an das Kreuz geschlagen; die Philosopheme späterer Jahrhunderte bestiegen den Scheiterhaufen. Waren es bis dahin nur einzelne originelle Persönlichkeiten gewesen, welche den bestehenden Verhältnissen als Opfer fielen, so hat die Philosophie, welche seit Bako in ihre großartige Bewegung kam und mehr auf die Massen, als auf die Schulen, mehr auf die Erde als den Himmel gerichtet war, vollends mit dem Bestehenden im offenbaren Widerspruche gestanden. Dieser Bruch der Philosophie, theils mit der allerdings abgelebten Geschichte, theils mit dem versteinerten Glauben, brachte sie in eine sehr schwierige Stellung, zog ihr die Feindschaft der Gewalt zu und bewahrte sie bei allem Guten, das die Geschichte, die Sitten und der Glauben ihr verdanken, doch nicht vor Uebertreibungen, welche Niemanden schädlicher waren, als ihren eigenen, inneren, auch wissenschaftlichen Zwecken. Von der heutigen Philosophie aber hat man keinen Grund mehr, gleiche Besorgnisse zu hegen. Namentlich dadurch, daß sie zuerst zu einer rationellen Wissenschaft der Geschichte gekommen ist, hat sich aus dem Schooße der Philosophie eine große Achtung vor historischen, durch die Umstände gegebenen Entwicklungen erzeugt. Die Philosophie schulmeistert die Geschichte nicht mehr, sie ist überhaupt weit mehr auf ihr inneres, spekulatives Leben bedacht, als auf eine Anwendung für die Praxis; eine Philosophie, wie die Lockische, die nur zu politischen Zwecken ersonnen wurde, ist unserer Zeit nicht mehr analog; denn für die Politik haben wir in dem gesunden Menschenverstand, in den positiven Interessen und leider auch allerdings in den Leidenschaften Faktoren genug. Es ist dies ein sehr denkwürdiges Resultat der neuern Philosophie, daß sie mit den öffentlichen Verhältnissen keine direkte Verbindung mehr unterhält und sich lediglich auf ihre wissenschaftlichen Grenzen beschränkt.

Eine Reaktion der Philosophie gegen die gesellschaftliche Sitte hat überhaupt selten stattgefunden. Man kann Rousseaus Maximen, die aus dem Zorn und dem Mißtrauen eines heftigen Gemüthes hervorgingen, nicht eigentlich Philosophie nennen. Eine solche Umwandlung des Lebens in der Familie und der Schule, wie seine Richtung hervorgerufen hat, hat wenigstens die Philosophie nie wieder erreichen können. Da in neuerer Zeit das Institut der Ehe angetastet worden ist und sogar unsere Gewerbe in ein neues System gebracht werden sollten, so ist wieder der Saint Simonismus als Philosophie von so untergeordneter Bedeutung, daß man ihn weit eher für ein neues System der Nationalökonomie als der Metaphysik halten möchte. Die ausschließlich wissenschaftliche Philosophie unserer Tage kömmt demnach in den Sitten fast auf das Gegebene zurück. Die Familie wird als eine der ersten Offenbarungen des gesitteten Lebens anerkannt und auch das Meiste, was aus ihrem Schooße kam, von der Philosophie heilig gesprochen. Die Philosophie kann für Schule und Haus einzelne Grundsätze aufstellen, welche entweder den herrschenden widersprechen oder für eine in der Minorität befindliche Ansicht Partei nehmen; allein dies ist nur eine zufällige Konsequenz derselben. Die Sittenreformation ist keine Haupttendenz der Philosophie mehr. Von dieser Seite ist sie selbst im Guten, das sie leisten könnte, zu lässig geworden. Denn wenn die Möglichkeit, vieles in unserem nächsten unmittelbaren Leben besser zu bestimmen, wohl vorhanden ist, so würde die Philosophie hier eine glücklichere Lehrmeisterin seyn, als jene populäre Literatur, deren Motiv mehr das Gefühl als der Gedanke ist; vielleicht hält sich die Philosophie nur zu weit entfernt von unsern Umgangssitten; sie, der man zu einer hier und da wohl möglichen Reform mehr Beruf allgemein zugestehen würde, als jenen einzelnen sogenannten Weltverbesserern, deren mitunter redliche Absichten ihre unbegründete wissenschaftliche Stellung und ihren Mangel an doktrinärem Nimbus meist immer entgelten müssen.

Selbst in der Religion erhebt sich die Philosophie des Tages wenig über das Gegebene. Ja, wir finden, daß die Philosophie weit eher geneigt ist, sich für die Wahrhaftigkeit des Inhalts jener Dogmen zu erklären, welche von den freisinnigen Richtungen innerhalb der Theologie selbst bestritten werden. Die Philosophie, selbst in England und Frankreich, ist weit geneigter, sich gegen, als für den Deismus zu erklären. Die Theologie, überrascht von einer Freundschaft, die sie nach vorangegangenen Beispielen sich nicht hätte träumen lassen, ist meist kälter gegen die Philosophie, als diese nach ihrem heutigen religiösen Inhalte verdient; sie will die Form nicht zugeben, in welcher die leztere das Wesen des Christenthums ausspricht, und wenn es philosophische Systeme gibt, die sich für die Dreieinigkeit, für die Gottheit Christi und den ganzen Inhalt des apostolischen Glaubensbekenntnisses aussprechen, so verdächtigt sie wohl gar die Motive dieser orthodoxen Hingebung, bestreitet die Aufrichtigkeit derselben und wird durch die Versicherung beängstigt, daß man den dogmatischen Inhalt des Christenthums auch noch anders, als durch den bloßen Glauben begreifen könne. Wahrlich dieser Streit ist zulezt unwesentlich und hindert nicht, über die merkwürdige Richtung zu erstaunen, welche die Philosophie unserer Tage genommen hat. Keine Gegnerin des Lebens, widerspricht sie auch dem Christenthume nicht und gibt es zu dieser Höhe auch verschiedene Stufen, so steht doch auf der untersten keineswegs die Frivolität des achtzehnten Jahrhunderts, sondern mit Ernst und Emsigkeit wird das Wesen der Religion geprüft und dies selbst da, wo jedes Extrem von Mystizismus undenkbar ist. Die Stellung der Philosophie zur Theologie ist jezt dadurch von der Philosophie des vorigen Jahrhunderts unterschieden, daß früher nicht bloß die Theologie angegriffen wurde, sondern auch ihr Gegenstand, während, wenn sich jezt noch eine polemische Richtung findet, diese nicht mehr dem Inhalt, sondern der Methode der Theologie gilt, indem diese beschuldigt wird, für jenen mangelhaft zu sorgen. Daß aus diesem Streite vielleicht eine vernünftigere Auffassung der historischen Begründung des Christenthums hervorgehen dürfte, haben wir schon oben bemerkt. Hier genüge die Angabe dieses denkwürdigen Faktums, daß die Philosophie auch in der Religion über das Gegebene sich nicht erhebt, sondern das Gepräge einer Neuerung nur in der etwas modifizirten Auffassung desselben liegt.

In Betreff des Staates scheint die Philosophie parteiischer zu seyn, aber wenn man sie früher in den Reihen der Opposition fand, so findet man sie jezt gerade in denen, welche das Bestehende vertheidigen. Ein sprechendes Beispiel dieser Erscheinung haben wir in Frankreich. Die Doktrinärs sind ursprünglich Anhänger der schottischen Philosophie, welche hauptsächlich von Royer Collard auf französischen Boden verpflanzt wurde. Dem Jesuitismus gegenüber war die Doktrine ein heftiger Widerspruch; in jener Kammer, die Manuel von ihren Sitzungen ausschloß, konnte man die Doktrine leicht für jakobinisch erklären und der ihr zu Grunde liegenden Philosophie dieselbe Richtung zuschreiben, welche die politische Philosophie des vorigen Jahrhunderts hatte. Allein jezt hat sich dies Verhältniß umgekehrt. Die Doktrinärs sind in die Fußstapfen der Labourdonnaie's getreten, sie sind königlicher gesinnt als die Könige, sie vertheidigen der Revolution, ja einer gesetzmäßigen Opposition gegenüber, mehr als den status quo, mehr als die Ordnung, sie vertheidigen eine Staatstheorie, die in philosophischen Lehren wurzelt und eher durch das Gegebene, als durch das neu zu Begründende ihnen realisirt scheint. Zu gewissen Konzessionen im Interesse der Bürgerfreiheit gern geneigt, den Prärogativen des Adels, wenn auch nicht ihm selbst abhold und den König von der Verantwortlichkeit, dann aber auch allerdings von der Selbstregierung befreiend, haben die Doktrinärs einen gewissen Grad von Freiheit mit ihrer Abneigung gegen den ewigen Fluß der Dinge und die grenzenlose Negation des Zeitgeistes wohl zu vermischen gewußt. Wenn sie Positives vertheidigen, so gilt dies gerade nicht unmittelbar dem Gegebenen, wohl aber mittelbar, da das faktisch Gegebene ihrer philosophischen Theorie am nächsten kömmt, und wenigstens den Buchstaben für das hergibt, in welches sie allerdings einen andern Sinn legen. Und so ist auch in Deutschland die Philosophie weit entfernt, mit der politischen Neuerung sich zu verbinden. Natürlich, die Neuerung hat kein Ziel; wäre sie eine fertige, in sich begründete und vor neuem Verfall sichere Republik, wer weiß, ob die Philosophen sich mit dem dann Bestehenden nicht eben so gut abfinden würden, wie jezt mit der Monarchie! Es ist wahr: die Philosophie muß über den Staat eine Meinung haben, sie muß sich doch für äußere Formen und dauernde Gesetze erklären; man verlangt ja eben so gut einen Staat von ihr, wie eine Kirche und eine Logik, ihr Ziel muß also von Haus aus konservativ seyn. Es kann einige Fragen geben, was die Verwaltung und Gesetzgebung betrifft, wo die Philosophie sich den herrschenden Grundsätzen nicht fügt, allein in der Hauptsache haben wir auch hier das gleiche Resultat, wie auf den beiden vorigen Stufen. Die Tonangabe zu den politischen Debatten unserer Zeit kömmt von der Philosophie nicht her; sie ist zu sehr Dogmatismus, um negativen Richtungen die Fahne voranzutragen.

Mag sich nun die Philosophie hier im Recht oder Unrecht befinden, so werden wir das wohl zugestehen müssen, daß sie keine besonders großartige Rolle spielt und sich in einer ihrer hohen Aufgaben nicht angemessenen Lage mehr befindet. Sie gleicht einem Fürsten, der sich im Inkognito eines gewöhnlichen Ueberrockes ohne Stern unter das Volk mischt. All' ihre Kraft ist entweder in ihren eigenen Schooß zurückgedrängt oder sie benuzt sie nur zum Kampfe gegen die Katheder, gegen die Kollegen, die sich in diesem oder jenem wissenschaftlichen Bereiche, in der Thierarzneikunde, in der Landwirthschaftslehre einem allzu krassen Empirismus ergeben. Da ist allerdings die heutige Philosophie in voller Windmühlenthätigkeit und schrotet mit den Mühlsteinen ihrer Prinzipien manches grobe Korn zu feinem Mehl. Sie gibt sich mit der Ausbesserung alter abgerissener Methoden ab. Sie vervorschuhet abgelaufene Stiefeln, sie flechtet die Löcher in Körben und Stühlen zu, sie wendet Kleider, überzieht abgenuzte Kravatten wieder frisch, sezt in mangelhafte Regenschirme neues Fischbein ein, bügelt die Beulen in alten Hüten wieder auf, kurz sie hat mehr ein Trödelgeschäft, als einen Weltberuf; sie sizt in einer kleinen Schuhflickerbude, nicht auf dem höchsten Berge, von dem man die Welt übersehen kann. So ist es auch schwer, aus der Stellung der Philosophie zum öffentlichen Leben, jezt für sie oder das Leztere ein Prognostikon zu stellen. Wird die Philosophie Antheil haben an der Lösung jener Fragen, mit welchen wir unsere Zeitgenossen beschäftigt sehen? Wird sie die Irrthümer berichtigen, die Leidenschaften versöhnen, die Interessen befriedigen können? Wird die Philosophie die Nebel unserer Befürchtungen zerstreuen? Wird sie den Unterdrückten zum Siege und der Ungerechtigkeit zum Sturze verhelfen? Wird sie die Götzen des politischen und religiösen Aberglaubens stürzen? Wird sie alles das leisten, was ihres Amtes wäre, wenn sie nicht in einem Winkel, sondern auf dem Markte und in der Volksversammlung säße? Nein, die Philosophie ist jezt weder Wettermacher, noch Windfahne mehr; ist sie weiser als früher, so ist sie es auch deßhalb, weil Weisheit die Tugend der Entsagung ist.

Was die nächste Zukunft zu lösen hat, und wie sie es zu lösen hat, können wir vielleicht durch eine intelligente und vorurtheilsfreie Philosophie erfahren; aber sie selbst wird sich nicht an die Spitze der Bewegung stellen. Unsere Zeit ist nur ein Mittelglied in einer Kette von Gewesenen und Kommenden, wir bilden den Uebergang aus Feindlichem in Feindliches, wir können überall die Punkte bestimmen, wo die Interessen in Konflikt gerathen müssen, wo es zur Zündung der sich begegnenden Brennstoffe kommen muß, nicht aber einen Punkt, wo sich eine friedliche Beilegung denken ließe; ja wo sie sich denken ließe, wüßten wir schon; allein, wo sie auch wirklich eintreten wird, das liegt nicht in unserer Hand. Alle Tendenzen, die wir sich durchkreuzen sehen, haben einmal ihren ursprünglichen Stoß erhalten und müssen die nachhaltige Kraft desselben in sich ablaufen; griffen wir hinein, um einer der Kugeln eine willkürliche Richtung zu geben, wer weiß, ob wir die Verwirrung nicht vergrößerten? Es wäre trostlos, wenn wir hie und da nicht einen Frieden oder einen Waffenstillstand ahneten, wenn wir nicht Grenzen sähen, an welchen dieser oder jener Irrthum vor unsern sichtlichen Augen scheitern muß; allein daß die Philosophie den Streit versöhne, davon sind wir so weit entfernt, daß vielmehr Weisheit da nur hinderlich seyn würde, wo der Friede die Folge eines gestillten eigennützigen Bedürfnisses seyn wird. Wir haben Meinungen und Ansichten, die sich bekämpfen, diese kann die Philosophie berichtigen, aber niemals wird das Andere, woraus unsere Zeit zusammengesezt ist, Vernunft annehmen, nämlich die Leidenschaft und das Interesse. Nicht die Vernunft ist im Gedränge, sondern das Privilegium; und man blicke nur nach Ländern, wie Spanien, ob da wohl eine Aussicht vorhanden ist, daß dort die gewaltigen Leidenschaften der Rachsucht und des Hasses jemals anders, als durch Befriedigung derselben könnten ausgesöhnt werden! Wollen wir auf die nächste Zukunft unseres Welttheiles schließen, so werden wir die traulichen Schatten der Wissenschaft verlassen und mit schwerem Herzen wieder mitten in das wirre Durcheinander der Ereignisse treten müssen, von welchem wir beim Beginne dieses Werkes ausgegangen sind.

Wenn wir von der Zukunft einiges am Schlusse dieses Werkes zu errathen suchen wollen, so können wir nicht von der Ewigkeit sprechen, welche der Prophezeihung angehört. Was die Zukunft Großes und Seltsames in ihrem Schooße birgt, errathen wir nicht; denn selten, daß ein gleichartiger Zug von Interesse und Bestrebungen sich in der Geschichte lange aus sich selbst ohne anderweitige Zuthat fortspinnt; meist immer durchschneidet die gebahnte Straße der Thatsachen das spezifisch Neue, wie wohl die Griechen zur Zeit des Perikles sich denken konnten, daß vielleicht einst die Macht der Perser doch einmal der steigenden Uneinigkeit und Verrätherei in Hellas sich bemächtigen würde; Niemand aber an den mazedonischen Staat dachte und zur Zeit des Demosthenes wiederum Niemand, daß wenig über hundert Jahre vergehen würde, wo ein ganz neues Volk an die Stelle der Mazedonier treten würde, die Römer. Und was konnten Kato und Cicero über ihre Zeit philosophiren, mit welcher Wahrscheinlichkeit, die ohnedies noch ein Erfolg krönte, konnten sie der sinkenden Größe und Freiheit des römischen Reiches nachdenken, der Alleinherrschaft, der Tyrannei und der endlichen Auflösung; allein wer von ihnen dachte an das spezifisch Neue, welches sich mit dem Christenthum in den Verlauf der römischen Geschichte mischte? Und so baute sich eine Epoche über die andere, immer bedingt und belebt durch etwas, was selbst der nächsten Vergangenheit noch ein Geheimniß gewesen war. Möglich, daß für Europas Zukunft geographische und ethnologische Umwälzungen weniger zu erwarten stehen, als vielleicht Erfindungen, welche die Menschheit jezt noch nicht ahnt, wie Napoleon, als Fulton ihm die Kraft des Dampfes, als Mittel, die Welt zu erobern, anempfahl, nicht glauben wollte und nicht wissen konnte, wie Zeit und Raum durch Dampfschiffe und Eisenbahnen würden abgekürzt werden. Möglich aber auch, daß wir das Höchste in dieser Hinsicht erreicht haben und daß das Neue von einer ganz andern Seite aus losbrechen könnte. Es ist charakteristisch in der Geschichte, daß von daher, wo man das Neue zu erwarten pflegt und ihm mit Kopf und Hand entgegenarbeitet, es niemals kommt. Man kann Theorien verfolgen, z. B. in der Wissenschaft; man kann sein Leben der Aufgabe widmen, irgend ein vorhandenes Material zu einem Systeme zusammenzusetzen, und plötzlich wird eine neue Schrift entdeckt, plötzlich bringt der Zufall von einer ganz andern Seite her eine neue naturwissenschaftliche Erfahrung, und die Wissenschaft nimmt eine Richtung, die sie nie geahnt. So wollen wir uns auch nicht darauf einlassen, Grillen nachzuhängen und etwa uns fragen: welches ist die Bestimmung unseres Welttheils, werden die andern eine Gewalt über ihn gewinnen, wird Amerika von Eroberungslust ergriffen, wird Asien durch den Hunger und die Menschenüberzahl getrieben werden, sich auf Europa zu werfen; wird das Christenthum ewig seyn -- wird unser Erdball diese oder jene Bestimmung haben; werden die Menschen auf immer aussterben und einer neuen Schöpfung und höheren Wesen Platz machen? Dies Alles ist in Gottes Hand gegeben.

Leichter ist es, die kleinen Verwickelungen des Momentes im Voraus zu lösen. Wer divinatorisches Talent besizt, die Geschichte studirt hat und in ihr selbst einen Platz, wenn nur der Ruf an ihn käme, auszufüllen vermöchte, der sagt uns wohl, wie aus den im Januar gegebenen Faktoren, sich im Dezember des Jahres ein Erfolg zusammenziehen muß. Im Moment, wo dies geschrieben wird, schafft sich die Königin Viktoria ihr erstes Parlament, die konservative Aristokratie hat ihre äußersten Kräfte aufgeboten, um der liberalen das Gegengewicht zu halten, das Uebermaß der Anstrengung verräth die Nähe der Entscheidung. Man braucht wenig politischen Takt zu haben, um an dem Aeußersten, was die beiden Parteien leisten, sich zu überzeugen, daß diese Art des Gegensatzes bald sich überlebt haben wird. Dem Radikalismus eines O'Connel verdankt die Whigpartei ihre augenblickliche Erhaltung, die in England und Schottland durchgefallnen Kandidaten des Ministeriums wurden durch seinen Einfluß in den ihm sklavisch anhängenden Flecken Irlands gewählt, der Atlas der Demagogie trägt das ganze Firmament der gegenwärtigen englischen Politik; wie soll dies enden? Whigs und Tories reiben sich aneinander auf, der Radikalismus benuzt den Streit und erhebt sein Haupt. Kömmt er zum Siege auf friedlichem Wege, so geschähe es gewiß nur dadurch, daß die mürben Reste der zweigespaltenen Aristokratie seinen Boden düngten und ihm jene politische Haltung, jene gemäßigte Begrenzung gäben, ohne welche die Radikalpartei in England nie zu einem Siege kommen könnte. Das Ziel, worauf England lossteuert, ist dies: Wir haben Freiheit, aber nur persönliche, historische, bedingt durch hundert veraltete Anomalien. Wir wollen die Freiheit nicht mehr als ein Werk früherer, tumultuarischer Jahrhunderte, sondern als die Blüthe der Zeit, in welcher wir leben, wir wollen die Freiheit Englands homogen mit unserm Jahrhundert machen, wir wollen sie nicht auf Briefe, Akte und Privilegien gründen, sondern auf Grundsätze und Theorien, sie soll nicht Folge einer Maschinerie seyn, wo ein Stand dem andern das Gleichgewicht hält und eine Schwäche von der andern ihre Kraft entnimmt, sondern wir wollen einen organischen Bau haben, der aus einem Stücke, nach einem Plane errichtet wird; die Reform des Oberhauses und ein neues Wahlsystem sind die Parole dieser Tendenz, welche siegen wird, je mehr England einerseits in seiner merkantilischen Blüthe zurückkömmt und andererseits die Whig- und Radikalpartei sich im Geist eines wahrhaft freisinnigen Konstitutionalismus versöhnt.

Wie Spanien sich beruhigen wird, zeigt vielleicht schon das nächste Zeitungsblatt. Wird Don Carlos jenen bonapartistischen Konsulargeist, welcher die Direktorialregierung stürzen wollte und das daraus entstehende Wirrsal benutzen? Wird er, indem dies zum Drucke kömmt, schon in Madrid seyn? Ist er es, so bürgt uns vielleicht die Erfahrung dieses Mannes dafür, daß das konstitutionelle Prinzip von ihm nicht wird verschmäht werden dürfen. Er wird nicht strafen, sondern versöhnen müssen; er ist vertraut genug mit Spaniens neuerer Geschichte, um zu wissen, daß in diesem Lande die Rache der Sieger nur zu neuen verzweifelten Aufständen der Besiegten führt. Und Frankreich mit dem Spielzeug seiner neuen Eisenbahnen, mit seinen Gemäldeausstellungen und algierischen Traktaten, mit den kriegsgerichtlichen Komödien seiner eigensinnigen Generäle, mit den Verurtheilungen auf Lebenszeit und den darauf erfolgenden Amnestieakten, wohin strebt es anders, als so, wie es nach Sturm und Ungewitter einst in Napoleons Person sich mit romantischer Hingebung beruhigte, so sich auch in der Familie Orleans zu beruhigen? Zeigt uns das ganze übrige Europa nicht ein kleines, stilles, detaillirtes Treiben mit Nachklängen aus der Vergangenheit, mit Drohungen, die von ihrem Beispiel unterstüzt werden, mit kleinen Ereiferungen für die sogenannte gesetzmäßige Freiheit? Wie leicht ist hier, den nächsten Moment zu bestimmen? Wie hat selbst Rußland sich so schnell wieder in die Karten blicken lassen, und verräth uns eine Erschöpfung, die das westliche Europa von der Furcht vor den Kosaken wieder befreit hat! Hier ist nichts, das sich nicht auf einfache Weise lösen würde; selbst das Patent des Herzogs von Cumberland flößt der Reaktion kein Vertrauen und der Freiheit keine Besorgniß ein.

Wenn man nach dem Momente und dem Charakter, welchen das erste Dritttheil unseres Jahrhunderts gezeigt hat, auch auf die fernere von den Grenzen des Jahrhunderts eingeschlossene Zukunft schließen will, so möcht' es, vom Arme Gottes abgesehen, nicht schwer seyn, zu bestimmen, wessen wir uns gewärtig halten dürfen. Was wird uns das Jahrhundert im Ganzen und Großen bringen, welche Grundsätze werden sich befestigen, welches wird der Same seyn, den künftige Zeiten von den unsrigen erben werden?

Der Inhalt unseres ganzen Werkes kam darauf hinaus, daß unsere Zeit die Resultate der Revolution sich auf gesetzmäßige Weise sichern will. Friedlich wird der Charakter unseres Jahrhunderts bleiben. Es hat am Kriege erlebt, wie wenig er die Freiheit sichert, wie sehr er das allgemeine Wohl der einzelnen Willkür preisgibt, selbst wenn diese das schöne Schauspiel darbietet, mit Genie verbunden zu seyn. Was zur Befestigung des Nationalwohles gehört, hat sich schon über die Untersuchung erhoben. Man rechnet dazu die rechtlich gesicherten Verfassungen der Staaten, die Erleichterungen der Existenz, die Abschaffung der Geburtsprivilegien, die Abschaffung der Priestervorrechte. Wer wird läugnen, daß dies die Resultate der Revolution sind? Allein verschieden vom vorigen Jahrhundert wird sich das unsrige dadurch auszeichnen, daß es den Geist der Liebe und Versöhnung wieder walten ließ, daß es die Befreiung der einen nicht ohne Entschädigung der andern lassen will, daß es einen Abscheu empfindet, die Saatfelder der Humanität mit Blut zu düngen. Weil das, was unser Jahrhundert erstrebt, im Staate nur sich bilden kann, so umgeht es den gegebenen Staat nicht, zieht ihm einen erst zu schaffenden vor und sucht aus ihm das Beste, was er vor der Hand enthält, zu entnehmen. Die Abneigung gegen die Fürsten mildert sich, wenn sie nur irgend einen Enthusiasmus für die ernste Aufgabe der Zeit verrathen. Aufrichtige Anerkennung bei den Fürsten, daß sie nur der Zufall auf eine Stelle erhob, wo sie zwar Menschen seyn dürfen, mit den unvermeidlichen Schwächen und Irrthümern, aber eigentlich doch nur die Bevollmächtigte einer höheren Idee sind, gewinnt wieder die Zuneigung der Gehorchenden. Wo Unruhe und Unbehaglichkeit zum Vorschein kommen, da entstehen sie wahrscheinlich nur aus Ueberdruß, daß die Regierungen das Falsche wählen, wo ihnen das Richtige so leicht an die Hand gegeben ist, daß sie Partei nehmen, wo sie neutralisiren sollen. In der Stimmung der Gemüther ist Schwäche mit Tugend gemischt; was man erreichen kann, wenn man sie zu benutzen weiß, zeigt das Beispiel Louis Philipps, seitdem er sich von der Schulmeisterei der Doktrinärs befreit hat.

Die konstitutionelle Verfassung wird das Schiboleth unseres Jahrhunderts bleiben. Jeder Tag zeigt, welch' einer Ausbildung sie fähig ist, und welcher Ausbildung sie bedarf, um den Bedürfnissen, falls ihnen die Oeffentlichkeit abhelfen kann, entgegen zu kommen. Kein Staat wird sie umgehen können, ja derjenige Staat, welcher ihres äußern Gerüstes noch entbehren zu können glaubt, wird sich doch immer der Wendung bedienen müssen, daß er Institutionen aufzuweisen hätte, welche die Konstitution ersezten, Persönlichkeiten, welche die Garantie zur Zeit noch unnöthig machten. Wenn zwischen der Fürsten- und der Volkssouveränität die Wahrheit in der Mitte liegt, dann gibt es dafür keinen andern organischen Ausdruck, als eine Verfassung. Wenn die drei Staatsgewalten in einer wahrhaften Einheit wirken sollen, so muß es wiederum durch die Verfassung eine auf die andere können. Es ist möglich, daß die beste Staatsverfassung noch über ihrer gegenwärtigen konstitutionellen Form hinausliegt, aber daß sie durch diese hindurch muß, daß in ihr, wenn nicht die Form, doch das Wesen derselben (allein wie läßt sich Beides trennen?) muß aufgenommen seyn, steht fest. Gegen den ersten politischen Grundsatz unserer Zeit, die konstitutionelle Regierungsform, vermag nur diejenige Tendenz etwas einzuwenden, welche auch ohne Weiteres sich dem Geist der Zeit feindselig gegenüberstellt.

Es kömmt aber nicht allein auf die Form an, sondern noch mehr auf den Geist, der sie belebt. Sonst würden, wie dies wohl geschieht, alle feudalen Ueberlieferungen eilen, sich hinter verfassungsmäßige Schanzen zu werfen. Die Konstitution sichert nicht Jedem das, was er hat, sondern nur das, was ihm gebührt. Unser Jahrhundert ist darin so rücksichtsvoll, daß es die hier nothwendig ins Gedräng kommende Eigenthumsfrage durch billige Abfindung zu lösen sucht. Wenn wir uns auszudrücken pflegen, daß der Bürgergeist in unserer Zeit alle übrigen Interessen überwiegt, so ist dies allerdings nur eine einseitige Bezeichnung. Das Richtige ist: Jahrhunderte hat der dritte Stand gebraucht, um sich eine Geltung zu geben. Er ist ein glücklicherer Vermittler der Staatsinteressen geworden, als der Adel. Wenn er den leztern an Macht überragt, ihn an Reichthum weit hinter sich läßt und selbst an Bildung übertrifft, so muß er auch gegen jenen immerdar einen Vorsprung gewonnen haben, in welchem ihn der Adel nicht wieder einholen kann. Ueberdies ist dieser dem dritten Stand gewordene Vorrang keine Usurpation, sondern die natürliche Folge einer Menge von Umständen, die alle zusammenkommen mußten, um den Adel in seiner früheren Geltung zu untergraben. Deßhalb sollen auch die Verfassungen nicht dazu dienen, feudalistische Ansprüche auch für die Gegenwart noch zu befestigen und etwa ein Gleichgewicht zwischen dem Adel und dem Bürger in den modernen Staaten herzustellen; sondern es soll im Staat der Ueberhang mit einer entschieden abschüssigen Tendenz dem dritten Stande gebühren und die übrige Standschaft nur dazu dienen, den Staat in seiner Neigung von dem völligen Sturz zur Demokratie zurückzuhalten und der bürgerlichen Tendenz einigermaßen auch einen Zügel anzulegen.

Ein damit verschwistertes Resultat unsres Jahrhunderts ist der Kampf gegen die Privilegien. Wir wollen den Adel, weil er einmal da ist; aber Berechtigungen darf er seiner Geburt nicht, sondern nur seiner Bildung und seinem Verdienste entnehmen. Wir wollen die Religion, aber so wenig als möglich in Gestalt einer Kirche, welche weltliche Rechte ausüben darf. Seitdem der Adel sich den Grundbesitz hat nehmen lassen, und der Bürger, der ihn kaufte, nicht eo ipso dadurch in den Adel rückte, ist dies stolze Institut der Vergangenheit zertrümmert, sind diese unter uns herumwandelnden Edelleute, die nur noch den Namen und nichts mehr von der Sache des Adels haben, traurige Schatten einer unwiederbringlichen Vergangenheit. Da jedenfalls das Vorhandenseyn einer Adelskaste, die nur noch die Firma und nicht mehr den reellen Werth des Adels besizt, nur des immer nicht zu vermeidenden exklusiven Benehmens wegen zu Verwirrungen in dem politischen Leben der Gegenwart führt, so sollten einsichtsvolle Regenten, die einsehen, wie ihnen ein solcher federleichter Adel mehr schadet, als nüzt, ihn auch ohne weiteres aufheben. Sie sollten die Maxime, daß Adel nur an einem gewissen Güterbesitz hafte, ein für allemal annehmen, und sie mit der in England herrschenden Adelsverfassung, mit der Primogenitur und dem System der jüngern Söhne, die nicht mehr den Titel ihrer Väter führen, verbinden, denn wo soll da Einigkeit und Vertrauen in das politische Leben kommen, wo sich durch den dritten Stand hindurch Namen drängen, die eine ganz unverdiente Auszeichnung besitzen und einen Unterschied erzeugen, der auf faktische Verhältnisse gar nicht begründet ist? Erst, wenn nur die adlig sind, welche ein gewisses Quantum von Länderbesitz haben und die, welche sich diesen Länderbesitz auch erwerben, es ohne weiteres werden können, dann würde der Adel, sowie der Doktortitel die Gelehrsamkeit bedeutet, so nichts als den Güterbesitz bezeichnen. Er würde dann nichts Exklusives für den Bürgerstand mehr seyn, und nicht mehr jenes große Hinderniß eines behaglichen Staatslebens bilden, welches er bis jezt noch immer in Deutschland und minder emanzipirten Ländern ist. Und wie mit dem Adel, so auch mit der Kirche. Der Zeitgeist wird sich nie mehr bereitwillig finden, ihr politische Rechte einzuräumen, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so soll die Kirche selbst aufhören, in Rücksicht auf die Religion in der Art eine Korporation zu bilden, daß sie etwa Staatskirche genannt wird oder sonst einen Vorzug vor jeder andern beliebigen religiösen Ueberzeugung genießt. Man kann diesen Zeitgeist verdammen, aber wo ist die Kraft, die ihn tödten könnte?

Endlich verlangt das Jahrhundert Freiheit für Handel und Gewerbe. Niemanden, es sey denn einen Erfinder, soll ein Monopol schützen. Der Staat soll seine größern Hilfsmittel nicht benutzen, um in irgend einem Handels- oder Gewerbszweige mit dem Privatmann zu konkurriren. Wenn irgend Etwas dazu beiträgt, die Resultate der Revolution auf gesetzmäßige Weise zu erobern, so sind es die Erleichterungen des industriellen und merkantilischen Verkehrs. Um zu leben, wurden wir geboren, und um leben zu können, müssen wir unsere Hände rühren. Da die Existenz jezt weit schwieriger zu bewältigen ist, als früher, wo die ungleich vertheilten Reichthümer in der Masse noch nicht so sehr den Drang erzeugt hatten, über die Linie der Armuth hinaus zu gehen, so sind die Menschen auch mehr an die materielle Nothwendigkeit gebunden und gewöhnten sich an ein unumgängliches Interesse, das sie immer noch neben den sonstigen Tendenzen der Zeit, zu halten und zu schützen suchten. Ja, wäre im vorigen Jahrhundert der Bürgerstand schon so wohlhabend gewesen, wie jezt, hätten Handel und Gewerbe so sehr, wie heute, das nächste Interesse in Anspruch genommen, so würde man jene Reihe gewaltsamer Katastrophen nicht erlebt haben, an welche sich die lezten Dezennien unseres Jahrhunderts weit weniger anschließen werden, als es wohl noch die ersten thaten. Die Lenker der Völkerschicksale wissen, wie die stockenden Gewerbe die Ursachen der Unzufriedenheit nähren und die blühenden immer geneigt sind, sich mit der Autorität gegen Tumulte zu verbinden. So haben auch die Regenten nichts eifriger zu thun, als sich dieses Beistandes der Betriebsamen gegen die immer mehr und mehr abnehmende Ideologie zu versichern. Alle nur möglichen Erleichterungen des Gewerblichen und Handelverkehrs liegen im Schooße des Jahrhunderts. Erfindungen, die eine neue Methode in Anwendung bringen, werden mit Jubel begrüßt. Die Gelehrsamkeit, welche diesem Drange nach Neuem entgegenkömmt, wird als die Modewissenschaft des Tages von allen Händen getragen. Die Beschleunigung der Wege, der Sieg über das Meer, Brücken, die über die Flüsse geschlagen, Häfen, Waarenhallen, Schiffe, die gebaut werden, dürften im nächsten Leben unserer Zeitgenossen wichtige historische Momente werden. Ein Handelstraktat wird mehr Epoche machen, als eine politische Allianz.

Weiter möcht' ich in die Zukunft, die vor unsern Augen liegt, mich nicht verlieren. Auch will ich nichts von dem, was einmal charakteristisch für unsere Zeit werden will, vom gemüthlichen, poetischen oder philosophischen Standpunkte einer Kritik unterwerfen. Möge nur dies eintreten, daß man einst von unsern Zeitgenossen noch Folgendes sagen kann:

Ihr Leben war mühselig, aber ihr Tod nicht ohne Hoffnung. Sie hatten eine verworrene Erbschaft zu theilen, mehr Schulden als Gewinn; aber sie betrachteten sich wie Brüder und gaben Jedem so viel, als seine Schultern zu tragen vermochten. Sie hinterließen mehr, als sie empfangen hatten. Die Schulden wurden getilgt und neue Kapitale angelegt. Sie arbeiteten auf dem Felde im Schweiße ihres Angesichts, hörten aber mit Freuden zu, wenn die Lerche sang. Sie waren zu geplagt und zu eng gedrängt, als daß sie selber vor Gott oft niedergesunken und ihm eine langwierige Andacht gewidmet hätten, aber in das Lob der Natur, in den Preis und Ruhm Gottes, den alle Welt singt, stimmten sie mit ein und dankten gerührt, wenn ein Anderer statt ihrer und für sie betete. Im öffentlichen Leben waren sie mißtrauisch, aber nicht feindselig. Abgewandt dem Staate, der sie nicht alle immer mit gleicher Liebe zu umfassen schien, wühlten sie doch nicht gegen seinen Bestand. Sie dienten ihm als Freigelassene, die sich gern aus langer Gewöhnung noch Knechte nennen, und brauchten ihr Recht nur, wenn es in Gefahr war, ihnen genommen zu werden. Das Vaterland war ihnen ein verworrner und doch heiliger Begriff. Sie hatten Sehnsucht zur Aussöhnung zwischen den Nationen und waren leichtgläubig genug, Andre nur nach sich selbst zu beurtheilen, vom Nachbar nur Gutes zu erwarten, wie sie selbst es ihm wünschten. Lieber als das Vaterland wurde ihnen die Muttersprache. Dieser hingen sie mit jener innigen, unzerstörbaren Liebe nach, welche sie für das Vaterland nur in sich hegten, wenn es bedroht wurde, nie aber, wenn die Liebe zu den Seinen die zu den Andern verlezt hätte. Ja, dem Entfernten waren sie meist geneigter, als dem Nahen. Wenn sie in Leidenschaft kamen, so mußte sie der Nächste oft entgelten. Hastig in dem, was sie für Rechtens hielten, rechteten sie gegen einander. Oft vom Nächsten getäuscht, riefen sie den Richter auch wohl dann an, wenn ihnen Niemand zu nahe getreten war. Im Handel und Gewerbe kannten sie nur ihr eigenes Interesse. Sie durften auch nicht anders, wenn sie in der Lage waren, erst erwerben zu müssen. Gegen Weib und Kind zärtlich, wählten sie öfter nach Neigung als Interesse, und erzogen die Ihrigen nicht für einen Stand, sondern für alle. Die Jugend kam fast reifer auf die Welt, als sonst. War es angeboren oder die größere Sorgfalt der Eltern, sie machten schnelle Fortschritte und überflügelten die Alten, ohne so voreilig zu seyn, als diese es in der Jugend waren. Die Frauen liebten das Haus mehr, als die Welt. In der Sitte waren sie züchtiger als die Großmütter, wenn sie auch den Geist und die Schönheit derselben nicht immer erreichten. Der Vornehme wurde durch das Daseyn der Armuth weit weniger gehoben, als in Verlegenheit gesezt. Wenn er dem Einzelnen nicht half, so glaubt' er der Masse helfen zu müssen. Die Wohlthätigkeit war schon keine persönliche Tugend mehr, sondern Bürgerpflicht. Im Umgang thauten die Herzen auf, wenn auch langsam. Jeder freute sich, wenn es ihm gelang, durch die Verhältnisse bis zur Natur hindurch zu brechen. Sie starben ungerne, was viel sagen will, für den Werth des Lebens, welchen sie verließen. Die Mühen und Schmerzen des Daseyns hatten sie sich gewöhnt, als die eigentliche Form des Lebens zu betrachten. Da sie nicht mehr erwarteten, vermißten sie selbst das Wenige, was ihnen geboten wurde, ungern; doch starben sie nicht ohne Hoffnung.

Ich aber habe meinen Zweck erreicht, wenn dieses Buch in dem Gewirre von Schriften, die unsre Zeit oft ohne Fug und Grund in die Zukunft vererbt, von irgend einem Weisen, der das neunzehnte Jahrhundert so schildern will wie wir wohl das achtzehnte, als Quelle benuzt wird. Schildert es meine Zeitgenossen nicht immer so, wie sie sind, so genügt es schon, dereinst zu wissen, wofür wir uns gehalten haben. Und wenn sich in diesen anspruchslosen Skizzen und Erörterungen Irrthümer finden, so werden sie auch als solche nicht ohne Gewinn für die Zukunft seyn. Sie werden unsere Zeit vielleicht dadurch am meisten charakterisiren, daß wir sie für Wahrheit gehalten haben.


 << zurück weiter >>