Der Zauberer von Rom / II. Buch
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95 12.

Benno, Hedemann, Thiebold de Jonge – wo weilen die, die uns hoffentlich ein wenig lieb geworden sind oder die es mit der Zeit wenigstens noch zu werden hoffen?

Ihrer habhaft zu werden ist nicht möglich.

Wohl aber tauchen sie mit dem, was uns an ihnen interessiren dürfte, bei einem ersten Blick auf, den wir noch zuletzt – acht Tage mögen verstrichen sein – auf die vielgerühmte Residenz des Kirchenfürsten selbst werfen wollen.

Da liegt sie vor uns! Die königliche Stadt! Die gewaltige Jungfrau, die bei festlichen Gelegenheiten, gemalt oder aus übergipsten Draperien geformt, den Genius derselben vorstellt, ziert mit Recht die majestätische Mauerkrone!

Kein gebietender Herrscherwille schuf dieses Chaos von Thürmen, Kirchen, Kapellen, Klöstern, Giebeldächern, Rath- und Kaufhäusern, Waarenhallen, Hafenspeichern, Schiffsmasten, jetzt auch von dampfenden und funkensprühenden Feuerschloten! Was im Abendglühen von den letzten Strahlen der scheidenden Sonne des ersten Septembertags da erleuchtet und von der matten Scheibe ihres Stellvertreters an der Wächterzinne des Himmels mit sanft bläulichem Lichte angedämmert vor uns liegt, schuf sich im Laufe zweier Jahrtausende durch die Umstände selbst! Hier stieß der Römer seine Lanze in den Boden und baute statt 96 windbewegter Zelte Castelle, wie uralte Cyclopenarbeit. Hier stampften die Rosse Karl's des Großen, wenn sie vom Marsch aus den Thälern von Roncesvall ruhten und rasteten und den Wittekindsschlachten auf jenseitigem Ufer entgegenschnaubten. Hier fing sich, Schiffssegel blähend und den Handel der Welt belebend, Nordsturm, vom eisigen Island brausend, Ostwind, der aus der Levante wehte und den Weg an den Ufern Spaniens, Frankreichs und Hollands entlang die Waaren nehmen ließ, welche sonst über Venedig kommend nur Augsburg und Frankfurt bereichert hatten. Hier drängte und trieb und stieß die Zeit die Zeit vorwärts, die Sitte die Sitte, die Meinung die Meinung. Was übrig geblieben von Zeit und Sitte und Meinung, das ergänzt die Ordnung und Civilisation der Gegenwart – ja sie ergänzt sogar die Ruinen und baut mit künstlichem Glauben aus, was ein natürlicher unvollendet ließ.

Es ist neun Uhr Abends. Noch einmal schlagen all diese Kirchthurmglocken zusammen, wie wetteifernd mit den Trommeln in den Kasernen, mit dem Signalhorn vor den Wachthäusern. Es ist die Stunde, wo die Müden zur Ruhe gehen sollten – eine arbeitende, fleißige und gewinnsüchtige Stadt wird früher müde, als eine Stadt nur des Luxus und Genusses. Und doch gibt auch diese sinnlichbewegte und lebenssichere Stadt dem Gesetz der Natur nicht nach. Noch wogen die Menschen auf und ab. Noch lustwandeln sie auf einer die Ufer des großen Stromes verbindenden Schiffbrücke, die wie von Fischbein sich biegt unter jedem Roß und Wagen. Noch stehen Liebende, in träumerischem Plaudern, gelehnt über die Brüstung und sprechen von zukünftigem Glück, das nur zu oft dem Golde gleicht, das eben da der Mond auf den Fluten schwimmen läßt. In den Schenken kämpft die Rebe und der Saft der Gerste um den Sieg. Das christliche Opium, die Cigarre, secundirt beiden Parteien, bis die Kämpfer – vielleicht vorläufig auf beiden Seiten unterliegen –

97 Hat sich denn, du alte Römerstadt, im Zechen und Reden und Singen dein deutsches Gemüth endlich genug gethan? Endlich sich ausdebattirt und auspolitisirt? Sattgetrunken an ungegohrenem Zeitungsmost und zu Essig gewordenen oder schon mit Schimmel bestandenen Gemeinplätzen? Hat ausgeklingelt und ausgeklüngelt die Schellenkappe? Verdampfen die lebendigen Rauchmaschinen in den Straßen und erklingen endlich nur noch die letzten guten oder schlechten Geckenwitze? Eine Gute Nacht! hüben und drüben. Alles endlich still, falls nicht noch irgendwo ein Mitglied der mehreren hochberühmten Gesangvereine der Stadt ein Tenorsolo probirt bei offenem Fenster – die musikliebende Stadt ist stolz auf ihre Leistungen im Quartett; niemand wird den Sänger parodiren, eine Katze vielleicht ausgenommen.

Halten wir aber am sogenannten Heiligenpütz still, überschreiten links den Aschenkotter, lassen rechts den Treckkamp liegen und bleiben endlich vor einem mit zwei hellen Gaslaternen geschmückten, jüngst erst mit graugrüner Oelfarbe bestrichenen stattlichen Gebäude. Das untere Stockwerk ist mit Eisengittern geschützt. Steinerne Kegel, die mit Ketten verbunden sind, halten profanum vulgus, die Welt, die ohne Wechsel oder Anweisung nur etwa aus purer Neugier in die Comptoire blicken könnte, zurück. Irgendein Schild, irgendeine Firma ist nicht ersichtlich. Wer hier die blitzende Messingklingel zieht, weiß, daß in diesem mächtigen Hause mit seinen weit hinaus sich erstreckenden Hintergebäuden, die auf den Heiligenpütz, den Aschenkötter und den Treckkamp noch ihre eigenen Thorwege hinaus haben, das erste »christliche« Geschäft der Stadt, die Firma »Kattendyk und Söhne« waltet.

Oeffnet man uns dann, so steckt ein Portier den Kopf aus einem Kellerfenster des Thorwegs. Man kennt uns? Passirt! Wir finden zurecht. Ein Glasverschlag trennt das 98 Treppenhaus von der Region der untern Stockwerke; unten waltet nur das Geschäft. Man läßt die mit Blech belegten Eichenthüren und die mit Eisenstangen verschlossenen unterm Comptoire liegen und steigt erst drei kleine Stufen höher. Hier wieder eine Klingel. Die Glasthür öffnet sich. Jetzt erst schreitet man auf Teppichen in den ersten Stock.

Gewiß ist es ein behagliches Gefühl, sich Abends gegen zehn Uhr in einem Haufen todter Steine, während schon ringsum alles zu schlummern scheint, einen kleinen stillen Winkel zu denken, wo im Winter und selbst in den ersten Herbsttagen schon die Flamme des Kamins noch nicht erloschen ist, ein gelblicher Schein von einer durch einen bunten Schirm gedämpften Lampenglaskugel die Teppiche auf dem Fußboden und auf dem Tische erhellt, einen Winkel, wo sich noch ein kleiner Kreis von Menschen um ein Piano versammelt hat oder um ein Buch, das vorgelesen wird, oder um einen geistvollen Redner oder eine gemüthvolle Frau, die heiter anzuregen versteht. Einem Einzigen, Unverbesserlichen vielleicht wurde gegen zehn Uhr von der Hausfrau gestattet, dicht am Kaminrand mit Discretion eine Cigarre zu rauchen; zwei junge Damen schneiden eine Zeichnung aus; einige junge Herren sind über eine neue Oper in Streit gerathen; gelöst wird der Kampf von einem nicht fehlenden, den Abend beschließenden kleinen Stegreif-Souper. Geht man dann gegen elf Uhr von dannen, so trägt jedes mit sich hinaus das Gefühl, das uns zuweilen wol noch erstens in eine geöffnete Restauration führen kann, um auf magenverderbende Majonaisen ein gutes Beefsteak, ein Seidel Bier zu »setzen«, aber auch zweitens jenes Gefühl, daß wir denn doch im Grunde ein Dasein leben, unabhängig von Holz und Stein und Stundenschlag und Nachtwächterhorn, und daß wir mit schönen Seelen noch schön empfinden können und unsere Leidenschaften zügeln oder wenigstens sie 99 anständig verbergen sollen und aufgehen in einer schönen harmonischen Weltordnung, aus der wir uns nur langsam zurückfinden in diese »schnöde Welt« – vielleicht erst durch die Mahnung eines vergessenen Hausschlüssels.

Bis elf Uhr mag diese behagliche Erinnerung im allgemeinen auch auf eine Gesellschaft gepaßt haben, an der wir diesmal im ersten Stock des Kattendyk'schen Hauses vorübergehen. Um diese Zeit saßen bei Frau Commerzienräthin Walpurgis Kattendyk gewiß noch ihre Töchter, die verheiratheten und die unverheiratheten, ihre Schwiegersöhne, der berühmte Procurator Dominicus Nück, Benno's Principal, der »Vordenker« und Agitator der Lande hüben und drüben, soweit hier in lateinischer Zunge gebetet wird, vielleicht auch noch ein anderer Procurator, der Procuraführer des Hauses, Ernst Delring, der zweite Schwiegersohn; vielleicht auch der Beichtvater der Commerzienräthin, Domherr Martinus Taube; auch ihr Rathgeber in leiblichen Angelegenheiten, Medicinalrath Goldfinger; vielleicht sogar, da die nahe gelegene, bedenklich bedrohte Universität Ferien hat, dessen Sohn, der Professor extraordinarius Guido Goldfinger, der um die jüngste Tochter des Hauses freit; auf alle Fälle fehlt der dritte und sogar lustige Rathgeber des Hauses, Ignaz Pötzl nicht, ein ehemaliger Schauspieler und Sänger, der das Gnadenbrot im Hause mit Anekdoten und fröhlichertragenem Gehänseltwerden lohnt – und was sich sonst an Parasiten und Hausfreunden und allerlei menschlichen Schooshündchen um eine reiche, anregungsbedürftige Kaufmannsfrau, die unter der Last, sich und andern wohlzuthun, oft zusammenbricht, täglich zu versammeln pflegte – Auch eine neue Mehrung der Gesellschaft fehlte ohne Zweifel nicht – – Lucinde Schwarz.

Belauschen wir aber heute keinen der hier ausgestoßenen Seufzer über die Zeit, die neuesten pariser Moden und die Leiden der 100 Kirche, keine Klagen über den Aufschwung der jüdischen Häuser, keine Vermuthungen über die Besetzung des erledigten Domvicariats, keine Bewunderung vor einem neuen Zeitungsartikel oder einer neuen Selbstdemüthigung des berühmten, allbesprochenen Mönches Sebastus, auch keine stille Vergleichung der glänzenden Berichte Jean Baptiste Maria Schnuphase's über die seit einigen Tagen aus Kocher am Fall angekommene neue Gesellschafterin mit ihrem wirklichen Benehmen, mit ihrer so sittsamen, fast stummen Haltung, ihrem täglich zweimaligen Kirchgang und einem so tief, tief demuthsvoll niedergeschlagenen Blick, daß man schon anfängt, über eine so unerwartete Einfachheit und »fast zu weit gehende« Anspruchslosigkeit einer doch äußerlich so auffallenden und überraschend schönen Erscheinung staunend – den Kopf zu schütteln –

Steigen wir einen Stock höher. Hier wohnen zunächst der Procuraführer Ernst Delring und seine Gattin Hendrika, geborene Kattendyk; nach hinten hinaus Piter Kattendyk, ihr Bruder, der einzige Sohn der verwitweten Frau Commerzienräthin. Piter hat nach hinten auch noch den ersten Stock in Beschlag – beide waren durch eine niedliche Wendeltreppe verbunden –

Wir finden auch bei Herrn Delring schon alles dunkel. Dagegen sind bei Piter noch der erste Stock, der zweite und die Wendeltreppe zugleich erleuchtet. Piter Kattendyk hatte wieder einmal einen seiner glücklichsten Momente. Umgeben ist er nicht nur von seinen »guten«, sondern heute sogar von seinen »besten« Freunden und sie zechen und sie schmausen und sie jubeln – ganz im üblichen Tone der alten frommen Römerstadt. Die Bowle steht auf dem Tisch, die kunstvoll geschliffene, rosenrothe Krystallbowle. Sie ist gefüllt mit einem nach allen trinkwissenschaftlichen Gesetzen der Vereinigten Staaten Nordamerikas gebrauten Sherrypunsch. An den drei vor Cigarrendampf etwas 101 matt brennenden Glaskugeln, an den Anekdoten, deren zwei Drittheile aus dem »Humoristen in der Westentasche« entlehnt sind, an der Fülle von bei alledem wiehernd belachten »Witzen«, an gewissen Thatsachen, die man vorher immer als etwas »auf Ehre zu Verbürgendes« und mit einem Schnedderedeng der glaubwürdigsten Versicherung Anzupreisendes verkündigte und nachher denn doch allen touchirenden Zweifeln preisgab, merkt man, daß man sich hier, unter den Jünglingen mit den malerischsten Bärten und den halbgelösten bunten Halsbinden, unter der kaufmännischen Aristokratie der Stadt befand. Alle führen sie Namen, vor denen Tausende ihrer Mitbürger selbst im Traume den Hut abziehen.

Ja wie hängt auch hier alles am Wink ihrer Augen! Zwar trennt eine große Glasthür diese höchst respectabeln jungen Herren der Schöpfung von einem im Vorgemach eingeschlummerten Diener in Livree; die alte Kathrine jedoch unten in der Küche der Mutter, sie wacht noch. Sie hat zwar einer heute erst neu zugezogenen Kammerjungfer der Frau Hendrika Delring wie dem Kutscher und dem ersten Hausknecht gesagt: Na, ich denke wol, um ein Uhr kann ich zur Ruhe gehen! Der junge Herr Thiebold de Jonge sind zugegen! Da blasen sie blos Trompete! Zur Trompete brauchen sie blos manchmal ein bischen mehr Arak und die Arakflasche hat Herr Piter ja immer selbst bei der Hand! – Aber sie würde selbst nach Ein Uhr noch nicht zu Bett gegangen sein.

Thiebold de Jonge war erst gestern von seinem kurzen Kriegsfeldzuge zu Kocher am Fall und einer damit verknüpft gewesenen kleinen Reise zurückgekehrt. Bei drei Tagen hatte man die Uebungen zur allgemeinen Wehrtüchtigkeit bewenden lassen. Das »Blasen der Trompete« war von Seiten Kathrinens keine Anspielung auf die Montur Thiebold's, in der dieser Abschied genommen 102 hatte von Freund Piter, als er mit von Enckefuß per Extrapost abreiste – (Freund Benno von Asselyn wollte in »einem Anfall seines gewöhnlichen todtschlägerischen Humors« zu Fuß gehen. Die andern Genossen waren noch militärfrei und hatten sich vorläufig durch »zu schwache Brust« von dem Waffendienst ledig gemacht, was jedoch nicht hinderte, daß sie soeben die Arie: »Von Romeo's Rächerarmen« – die Schröder-Devrient hatte vor kurzem erst in der Stadt gastirt – mit einem Effect sangen, ja die Worte: »Soll sich kein Gott erbarmen!« so hervorhoben, daß das ganze Haus bis in die hintersten Waarenmagazine erzitterte) – Die Trompete entsprach einer andern Ideenverbindung –

Auch Clemens Timpe (Timpe's sel. Erben, Commission und Spedition) war in der Union gewesen, hatte »Seewasser gekostet« wie Thiebold de Jonge – wenn auch nicht wie dieser sogar das Naß amerikanischer Wasserfälle – Clemens Timpe sprach nie von einem Whip oder Brandygrog oder sonst einer pikanten höhern Alkoholvergiftung, die in Boston oder Neu-Orleans von ihm in Erfahrung gebracht worden, ohne die »Sherrypunschbrauerei« des canadischen Holzflößers Thiebold de Jonge zum Gegenstand einer Discussion zu machen, wobei der vom Wasserfall zu St.-Moritz Gerettete und leidenschaftliche Schwärmer für Armgart von Hülleshoven, die Tochter »seines zweiten Vaters«, wie er den Obersten nannte, meist, wie sonst nicht seine Art war, unterlag. Heute saßen Piter und die Freunde um die Arakflasche, wie die Indianer, nicht jedoch »gierig nach flüssigen Feuerfluten«; sie suchten die Kühle; nach einer kurzen Discussion, ob Whip – ob Brandygrog – ob kalten Sherrypunsch! saßen sie bei letzterm, gereiht um einen glänzenden Mahagonitisch, die Linke cigarrenbewaffnet, in der Rechten lange Maccaronistengel, durch die sie den Sherrypunsch 103 schlürften – eine Trinkmethode, die Thiebold de Jonge hier zu Lande eingeführt hatte. Man durfte sie allerdings dann adoptiren, wenn, wie z. B. heute, es galt, einen von Rostbeef à l'Anglaise, Salmen à la Hollandaise, Rebhühnerpastete à la Kathrine Fenchelmeyer – Kathrine unten in der Küche der Mutter Commerzienräthin hieß Fenchelmeyer und war außer in Rebhuhnpastete auch »groß« in Fischsaucen – und von dem dazu nöthigen Rhein-, Mosel-, Bordeaux-, Burgunder- und Portwein überhitzten Gaumen allmählich linde und lieblich wieder abzukühlen.

Der »junge Herr« (zu Ehren der uralten Firma und bei der Tendenz der Neuzeit wieder zurück zur alten Zeit Piter genannt) Piter Kattendyk war einer der »famosesten« jungen Gentlemen der stolzen Handels-, Gewerbs- und Kirchenstadt. Er hatte heute die Absicht, um vier Uhr Morgens, wenn die von Paris kommende Briefpost sich eines Stückchens Eisenbahn bediente, das am jenseitigen Ufer einige Meilen, damals nur erst versuchsweise, hinein ins Land ging, sich mit dieser Reisebeförderung in die Gegend von Witoborn zu begeben, wo ihn Dominicus Nück, sein Schwager, zu einem schleunigst arrangirten Güterankauf benutzen wollte – »Benutzen«? Ihn? Wenn Piter dies wirklich von Nück zu mehreren Domherren und besonders zum Secretär des Kirchenfürsten, Eduard Michahelles, gebrauchte Wort in Erfahrung gebracht hätte! Ihn »benutzen«! Schon »vorschieben« hätte ihn beleidigt! Piter'n, dem jetzt alles daran lag zu beweisen, daß sein Schwager Ernst Delring, der Procuraführer und bisherige Chef, vor seinem Genie sich in Acht zu nehmen hätte, seitdem er, der »junge Herr«, von Reisen zurückgekommen war! Unserm Piter lag, als er die Zustimmung zu dieser Reise nach Witoborn gab. nur an einem Beweise seiner seltenen Einsichten und seines Geschmacks für eine neue Reisetoilette, in der er sich bereits reisefertig befand, theils ganz schottisch, theils 104 halb schottisch. Piter wollte in diesem malerischen Costüme Wälder und Felder und Mühlen kaufen, für welche Dominicus Nück dann vielleicht wieder einen Abkäufer wußte, vielleicht das Domcapitel selbst – eine Differenzsumme, erstens für das Haus Kattendyk und Söhne und zweitens für Dominicus Nück, blieb dabei schon übrig – kurz einen irgend ähnlichen Zweck gab es zu einer Reise, um derentwillen die zu einem letzten »Satz« von Piter entbotenen Freunde so spät noch bei ihm blieben, ja sogar gewillt waren, im Anfall einer beim Sherrypunsch »zu allem fähigen« Romantik, ihm gegen vier Uhr Morgens das Geleit auf den provisorischen Bahnhof zu geben.

Auf den Untergang aller Schnell-, Fahr- und Malleposten, ja Extraposten nicht ausgenommen! rief Joseph Moppes (Joseph Moppes sen., Weingeschäft) und begleitete diese eigenthümlich betonten Worte mit einem anzüglichen Blicke auf Thiebold de Jonge, der heute der einzige nicht recht in die allgemeine »ungeheure Heiterkeit« Miteinstimmende war.

Thiebold ließ es ruhig geschehen, daß Gebhard Schmitz (A. und G. Schmitz, Stahl-, Eisenwaaren und Hüttenbetrieb) auf seine Kosten denen, die noch nichts davon wußten, die »kolossale Idee« des Hausknechts im Riesen zu Kocher am Fall erzählte, der die sich selber ölenden neuen englischen Patentachsen am »väterlicherseits geborgt gewesenen« Landau Thiebold de Jonge's abgedreht und mit Wagenschmiere verdorben hatte.

Gerade so wie Henneschen, rief nachträglich in den lachenden Chorus Gebhard Schmitz hinein, wenn er die Lackstiefeln seines Herrn mit Wichse tractirt!

Thiebold saß ruhig mit aufgestemmten Armen und senkte den Kopf auf eine »Trompete«, auf den Maccaronistengel herab, den er mit aller Ruhe wie zu einer »stillen Musik« der Seele, ja wie ein Schäfer Arkadiens seine Flöte, blies und dabei vielleicht 105 über die Theorie des Stechhebers oder des Luftdrucks oder sonst »etwas Höheres und Wissenschaftliches« nachgrübelte. Thiebold war eine etwas zum Embonpoint neigende, aber hoch und schön aufgeschossene blonde Natur, frisch und rund in seinen angenehmen Gesichtszügen, von einem schöngepflegten, ins Goldgelbe spielenden Barte, in allem zu männlichstem Effect bestimmt, nur zu lebhaft, zu sehr ein Vorsprecher, Anekdotenerzähler, heute jedoch fast »tiefsinnig«, wie ihm Piter vorwarf, und sogar bei Tische, wo sich Thiebold das Tranchiren – Aufschneiden, wie seine Freunde sagten – niemals nehmen ließ, von einer Apathie, die einige – freilich spottweise – für die Nachwehen seines hier schon zum Amusement gewordenen Sturzes in den St.-Moritz, andere für den untrüglichen Beweis hielten, daß Thiebold »einmal wieder« verliebt wäre. Letzteres »einmal wieder« war eine Verleumdung, da er seit dem ersten Besuch des Pensionats der Englischen Fräulein von Lindenwerth für keine andere weibliche Erscheinung der Welt mehr Sinn hatte, als für Armgart von Hülleshoven.

»Schwing dich auf, Frau Nachtigall!« intonirte Joseph Moppes, der einen klangvollen ersten Tenor für die berühmten Chor-Quartette der Vaterstadt commandirte. Er that dies schon zum zweiten mal, um Thiebold de Jonge in die allgemeine Heiterkeit mit hinüberzuziehen.

Die Eisenbahnen waren noch so neu und die sämmtlichen »Häuser« dieses jungen mercantilischen Vollbluts so an den Actien derselben interessirt, daß das Gespräch von den Patentachsen des vom Hausknecht im Riesen halbwegs verdorbenen Landau sogleich auf diese selbst überging und einstimmig vereinigte man sich mit einem hohen und außerordentlichen Ernste in dem beinahe paradoxen Satze, daß denn doch allerdings die Eisenbahnen »eine merkwürdige Erfindung des menschlichen Verstandes« und »jedenfalls ein Fortschritt« wären. Thiebold, der 106 niemals sonst zu lange schweigen konnte und heute wirklich wie von einem entschiedenen »Weltschmerz« ergriffen schien, ließ sogar aus dem Sherrypunschglase die wie ein Unkenton hervortönende Bemerkung fallen: Der Generalpostmeister hat aber erklärt, mit den Eisenbahnen höre die so nothwendige Ueberwachung der demagogischen Umtriebe auf!

Gewisse englische Groans oder ironische Beifallsspenden hatten die Freunde schon für mehrere heute Abend gefallene Aeußerungen in Bereitschaft gehabt. Sie brachen auch jetzt über diese de Jonge'sche Aeußerung und sogar mit einem Trommeln auf Tisch und Fußboden aus.

Im Staatsrath, fuhr Clemens Timpe alles Ernstes fort, ist wahrhaftig die Majorität – nein wirklich, hört doch! – die Majorität noch schwankend, ob die Eisenbahnen überhaupt weiter zugelassen werden sollen. Und Joseph Moppes fiel ein: Weiter, als wir uns hier schon wieder infolge unserer unverbesserlichen »Nachäffungssucht« herausgenommen haben!

Wie hierauf die Worte: »Eine jute jebratene Jans ist eine jute Jabe Jottes!« passen und von der ganzen Gesellschaft mit einer jener jubelnden Zustimmungen, die man gewöhnlich »Hohngelächter der Hölle« nennt, aufgenommen werden konnten, wird niemand begreifen. Und dennoch hatte damit Weigenand Maus (Maus & Compagnie, Droguerie und Farbwaaren) nur sagen wollen: Was läßt sich von unsern Ghibellinen anderes erwarten? Man setzte vom socialen Standpunkte aus die Anklagen fort, die Bennrath von Nennhofen auf der Conferenz des Beda Hunnius vom kirchlichen erhoben hatte. Man begann durcheinander Mir und Mich zu verwechseln, schilderte den Appetit der Offiziere und Beamten bei dem letzten Diner ihrer Väter, machte dem immer schweigsamer werdenden und in völligem Nichtvertheidigungszustande befindlichen Thiebold de Jonge Vorwürfe über seine Reise 107 mit Herrn von Enckefuß und bestätigte den separatistischen Geist, auf den damals und später die Thiers, Odilon-Barrots und Bonapartes rechneten, wenn sie von einem ohne Schwertstreich leicht zu erobernden linken Rheinufer sprachen.

Man durfte erwarten, daß jetzt endlich Thiebold auffuhr und sich die Voraussetzung einer »Freundschaft« mit von Enckefuß verbat. Aber auch jetzt noch schwieg er und zuckte nur mitleidig die Achseln. Es schien, als wäre seine Landau-Reise nach Kocher am Fall bereits von ihm vergessen und Joseph Moppes hatte sehr Recht oder bekam es wenigstens durch allgemeine Zustimmung, als er gegen Thiebold den Vorwurf aussprach, daß er erst mit so großem Jubel zu den Uebungen abgegangen wäre und jetzt in solcher Laune zurückkehre. Und als dann Thiebold brummend diese Uebungen für das Langweiligste von der Welt erklärt hatte, sagte Joseph Moppes zu allgemeiner Billigung: Merkwürdig, de Jonge! Immer ist bei Ihnen gleich alles entweder »Supra« oder »unterm Nachtwächter«!

Letzterer hatte inzwischen schon längst die zwölfte Stunde gerufen und die zahllosen Thurmuhren der frommen Stadt hatten diese Angabe in allen Tonarten bestätigt. Die Elasticität der sieben Freunde ließ darum nicht nach. Auch Thiebold bekam eine erhöhtere Stimmung, d. h. negativ, bis zum offenbaren »Sein oder Nichtsein« à la Hamlet. Er fuhr sich in seinen schönen blonden Scheitel, zupfte am Barte, schlug zuweilen das Glas auf den Tisch und hatte eine Welt voll Zorn und Aufregung und Schmerz und doch dabei wieder auch, schien es, von Lust und Freude in der Brust. Er hätte sich jetzt offenbar, wie es bei Goethe heißt, »mit einem Poeten associiren« mögen, um seine Empfindungen ebenso con amore auszusprechen, wie sein volles, gutes, der reinsten Liebe und Dankbarkeit fähiges Herz 108 sie fühlte, nicht wie sie Joseph Moppes, der heute, da Thiebold pausirte, die Oberhand hatte, parodirte.

Merkwürdig aber bei alledem die Glückseligkeit Piter's! Piter braute nur bald mit Sherry, bald mit Arak an der Bowle, schenkte die Gläser voll, lächelte nur und genoß das Glück, sechs solche Freunde zu haben. Piter schwieg einmal! Piter, der nicht ertragen konnte, daß sein Schwager Ernst Delring fünf Worte sagte, die er nicht sofort durchkreuzte mit seinem täglichen, ja stündlichen: »Hören Sie 'mal, Delring, ich bin nicht mehr derjenige, welcher –«! Nämlich auch Piter war blond, hatte aber nicht die Fülle und Kraft des Haares wie sein Freund Thiebold de Jonge. Ebenso schlank war er, wenn auch schmächtiger. Sein Kinn und seine Lippen waren dünnbärtig. Kaum dreiundzwanzig Jahre alt, hatte Piter schon das Leben gewissermaßen »hinter sich«, ohne doch darum die Energie des Willens und einen seltenen Ehrgeiz verloren zu haben. Seit einiger Zeit war er von »Bildungsreisen« nach dem Auslande zurückgekehrt. Nun nahm er, als einziger Sohn der verwitweten Frau Commerzienräthin, an dem großen Geschäfte theil und das in einem Grade, der ihn mit seiner ganzen Familie in Conflicte brachte. Piter glaubte die vollkommenste Berechtigung zu haben, sich für keine gewöhnliche Natur zu halten. Vorurtheilsvolle Menschen mochten vielleicht sagen: Dieser einzige Sohn wurde nach dem frühen Tode Piter Noë Kattendyk's von der Mutter wie ein Prinz erzogen! Während sie in die Bäder und nach Rom und Paris reiste, wurde Piter durch Beispiel und Erziehung zu einer unglaublichen Meinung von sich selbst gesteigert! Piter selbst »sah aber gar nicht ein«, warum er von sich gering denken sollte. Er schwieg nur unter Freunden, wie sie jetzt bei ihm Sherrypunsch tranken; sonst führte er das große Wort und hatte schon als neunzehnjähriger junger Mann, der eben von der Handelsschule 109 gekommen, wie ein Principal die Hände in den Beinkleidertaschen stecken und hielt jedem Gespräche Stand über Oper, Ballet, Freihandel und Statistik der Ein- und Ausfuhr. Widerspruch duldete er sonst, jetzt nicht mehr, am wenigsten von Menschen, die ihm durch Bande des Bluts verbunden waren und dadurch etwa ihrerseits die Berechtigung gewonnen zu haben glaubten, ihn als großen Charakter nicht im mindesten anzuerkennen. Den einzigen Sohn schonte nur die Mutter. Glich er doch so ganz ihrem Seligen, für den sie jetzt noch nach zehn Jahren so viel Messen lesen ließ, als wenn der Gute wegen seines Titels als Commerzienrath und seiner Orden, die ihm beide leider Protestanten gegeben hatten, immer noch an der Pforte des Paradieses uneingelassen umherirren müßte. Merkwürdig dabei, daß Piter mit seinen blauen Augen, seinem fast unsichtbaren Bärtchen um Lippe und Kinn und Wange eigentlich kein durchaus schlechtes Herz hatte. Er hatte Anfälle von Gemüth. Für einen sogenannten »guten Freund« konnte er sich im wörtlichsten Sinne todtschlagen lassen; wie oft hatte es nicht schon einen nächtlichen Zusammenstoß mit den Spießen der Nachtwächter, ja sogar mit den Gewehrkolben der Schildwachen deshalb gegeben! So streng er im Comptoir war und sich die Miene geben konnte, als müßten Bücher, die dreißig Jahre gestimmt hatten, jetzt einmal von einer Commission verpflichteter Buchhalter oder von ihm allein in einer »stillen Abendstunde« gründlichst revidirt werden, so nachlässig behandelte er die Contocorrenten etwaiger Anleihen der Freunde, die mit ihm Sherrypunsch tranken. Wer Piter's Verstand anerkannte, konnte bei ihm über alles gebieten. Wer aber zuweilen an seinem Verstande zweifelte, was seine Schwäger, seine Schwestern und die ältern Buchhalter mehr wie gerne thaten, hatte einen geschworenen Feind an ihm. Wie Piter von sich selbst dachte, bewies er eines Abends in einem Cirkel 110 seiner Mutter, wo er bei Gelegenheit der damals eben wieder aufgekommenen Phrenologie sagte: »Die Phrenologie hat an mir die Zeichen des sanguinisch-nervösen Temperaments entdeckt! In erschreckendem Grade findet sich an meinem Schädel (er sah dabei auf seinen Schwager Delring) die Anlage der gegenständlichen Auffassung! Sehr groß ist (er blickte auf seine Schwestern) mein Zerstörungssinn! Selbstachtung aber und nur (nun sah er, jedoch etwas liebevoller, auf seine hochgespannte fromme Mutter) ein bischen Neigung zum Wunderbaren mildert diese gefährliche Anlage! Gering ist indessen (die Mutter zuckte schon wieder zusammen und entsetzte sich über den Blick, den Piter auf einige der Domherren warf), gering ist mein Verehrungssinn! Schwach, ganz schwach ist meine Anhänglichkeit (die Mutter, außer sich über ihre Täuschung, protestirte mit Thränen) und am wenigsten ausgebildet ist mein sogenannter Ingenieursinn! Aus letzterm muß ich schließen, daß ich nie eine Vorliebe für große Bauten haben werde!« Diese Bemerkung war die allerbitterste. Sie ging auf eine Summe von 10000 Thalern, welche die Mutter zum Ausbau eines vaterstädtischen berühmten großen Domes verwilligt hatte. Denn an sich hatte Piter im Gegentheil das ganze altbewährte Haus seiner Aeltern neuerdings fast umgerissen, Treppen gebaut, wo früher keine waren, Alkoven zerstört, Säle geschaffen und vorzugsweise seine Schwester Hendrika Delring so in der langgewohnten Existenz ihres zweiten Stockes beeinträchtigt, daß diese Aermste, wie sie sagte, sich vor dem Bruder kaum rücken und rühren konnte, von dem Lärm seiner nächtlichen Orgien zu schweigen. Nur die Besonnenheit ihres Gatten hielt sie von äußersten Schritten zurück, die niemanden hätten wunder nehmen können, da die vortreffliche Frau nach zehnjähriger kinderloser (gemischter) Ehe Mutter zu werden in nächster Hoffnung hatte.

111 In Piter's Freundeskreise aber schlug es jetzt im Durcheinander der Debatten, vorzugsweise über Westenstoffe und Cigarren und durchreisende Sängerinnen, bereits halb zwei Uhr. Und wer hätte nun nicht schon in einem Sylvesterkreise das neue Jahr abgewartet und die Entdeckung gemacht, daß dreißig Minuten vor »des Jahres letzter Stunde« der lebendigste Humor zur Erkenntniß kommen kann, ob er sich im Abwarten des neuen Jahres nicht vielleicht zu viel zugemuthet hat? Der Punsch ist in der Terrine kalt geworden, der Witz erschöpft sich schon in Leberreimen und zwei- und dreisilbigen Charaden; immer müder werden die Augen, immer langsamer schleichen die Minuten, die noch bis zur allgemeinen Umarmung und kußbesiegelten Beglückwünschung hin zu verleben sind. Wer dann nicht im Stande ist ans Klavier zu springen und einen elektrisirenden Tanz zu spielen, erlebt, daß einer um den andern das große Unternehmen, den letzten Stundenschlag des Jahres abzuwarten, aufgibt und in aller Stille davonschleicht, vielleicht mit einem das ganze Jahr zusammenfassenden Trinkgeld an die gratulirende Bedienung.

Um ein Viertel auf vier Uhr hatten die Freunde zwei Wagen zu erwarten, die unten im Hofe auf die Minute angespannt sein sollten. Es war auch ganz bestimmt vorauszusehen, daß sie alle noch etwa eine Stunde auf den Divans ringsum schlafen und tüchtig schnarchen würden; aber zwischen ein und zwei Uhr zeigte sich davon noch keine Spur. Fehlte auch die lebhafte Mittheilung des auf Spott jetzt sogar verdrießlich werdenden und den Kopf aufstützenden Thiebold de Jonge, stockten die Zungen schon und mußten sogar die sonst ganz »ungentilen« Anspielungen auf die einzelnen Geschäftsbranchen, wie: »Sie sind auf dem Holzwege!« zu dem Holzhändler Thiebold, oder »Schenken Sie reinen Wein ein!« zu dem Weinhändler Moppes, durch die Vermittelung der andern gütlich beigelegt werden, so fehlte es doch immer noch 112 an Stoff der Unterhaltung nicht; es gab zwei Themata, die in diesem Kreise endlos variirt werden konnten – die Juden und die Frauen.

Erstere hatten sich in kurzer Zeit hier bedeutend emporgeschwungen. Eine nicht zu entfernte Verwandtschaft der Hasen-Jette, die Fulds, rechnete man zu den dreifachen Millionären und wenigstens im Wechselgeschäft hatten die Brüder Moritz Fuld und Bernhard Fuld alle überflügelt. Sie hatten Comptoire in Paris, Brüssel und Amsterdam, machten ein großes Haus, hatten eine Besitzung im Enneper Thal gekauft, dort eine Villa, sogar eine Kirche erbaut. Es konnte zunächst keinen anziehendern Stoff geben, der hier besprochen wurde, als das Haus Fuld und Söhne, und im Verlauf dieser Mittheilungen, die indessen eine Kette nur von Spott und Misgunst waren, wurde auch Thiebold de Jonge lebendiger und erregter.

Gebhard Schmitz und Joseph Moppes hatten zwei Kunstfertigkeiten, die miteinander wetteiferten. Dieser intonirte die anziehendsten Lieder, jener war ein Dialektkünstler. Ob sächsisch oder berlinisch oder frankfurtisch oder im Volkston der eigenen Vaterstadt, war ihm gleich. Er ahmte jede Mundart nach, so weit die deutsche Zunge geht. Vorzugsweise war ihm das Jüdeln geläufig. Er erzählte von Juden nie anders als im allerrauhsten Kehltone. Und wenn er von Spinoza hätte sprechen – können, Gebhard Schmitz würde dessen Philosophie vorgetragen haben wie die eines Hausirers, der von seinen Masematten spricht.

Von einem der Fulds, zwei in den pariser Börsencoulissen und Salons gebildeten, höchst eleganten, weltgeschliffenen jungen Männern, die auf einer Jagd in Homburg oder Baden-Baden sich neben jedem deutschen Standesherrn sehen lassen konnten, erzählte er: Bin ich doch gekommen heute Abend auf den Domplatz und habe gesehen . . . Gottswunder . . . Was hab' ich 113 gesehen! Ist gekommen Herr Fuld und Söhne junior. der Moritz! Ist er gekommen mit dem neuen rothen Bändchen im Knopfloch! Hat er doch gekriegt den Orden von der ehrlichen Legion in Paris!

Die Unterbrechungen der Zustimmung verstanden sich an den schlagenden Stellen von selbst.

Sieht der Ritter Moritz sich um und wird fragen: Wo ist hier die Fabrik von die Wachslichter und Lebkuchen und heiligen Oblaten? Herr Schmitz! Können Sie mir nicht sagen: Wo ist wohnhaft Herr Jean Baptiste Maria »Schnuphöse« aus Hildesheim mit die elegönte s–pitze Vatermörders?

Diese Variation gestattete eine neue Zustimmung. Sie war eine andere Tonart der Gebhard Schmitz'schen Redekunst, die ein Unisono von ähnlich betonten Worten hervorrief.

Gebhard Schmitz fuhr fort: Gut! Höb' ich ihm gezeigt den Löden von Herrn »Möriö« und hab' mir gemacht doch auch ein Geschäft bei die Fräuleins, um zu hören. was der Ritter von Louis Philipp's ehrliche Leut hat für neue Masematten! . . . Gut! Wie wir eintreten, frag' ich die Fräuleins –

Unisono des Chorus: Evö! Apöllönia!

Ob sie nicht hätten ein schönes ges–ticktes Tauftüchelchen mit bröbönter S–pitzen. das ich wollte schenken nach Bilk uf die Hütte von meinem Tate, wo zwei bilkener Jüden sind gekommen uf den Einfall sich zu taufen! Sagt der Herr Ritter von die französische Ehrlichkeit zu mir: Main, Herr Schmitz! Sie wollen kaufen so seinen »Böttist«, um zu waschen zwei bilkener Jüden rein von's Judenthum? Da will ich Sie recommandiren die geistliche Stickerei da oben in dem fünften Carton rechts, seh' ich, Litera B, wo angeschrieben steht mit lateinische Buchstaben: »Tauftügelchen« – Tügelchen mit 'nem G, Herr Schmitz.

114 Neue Unterbrechung über die Orthographie Eva's und Apollonia's Schnuphase.

Aber der Ritter der ehrlichen Legion . . . wird er doch sagen: Hat mein Bruder nicht gestern gekauft hier ein Altarbecken und drei neue Meßgewandkleider, meine Damen? . . . Ja, Herr Fuld! . . . Nun, so werden die Fräulein haben die Güte mir noch zu geben zwei Dutzend von die stärksten Wachslichter fürs heilige Hochamt! . . . Sag' ich: Herr Fuld! Wie heußt Hochamt? . . . Alles, Herr Schmitz, für die neue Kirche zum Geschenk, wo mein Bruder hat bauen lassen oben bei Lindenwerth und Drusenheim im Enneper Thale! Und zu die Fräuleins sagt er: Wissen Sie, Fräulein, die Kerzen, wo Herr Levi, der Gemeindevorstand, hat gekauft neulich fürs Tabernakel in unsre Synagoge . . . Die aufgeklärte? frag' ich. Die neue, Herr Fuld, wo soviel Licht in die schönen Fenster fällt? . . . Nein, Herr Schmitz, sagt er, in die dunkle! Gerade so wie wir gebaut haben unsre Kirche in Drusenheim auch nur noch ins alte Byzantinische!

Durch den Jubel der Freunde hindurch fuhr mit gesteigerter Stimme Gebhard Schmitz fort: Herr Schmitz! Sie wird eingeweiht am neunten October, dem Tag vom heiligen Dionysius, wissen Sie dem, dem die Römer haben abgehauen den Kopf und der noch ist gegangen ich weiß nicht wie viel Meilen zu Fuß und mit dem Kopf unterm Arm! . . . (Neuer Sturm des Jubels trotz der Rechtgläubigkeit) Ist es denn wahr, Herr Ritter, frag' ich, daß Ihr Herr Bruder in Paris von seinem Freund Louis Philipp und aus dem seiner Kapelle von St.-Denis um 10000 Francs hat angekauft einen heiligen Zehen von St.-Denis und will ihn lassen einmauern in dem Altar, wo Sie haben gebaut in Drusenheim die neue Kirche im Basiliskenstil?

Basiliskenstil! . . . wiederholte der des Dombaus wegen im Architektonischen gut bewanderte Chorus.

115 In dem Augenblick ist aber gekommen eine Chaise vorm Wöchslichterlöden und Fräulein Apöllönia hat gerufen: Ach, Herr Fuld! Ach Herr Schmitz! – bitte um Entschuldigung, wir bekommen soeben –! und ein schöner schlanker Herr Köplön ist eingetreten in den Löden, frisch von der Reise angekommen und soll wöhnen bei Herrn Schnuphöse . . . Und was wird mein Ritter thun von der ehrlichen Legion? Gleich als wollt' er haben Ablaß auf hundert Jahre für die byzantinische Kirche, hat er Hochwürden eingeladen, auch zu sehen, was gebaut hat sein Bruder Bernhard Fuld zu Drusenheim neben die neue Villa und hat gezogen sein Portefeuille und hat gegeben dem fremden Priester gleich die Visitenkarte: Monsieur Monsieur Moritz Fuld –

Der ganze Chorus fiel hier mit den donnernd betonten Worten ein: A Paris! à Paris! Man weiß schon!

Diese für unsere Leser sicher ganz unverständliche und dennoch allgemein bejubelte Pointe der Erzählung krönte dieselbe für die jungen Männer wie das letzte Schlagwort eines Epigramms. Die Worte: »Man weiß schon!« knüpften sich an die allbekannte Anekdote, der zufolge der aus Kocher am Fall einst arm hier angekommene und durch Kriegslieferungen emporgestiegene alte Vater der Gebrüder Fuld jemanden, der ihn bei seinen öftern Reisen nach Paris um seine dortige genauere Adresse gefragt, mit schmunzelndem Stolze geantwortet haben sollte: »Schreiben Sie blos getrost und einfach meinen Namen: A Musje Musje Fuld à Paris! Man weiß schon!«

Auch auf Thiebold de Jonge war die Wirkung dieser Erzählung eine in der Hauptsache aufregende, doch im andern Sinne als bei den Freunden. Nicht daß er Gebhard Schmitz gesagt hätte: Aber Sie lügen ja ganz erschrecklich, Schmitz! Moritz und Bernhard Fuld sind zwei höchst gebildete und sehr taktvolle Männer, über die wir uns nur deshalb ärgern, weil sie geradezu 116 einen Aufschwung nehmen, der uns alle verdunkelt –! Auch er stand unter den Vorurtheilen seiner Geburt und seines Standes. Aber sowol die Thatsache, daß diesen Abend wahrscheinlich Bonaventura von Asselyn angekommen war, wie die Erwähnung Drusenheims, das dem Aufenthalte Armgart's auf Büchsenschußweite gegenüberlag, ließen ihn kaum zur Besinnung kommen. Er sprang auf, lief im Zimmer hin und her und überhörte gänzlich, daß Weigenand Maus unter allgemeinster Zustimmung beantragte, eine Caricatur anfertigen zu lassen, um »auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege« das zeitgemäß modernste Thema: Juden bauen den Christen Gotteshäuser! zu verspotten. Ein stillerer und sanfterer unter den Freunden, Alois Effingh (Effingh & Cie., Bankgeschäft), übernahm die Ausführung durch einen vertrauten Freund, der das Talent besaß mit der Feder gleich auf Stein zu zeichnen.

Hieß der Geistliche nicht Herr von Asselyn? fragte Thiebold de Jonge.

Ich glaube, ja . . . antwortete Gebhard Schmitz, ganz verloren in die Caricatur und nur noch weitere Details gebend.

Ein Vetter Benno's von Asselyn! sagte Thiebold und erwähnte einen Namen, den alle kannten, der aber nicht zu diesem Kreise gehörte.

Nächsten Sonntag Partie nach Drusenheim! rief jetzt Clemens Timpe.

Bewunderung der Villa –

Der Kirche –

Der »Tauftügelchen« –

Wir laden Evö und Apöllönia ein –

Nein. unterbrach Joseph Moppes. Achtung vor Thiebold de Jonge! Auf Lindenwerth »Da blüht eine Blume so hold, so hold« –

Auf Lindenwerth? rief der Chorus.

117 Ja, de Jonge! unterbrach den Singenden Gebhard Schmitz. Ich war im Stifte bei meiner Schwester! Wahrhaftig! Ich bin sonst in Geschmackssachen – auf Ehre – aber die Tochter Ihres Lebensretters –

Die Lebensretterstochter –! rief der Chorus.

Kapitaler Geschmack! Auf Taille! näselte jetzt nun wieder Schmitz im ghibellinischen Lieutenantston –

Moppes, der nun auch an die Reihe kommen wollte, sang: »Und schöner als in dieser Rose« –

A la bonne heure! Eigentlich noch ein Backfisch, aber künftige »Jöttin«! fuhr Schmitz fort und – »Hebe stieg in sanfter Feier« – sang Moppes. Schwarz und braun sind ihre Augen – »Maikäferlein, was fliegst du auf?«

Zähne – reizend! Zwei Zähne – man sieht sie immer –

Man sieht sie immer? rief der Chorus –

»Um das Rhinoceros zu sehen« – declamirte sogar Weigenand Maus.

Thiebold erwachte aus seinem Brüten wie ein Löwe und schüttelte seine goldene Mähne. Genug! rief er mit donnernder Stimme.

Aber

Singvögelein singet,
Singvögelein schwinget
Stolz sich in den Himmel hinein!

antwortete Moppes.

Der Streit wurde durch Gebhard Schmitz beigelegt. Letzterer blieb bei seiner Bewunderung Armgart's, nannte sie das Entzücken des ganzen Pensionats und ließ »wirklich« etwas Höheres gelten als seine Dialektkunst und seinen pariser »Gibus« zum Einklappen, den er eben suchte.

Es blieb bei der Caricatur und bei der sonntäglichen Partie. Ruhende Gruppen bildeten sich. Der eine lag, von der Caricatur 118 sprechend, da, der andere, von der Liebe überhaupt, dort. Man flüsterte. Man hatte jetzt Geheimnisse, ja es senkte sich über die wüste Atmosphäre mancher reinere Sonnenstrahl. Selbst Piter ließ endlich von der Arakflasche und erzählte mit gedämpfter Stimme von einigen wunderbaren neuen weiblichen Bekanntschaften, besonders einer – er sprach ganz leise nur ins Ohr zu Gebhard Schmitz. Joseph Moppes, der hören wollte und nichts verstand, parodirte: »Mir auch war ein Leben aufgegangen!« Folgen können wir diesen Gesprächen nicht. Sie enthielten zu viel von dem, was, wenn Männer zwischen zwei und drei Uhr Morgens von Frauen sprechen – die Nacht »bedeckt mit Grauen«.

Endlich aber wurde alles still. Die am lautesten gesprochen hatten, schnarchten schon. Auch Piter im schottischen Reisecostüm schlummerte und lächelte und sein etwas stumpfes Näschen schien im Traume eine ganze Jakobsleiter voll Seligkeiten zu balanciren. Nur Thiebold de Jonge, der auf einem Sopha ausgestreckt lag, das Haupt aufgestützt, sah nach der Uhr und war in wenig Minuten der einzige, der wach geblieben.

Er gedachte seines Freundes Benno. Benno's, der, wie dieser sich einmal ausgedrückt hatte, den »lateinischen Stolz« besaß, sich in einer Soll und Haben-Sphäre dieser Art nicht heimisch zu fühlen, ja die geschilderte geradezu vermied. Thiebold, in seiner Art ein Schwärmer, betete bei alledem Benno an. Nur hatte er sich wieder einmal mit ihm gezankt und zwar empfindlich; er hatte sogar den ersten bedeutendern Zwiespalt mit ihm. Nicht um Armgart's willen. Von Benno's Empfindungen für Armgart hatte Thiebold bei dessen in allen Dingen bewahrter kalter Außenseite keine Ahnung. Wohl aber war der Vorfall an dem Tage, wo Hedemann im Wirthshause an der Landstraße die Begegnung gehabt hatte mit Herrn von Enckefuß, für beide zum Gegenstand des ersten längern Misverständnisses geworden.

119 Benno und Thiebold waren Schulfreunde, die sich in spätern Jahren aus dem Auge verloren hatten. Sie fanden sich wieder, als Benno sich bei einer zufälligen Begegnung über das gerade besprochene Abenteuer in Canada dahin äußern konnte, daß ihm wenn auch nicht Ulrich von Hülleshoven, doch Hedemann seit frühester Kindheit wohlbekannt, ja sozusagen sein Nährvater und Erzieher war, solange bis der Dechant ihn ganz in seine Nähe nahm und ihn in der der Residenz des Kirchenfürsten nahe gelegenen Universität auf Schulen schickte. Das Band der Freundschaft mußte sich enger und enger um beide schlingen, als es sich herausstellte, daß Thiebold's Charakter die Hingebung selbst war. Nach wenig Monaten schon konnte er nicht mehr ohne Benno leben, nichts mehr ohne ihn unternehmen. Alles, was dieser sagte oder that, war für ihn, sogar in Gegenwart anderer, ein Evangelium. Trotz allerdings mancher und fast stündlicher Reibung umschlang seine enthusiastische Natur doch Benno wie der Epheu den festen Stamm.

Die Reise nach Kocher am Fall mit Extrapost entsprach Thiebold's Verhältnissen und galt eigentlich der Huldigung Benno's und den Verwandten desselben in Kocher. Da aber Benno allein und über Lindenwerth und St.-Wolfgang und sogar zu Fuß gehen zu wollen erklärt hatte (in seinem Charakter lagen solche schroffe Ablehnungen des liebevollsten Entgegenkommens), so hatte von dieser bequemen Reisegelegenheit nur der Assessor von Enckefuß den Gewinn. Dies war nur eine oberflächliche Bekanntschaft beider Freunde. Sie hätte sich jetzt fester knüpfen können. Gab das Zusammenreisen dazu die beste Gelegenheit, so wurde jede weitere Beziehung wenigstens für Thiebold unmöglich durch die Scene mit Hedemann und Porzia Biancchi.

Lucinde hatte sich an jenem Abend, als sie im »Riesen« ein Gelag in dem Geschmack, wie eben geschildert, voraussetzte, 120 nur in Betreff einiger Theilnehmer geirrt. Benno fehlte und Thiebold. Beide saßen beim Obersten auf seinem Weinberge. Sie saßen mürrisch und sogar ohne Entschluß, auch nur auf die Dechanei zu gehen. Benno hatte an einem Souper im Riesen theilnehmen wollen; Thiebold erklärte, mit Herrn von Enckefuß nichts mehr gemein zu haben. Hedemann ist ein Narr, hatte Benno in seiner kurzen Weise erwidert und darüber entspannen sich dann Wortgefechte, die bald einen ernstern Charakter annahmen. Sie endeten damit, daß Thiebold das ganze, eigentlich ihm doch so unendlich süße und nothwendige Joch seiner Abhängigkeit von Benno abschüttelte und ihm Dinge sagte, die sich selbst unter den besten Freunden nach vierundzwanzig Stunden nicht sogleich wieder zurücknehmen lassen. Asselyn, hatte er gesagt, Sie sind ein Mensch, dem seine Philosophie noch das Herz im Leibe ausdörren wird! Ich bemitleide Sie, wenn Sie sich Ihren Dominicus Nück zum Muster genommen haben, diesen armseligen Menschen, der eine Million besitzt und Sonntags die Sackträger beneidet, die vorm Thore bei einem Glase des schandbarsten Krätzers Kegel schieben! Schämen Sie sich mit Ihrer sündhaften Gleichgültigkeit für Gott und die Welt! Sie erzählen von einem Zauberweib, mit dem Sie hierher gereist sind, und wollen nicht in die Dechanei zurück, nur um sie nicht wiederzusehen! Von einem Engel in Menschengestalt, einem Mondscheinelfen, unserer Armgart, wissen Sie nichts, als daß sie ihrem Vater ein paar Hosenträger stickt! Diese Porzia Biancchi ist Ihnen nicht viel mehr als eine Landstreicherin, und Hedemann's Neigung finden Sie geradezu lächerlich, obschon Sie doch wissen. daß der Oberst sowol als er Naturen sind, welche die Spreu vom Weizen zu unterscheiden wissen! Ja, als – Müller! wird Ihre ewige Ironie einwerfen; aber nach Ihnen müßte der Friede in dem Hause der Hülleshoven und Ubbelohdes einfach nur durch die Polizei 121 vermittelt werden! Sehen Sie zu, wie weit Sie mit diesem Sibirien in Ihrem Herzen kommen werden. Gerade solchen Naturen, denen alles gleichgültig ist, solchen. die in der ganzen Welt nichts, aber auch gar nichts als Schein und Dummheit sehen, denen wird zuletzt so heiß unter den Sohlen, so fegfeuermäßig schwül hier schon auf Erden zu Muthe, daß sie sich wie der Skorpion, den man auf Kohlen setzt, zuletzt selbst umbringen.

Freund, Sie haben wahrscheinlich in der letzten Nacht, wo Sie nicht schlafen konnten, Seume's »Spaziergang nach Syrakus« gelesen? – Das war alles, was Benno geantwortet. Dennoch trafen die Worte Thiebold's ihn tiefer, als er sich den Schein gegeben. Er war zu stolz, um zu entgegnen: Sage mir, wie ich in die Welt gekommen bin, und du wirst sehen, ich kann auch die Welt lieb haben! Vertändelte er schon sonst den Ernst seines Lebensunmuthes, so jetzt auch seine innerlichste Zustimmung zu diesem ungewohnt starken Ausbruch allerdings vielfach schon benutzter Freundschaftsrechte. Gerade dadurch, daß er dennoch zu Enckefuß hielt, bewies er, wie sehr er sich getroffen fühlte. Vor Hedemann rechtfertigte er sich im Vertrauen: Lieber Alter, mögen Sie mit dem Enckefuß haben, was Sie wollen, der Sohn hat mir gestanden, daß sein Vater wegen seiner Finanzen in Verzweiflung ist – wie kann ich ihm meinen Beistand entziehen! Hedemann hatte dieser Antwort auch zugestimmt und sie natürlich gefunden. Seitdem die Italiener in Kocher angekommen waren und ihren gewohnten stark aufdringlichen Handel trieben, schien er von der ersten Hitze seines Antheils etwas zurückgekommen.

Eine weitere Erörterung und gründliche Aussöhnung zwischen Thiebold und Benno hatte in Kocher selbst nicht mehr stattgefunden. Major von Pritzelwitz benutzte die ihm nur verwilligten drei Tage, um seine kleine Armee in einen schlagfertigen 122 Zustand zu versetzen, unter anderm ihr auch durch tüchtigstes Sporengeben dergleichen »Mucken« der Gesinnung zu vertreiben, wie sie hier zu Lande üblich sind, wo man an Carnevalstagen den Kaiser Napoleon, seine Marschälle und seine alte Garde in öffentlichen Aufzügen copirt. Moppes, Timpe, Schmitz, selbst Weigenand Maus waren nicht selten schon zu Pferde mit Mamluken einhergeritten und hatten sich mit allem Pomp so in Orden und Stickereien gefallen, als wenn sie die Schlachten bei Jena und Eylau gewonnen hätten.

Auch Benno's bester Absicht, den Streit in der Dechanei beizulegen und Lucinden in sie zurückzuführen, ließ sich nicht der Nachdruck seiner gewohnten Handlungsweise geben. Diese fuhr mit Herrn Schnuphase schon am andern Tage in ihre neue Lebensstellung.

Dann war auch Thiebold am Morgen des vierten Tages in Kocher plötzlich verschwunden. Er hatte an Benno ein einfaches Billet zurückgelassen, worin er sagte, es würde ihm Vergnügen machen, wenn er mit dem Assessor von Enckefuß seinen Landau benutzen wollte; er selbst wäre in Flößereigeschäften erst mit der Post, dann mit dem Dampfboot auf einige Tage nach Mainz gegangen.

Seit heute Abend erst war er von dorther zurück, jetzt bedeutend abgekühlt. In Lindenwerth hatte er Halt gemacht und sich mit den Empfindungen eines Toggenburg einige Stunden am vielberühmten Hüneneck aufgehalten. Nach dem Fenster des Saales, in dem Armgart wohnte, hatte er das Angesicht gerichtet, solange die letzten Strahlen der Sonne es vergoldeten. Da er keine Verwandte im Pensionat hatte, wurden ihm die Besuche von den gestrengen Englischen Fräulein nicht gestattet.

Nun lag er hier, im Ohr die wüsten Scherze seiner »Freunde« – vorgenießend schon die von ihm mit leidenschaftlicher 123 Zustimmung ergriffene Sonntagspartie nach Drusenheim, wo eine Begegnung mit Armgart nicht unmöglich war – sonst aber aufgelöst in Reue und Scham und unendlichster – Sehnsucht nach Benno.

Und vielleicht wäre dennoch auch über ihn der Schlummer gekommen, wenn nun nicht plötzlich im Hofe Wagenrasseln und das mahnende Knallen zweier Peitschen hörbar geworden wäre. Er sprang auf und wäre fast gefallen, da die Lampen ausgegangen waren. Er orientirte sich und weckte Piter, der im Concert der ringsum Schnarchenden eine hervorragende Solostimme übernommen hatte. Piter war eingeschlafen mit den vertraulichsten Geständnissen, die er in das Ohr seines Freundes Gebhard Schmitz geflüstert hatte über zwei wunderbare Frauenerscheinungen, die plötzlich durch »einen höllisch vernünftigen« Gedanken seiner Angehörigen ganz dicht in seine Nähe verpflanzt waren; doch weniger von Mamsell Lucinde Schwarz war er entzückt – »obgleich auch diese« – Und in diesen Haarspaltungen seines Geschmacks war er selig eingeschlummert.

Nun, von Thiebold de Jonge aufgerüttelt, fuhr er empor. So groß auch immer sein Vertrauen zu sich selbst war und so sehr er sich vorgenommen hatte, sich in seiner ganzen künftigen Haltung im Leben einen wenn nicht großartigen, doch eigenthümlichen und merkwürdigen Charakter zu geben, so geschah ihm doch immer, daß sein erstes Erwachen von irgendeiner der vielen, nicht blos durch den natürlichen Schlaf verursachten Besinnungslosigkeiten regelmäßig eine geringfügige Vorstellung über die gerade obwaltende Situation begleitete, der dann die völlig decontenancirte Miene entsprach. So auch heute. Der erste Gedanke, als ihn Thiebold aufrüttelte, war an das Fünfuhraufstehen in der Handelsschule gerichtet. Bald aber besann er sich auf sein gegenwärtiges Alter und seine Stellung im Leben und in diesem 124 Hause und rief donnernd den Joseph im Vorzimmer wach, ihn in den Hof jagend, und taumelte, seliger Rückerinnerungen voll, eine niedergebrannte Kerze in der Hand, die luftige, zierliche neue Wendeltreppe, das Product seines ihm nur für den Ausbau des Domes seiner Vaterstadt mangelnden Ingenieursinnes, empor.

Er mußte ja. während Thiebold die andern Schläfer weckte, noch einmal in sein Garderobezimmer. Um ganz dem Bilde der Modenzeitung, nach der er sich kürzlich erst für die Morgentoilette, für die Jagd und für Reisen equipirt hatte, zu entsprechen, fehlte noch sein Plaid und seine Tragtasche an juchtenledernen Riemen. Piter war auch in solchen Dingen sehr exact. Für die Jagd besaß er eine rothe Jacke mit kurzen Schößen, goldenen Knöpfen, graulederne Hosen und hohe gefirnißte Stulpstiefel. Für die Reise trug er einen kurzen Phantasierock mit zwei Brusttäschchen, schottische Beinkleider ohne Sprungriemen, Lackstiefel, die, wenn die Beinkleider in die Höhe gingen, Schäfte von rothem Saffian zeigten.

Wie Piter etwas mühsam hinaussteigt, wird ihm eine Ueberraschung zu Theil. Kaum hatte sein etwas schwerer Fuß auf der leichten Treppe die ersten Stufen betreten, kaum hatte sich sein etwas unsicheres Auge überzeugt, daß es auch oben dunkel geworden, kaum war die mit besonderm Nachdruck an die Lehne sich krampfende rechte Hand im Begriff mit der linken zu wechseln, wobei die Uebergabe des Lichtes in die andere Hand mit Schwierigkeiten verbunden schien und, da er sie doch zu überwinden versuchte, das Licht richtig ausgehen machte – als von oben her eine Thür aufging und der Schimmer eines Lichtes dem im Dunkeln Emportastenden zu Hülfe kam.

Und kaum hatte Piter, über dieses ungewohnte nächtliche Lebendigsein über ihm hoch erstaunend, aufgeblickt, so mußte er sich um so betroffener fühlen, als ihm über das kleine bronzirte Gitter 125 hinweg ein holdes Frauenantlitz entgegenleuchtete – in Wirklichkeit leuchtete mit einem Lichte und figürlich durch holdesten Liebreiz und eine seltene Anmuth; dabei dasselbe zarte Mädchenangesicht, in dessen Schilderung er soeben zu Gebhard Schmitz beinahe hätte poetisch werden können, wenn ihn nicht der Schlummer übermannte. Ja, aber, um Gottes willen –! Sie – noch auf –? sprach er mit nicht leichter Zunge.

Das junge Kind zitterte und trat mit dem Leuchter in der Hand zurück. Denn nun schon stand Piter dicht vor ihr schwer und krampfhaft und mit einem entsetzlichen Dunst von Taback und Wein. Er weidete sich an einem Anblick, der ihm ein »Bild aus Himmelshöhen« erschien. Diese zwar nur kleine, aber zierlich behende Gestalt, dies goldblonde Haar, das einen Trauerkrepp in seine dichten Flechten eingewunden hatte, diese aus einem gleichfalls trauernden schwarzen Kleide blendend hervorschimmernde weiße Haut und der Schnitt des Gesichtes von einer wunderbar lieblichen Rundung und Regelmäßigkeit übten wiederum die ganze Wirkung auf ihn aus, die er schon seit gestern früh um zehn Uhr empfunden hatte, als er dieses neu herzugezogene Mädchen seiner Schwester Hendrika Delring zum ersten mal gesehen hatte.

Aber zum Donnerwetter – wie kommen Sie denn dazu, so – so lange aufzubleiben oder vielmehr –?

So hab' ich Frau Commerzienräthin – vielleicht – nicht richtig verstanden – sie befahl – mir, da ich hier oben doch – bei Madame Delring bin – immer auch auf Ihre Wünsche zu hören – und wenn Sie reisten – hätten Sie manchmal noch etwas nöthig – und da – wartete ich so lange –

Die Stimme des armen überwachten, verweinten und erschreckten Mädchens zitterte.

Na. das ist ja aber wahrhaftig noch besser –! Piter lachte 126 wie über eine grenzenlose Frauenzimmerdummheit und doch that ihm die Naivetät wohl, die so auf seine allerhöchste Befriedigung bis gegen vier Uhr Morgens aufbleiben konnte. Hahaha, lachte er und taumelte, um sein ausgegangenes Licht auf ein Fenstersims zu setzen. Das ist ja einzig! Sie bleiben 'ne ganze Nacht um unsereinen – und nun reis' ich – jetzt, wo ich solche – Nachbarschaft – habe – Meine Schwester – na, wird einen schönen Lärm machen, wenn sie hört, daß Sie Muttern so unsinnig – wollt' ich sagen allerliebst – verstanden haben! Herr Gott – kleiner Engel! Die Zeiten sind vorüber, wo man – Nachts aufblieb – wenn unsereins blos nur nach Elberfeld reiste – Jetzt heißt's: Reise glücklich! und das Uebrige – macht Wecker an der Uhr – und – und Hausknechts Stalllaterne –

Diese blitzte auch unten im dunkeln Hofe hochauf und ihr Schimmer fiel an die Hauswand gegenüber.

Piter wollte von dem überraschenden Mißverständniß Vortheile ziehen, aber das schöne Mädchen hatte schon die Thür ihres Zimmers zum Rückzug in der Hand –

Piter wollte nach und trat einstweilen mit den Füßen zwischen die Oeffnung, welche die Fliehende schließen wollte. Warum sind Sie denn schwarz – angezogen – Donnerwetter und wie heißen Sie denn –?

Gertrud Ley –

Gertrud! Also Trendchen? Sieh! Du bist schön, Trendchen, straf mich Gott, wie ein Engel – aber – aber warum denn der schwarze Flor da in – deinen allerliebsten –

Wenn Trendchen Ley jetzt einige Thränen in die Augen bekam, so war es nicht so sehr die Erinnerung an die Leiden, die sie seit einigen Wochen und vollends den letzten Tagen durchgemacht hatte, Leiden, die sich hätten wiederholen können, wenn sie nicht durch die »gute Lucinde« verhindert worden wäre, den 127 Dienst bei der bösen »Hauptmännin« anzutreten, als auch das Gefühl der tiefsten Beschämung über den Irrthum, der sie so bis früh Morgens hier oben hatte aufsitzen und wachen lassen, auch vielleicht der Schmerz, dafür so belohnt zu werden, wie jetzt von Piter geschah. Und auch ihr Vater fiel ihr ein, wie der – ebenso des Morgens aus den Wirthshäusern kommen konnte –

Ihr Weinen wurde convulsivisch, so daß Piter darüber die Besinnung theils noch mehr verlor, theils wieder gewann – je nachdem. Den Versuch sich ihr noch zu nähern gab er auf und zog sich scheu und seit langer Zeit zum ersten mal in einem ihm fremdartigen Zustand, Verlegenheit genannt, auf sein Zimmer zurück. Als er dann wiederkam mit Plaid und Tasche, war Trendchen verschwunden. Die zu den Zimmern seiner Schwester führende Thür war verriegelt. Er klopfte und klopfte und gerieth in eine Begeisterung, in einen Sturm, in einen Drang der Liebesbetheuerung, in ein Vergessen ganz seiner selbst – daß er – Doch Trendchen Ley antwortete nicht mehr.

Piter mußte den schon mahnenden Freunden folgen. Unten schob einer den andern in die harrenden beiden Wägen. Im Abfahren waren alle sieben noch leidlich wach. Piter war sogar ganz, als hätte er die »seiner Natur durchaus nothwendigen« zehn Stunden vollständig geschlafen; er lachte und trällerte, und sagen wir nur, er that dies wie unsinnig.

Seine eben erlebte Geschichte hätte jedoch niemand hören können, wollte er sie auch erzählen, so rasselte man über die öden und schon vom kommenden Tageslicht angedämmerten Straßen, über die große Brücke, durch die Festungswerke; auch kam hinter ihnen her, nicht sehr unhörbar, die pariser Mallepost. Im Bahnhof angekommen, schliefen alle außer Piter und Thiebold.

Nun raffte man sich noch einmal auf und nahm Abschied. Kutscher und Bediente besorgten Piter's Effecten und die Freunde 128 gewannen auf einen Augenblick wieder ihren alten Humor. Allen fiel ihr erstes Reisen zur Messe nach Frankfurt oder Leipzig ein. Gebhard Schmitz, der Dialektkünstler, brach wieder das Eis und entfaltete neue Talente. »Sie, mein kutes Härrchen! Eine kute Messe!« variirte er jetzt einmal wieder im leipziger Tone und der einfallende Chorus sächselte mit, bis auf den Pfiff der Locomotive der Zug davonbrauste und ein donnerndes Hurrah den Zweck und die Bedeutung dieser Nacht krönte.

Die Chaisen fuhren jetzt in die Stadt zurück und setzten alle junge Herrschaften vor den Pforten ihrer hochmögenden Väter ab, wo dann ein jedes froh war, sich in bequemen Sprungfedermatratzen auszuruhen von soviel Witz, soviel Bildung, soviel Kenntniß der Welt und der Menschen, soviel bewußtem Werth für die Welt im allgemeinen und diese so höchst ehrwürdige und in so vielen Dingen selbstvertrauend den vaterländischen Ton angebenwollende Stadt im besondern.

Während Piter vielleicht entschlummernd Trendchen im hochzeitlichen Kleide und von ihm selbst an den Altar geführt sah (es wäre das die kapitalste Idee gewesen, die sein ihm mangelnder »Verehrungssinn« für die Familie hätte ausführen können), war Thiebold. der jeden der Genossen noch an sein Haus gebracht und sich das Festhalten an der drusenheimer Sonntagspartie bedungen hatte, in der Mitte der Stadt ausgestiegen.

Schon war es halb fünf Uhr. Die Straßen wurden lebendiger. Die Tageshelle mehrte sich. Thiebold's Schritte führten ihn an einen kleinen winkeligen Platz, wo Benno wohnte. Mit der Schwärmerei eines Verliebten stellte er sich an einen schon von der Magd manches fleißigen Handwerkers belebten Brunnen und sah zu den geschlossenen Fenstern seines Freundes im ersten Stock eines schmalen Häuschens empor. Es hing ein Blumenbret vor dem Wohnzimmerfenster. Alle Läden waren geschlossen.

129 Der Morgenthau, die herbstlich frische Luft kühlte die Augen des stillen Beobachters, der gewiß sein konnte, auch schon draußen auf den Holzhöfen seines Vaters das lebendigste Tagwerk begonnen zu finden.

Wie er einige Minuten so gestanden hatte, nicht achtend der Neugier um ihn her, nicht achtend der Fuhrwerke, die schon im Gang waren, der Ausrufungen, die schon von Verkäufern ertönten, öffneten sich im ersten Stock die Jalousieen an Benno's Wohnzimmer.

Benno war schon aufgestanden und öffnete, wie er war, im rothgestreiften Nachthemde, mit der einen Hand durch sein dunkles Haar streifend, mit der andern einen kleinen Vogelbauer unter die Blumen setzend.

Guten Morgen, Asselyn! rief Thiebold voll bebender Freude und fast schüchtern hinauf.

Guten – Morgen, de Jonge! war die ruhige und erstaunte Antwort.

Schon so zeitig auf?

Und Sie – noch so spät – wach?

Haben Sie schon gefrühstückt?

Das nicht! Aber Reste aufzuarbeiten –! Doch kommen Sie nur herauf, falls Sie mir nicht wieder über meine Kaffeemaschine die Ohren voll lamentiren wollen!

Thiebold wußte schon, daß das alles von Benno nur Redensarten waren, die wenigstens halb die Freude der Ueberraschung verdeckten, die er selbst so überströmend voll und vom tiefsten Herzensgrunde – ganz empfand.

Da ist der Hausschlüssel! sagte Benno nach einer Secunde und warf ihn hinunter.

Thiebold hob den Schlüssel auf, schloß die Hauspforte und stieg die schmale Stiege zu seinem Freunde und zum 130 gemeinschaftlichen Frühstück hinauf. Er wußte, daß er seinem bewunderten und angebeteten Asselyn nicht um den Hals fallen durfte; er wußte, daß ihm jede weitere Erörterung des Misverständnisses mit den Worten würde abgeschnitten werden: Sie sind ein närrischer Kerl! Er wußte, daß seine ganze zu einer Scene der innigsten Zärtlichkeit geneigte Stimmung sofort die kalte Douche der Ironie bekommen würde. Aber wie er so Stufe um Stufe hinaufstieg, fühlte er doch, er kam aus einem Chaos voll Nacht, voll Kampf, voll Wahn, voll Thorheit zu einem Menschen, der sein überwallendes Herz beruhigen, die dunkeln Stimmungen seiner Seele erleuchten, ihn im Straucheln halten, im Irren ihn führen konnte, zu einem Freunde, zu dem, so jung er war, er und mancher andere hätten sprechen dürfen: Bei dir – ist Licht und Ruhe! Darin glichen sich Bonaventura und Benno, daß jeder von ihnen umstrickt und umsponnen war von einem durch Schicksalshand angelegten Lebensräthsel. Aber auch darin glichen sie sich, daß von einer zu hoffenden Lösung desselben ihnen und andern mehr abhängen durfte, als nur – ihr eigenes Glück.

 

Ende des zweiten Buchs.


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