Der Zauberer von Rom / II. Buch
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Viertes Bändchen.

1 8.

Die nächtliche Beraubung des Grabes auf dem Friedhof zu St.-Wolfgang war inzwischen in der Dechanei, wie in ganz Kocher am Fall bekannt geworden. Grützmacher war auf schweißgebadetem Rosse zurückgekehrt, ohne den muthmaßlichen Thäter ergriffen zu haben.

Durch Hedemann, der auf einen Augenblick in der Dechanei vorsprach und die von Angelika Müller erhaltenen, von Benno, der vom Dienst und der militärischen Kameradschaft so in Anspruch genommen wurde, daß er sich für die Dechanei vorläufig ganz entschuldigen mußte, wieder zurückempfangenen Briefe für den Dechanten an Windhack übergeben hatte, war nicht minder bekannt geworden, daß vielleicht noch am Abend der Pfarrer von St.-Wolfgang in Kocher eintreffen würde. Sonst ließ sich vor Antheil an den Vorgängen in der Stadt niemand sehen, kein Oberst, kein Benno, kein Thiebold, sodaß Lucinde der Frau von Gülpen die räthselhaften Vorgänge allein erzählen mußte, ja wiederholen, mehrfach wiederholen. Die Theestunde hatte geschlagen und einige Freundinnen der gastfreien Frau saßen schon im lebendigsten Mittheilungsgenuß um den siedenden Kessel versammelt.

Zur Justizräthin von Nietnagel, zum Stiftsfräulein von Minnerich und wie sie alle hießen, die entweder in Kocher selbst wohnhaft waren oder zu jener Landeswohlthat (Landesplage nach 2 andern) gehörten, welche die Reihe herum stets auf der Wanderschaft bei ihren Lieben und Guten begriffen sind und das schöne Talent des Sich-Einwohnens und Nothwendigmachens des Jahres bei einem halb Dutzend Familien schon seit dreißig Jahren besitzen, gesellte sich zuletzt auch der tieferschütterte Dechant.

Man erzählte ihm die unheimliche Kunde von dem erbrochenen Grabe. Lucinde erhielt Gelegenheit, ihren Bericht zum fünften oder sechsten mal zu wiederholen, sich aber auch zugleich in lebhaftester Weise durch diesen ihren Vortrag bei ihm selbst zu empfehlen.

Lucinde, die das Wohlgefallen des Greises an dessen wiederholt prüfendem Blick sogleich bemerkte – sie war zwar noch in ihren Reisekleidern, hatte aber manches Kräglein, manchen Spitzenschmuck zur Hebung ihrer Erscheinung zu benutzen verstanden und besonders schön stand ihr die eigenthümlich thurmartige Krone ihres stattlichen Haares – suchte sich den Schein der größten Ungefährlichkeit zu geben.

Sie that, als wollte sie sich nur um Gottes willen nützlich machen. Sie servirte den Thee wie eine Dienende. Schon erntete sie manchen heimlichen Wink des Beifalls, den Frau von Borchardt an Frau von Nietnagel, diese wieder an Fräulein von Minnerich und Fräulein von Minnerich an die »treue Freundin«, Frau von Gülpen selbst, weiter gab. Windhack erinnerte an die Briefe, die Hedemann gebracht; der Dechant wollte nichts davon wissen, er wollte ruhig »seine Tasse Thee« trinken, d. h. die Gestalt und den ausdrucksvollen, den Kenner der Antike fesselnden Kopf derjenigen bewundern, die den Thee, schon wie eingewohnt, credenzte.

Windhack konnte, da er Grützmacher'n gesprochen hatte, von der vergeblichen Verfolgung des Knechtes aus dem Weißen Roß berichten. Oben auf der Höhe des St.-Wolfgangsberges, 3 erzählte er, hatte Grützmacher den auch von Lucinden als entschieden unheimlich geschilderten Menschen und seinen Wagen nahezu erreicht. Da sprang der Kerl herunter vom Wagen, ließ alles im Stich, flüchtete in den unwegsamen Wald und Grützmacher hatte halt mit seinem Gaul vorläufig das Nachsehen.

Nun kam die Majorin Schulzendorf zum Thee. Auch sie kam in der ganzen Eile und Aufregung, die nichts zu versäumen wünschte und sich vor Thatsachen, die sie so lange zurückgehalten hätten, nicht zu lassen wußte. Erst der Leichenräuber und – ei – ei, daß sie fast vergessen hätte, dem liebenswürdigen Dechanten für das wunderschöne, prächtige Obst zu danken – – »Bitte. Bitte!« – Köstliche Birnen. Na heute Abend, der große Zapfenstreich – Und »der Leichenräuber?« Nun, nicht wahr? Aber mein Mann vermuthet schon für bestimmt einen gewissen Bickert, einen Menschen, der jahrelang in Frankreich im Zuchthause gesessen hat, dann über die Ardennen herübergekommen ist, bald da, bald dort herumstreift, mit einer ganzen Bande zusammen im Hundsrück die Roßtäuscherei getrieben hat, rotzkranke Pferde für gesunde aufputzte – Danke, danke, meine Liebe! der Thee macht mir noch zu heiß! Aber ein Stückchen von Ihrem Kuchen – Delicat! – –

Auf dem Lande und in kleinen Städten nehmen die Menschen am Natürlichen und Thatsächlichen weniger Anstoß. Sie können von der Rotzkrankheit mit demselben Interesse reden hören, wie man in großen Städten kaum von den Krankheiten der Menschen spricht. Der Major war selbst Pferdehändler. Seine Gattin spann seine Vermuthung über die Gefährlichkeit dieses Bickert bis auf eine Schilderung der Künste aus, wie man den sogenannten Rotz auf einige Tage zum Schein beseitigen kann.

Mitten in diesem Fragen, Berichten, Wundern kam auch der Major Schulzendorf von den Gensdarmen selbst. Es war 4 eine hagere, mehr bureaumäßige als militärische Erscheinung. Eine Uniform trug er, doch saß sie ihm nicht so stramm und geschlossen, wie man hier zu Lande in den militärischen Kreisen sich zu zeigen gewohnt ist. Als Candidat der Theologie war er 1815 unter die Fahnen seines Königs getreten und hatte eine Carrière gemacht, die jetzt gewissermaßen wieder in ihre frühere moralische, wenigstens civile Bestimmung zurücklenkte. Als Lieutenant von der Armee abgegangen, war er bei den Gensdarmen allmählich bis zum Major gestiegen und griff nun in Gesetz und Ordnung als Chef eines rings zerstreuten, den Landräthen und Regierungsämtern zur Verfügung gestellten Gensdarmeriecorps ein. Man sollte kaum glauben, daß ein ehemaliger Lateiner so ganz im Berittenen, namentlich im Pferdehandel, aufgehen konnte, wie Schulzendorf, obgleich er immer noch etwas Gelehrsamkeit in Bereitschaft hielt. Seine grauen Augen bekamen oft ein lebhaftes Feuer; um die spitze Nase legten sich aufs blasse Antlitz zwei lange mephistophelische Furchen; der Bart auf der Oberlippe zuckte in allen seinen dünnen grauen Härchen; das in der Mitte gespaltene Kinn streckte sich mit einer Entschiedenheit, die ganz in seinen Charakter des Schlauen und Gekniffenen paßte. Es war die norddeutsche Weise der Hinter-Elbe, und ein Typus, der für die Welfen als specifisch ghibellinischer gilt.

Sogleich warf er den scharfen und prüfenden Blick der Bureaukratie auf die ihm als Nichte der Frau von Gülpen vorgestellte Lucinde. Waren Sie schon früher in unserm Kocher? fragte er sie, als sie ihm den Thee credenzen mußte.

'S ist das erste mal! antwortete sie, den Blick niederschlagend und mit ihrer alten Hessenmädchen-Naivetät.

Sie finden eine kleine Stadt, in der leben zu sollen Ihnen sehr langweilig vorkommen wird! warf der Dechant ein.

5 O! bemerkte Frau von Gülpen, acht Tage läßt es sich schon in Kocher aushalten!

Acht Tage! Lucinde erschrak, obschon sie wußte, daß, scheinbar, alle Nichten anfangs sogar nur auf drei Tage kamen.

Die Majorin verzog ein wenig spöttisch die Miene; aber der Major, in jener beflissenen Weise, die den Ghibellinen im Lande der Welfen nur zu oft ihre Schreckhaftigkeit nimmt, ging ganz auf die Aeußerung der Frau von Gülpen ein und sagte, wenn auch mit einer etwas anzüglichen Betonung: Die Kirchen hier sind uralt; noch älter ist aber die Synagoge, die Sie sich einmal ansehen müssen! Die Stadt Kocher ist schon vor Pontius Pilatus angelegt worden und jedenfalls eine jüdische Colonie! Ursprünglich hieß sie ohne Zweifel Koscher, die Reine!

Hielt der Major Lucinden für eine Jüdin? Alle Anwesenden fixirten sie. Doch lenkte der Major auf andere Fährte. Er kam auf das Interesse, das nach solchem Ursprung gleich die ersten Christen für Kocher gehabt haben müßten und führte die kirchliche Bedeutung der Stadt bis auf die neuesten und die revolutionär kirchlichen Erscheinungen herab.

Lucinde hatte ihr goldenes Kreuz nicht angelegt. Da sie sehr wohl begriff, daß der Major auf ihren Uebertritt anspielen wollte, so senkte sie den Blick wie eine Fromme.

Nun war das einstimmige Gefühl aller Anwesenden: Sie ist fromm! und, seltsam genug für die Wohnung eines Geistlichen, dadurch verlor Lucinde bei Frau von Gülpen und Windhack. Nur dem Dechanten gewährte auch diese Entdeckung einen neuen Reiz. Eine Fromme hatte ihm die langjährige alte Freundin noch nicht vorgestellt.

Man verlor sich indessen in Klagen über Wilddieberei, Unsicherheit der Gegend, Aufsätzigkeit der Landbewohner. Man fand das Uebel lediglich in den Dienstboten. Die gleichfalls dann in 6 ihrem Einfluß auf das Volk angeschuldigten Juden rechtfertigte der Dechant mit den Worten: Warum läßt unser Leben so viel Lücken offen, daß überall ein Verschmitzter hineinschlüpfen kann! Die Juden sind nur durch uns selbst ein Volk geworden, das seine Tugenden darin finden muß, unsere Fehler zu benutzen! Wir sind, soweit man die Geschichte überblickt, die Opfer ihrer subtilen Rache geworden und werden es noch immer mehr werden!

Sie sprechen fast wie Grützmacher! sagte der Major. Der kann nie entdecken, wo die Hasen-Jette ihre Rebhühner und Hasen herbekommt!

Indem bekam Frau von Gülpen von dem immer nur leise und behutsam auf den trotz des Sommers ausgebreiteten Teppichen hin und wieder gehenden Windhack eine Meldung geflüstert. Sie flößte ihr einen ersichtlichen Schrecken ein. Was ist? fragte man allgemein und voll Theilnahme und mit Spannung.

Frau von Gülpen stockte, sagte dann aber mit einem Blick der Besorgniß auf den Dechanten: Trendchen Ley will nach Hause – Die Mutter wäre schon wieder – Chère nièce – Gehen Sie doch zu Trendchen und erkundigen Sie sich in der Geräthkammer – oder ich will lieber selbst gehen –

Trendchen Ley schien alle zu interessiren und wohl vermuthete man: Windhack hatte eigentlich gemeldet, Trendchens Mutter läge im Sterben. Der Dechant war der Beichtvater der Kranken. Die Kranke schleppte sich schon lange mit den bedenklichsten Symptomen der Zehrung; ihr Ende stand ihr näher bevor, als sie es wol selbst und die Ihrigen ahnen mochten. Jetzt sah Frau von Gülpen, wie angegriffen der Dechant schon wieder von dem unruhigen Tage und seinen wechselnden Eindrücken war – sie gönnte ihm die Erquickung eines ungestörten Abends – nun sollte er wol gar noch eine geistliche Function verrichten –

7 Und schon erhob sich der Dechant. Wenn ihm auch die Bequemlichkeit über alles ging, kannte er dennoch die Schicklichkeiten seines Amtes. Ei, sagte er, ich werde zu der Armen gehen! Allgemein aber mußte man Frau von Gülpen, die in die Geräthkammer gegangen war, Recht geben, wenn sie geäußert hatte, diese Schreckensbotschaft von der guten Frau Ley wäre schon so oft gekommen und immer hätte die Dulderin sich wieder erholt, ja sogar es bereut, daß sie in einem ähnlichen Anfall schon einmal die Wegzehrung erhalten hätte und dann doch nicht gestorben wäre. Spendet auch die Kirche diese letzte Wohlthat gern in der Voraussetzung, daß sie nicht den Tod, sondern die Genesung erleichtere, so sparen sich doch die Sterbenden diese hülfreiche Rüstung zum Eintritt in den peinvollen Vorhof des Himmels gern auf den Augenblick, wo sie wirklich deren bedürftig sind. Also rieth man dem Dechanten zu bleiben und Windhack, welcher Frau von Gülpen in die Weißgeräthkammer nachgegangen war, wo ein liebes zartes Kind, Trendchen Ley, den ganzen Tag über an neuen feinen Hemden gesteppt hatte, kam schon mit der Beruhigung zurück, Trendchen wäre zwar gegangen, hätte aber hinterlassen, sie würde schicken, wenn es nöthig wäre. Geschwister hat sie genug dafür! sagte Frau von Gülpen, die schon zurückkam . . . Sie sagte dies im Tone des Mitleids, scheinbar ohne die mindeste Erregung, jedenfalls aber sicher, daß Trendchen Ley den Dechanten nicht unnützerweise incommodiren würde.

Der Dechant beruhigte sich darauf. Wissen Sie wol, lenkte er in ein inzwischen vom Major begonnenes Gespräch über Wilddieberei ein, wissen Sie wol, das Schmerzenslager unserer guten Frau Ley ist eine Folge der Wilddieberei?

Man wußte von diesem Zusammenhang nur Einzelheiten. Während Lucinde den fortgesetzt forschend auf ihr ruhenden Blick 8 des Majors bald fragend suchte, bald erschreckend vermied, erzählte der Dechant:

Ehe noch die Juden in Kocher am Fall den Muth gehabt hätten, von ihrer eigenen Metzgerkunst an Christen mehr zu verkaufen als Gänseblut –

Allen Bewohnern von Kocher war gegenwärtig, daß die Hasen-Jette, Frau Henriette Lippschütz, die jetzige Wildprethändlerin, die Witwe eines einst auch von Christen stark in Nahrung gesetzten jüdischen Metzgers war.

Und ehe noch, fuhr der Dechant fort, die Blume der ganzen Judenschaft in Kocher am Fall, mein unvergeßlicher theuerster Busenfreund Dr. Leo Perl, zu unserer Kirche übergetreten war – er hat einst in Borkenhagen unsern guten Bonaventura getauft – Sieh, sieh! unterbrach sich der Dechant selbst, – käme doch Bona noch, der Wunsch der guten Frau, wenn sie stürbe, wäre erfüllt; von ihm hätte sie die letzte Zehrung am liebsten empfangen –

Frau von Gülpen stellte die Nothwendigkeit einer schon so nahen Gefahr und die Erfüllung jenes Wunsches, den Lucinde bereits vorgestern aus dem Munde Grützmacher's erfahren hatte, wiederholt und aufs entschiedenste in Abrede –

Kurz, vor langer Zeit schon, nahm der Dechant, in leidlicher Beruhigung, seine Erzählung auf, war der angesehenste Metzger hier im ganzen Orte Trendchens Großvater, der alte Petrus Ley. Als ich hierher an den Dom kam – auf Veranlassung hauptsächlich jenes so früh dahingegangenen Seltensten der Menschen, Leo Perl –, stand niemand unter seinesgleichen höher im Ansehen als Herr Petrus Ley. Eine Freude war's, den Mann in seinem stattlichen Hause unten am Fall zu sehen, wie derselbe, die weiße Schürze über der Brust und mit dem Messer im Brustlatz, an seiner Schranne stand! Den Mann plagte plötzlich das Wohlleben, der Müßiggang und mit ihm, 9 wie es auf dem Lande geht, die Jagdlust. Hatten entweder wirklich, wenn er über Land zum Einkauf von Schlachtvieh reiste, seine Hunde die Neckerei, Hasen aufzustöbern, die sie ihm zuschleppten – so erzählte er später selbst den Ursprung seiner Jagdlust – oder reizte ihn sein bürgerliches Wohlbefinden, er pachtete eine Jagd und wurde ein so leidenschaftlicher Jäger, daß ihm sein eigenes Gebiet nicht mehr genügte. Die Kugel, einmal im Lauf, sagt unser großer Schiller, ist verhängnißvoll! Sie fuhr auch für Petrus Ley heraus, wenn die Grenzmarke seines Geheges längst überschritten war. Nun mag ich nicht leiden, wenn ein Bäcker, der für tägliches Brot, meinetwegen Sonntags für Kuchen, zu sorgen hat, sich zu feinern Näschereien versteigt. Ein Metzger, der dem Wild nachstellt und dann es zwar nicht aufhängt unter seine Rindsviertel und gespaltenen Lämmer, aber unter der Hand doch auch verkaufen muß, begeht fast eine Untreue an seinem Beruf. Ich will nicht sagen, daß sich sein Beruf rächte, aber Petrus Ley erlebte das Unglück, nach einer heißen Jagd, die ihn nicht wenig mitgenommen hatte, auf freiem Felde von einem Unwetter überfallen zu werden. Der Regen goß in Strömen. Kein Baum, kein schützendes Gestein ließ sich erblicken. Das Wetter endete nicht. Darüber brach die Nacht an; die Nebel umspannen vollends die Gegend. Voll Unmuth wirft sich der reizbare, zum Jähzorn geneigte Mann auf die Erde und bleibt bis zur Besinnungslosigkeit ergrimmt liegen. Das Winseln seines gleichfalls halbtodten Hundes machte einen vorüberfahrenden Bauer aufmerksam; Petrus Ley wurde mit seinem Hunde vor dem immer fortströmenden Regen unter dem Stroh des Wagens geborgen. Herr und Hund kamen nach Hause; Ley wurde todtkrank und behielt von dem Tage an die Gicht, in einem Grade, der sich aufs höchste steigerte und unheilbar wurde. Der vermögliche Mann reiste in die Bäder und kam 10 nur kränker heim. Fast gelähmt an allen Gliedern, hatte er Schmerzen, die den Unglücklichen zum Gegenstand des allgemeinsten Mitleids machten. Wie oft hab' ich für ihn die Fürbitte gehalten! Fast immer im Bette liegend, mußte er die Führung seines Gewerbes seinem Sohn überlassen, der in keiner Hinsicht ihm ähnlich war. Ein träger und bequemer Mensch, hatte Joseph Ley die Früchte der Anstrengungen seines Vaters geerbt, liebte aber die Gesellschaft, das Kartenspiel, den Wein und vernachlässigte so sehr die ihm nun ganz allein übertragenen Geschäfte, daß sie zurückgingen und der zusammengekrümmte, auf seinem Lager stöhnende alte Vater Verwünschungen über Verwünschungen ausstoßen mußte über den Sohn, den Buben, wie er ihn nannte. Joseph hatte selbst schon lange ein ziemlich vermögendes Mädchen geheirathet, die Tochter eines angesehenen, leider mit zu viel Kindern gesegneten Landwirths. Das immerhin beträchtliche Eingebrachte derselben war beim Zurückgehen des Geschäfts bald verbraucht; die Kundschaft verminderte sich, die Concurrenten machten bessere Einkäufe. Alledem sah der von der Gicht krummgezogene Alte, der inzwischen Großvater geworden, von seinem Lager mit Verzweiflung zu. Innerer und äußerer Schmerz folterten den Greis, der nicht mehr gehen und stehen konnte. Hörte man wilde und laute Verwünschungen aus dem einst so stattlichen, jetzt die Spuren des Verfalls tragenden Hause, so wußte man schon nicht mehr, waren es die Ausbrüche des Zankes mit seinem Sohn oder die Klagerufe des von seinen Schmerzen Gepeinigten. Dieser Zustand dauerte einige Jahre. Die Verlegenheiten wuchsen; das Haus gehörte bereits den Gläubigern; Pfändungen folgten auf Pfändungen, und wie es in solcher Lage zu gehen pflegt, das Verderben wird unaufhaltsam und wird es auch innerlich für den Charakter des Betreffenden. Joseph Ley verkaufte und versetzte ein Stück nach dem andern; die Frau, 11 eine redliche, brave Seele, mühte sich mit der Befriedigung der letzten Restes von Kundschaft, um nur die Kinder erhalten und erziehen zu können. Die Vergünstigungen der Armuthspenden in Empfang zu nehmen, war man, schien es, noch zu stolz. In der Nebenstube des Wohnzimmers, aus dem hinaus man in die jetzt fast immer leere Verkaufsflur trat, stand ein Bett mit Kattunvorhängen; rings von diesen eingeschlossen, um das Licht abzuhalten, das seine trüben, rothen Augen blendete, lag der Alte. Da rückte man ihm eine Fleischbank hin, auf der er Speck und geräuchertes Fleisch schneiden half und Wurst hackte. Eines Tages fand man die Vorhänge sorgsam zugezogen; man öffnete: Petrus Ley hatte sich mit dem großen Messer, das immer in seiner Nähe lag, erstochen. Nun vollends war der Segen des Hauses dahin! Die blutige Gestalt des Großvaters verscheuchte jeden der letzten Kunden, auch die, welche noch aus Mitleid gekommen waren. Mit Grauen und Ekel ging man an dem Hause eines Metzgers vorüber, der sich selbst erstochen hatte. Sah man auch manchmal an der Thür noch ein einziges junges Lämmlein hängen mit ausgebreiteten, an Stecken befestigten Füßen – die gute unglückliche Frau Ley putzte und scheuerte hellgelb die Haken, an denen einst die schweren Rinderviertel gehangen, die Wagschale blinkte so sauber durch die Fensterscheiben der Hausflurthür wie sonst – drinnen sah es öde und leer aus. Joseph saß nur noch im Wirthshaus, trank und spielte. Die geistlichen Vermahnungen halfen nichts; es lag wie ein Fluch auf dem Hause, dessen gänzliche Verödung nur das Mitleid um die rechtschaffene Frau abwandte. Das haben wir ja alle erlebt, wie diese unheilvolle Kette an verderblichen Ringen immer reicher wurde! Die kleinen Kinder wuchsen herauf, halfen da und dort; der Vater hatte Augenblicke, wo er sich zusammenraffen wollte. War dann einmal ein Thier gekauft worden, das war ein Jubel 12 von Frau und Kindern! Sie liefen in die ganze Nachbarschaft ringsum und verkündeten die frohe Mär: Der Vater hat ein Schwein geschlachtet! Was ließ sich da thun? Man mußte den jüdischen Metzger Lippschütz, an den man sich unten am Fall schon gewöhnt hatte und zu dessen Praxis ohnehin diese eine Thiergattung nicht gehörte, übergehen und die arme Frau Ley glücklich machen, die dann freilich erleben mußte, daß der Mann, gleichsam um sich von einer einzigen großen That, dem Schlachten und Zurichten und Verputzen eines einzigen Thieres, auszuruhen, wieder im Wirthshause saß und durch erkünstelte Bravaden seine innere Zerfallenheit zu übertrotzen suchte. Sein Blick wurde wilder und scheuer, man mied ihn und je mehr die Theilnahme für die Mutter und die Kinder zunahm, desto vereinsamter fühlte sich ihr Mann, der Joseph. Oft lief die arme Frau sechs Stunden Weges zu Fuß über Land, um irgendeinen Ankauf zu machen, die Kinder folgten, und zu rührend war der Anblick, wenn sie dann ein Lämmlein oder ein taumelndes Kälblein die Landstraße dahertrieben und den Vater aus dem Wirthshause riefen, damit er an dem auf Borg oder für ein Geringes Eroberten seine Kunst zeigte. Wir wissen alle, daß eines Tages am Pfosten des Schlachthauses nicht ein solches kunstgerecht ausgeweidetes Lämmlein, sondern der Joseph selber hing! Wie sein Vater war auch er aus der Welt gegangen; jener Selbstmord war aus Ungeduld und Stolz, dieser aus Furcht und Scham entstanden; sein Trotzen war eben nur, wie es geht, ein falsches Spiel gewesen. Dann wurde Meister Lippschütz Herr der ganzen Kundschaft bei den Gerbern und Färbern unten am Fall, bis auch der dann starb und seine Frau die Metzgerei nicht fortführen konnte. Das, liebes Fräulein Schwarz, ist nun erstens unsere Frau Ley, die Mutter des lieben Kindes Trendchen Ley, und zweitens unsere Hasen-Jette, die Sie sehr oft hier auf der Dechanei sehen werden! 13 Auch sie ist eine ganz vortreffliche Frau, wenn auch der Major ihren geheimen Lieferanten nicht traut – Nun aber stirbt die gute Frau Ley! Ich muß doch wol hinunter in die Stadt! Man kommt zwar nicht wieder, aber ich ahne bei alledem – Gute Nacht!

Der Dechant erhob sich alles Ernstes. Sein gutes Herz hatte über die Bequemlichkeit den Sieg gewonnen.

Sein Entschluß wurde von einem heranrollenden Wagen unterbrochen.

Der Pfarrer von St.-Wolfgang! rief alles und Frau von Gülpen trat ans Fenster.

Es war jedoch nicht diese heiß von ihr ersehnte Ablösung für den Dechanten, es waren die geistlichen Herren vom Diner und von der Conferenz. Windhack kam bereits und berichtete: Sie hätten ihre Ueberkleider, Regenschirme noch in der Dechanei zurückgelassen und wollten sich, da sie jetzt erst abreisten – bis um acht Uhr hatten sie Gelegenheit genug gefunden sich in Kocher am Fall zu zerstreuen – alles in den Wagen nachreichen lassen. Frau von Gülpen fürchtete, daß man nicht jedes da, wo sie es hingelegt hatte, finden würde und schickte Lucinden mit den nöthigen Anweisungen hinunter.

Windhack war schon vorangegangen. Ohnehin war er im Aufdecken des Soupers begriffen. Nach dem Thee pflegte man in der Dechanei noch ein Nachtessen einzunehmen, das bereits aufgetragen wurde. Man drängte inzwischen den Dechanten, die Botschaft Trendchen's erst abzuwarten und sich zu beruhigen.

Bald hörte man auch, daß der Wagen unten wieder abgefahren war. Eben machte der Major noch einige Glossen über die Anhäufung geistlicher Versammlungen, über die Unbesonnenheit, mit der man Zwecke zur Schau trüge, die nur böses Blut nach oben setzen müßten, über die fanatischen Schwärmereien des 14 Stadtpfarrers, der sogar allerlei Abenteurer ins Land riefe. Jetzt die Italiener, die diesmal Heiligenbilder verkaufen müßten zu Spottpreisen wie ihnen nur durch einen Verein ermöglicht werden könnte, der die Händler heimlich tagweise bezahle; ja, auch den »Kirchenboten« hätte man heute wieder so scharf geschrieben gefunden, daß man ihn in der Censur von Anfang bis zu Ende hätte streichen müssen – O weh! unterbrach der Dechant. Der Major kannte die Spannung zwischen der Dechanei und dem Stadtpfarrhause und sagte ganz offen: Man möchte fast glauben, der fanatische Redacteur hat die Herbstmanöver abgewartet, um seine bekannten Anschuldigungen der Regierung desto besser unter die Leute zu bringen!

Schon sprach man dem Mahle zu, schon füllten sich die Gläser. Man erörterte die heutige Conferenz. Der Dechant zuckte die Achseln und schwieg zu des Majors Besorgnissen. Man sprach von dem ausbleibenden Benno, der wahrscheinlich durch seine Kameraden gefesselt wäre, und bemerkte endlich die auffallende Nichtwiederkehr der Nichte der Frau von Gülpen. Der Dechant war der erste, den ihr Ausbleiben störte.

Eine Erörterung über sie, eine Kritik über ihren Eindruck ließ sich nicht anknüpfen; man konnte annehmen, daß sie jeden Augenblick eintreten würde. Ihr Couvert blieb aber leer. Sie kam nicht. Jetzt fragte man Windhack, der servirte.

Windhack wußte keine andere Auskunft, als daß »Fräulein von Schwarz« ihm noch vor einer halben Stunde draußen dabei geholfen hätte, den Herren in ihren Wagen die verlangten Sachen nachzureichen. Da hätte sie ein Licht gehalten und plötzlich wäre ihr halt das Licht aus der Hand gefallen und dann, als der Wagen fort war, hätte er sie gar nicht mehr gesehen.

Frau von Gülpen fand dies Fallenlassen des Lichtes »doch auch sonderbar« und nun öffnete sich manche verhaltene Schleuse. 15 Die Freundinnen schickten zuerst das größte Lob voraus – Nach dem System der Sheridan'schen Lästerschule war dies gleichsam das Einkaufungsrecht, hinterher desto schärfer tadeln zu können. Flüsternd nur und sehr discret fand man die junge Dame außerordentlich interessant, mit andern Worten, für Frauen unheimlich und kein Vertrauen erweckend; man fand sie wunderbar schön und majestätisch, mit andern Worten zum Dienen nicht im mindesten geschaffen; man bewunderte ihre Augen und fand sie außerordentlich klug, d. h. gefährlich und Vorläufer mancher Beunruhigungen für die Dechanei und die Stadt. Die Frau Majorin schwieg vollends – was bei ihrer Zungenfertigkeit das Vielsagendste war – und der Major knöchelte nur ein kaltes Huhn aus und legte die Reste so hieroglyphisch vor sich auf den Tellerrand hin, als wollte er damit das bekannte Räthselspiel einer verwundenen Bandschnur lösen.

Jetzt fragte ihn Frau von Gülpen geradezu, worüber er denn heute eine so ganz extrafeine Miene mache, und der Majorin sagte sie schon: Unsere Familie ist so groß, daß ich oft erschrecke, ihre nähere Bekanntschaft zu machen! Und als nun gar Fräulein von Minnerich die Anspielungen des Majors auf den jüdischen Ursprung der Stadt Kocher in Verbindung brachte mit einem gewissen orientalischen Air der Nichte und die Tante darüber in Verlegenheit gerieth, konnte der Major nicht mehr umhin zu sagen: O Beste, nein! Ich wollte nur auf ihre hohe Religiosität anspielen – Sie ist ja eine Convertitin –

Feierliches Schweigen.

Mau sah sich um, ob Lucinde kam.

Da sie ausblieb, ermunterte Frau von Gülpen, die diese Eigenschaft ihrer Nichte gar nicht gekannt zu haben schien, den Major, sich ganz offen auszusprechen. Sie wissen, sagte sie, ich bin 16 schon so oft von meinen Angehörigen getäuscht worden! Noch unser letzter Besuch, Fräulein Angelika Müller –

Ich habe einen Brief von ihr auf meinem Zimmer liegen! sagte der Dechant und wünschte offenbar damit das Gespräch abgebrochen. Ihm gefiel Lucinde ausnehmend. Er wäre lieber auf einen andern Gegenstand übergegangen.

Grützmacher, sagte aber der Major, sah sie schon gestern beim Pfarrer von St.-Wolfgang –

Wir hatten sie dorthin empfohlen, bemerkte Frau von Gülpen, um ihre Sicherheit zu zeigen.

Sie kannte Herrn von Asselyn schon seit Jahren –

Ja! Sie kommt aus der Stadt, wo er geweiht wurde –

Nun, wir werden ja sehen – –

Sehen? Was? hieß es allgemein.

Ich verschweige Ihnen nicht, gestand jetzt der Major, die Dame ist uns zur Aufsicht empfohlen worden –

»Uns?« Das hieß der Polizei! Man erschrak allgemein –

Als Emissärin! Ihre fanatische religiöse Gesinnung –

Bei dem Worte »Emissärin« verschüttete fast Frau von Gülpen den Inhalt der goldenen Dose, die der Dechant suchte und die sie ihm, selbst bei größter Aufregung noch jede seiner Mienen, jedes seiner Bedürfnisse beobachtend, hinreichte und öffnete –

Dem alten Windhack schien es geradezu Spaß zu machen, Frau von Gülpen so gleichsam immer mehr in die Lüfte gehoben zu sehen. Er schenkte dem Major sein Glas mit 24er Mosel-Auslese ebenso oft voll, als dieser es leerte. Dadurch kam die Mittheilungslust Schulzendorf's in Gang und nicht zwanzig Minuten währte es, so wußten alle, natürlich nur in gemüthlichster Andeutung, daß Lucinde Schwarz kaum viel mehr als eine Abenteurerin war, schon einen höchst verwickelten Lebenslauf gehabt hatte, ja auf Schloß Neuhof beim Kronsyndikus von Wittekind 17 gewesen war, damals namentlich, als vor sechs Jahren jener Theilungscommissar auf so räthselhafte Weise getödtet wurde, eben jenes Mönches Vater, der jetzt Frater Sebastus hieß und vielleicht in diesem Augenblick unter den unten angefahrenen Geistlichen sich befunden haben konnte – Ja. bis zu Lucindens erstem Anfang gingen die Mittheilungen zurück, bis zum Hause des Stadtamtmanns und sogar bis zu ihren ersten Abenteuern mit einer »alten Frau Hauptmännin von Buschbeck«

Für Frau von Gülpen drohte jetzt eine Ohnmacht. Glücklicherweise hatte sich von Kocher her der Zapfenstreich vernehmen lassen. Der Dechant stand schon bei dem Namen »Schloß Neuhof« auf. Frau von Gülpen folgte mit Mühe seinem Beispiel bei dem Namen »Buschbeck«.

Lucinde war nicht wiedergekehrt. Die Freundinnen besaßen Takt genug, nachzufühlen, daß dieser Abend durch die Aufdeckung des Misgriffs mit dieser neuen Nichte gestört war. Und den Zapfenstreich hatte ja auch »eigentlich niemand versäumen wollen« – –

Major Schulzendorf bereute, zu weit gegangen zu sein. Er hatte Lucinden keineswegs anklagen wollen. Er hatte nur beabsichtigt, das Interesse, das sie einflößen durfte, genauer zu motiviren. Nicht im mindesten durften er oder seine Gattin annehmen, daß seine immer den Rücksichten des Hauses und den vortrefflichen Speisen und Weinen Rechnung tragende Mittheilung hier irgendjemanden verletzte – Man trennte sich denn auch äußerlich wie mit dem Gefühl allgemeinster Befriedigung . . .

Frau von Gülpen aber fiel, als sie mit dem Dechanten allein war und ihr scharfes Ohr die letzten Schritte der Gäste verklingen hörte, in die bis dahin zurückgehaltene Ohnmacht.

Der sanfte Mann that alles Mögliche, sie zu beruhigen.

Nicht vierundzwanzig Stunden länger bleibt sie im Hause! 18 hauchte die Freundin mit einer Stimme, die ihr fast versagte. Die Haube löste sich, die schönen kastanienbraunen Scheitel kamen in Unordnung. Plötzlich raffte sie sich auf und klingelte.

Was thun Sie? Was soll das? fragte der Greis.

Windhack, der die Gäste hinausbegleitet hatte, kam zurück.

Das Fräulein –

Aber die Stimme versagte wieder – versagte um so mehr, als der Dechant sich einer sofortigen Citation Lucindens entschieden widersetzte. Windhack berichtete, er hätte oben geklopft und die Antwort bekommen, sie wäre müde und wünschte allein bleiben zu dürfen –

»Allein bleiben zu dürfen« –! »Wünschte!« Hahaha! Frau von Gülpen lachte über eine »Prätension der höchsten Anmaßung« –

Beruhigen Sie sich, liebe Freundin! unterbrach der Dechant wiederholt und mit Entschiedenheit. Urtheilen Sie nicht wieder zu schnell! Morgen wird sich alles finden! Auch mich hat die Erzählung des Majors erschüttert. Wissen Sie doch nur zu gut – Doch, ich bitte sehr, keine Uebereilung! Windhack, leuchte! Ich habe noch Briefe zu lesen. Keine Störung! Keinen Tumult! Ruhe und Friede! Gute Nacht, liebe Freundin!

Damit ging der Greis auf sein Zimmer, erregt, wie seit lange nicht.

Die Schnurrenthüren nebenan bei Frau von Gülpen beruhigten sich aber noch bis tief in die Nacht nicht, so oft gingen sie auf und nieder . . . Nie noch konnte eine Tante über eine Nichte in größerer Aufregung gewesen sein.


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