Karl Gutzkow
Über Goethe
Karl Gutzkow

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Nichts ist so schreckenerregend, als glühender Enthusiasmus für nüchterne und formale Begriffe. Basedow war gewiß heilig durchglüht von seiner neuen Erziehungsmission, aber was in Rousseaus Emil poetische Philosophie ist, eine liebenswürdige Allgemeinheit und Wärme, selbst bei den tyrannischen Vorschriften über Selbstsäugen, Mehlbrei, Fallhüte und Saugbeutel, das kam bei Basedow immer nur in systematischer und elementarischer Trockenheit zum Vorschein. Basedows Erziehungsideal war nur Erleichterung des Unterrichts. Seine Doktrin war Methodik, und das Ziel, welches ihm vorschwebte, wurde allmählich statt des Kindes der Lehrer. Basedow bekämpft die Illusionen; das war schön; aber er terrorisierte auch die Gefühle. Er riß mit dem wuchernden Unkraute der Phantasie zugleich die duftende Blume der Poesie aus. Statt den Humanismus durch den Realismus zu ergänzen, hob er den ersteren auf und setzte den letzteren an dessen Stelle. Sein Streben um Popularität, Volksunterricht und Aufklärung des Christentums verdient die Anerkennung jedes Freundes dieser Tendenzen, doch wurde durch die Einseitigkeit statt des alten ein neuer Dogmatismus erzeugt. Jede Intoleranz, die uns an einen sehr weiten Glauben schmieden will, ist zuletzt willkommener, als ein Glaube, der überall zu eng ist, und wo wir kaum mit den Armen in Öffnungen hineinkönnen, welche für unsere Beine gemacht sein wollen.

Die zweite Tendenz hielt der ersten das Gegengewichte und bildete die andere Anschauungsweise unserer Nation, die in verschiedenen Fächern und Zeiten sich immer wieder erneuernd, noch heute ein wirksames und als Gegenmittel gegen das andere Extrem sehr schätzenswertes Recht hat. Goethe, ein Feind der Illusionen, achtete das Recht immer und hat sogar im Anfang seiner Laufbahn versucht, durch eine theologische Broschüre dafür zu arbeiten. Doch die Wiederholung derselben Zirkel, in welchen sich alle theologischen Parteien bewegt haben und noch bewegen, ermüdete ihn, und er leugnete nicht, daß, während der Prophet der zweiten Richtung sich an der Wirtstafel in Koblenz gegen einen Tanzmeister im Zusammenhange aussprach, er keinen Anstand genommen hätte, einen gebratenen Hahnen zu verzehren.

Wenn nun so die Zweige der laufenden Kultur hinter ihm zusammenschlugen, wohin entschlüpfte da der Harzwanderer? Schon nehmen mancherlei Tendenzen in Religion und Philosophie ihren rauschenden Gang. Kant und Jakobi eröffnen ihre Schulen. Die Geister erklimmen entweder die schwindelnde Höhe einer alle sinnliche Wahrnehmung überflügelnden Abstraktion oder vergraben sich immer tiefer in die kleinen Ritzen des menschlichen Herzens und knüpfen an das Nächste das Entfernteste. Wenn nun auch Goethe sich keiner dieser Erscheinungen um so weniger entzog, da die Streitenden oft Miene machten, seinen Ruhm in ihre Interessen zu verwickeln, so hielt er sich doch außerhalb des Kampfes selbst, Wirbel vermeidend, deren aufgeregte Resultate oft nichts anderes als Staub waren. Seine Betrachtungen über diese Zeitphänomene beschränkten sich nur auf Parallelen und Vergleiche, angestellt zwischen dem Objekt dieser Kämpfe, der naiven Präsentation desselben als einem Problem und jenen undankbaren Mühen eine Schale zu zerbrechen, wo ihm wenigstens der Kern noch weniger zu gelten schien, als die Schale selbst. Im Faust sprach Goethe diese negative Teilnahme an der Philosophie am lebhaftesten aus. In den beiden Hauptgestalten des Gedichtes, Faust und Mephistopheles, zeichnete er zwei wechselseitig sich aufhebende Richtungen; einerseits den Drang des Innern der Dinge zu erkennen und andererseits das drängende Innere der Dinge selbst, das im Offenbaren und Äußern, in der Erscheinung sich zu begreifen sucht. Kern und Schale, beide treibt dieselbe Neigung. Sie weichen eine dem andern, um hier das Offenbare, dort das Verborgene zu sehen. In allen Erscheinungen der Natur und Geisteswelt nur Gesetz und Notwendigkeit erblickend, unterwarf sich der Dichter gern den heiligen Schauern derselben und opferte ihnen die unruhige Freiheit des Gedankens. Er nahm die Philosophie und Religion als ein Kunstwerk, wo die beglückende Wahrheit des Gefundenen! doch immer nur Reflex der Individualität ist, und ließ schwerlich ein System gelten, das für zwei Personen eine und dieselbe Richtschnur sein wollte. So fehlte es ihm aber in den höchsten Fragen der Menschheit niemals an Anknüpfungspunkten, wo er frei von ihrer wirren Debatte, doch auf Menschen und Dinge die weisesten und tiefsten Schlaglichter der Spekulation fallen lassen konnte. Denn dasjenige überrascht immer und ist das geistreichste, was aus der nächsten Umgebung und dem einfachen tatsächlichen Objekte einer sich selbst überflügelnden transzendenten Untersuchung durch eine plötzliche neue Wendung den Zuruf der Besonnenheit gibt.

Ob aber gleich den tumultuarischen Debatten seiner Zeit fern stehend, konnte sich doch Goethe auf der andern Seite nicht entschließen, nur die rein ästhetischen und künstlerischen Gleise von Klopstock, Wieland und den andern auszufahren. So das eine suchend und das andere vermeidend, das Fremde verachtend und durch das Eigene gelangweilt, ergriff den Dichter eine unbehagliche Stimmung. Es beschlich ihn das Gefühl einer Isolierung, welche auf seinen Charakter, seine Lebensphilosophie und seine Dichtung entscheidend einwirkte. Goethes Maxime war in diesem mißlichen Gefühle immer die alte, die ihm früher schon den Schmerz der Liebe geheilt hatte, nämlich sich in sich zurückzuziehen. Man nennt es Egoismus und sollte es die Verzweiflung nennen, sich aus der Verzweiflung zu retten. Wenn diese Rettung in der Liebe eine Erhaltung ist so ist sie im Leben eine Aufopferung; denn dem Dichter bot sich alle Welt an, er konnte über Tausende eine Herrschaft haben, die er verwarf; er entzog sich seinen Jüngern und Freunden, denn warum gaben sie ihm den Lorbeerkranz? Wahrlich aus Egoismus nur für das, was sie an sich selbst für bekränzenswert hielten und durch Goethes Beispiel heiligen zu können glaubten. So riß sich früheres und späteres Leben immer gähnender auseinander. Er fühlte die klaffende Wunde und suchte Heilung an der Natur und an zufälligen Studien, an hunderterlei Abwechselungen, in welche er sich stürzte, um das Steuerruder seiner selbst nicht zu verlieren. Er verlor es nicht aber eine große Veränderung war mit ihm vorgegangen.

Sie recht schlagend zu charakterisieren, stelle man ihr nur die Vergangenheit gegenüber! In dieser Beziehung sind uns Goethes eigene Berichte, namentlich über das Wiedersehen alter Freunde von vieler Aufklärung. Der Dichter hatte der Sache kein Hehl und war fest überzeugt, daß das bessere Licht auf den Neugewordenen falle und die Altgebliebenenen in den Schatten stelle. Der Widerspruch beider Perioden zeigte sich recht schreiend und unser Herz verwundend, namentlich in den Begegnissen der Rheinreise vom Jahr 1792. Freilich konnte die üble Stimmung der entschiedeneren Charaktere durch die unbehagliche, alle Gefühle verletzende Zeit entschuldigt werden; allein es waren persönliche und auf inneren Überzeugungen beruhende Divergenzen, welche plötzlich in Goethes Verhältnissen, das früher Gleichartigste in diametrale Gegensätze auseinander gesprengt hatten. Vor zwanzig Jahren, mit welchen Gemütsstimmungen hatte Goethe damals den Rhein besucht; wie gewann er damals die Gemüter, als ihm die frischesten Balladen im Herzen schlugen und er sie in Koblenz und Pempelfort aus seiner Schreibtafel vor den Freunden selbst rezitierte! Damals blickten aus seinem Auge Melancholie und Sehnsucht und milderten jeden Auswuchs der Originalität, den man einem so sanft bewegenden Meister leicht vergab. Dies alles war hin! Italien hatte dem unbestimmten Gefühlsdrange des Jünglings den vollsten Becher gereicht und ihn zurückgeführt von falschen, nun an der Quelle berichtigten Vorstellungen, von den zahllosen Allgemeinheiten des Idealismus auf Wahrheit, Erfahrung, auf die sichtlichen Schranken des Unsichtbaren, auf die Kunst als eine Harmonie von Gesetzen. So entwickelte sich der Mann und gewann seiner Jugend gegenüber eine Stellung, die nicht durchaus ohne sanfte Erregung des stillen Busens, nicht ohne weiche Stimmung des Herzens blieb, die ihm aber die Garantie einer Zukunft geben mußte, die das Leben und die Neigung und jedes Gefühl beherrschte, das in uns auf- und fortwuchernd uns um das Leben selbst betrüben könnte.

In dieser Metamorphose trat er in die alten Kreise bei Jakobi und der Gallizin, wo man die vorgegangene Veränderung wohl vernommen, sich aber gern von einem falschen Gerücht überredet und in dem alten Freunde sich selbst wiedergefunden hätte. Man drückt ihm Iphigenien in die Hand. Er liest und gibt sie sogleich zurück, wie etwas, das ihm fremd geworden. Die Guten haben keinen Lebenstakt. Sie bringen Ödipus auf Kolonos – es ist unmöglich, Goethe kann nur hundert Verse lesen. Hier fühlte nun der Veränderte recht tief, wie die alte Zeit kokett gewesen, wie man gern seine Empfindung zur Schau trug und sich sogar im Guten und Edeln, man möchte sagen, durch optische Vorrichtungen zu täuschen suchte. Goethe stellte seine eigene Gegenwart ziemlich schroff hin, was er dachte und was ihn interessierte, besonders die praktische Naturbetrachtung. Aber was sollten Kreise dazu sagen, wo man gewohnt war, das allgemeine Flimmern der Dinge und die Nebelhaftigkeit der Begriffe für hereinragendes Geisterleben zu halten; wo man sich sogar darauf vorbereitete, von der Natur einst zu behaupten, daß sie die Gottheit statt zu entschleiern, verhülle? Hier mußte Goethe mit seiner Urpolarität aller Wesen, welche die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durchdringe und belebe, mit seinem Vitalprinzip der Materie als ein Gotteslästerer erscheinen. Alle ferneren Berührungen waren für jeden Teil verletzend und mußten mit Seufzern enden, daß sich dasjenige, was sich achtete, nun länger nicht mehr lieben konnte.

In Münster glaubte Goethe besser daran zu tun, daß er sich zurückhielt, doch verdarb er es dadurch nur noch mehr. Denn nun glaubte man, daß hinter seiner Beschränkung und der Zentrifugalität seines Gespräches sich eine Gesinnung verstecke, die zu fürchten wäre. Goethes Ansichten wurden, noch ehe er sie aussprach, aus einem allgemeinen Gesichtspunkte, von welchem aus man ihn nur noch gelten lassen wollte, präokkupiert, und wenn er, erstaunt darüber, die beliebige Vorausnahme seines Urteils nicht unterschreiben wollte, so verwirrte dies das Verhältnis nur noch mehr und endete mit einem Mißtrauen, das den einen verletzte und die anderen beschämte. Man mußte sich selber Prüfungen auflegen, ob man dem Veränderten noch trauen dürfe, so gemischt waren die Empfindungen aus Ungleichartigkeit, Abstoßung und einem nichts desto weniger unverwüstlichen, wechselseitigen Interesse. Um sich selbst zu achten, mußte Goethe diesen Kreisen auf immer entsagen.

Keine Lebensphilosophie ist System. Sie ist immer nur Maxime, eine einzelne, durch Berechnung aller Umstände und aller Reziprozitäten in bestimmten Fällen genommene Maßregel, unmittelbare Eingebung eines oft natürlichen, oft von der Erfahrung gelernten Taktes. So kann auch, wollte man die Grundzüge der Goethischen Lebensphilosophie geben, ihre Darstellung nur fragmentarisch sein und muß sich auf gewisse einzelne Tatsachen beschränken. Jeder Maler hat nach langer Übung und Abstraktion von Erfolgen, die mehr oder minder glücklich waren, einige sichere Handgriffe sich erobert, die sich nicht einmal überliefern, weil sie sich kaum in bestimmten Worten ausdrücken lassen. Denn es ist das meiste von diesen Erleichterungen eine individuelle Erfahrung, eine Berechnung, die nur für das Auge und die Hand gerade dieses Künstlers und keines andern passen würde. Wo der Landschaftsmaler seine Gesichtspunkte aufsteckt, welch eine Richtung der Portraitmaler dem Profil des Sitzenden gibt, das sind keine traditionellen Begriffe, sondern Maximen, die eben so sehr auf Gewohnheit wie Eingebung des Augenblicks beruhen.

Wenn nun hier in Betreff Goethes einiges von dem, was doch ohne Ausdruck zu sein scheint, hervorgehoben werden soll, so geschieht es weit weniger, um die Tiefen eines weisen Verstandes zu erschöpfen, als um hie und da etwas anzudeuten, das ebenso sehr in der Zeit wie im Individuum liegt und den Genius des Jahrhunderts erklären hilft.

Auch das Genie nivelliert. Denn die Form, deren es sich bedienen muß, drückt es immer etwas zur Masse herunter, während der Inhalt, den es verarbeitet, natürlich die Masse ebenso weit wieder hinauf hebt. Der Autor und die Menge begegnen sich in guten Jahren, wo die Literatur gedeiht so, daß die Menge den Autor aufsucht; in mittleren, daß sie sich auf halbem Wege entgegenkommen; in magern Jahren, wie in den jetzigen unter uns, daß der Autor der Menge schmeichelt und sie durch hundert Vorspiegelungen, von denen die sogenannte nationale und zeitgemäße Literatur nicht die geringste ist, zu gewinnen sucht. Nichts desto weniger kann es zu keiner Zeit an wechselseitigen Akkomodationen fehlen, denn schon der Enthusiasmus des Beifalls ist es, der die Sprödigkeit des Genius bindet und depotenziert.

An dieser Stelle begann Goethes Leiden. Er verachtete die Konsequenzen seines Ruhmes. Sie sind lästig; keine Huldigung wird ohne Interesse dargebracht. Ist nicht das schon ein Interesse, daß an dem Bewunderer die Fähigkeit das Außerordentliche anzuerkennen, ebenfalls anerkannt werde? Will nicht jede dargebrachte Liebe, wenn nicht Erwiderung, doch Wertschätzung eintauschen, und ist es darum nicht oft ein größeres Glück, verkannt zu werden, als, begriffen und gepriesen, vor keiner Zumutung mehr sicher zu sein? jeder Ausbruch der Bewunderung fügt zu dem Stolze, den der Gegenstand derselben empfinden muß, einen schmerzlichen Dorn hinzu. In guten und bescheidenen Seelen ist schon die Anbetung eine Pein; eine wehmütige Rührung möchte gern alles Rühmliche ungeschehen machen und sich der Vergleichung entziehen, welche zwischen der Aufgabe und der Leistung angestellt wird; zwischen dem, was man einmal konnte und was man nun immer wird können müssen. Stärkere Gemüter trauen sich zwar zu, daß sie sich selber niemals abhanden kommen werden, aber sie werden erstaunen, daß der Enthusiasmus über sie mehr im Klaren sein will, als sie es selbst sind. Der Unmut hierüber wird sie veranlassen, ihren zweiten Schritt niemals nach der Richtung hinzunehmen, wo der erste Schritt schon den Schatten als Kontur des zweiten hinzuwerfen schien.

Bei diesem enthusiastischen Andrange der Verehrer war Goethe besorgt sich immer zuerst in Sicherheit zu bringen. Man wird zerrissen von dem andringenden Volk, sie treten mir auf die Schuhe und beschmutzen mir die Kleider. Die Menge, die ihr Phantom anbetete, erschrak bald, nur einen Stellvertreter dessen zu finden, was sie erwartete. Goethe, der die Ersprießlichkeit dieses Verhaltens merkte, trug dessen Beobachtung sogar auf die Idee selbst über. Alle seine Spekulation war Empirie; Goethe besaß keine Dialektik; denn Dialektik ist diejenige Kunst, sich in die Spekulation mit mehr oder weniger Individualität zu verlieren und aus diesem Mehr oder Weniger, aus dieser kürzern oder längern Perspektive des Auges, aus dieser Wendung nach rechts oder links hin von einem einzigen Gedanken, alle nur möglichen Resultate, Nuancen und stilistischen Schönheitsformen zu gewinnen. Zur Dialektik hatte Goethe nicht Wagnis genug; er riskierte sich selbst nicht; er war Naturforscher und hielt deshalb immer seinen Atem an, um an dem Experimente, das sich vor ihm entwickelte, nicht zu zerstören oder die Magnetnadel auch nur zur leisesten Abweichung zu bringen. Man verstehe recht! Ich spreche nur vom Akt des Nachdenkens und Forschens. Der Moment des Abschlusses war bei Goethe immer durch alle seine persönlichen Energien integriert. Der Moment des Goethischen Abschlusses erzeugte in der Wissenschaft das Dogma und in der Kunst jene lebenvolle Schönheit die mit warmen und gesunden Pulsen durch die strahlendsten Gebilde des Dichters fließt.

Das Zweite lag schon näher; nämlich den Kultus und die Zeremonie zu verachten für alles, was entweder mit dem Anspruche der Wahrheit auftrat oder in der Tat als solche anerkannt wurde.

Das Symbol setzt die Gemeinde voraus und die Gemeinde eine Unterordnung der Individualität. Die meisten Denker, welche aus der Wahrheit ein Geschäft machen, lassen sich wohl ein Patent darüber ausstellen und werden nicht nur Gesetzgeber, sondern auch gern Gesetzvollstrecker. Die beiden Rollen, Gottheit und Apostel, sind fast immer in der Geschichte verwechselt worden. Man entdeckt eine Offenbarung, macht sich aber sogleich zu ihrem Propheten, wohl gar zu ihrem Gegenstande. Bei allen schwachen Personen erscheint die Wahrheit immer nur unter der Form der Überzeugung und nichts entwickelt sich dann schneller, als der Fanatismus der Überzeugung. Wie wenig Denker gab es, die ihre Resultate der Welt preis gaben und sie von Detaillisten verarbeiten ließen, während sie ihre Bahn weiter klommen? Sie glauben alle, daß die Wahrheit eines Dienstes bedürfe, da es doch die Wahrheit ist, welche frei macht. Sie mußten sogleich Erkennungszeichen geben und Stimmen sammeln auf Tatsachen, die oft darum die unbegründetsten sind, weil sie die Majorität für sich haben. Besonders wird das achtzehnte Jahrhundert durch diese Erscheinungen bezeichnet. Herrliche Genien, die sich in schäumender Kaskade von den Felsen stürzten und an der Sonne damaliger Denk- und Preßfreiheit ein strahlendes Beispiel gaben, fing irgend ein Vorsprung wie eine Kanzel auf, hemmte den majestätischen Fall und lenkte die brausende Wassermasse auf Fluren und Triften, glatt und eben in die glatte Ebene.

Dieser vernichtenden Hingebung suchte Goethe auf hundert Wegen zu entschlüpfen. Er ließ sich durch keine Zeichen in Verwirrung bringen, er beobachtete niemals jenen Kultus, der den Autoren eigen ist daß sie hier und da in ihre Lebensbücher gern Ohren einknicken, um auf die poetische Beschränktheit vergangener Zustände zurücklauschen zu können und in sich selbst sich selbst nicht zu vergessen. Goethe kannte die Wahrheit nur als Naturprodukt als ein organisches Phänomen, das auf eigenen Füßen steht und einen innern, es genugsam bestimmenden Kern enthält. Das Organische folgt einem eingebornen Zuge und schließt sich aus Instinkt dem Verwandten an. Wozu also die Hast, daß sich die Menschen für neue Entdeckungen als Vorspann brauchen lassen? wozu überhaupt der Tumult, der sich an neue Schöpfungen herandrängt und mit einer wenig für unsere Kulturreife sprechenden Einseitigkeit gleich mit allen Gefäßen des Hauses gelaufen kömmt, um auszuschöpfen und einzusammeln? Man wird diese Richtung an Goethe seine Spontaneität nennen.

Goethes Empirie war egoistisch, aber er kämpfte für einen Egoismus, den man menschenfreundlich genug sein muß, allen zu wünschen, nämlich den Egoismus der Gesundheit.

Es wäre eine Aufgabe, die ein geistreicher Arzt noch zu lösen hätte, den Anteil zu bestimmen, welchen an der allmählichen Entwickelung des Geschichts- und Menschheitszweckes das Befinden des Körpers und der Seele hat. Man sollte gründlich nachweisen, wie viel Wahnsinn auf Rechnung der historischen Wahrheiten kömmt, wie viel physisches Wohlbefinden die Menschheit abtreten mußte, um eine Bereicherung ihrer Kenntnisse und geistigen Besitztümer dagegen einzutauschen. Eine Geschichte vom medizinischen Standpunkte müßte eine der größten Erweiterungen unseres Selbsterkenntnisses sein. Man brauchte nicht soweit zu gehen, wie der Hypochondrist von Genf, welcher dieselben Wissenschaften für eine Vergiftung der Gesellschaft erklärte, welche ihm doch dazu dienten, diesen kühnen Satz mit so glänzender Wahrscheinlichkeit zu verteidigen; aber wer kann sich die Sturm und Drangperiode, namentlich die romantische Schule, ohne gewisse Übel denken, die eine wechselseitige Bedingung von Leib und Seele herbeiführten? Goethe erlebte die verheerendsten Beispiele outrirender Genialität. Wie lange siechte und fieberte er nicht selbst an seinem Idealismus! Noch während der ersten Weimarer Epoche schrieb Wieland an einen Freund, daß er Goethes Ruhm nicht um den Preis seiner Körper-Leiden erkaufen möge. Die Erfahrung allein heilte hier vielleicht nicht, aber sie wurde Präservativ. Von jenen Aufwallungen, die das im Geiste Neue, auch in den Nerven und Adern hervorbringt, suchte sich Goethe allmählich zu befreien. Keine Ideenassoziation durfte auf ihn eindringen, ohne vorher Quarantaine zu halten. Nach jeder Durchwühlung fremder Begriffsamalgame wechselte er die Kleider und zog die alten nicht wieder an, bis sie von der Gleichgültigkeit durchgeschwefelt waren. Ja wenn man sieht daß Goethe gewissen Tendenzen, z.B. manchen romantischen, wo er nur konnte, aus dem Wege ging, so muß man glauben, daß er von ihnen eine unmittelbare Ansteckung fürchtete. Und ich würde mich sehr irren, wenn Goethe nicht irgendwo geäußert hat, man könne den Geist eines Buches schon an dessen Geruch erkennen.

Goethe nahm an allem Teil, wies unbedingt auch nur wenig von sich zurück; doch wenn er Gegenstände der Philosophie, Religion und Geschichte verhandelte, so mußte er sie vorher erst in seine eigene Sprache übersetzen. Ich glaube sogar, daß Goethe schwer begriff, und zeitlebens eine, von ihm wenigstens für seine Jugend eingestandene Unbeholfenheit beibehielt, wenn es sich um Dinge handelte, die eine unmittelbare Einwirkung in Anspruch nahmen. Goethes dogmatischen, thetischen und objektiven Prinzipien machten aus ihm einen ebenso großen Dichter und Künstler, wie im Übrigen einen unzulänglichen Dialektiker. In der Debatte entfernte sich Goethe niemals vom Ziele und stellte immer Sätze auf und verlangte von seinem Gegenüber solche dagegen, die sogleich die objektive Nagelprobe bestehen konnten. Mit Thesen, Ober- und Untersätzen, Verwickelungen, Flankenbewegungen und Zirkelmanövers sich weit über die Gegenstände hinaus zu wagen, war seine Sache nicht. Frau von Staël mit ihren bizarren Plänkeleien und lustigen Wortgefechten, mit Debatten, die sie nur der Rede wegen begann und die doch der Rede nicht wert waren, machte ihm große Not; er brach das Gespräch ab und wies ihr nicht ohne deutlichen Fingerzeig die Tür. Wenn sich Goethe auf sich selbst verließ, so sag' ich nicht (wie kann es dies sein!), daß es Unvermögen war. Einem Freidenker, der die Schule verachtete, blieb wahrlich nichts Besseres übrig in einer Zeit, wo der Turmbau der Systeme mit einer so totalen Sprachverwirrung endete, daß bei Fichte dasjenige Steine waren, was man bei Jakobi Kalk nannte. Hier mußte man kämpfen, seinen eigenen Sprachschatz nicht zu verlieren und sich drängen, die prahlerischen Assignate der Philosophie, in die kleine, aber klingende Münze des gesunden Menschenverstandes zu vertauschen.

Das Prinzip der Aneignung bestimmte Goethen auch nichts über oder neben sich als menschlich anzuerkennen, was nicht zugleich in ihm wäre. Goethe war mit seinem Individuum haushälterisch. Er spaltete es nicht, verschleuderte es nicht er hielt alle Zügel straff gezogen und verlor sich als Ganzes in keinem seiner Teile. Das Endziel dieser Maxime war der Besitz und das Mittel dazu die Verjüngung. Was ich mein nenne, macht mir nur eine Sorge, nämlich es zu bewahren. Diese ist äußerlich und absorbiert das Gemüt nicht so heftig, wie das erste Bestreben, es mir anzueignen. Alle Sehnsucht löst den Verband der geistigen Teile im Individuum auf und treibt sie nach einem einseitigen Abhange hin. Goethe, innerlich etwas zu verlieren fürchtend, suchte sich dadurch zu schützen, daß er äußerlich alles zu besitzen trachtete. Wenn er sich das Entlegenste nicht verweigern und die Unerreichbarkeit desselben nicht dulden konnte, so wollte er, daß er da, wo sich ihm die Künstlerschaft verweigerte, doch wenigstens Liebhaber wäre. Denn erst der Liebhaber, der seinen Wünschen nichts versagt, kann das Idealische genießen, wenn es seine Natur ist, es sogleich, wenn nicht innerlich, doch äußerlich anzukaufen. Goethe hat naiv eingestanden, daß ihn Kunstwerke erst beruhigen, wenn sie sein Eigentum sind. Man zürne nicht! Man sage nicht daß sich mit dem Eigentum die Lust zufrieden gegeben und die bewundernde Sehnsucht abgeschlossen hätte! Er konnte oft nur Kopien, Abdrücke und Pasten bekommen und mußte sich noch immer darüber erwärmen, daß zwischen dem Original und der Nachahmung eine unendliche Kluft lag, die er nicht auszufüllen vermochte.

Eine neue sehr ungeschlachte und banausische Darstellung der Goethischen Dicht- und Denkweise wirft ihr vor, daß sie vom Straßburger Münster sich eine Scheinkapelle wünschte. Nur bornierte Leidenschaftlichkeit konnte aus dem harmlosen Wunsche ein Verbrechen machen. Wäre jene Kritik im Stande, mit einer sich selbst beherrschenden Prüfung fremde Individualitäten und Charaktere im Zusammenhange zu erfassen, wäre sie nicht überall, wo die Leidenschaft durch Gründe entschuldigt oder unterstützt werden müßte, die Eingebung des oberflächlichen Dilettantismus; so würde sie sich jenen Wunsch aus dem künstlerischen Prinzipe Goethes haben erklären können. Dem Straßburger Münster hat sich Goethe immer mit heiliger Andacht hingegeben, doch wußte er, daß es nie schönere Verehrung dieses Wunderwerkes wäre, das Genie seines Erbauers von Eins zu Eins zu verfolgen, als seine nasse patriotische Phrasenwäsche zum Trocknen an die Spitztürmchen aufzuhängen. Goethe wollte das Erhabene nicht nur fühlen, sondern auch verstehen. Darum verjüngte er das Große und modelte das Ungestalte um. Die Welt in ihrer Größe würde bald unser Herz zersprengen. Man braucht die Peripherie nicht, wenn man nur den Durchmesser hat.

So steht denn Goethe mit diesem glänzenden Harnisch, dessen Schuppen und Schienen wir aus Ton flüchtig nachzuformen suchten, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts gerüstet da. Doch wühlt' in seiner Brust, trotz aller Philosophie und Resignation ein herber und innerer Schmerz, ein gemütliches Unbehagen, für welches er nur feindselige polemische und wenig überlegte Worte finden konnte. Ach, man dämmt gegen das Übel mit Schutt und Trümmern jeder Art den Weg, man schließt sich in das Bannat der Verachtung ein und wagt sogar zuweilen einige Ausfälle gegen die belagernde Macht; aber vergebens! Aus diesem Herzen floh der Friede, aus diesem Gedächtnisse wichen die schattigen Ruheplätze; der Tag steht mit drohenden Worten vor der Tür und pocht trotzig auf einen Einlaß, der nicht mehr zurückzuweisen ist. Das Ungewitter mag noch einmal verziehen! Man werfe sich irgend einer zerstreuenden Beschäftigung in den Arm, man leugne die Gefahr weg, da man sie nicht sieht! was hilft's? du verlierst den Zusammenhang und die Gunst einer weise angestellten Berechnung. Da du den Strom noch in weiter Ferne rauschen hörtest, ist er schon unter deinen Füßen, und du treibst hülflos auf stürmischen Wogen, wo man, wie Goethe als Botaniker, sich mit Grashalmen zu retten sucht.

Mit entsetzlicher Anstrengung hatte Goethe gegen das Unbehagen, das aus der Zeit kam, gekämpft. Er hatte sich selbst geopfert, um des bittern Schmerzes ledig zu werden. Denn jene Lebensphilosophie, die hier einen ganzen Menschen revolutionierte, was ist sie anders als eine rührende Trennung des Mannes vom Jüngling, der Zukunft von süßer Erinnerung, des Kopfes vom Herzen? Goethe empfand diese Rührung nicht, weil er ein Charakter war; aber wohl den Schmerz. Seine Berechnungen mißglücken, alles um ihn her zuckt mit Nadelspitzen auf seine Nerven, und selbst das alte Mittel, durch Produktionen sich zu retten, schlägt fehl. Großkophta, Bürgergeneral, die Aufgeregten, die Ausgewanderten, Hermann und Dorothee schleuderte er aus seinem Schiffe, um es oben zu erhalten. Aber die Zeitgenossen verziehen keine Miene. Neue Waffen, die Natur. Es ist zu spät die Geschichte schlägt ihn zurück, und ein Geist der seinem Jahrhundert vorangeeilt war, muß noch dem letzten Decennium desselben unterliegen. Die Tatsache zerreißt das philosophische Gebälk, auf dem er steht. Der schwankende Tritt tastet keinen Boden mehr, und man muß auf Augenblicke sehen, wie die Wellen der Vergessenheit über Goethes Haupte zusammenschlagen.


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