Karl Gutzkow
Über Goethe
Karl Gutzkow

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III

Wem wird die Muse der Geschichte die Feder in die Hand drücken, um ein Kulturgemälde des achtzehnten Jahrhunderts zu schreiben?

Wenige Epochen vereinten so viel und so entgegengesetzte Elemente in sich, um zugleich bunte und durch ihre Mannigfaltigkeit anziehende Gruppen zu bilden; wenige sind so bedeutend und einflußreich ihrem Inhalte und Zwecke nach gewesen. Da schwebte über ermüdeten Zuständen eine wunderbare Aufregung; da hatte sich über die allgemeine Verwesung der positiven Begriffe und Institutionen ein phosphoreszierender Schimmer von Idealismus gezogen, der sich zuletzt in einen erschrecklichen Brand entzündete.

Der Geschichtsschreiber würde Mühe haben, sich in alle diese Anfänge sogleich zurecht zu finden, wenn sie nicht ein so entscheidendes Ende gehabt hätten. Der Abschluß des Jahrhunderts erleichtert ihm sein Geschäft, gibt ihm ein sicheres Ziel und für die einzelnen Bildungsmassen ein ordnendes Teilungsprinzip.

Ich dächte die Ökonomie seiner Darstellung müßte darauf ausgehen, das achtzehnte Jahrhundert zuerst in würdigen und pomphaften Schleppzügen auftreten zu lassen; denn klassische Perioden sind es, die in England sowohl wie in Frankreich an der Schwelle des Jahrhunderts standen; dort der neue würdevolle und gelehrte Dogmatismus der skeptischen Empirie, hier die wallende, stolze Allongeperücke des Siècle. Doch schon begannen Voltaire und Hume die Tempelgeheimnisse der akademischen Weisheit an größere Massen zu bringen. Die Bewegung der Geister wird schneller, behender. Man sieht die Ziele näher, und da sie in der Tat nur immer entfernter liegen, so überhastet man sich, die großen Geister kommen immer mehr unter das Volk, schon hört man ihren Atem und sieht was sie für Kleider tragen. Individualitäten der wunderlichsten Art geben den Ton an; Autor und Publikum stehen nicht mehr in dem Verhältnisse hochachtungsvollen Respektes, sondern die Wahrheit steht mit dem Publikum auf du und du, jede neue Entdeckung ist eine Freundschaft, die Geheimnisse des Herzens lösen sich, Sprache und Mitteilung werden vertraut, die Literatur läuft in ihrem Charakter und Tone beinahe schon auf nichts als die Leidenschaften der Liebe und des Hasses hinaus; Schrift und Zeit beschleunigen sich wechselseitig, bis zuletzt die eine über die andere stürzt und alle sichere Form in ein ungeheures schreckhaftes Chaos auseinanderfließt.

In einer so leidenschaftlichen Bewegung der Begriffe und ihrer Ausdrücke saß nun das Individuum mitten in den meist feindseligen Widersprüchen inne. Früher machte es die Zahl voll, früher mußte es um Erlaubnis bitten, zu einer Audienz bei der Literatur zugelassen zu werden; aber jetzt ist es plötzlich in den Kreis der Allgemeinheit aufgenommen und gibt seine eigene Stimme ab. Natürlich, die Verschiedenheit der Meinungen zwang die Verfechter derselben, Unterstützung für die ihrige zu suchen. Parteiung tritt an die Stelle der exoterischen Andacht; die Interessen ziehen Scharen von Beteiligten und Verbündeten nach sich, und die Literatur wird das Vehikel dieser Interessen. Allmählich werden die, welche lesen, die Faktoren des Schriftwesens; die Bücher nähern sich den Briefen; für alle europäischen Literaturen legt sich der Grund zu jener ungeheuren Produktionsanregung, durch die der Journalismus zuletzt eine Macht wurde, welche die Literatur selbst zu verschlingen drohte.

Auch hat man nie wieder gesehen, daß das Individuum sich selbst so entschieden zum Echo des Organes der Kultur machte, wie im achtzehnten Jahrhundert. Aus angebornen Lebensverhältnissen, Sitten und Gewohnheiten herausrückend, Vater und Mutter verlassend, und das erwählte Lebensziel, besonders wenn es eine Stelle in der politischen Maschine war, als das Widerwärtigste Preis gebend, machten sich die aufgeregten Köpfe zur Abspiegelung des Neuen; traten zu allen Vorschlägen gläubig hinzu und opferten oft dem Scharlatanismus ihr innerstes Vermögen. Dies war nicht die tote Herrschaft des Buchstaben, sondern die Kraft der aus den Schriften jener Zeit dringenden Persönlichkeit, die Kraft jenes gewaltigen Axiomes des achtzehnten Jahrhunderts, daß die Menschen besser wären, als die Dinge. Diejenigen Gemüter, welche von jener Kraft der Persönlichkeit empfinden, suchten aus derselben auch wiederzugeben und schufen dadurch für die menschliche Existenz eine Wechselseitigkeit der Berührungen, die auch den Unbedeutendsten durch das Gefühl einer an ihn ergehenden Mission aus seiner Sphäre heraus hob. Die Familiaritäten der großen Geister erstreckten sich bis in die weiteste Abgelegenheit und so mußte es denn freilich geschehen, daß Irrtum, Freundschaft, Verbrechen, Wahrheit Lüge, Tollkühnheit alles vom Schicksal in dieselbe Kategorie gestellt wurde und beim allgemeinen Sturze eines am andern sich haltend, der ganze wunderbare Bau jener Zeit in Trümmer sank.

Von diesen denkwürdigen Bewegungen blieb keine ohne Einfluß auf Deutschland. Für jede Idee, die über die Grenze kam, fanden sich Apostel, Märtyrer, ganze Gemeinden und veranlaßten Widersprüche oder weitere Begründungen, welche zuletzt in den Deutschen selbst die Originalität weckten. Die französischen und englischen Einflüsse mußten um so entscheidender auf Deutschland wirken, und in diesem Lande den ganzen Kern des achtzehnten Jahrhunderts zusammendrängen, als da selbst das Terrain so gänzlich unbebaut war; als sich alle neuere Kultur dort von der untersten Stufe aus bis zur höchsten entwickeln, von dem braven und beschränkten Verstande des Bürgers, bis zur akzeleriertesten Beweglichkeit des feinen Esprits steigern konnte. War hier doch die schöne und gelehrte Literatur nur bisher das Eigentum der gelehrten Stände und der Katheder gewesen. Lohenstein, Hoffmannswaldau waren elegante Hofkavaliere, Canitz und Günther Edelleute, und noch Albrecht von Haller war ein vornehmer Mann, Ritter des Nordsterns, Herr von Goumoens, le Jux und Eclagnes, Präsident zweier Akademien und Mitglied von dreizehn gelehrten Gesellschaften!

Von dieser Sphäre aus war keine Regeneration zu erwarten, sondern die niedern Stände übernahmen die fortgesetzte Bestimmung der Literatur und versuchten sich zunächst in der trockenen moralischen Satire und dem komischen von England geborgten Lehrgedicht. Rabener verdient die Anerkennung, daß er der Bürgerklasse für die Literatur ein Privilegium gab, indem er den schlichten Hausverstand derselben zum Richter über die Gebrechen und Torheiten der Menschen setzte. Die gelehrte Sprache von ehemals war für diese Übungen des Witzes und der Phantasie kein notwendiges Requisit mehr, ja sie brauchte kaum abgeschafft zu werden, da für ihren Pomp die naiven und bürgerlichen Gegenstände nicht mehr passen wollten und sie sich, wo sie nicht als Travestie benutzt wurde, von selbst verlor. Rabener sicherte sich seine Tätigkeit, indem er die Vorsicht hatte, die höheren Stände zu schonen und sich mit der Persiflage von Advokaten, Ärzten, Frömmlern und mannigfachen Lebens- und Empfindungskreisen ohne Privilegien zu begnügen. Die höheren Stände blickten auf diese Erweckung der guten Köpfe sorglos herab, auf eine Rührigkeit des gutmütigen Volkes, das sich unter einander zum Gegenstande seiner rege gewordenen Geistestätigkeit machte. Ja die Satire wandte man sogar auf sich selbst an, wie Rabener, der damit der Welt zeigen wollte, wie wir von so vielen Verhältnissen, Neigungen und Begriffen verstrickt sind, über welche zuerst wir wohl selbst den Kopf schütteln müssen. Das erzeugte denn eine frische Lust des Daseins, eine Behaglichkeit an den beschränktesten Zuständen, Emsigkeit und Rührigkeit in Ausmalung der kleinen provinziellen Verhältnisse, in denen man nicht ohne Ironie über sich selbst, aber doch mit Vergnügen lebte, zuletzt auch, trotz aller Herzlichkeit und selbst geistreichen Wesens, immer noch ein respektvoller Pedantismus, den selbst Geßners arkadische Schäfer mitten unter ihren Ziegenböcken nicht verbergen konnten. Von einer so kindlichen Stufe nun allmählich die Deutschen zu erheben und sie mit jenem Spiritualismus enden zu machen, wie ihn die sublimsten Kulminationspunkte unserer Literatur am Ende des vorigen Jahrhunderts zeigen, das konnte nur durch jene wunderbare Aufregung und Empfänglichkeit der Gemüter bewirkt werden, welche in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von außen kommend, sich auch den Deutschen mitteilte. Die Nation gab für alles, was sie bekam, aus sich selbst das Mögliche hin und brachte es auf dem Altar des unbekannten Gottes, welchem das achtzehnte Jahrhundert opferte. Wer war dieser unbekannte Gott? Man wußt' es nicht, man ahnte es, und doch versah sich niemand, daß der Gott die Revolution war, jene entsetzliche Tatsache, der sich auch Deutschland nicht entziehen konnte und der es diente, wenn nicht als Hammer, doch als Ambos.

Den Übergang aus der für das Ausland klassischen, für Deutschland aber altfränkischen Halbscheid, in die Periode der Beschleunigung und Aufgeregtheit, bildete die Epoche der Empfindsamkeit. Das Herz reagierte gegen den Skeptizismus. Der kalte Zweifel löste sich in das Gefühl der Unzulänglichkeit und in eine Sehnsucht ohne Bestimmtheit auf. Möchte man nicht auch hier wünschen, daß irgend eine begabte Feder die Vorseufzer, die dort und da, aus der Brust der europäischen Gesellschaft stöhnten, aufzeichnete und uns eine vollständige Geschichte jener melancholischen Lamentationen lieferte, welche zuerst in England angestimmt wurden?

Es war nicht bloß die Klage, sondern oft eine Tat, die der Verzweiflung folgte; nicht selten der Selbstmord. Youngs Nachtgedanken wirkten schon in dieser Art, daß sie die Herzen der Zeitgenossen mit einer ungeheuern trübsinnigen Öde erfüllten und sie das bittere Gefühl kosten ließen, wie beim Anblick des nächtlichen gestirnten Himmels das Geheimnis des Lebens in andern Lauten zu flüstern scheine als an der Helle des Tages und man ein Los, in dessen Wahl sich der Schöpfer vergriffen zu haben schien, dadurch rächen könne, daß man es endete. Lassen jene optimistischen Gedichte, die mit frivoler Philosophie aus der Feder Voltaires kamen und mit einem sehr edeln Enthusiasmus aus der didaktischen Leier Popes, nicht schon den ganzen Abgrund melancholischer Verzweiflung ahnen, welchen die Epoche der Empfindsamkeit vollends aufreißen sollte? Wenn uns Pope mit einer blühenden und majestätischen Rhetorik die Harmonie des Weltgebäudes zu erklären sucht; wie kann er hindern, daß nicht in seine Wunder das Gefühl unserer selbst, in eine Hymne auf die Konstruktion des menschlichen Auges, die Anschauung dessen, was das Auge sieht, als schrillender Mißton einfällt und sich sein begeistertes Gedicht zuletzt nur wie ein Traum auf unserer Sehnsucht wiegt, auf dem lechzenden Verlangen, auch im Einzelnen die Erfüllung dessen zu treffen, was vom Allgemeinen wir in einer so strahlenden Vision sahen! So arbeitete die Unruhe der Menschheit selbst durch die Fesseln, die sie besiegen sollte, sich hindurch und quälte sich gerade in dem, was man ihr als Trost anbot, bis sich zuletzt ihr klopfender Puls in jene wehmutsvollen Empfindungen auflöste, die uns so mächtig ergreifen, weil wir die Revolution erlebten und diese Rührung als eine schmerzliche Ahnung derselben betrachten müssen. Es sind aber besonders Rousseau und Sterne, die hier genannt werden dürfen.

 

Diese beiden Geister, welche auf die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Beschlag gelegt hatten, konnten sich wechselweise durch ihre Verschiedenartigkeit ergänzen. Wo der eine weinte, lachte der andere; wo jener zürnte, war dieser versöhnlich. Ihre Äußerungen hatten Ähnlichkeit, doch war die Quelle derselben verschieden. Die Empfindung des einen war so aufrichtig wie die des andern; doch abstrahierte Rousseau jenen Schmerz, den Sterne aus Instinkt fühlte.

Der gute Rousseau! Ein mittelpunktloser unvertilgbarer Abandon an das Zufällige, Leichtsinnige und Gedankenlose stürzte ihn in tausend Handlungen und Verhältnisse, die er darauf mit einer Verzweiflung bereute, daß man seine Schriften, die Selbstkasteiungen eines Trappisten nennen könnte. Es macht Entsetzen, jene Gedankenlosigkeit und Oberfläche zu betrachten, mit welcher Rousseau die schönsten Jahre seiner Jugend vertrödelte, wie er sich als ein kindisches, träges und bewußtloses Nichts an ein Verhältnis hingab, in welchem mehr Schande als Vergnügen zu gewinnen war. Freilich ist es schön, daß Rousseau seine Lügen, Diebstähle und andere Verbrechen, nicht im Allgemeinen auf die menschliche Natur schob, sondern sich selbst mit einer bewundernswerten Strenge dafür verantwortlich machte; aber wie die Folge einer solchen Selbstpeinigung, die bei einem edlen tugendhaften Charakter sich von selbst verstehen mußte, seine reuevolle Empfindung, als etwas Außerordentliches und Neues betrachtet werden konnte, wie sie so viel Echo finden und sich ganz Europa als eine Dissonanz des tiefsten Schmerzes mitteilen konnte, das ist eine merkwürdige Tatsache. Rousseau erfreute sich einer so lebhaften Sympathie, daß er durch sie für die zahllosen Verfolgungen seiner Gegner entschädigt war. Es wurde Mode sich verkannt zu glauben und sein Herz in die Brust Mitfühlender, wie man damals zum Erstenmale sagte, auszuschütten. Man spekulierte auf sogenannte verwandte Seelen, und im Arme der Freundschaft auf irgend einer kleinen Insel des Genfersees, unter hängenden Trauerweiden, neben einem Postament von Sandstein, wo sich Amor und Psyche umarmen, fand man Ersatz für eine Welt die man sich nicht gräßlich genug ausmalen konnte. Rousseau appellierte unaufhörlich an die verwandten Seelen; sie waren seine Vertrauten, sie sein Trost. Ihnen klagte er, wie Paris, der gottlose verzogene Anti-Emil, mit seinem Lehrer umsprang, ihm Fledermäuse an den Haarbeutel steckte und ihm dänische Hunde auf den Leib jagte, so grimmig, daß Rousseau in die Höhe springt, um den Hund unter sich durchzulassen, dabei das Gleichgewicht verliert stürzt und nur mit dem Verlust von drei Vorderzähnen und einer allgemeinen Schindung seiner Gesichtshaut wieder zum Bewußtsein kommt. Jedes schiefe Gesicht einer maliziösen jungen Frau, die ihn frägt: haben Sie Kinder gehabt, Herr Rousseau? Jede Inkonsequenz, wie er, dessen Wahlspruch hieß: vitam vero impendere, zitternd und lügend geantwortet: nein! Alle diese Leiden und Foltern seines Herzens teilte er den gleichgestimmten Seelen mit, und Tränenströme flossen von Sympathie, die stark genug waren, in Montmorency seine Weiden zu bewässern.

Sterne dagegen trat nicht so subjektiv vor die Menge; er lamentiert weniger über die Bosheit, als über das Unglück der Menschen. Dieser herrliche Engländer hat, was ihn selbst betrifft, immer guten Mut; nur wenn er zu andern tritt, gehen ihm die Tränendrüsen auf. Der Mönch, der in Calais bettelt, der Ludwigsritter in Versailles, welcher Pasteten verkauft, das sind Situationen-Wellen, welche so lange sein Herz umspülen, bis er mit allen seinen Remisenabenteuern und Kammerzofenepisoden in das weiche Bette seiner Empfindung fällt und er, eben im Begriff zu lachen, in Tränen ausbricht, bis er nicht mehr dämmen kann. Rousseau wirkte auf verwandte, Sterne auf schöne Seelen. Jener ist sentimental, dieser humoristisch. Rousseau mußte durch die Nachahmung verlieren; Sterne war so glücklich Nachahmer zu finden, welche ihn ehrten. Der vortrefflichste und über ganz Europa siegreiche war aber der Vicar von Wakefield. Dieser Charakter mit seiner feinen Selbst-Ironie und unverwüstlichen Gutmütigkeit brachte in Deutschland eine magische Wirkung hervor und ist zugleich eines der ersten Bücher, daß auf Goethes Herzens- und Geistesbildung, seinem eigenen Berichte nach, von entscheidendem Einflusse war.

Die ersten allgemeinen Tendenzen von welchen sich unser Dichter näher berührt fand, sind nun zunächst jene schon erwähnten naiven, herzlichen und etwas pedantischen Bestrebungen unserer Nation, die durch Rabener, Zachariä und verwandte Geister des Tages geschürt wurden. Ihr harmloser, wenig überdachter und aller Welt verständlicher Inhalt, lockte die Nachahmung so glücklich an, daß vieles damals nicht gedruckt wurde, was, obschon aus der Feder von Dilettanten geflossen, doch mit den schon renommierten Autoritäten des Tages die Vergleichung hätte aushalten können. Aber noch blieb Goethe außer allem im Zusammenhange mit der Öffentlichkeit. Die Literaturbriefe erregen ihn nicht und wenn ihm auch Gellert als der vollständige Ausdruck alles Tüchtigen erschien, so war dies mehr der Eindruck, den Gellerts Charakter auf ihn machte, der Eindruck einer persönlichen Würdigkeit, mit allem Rechte vorm Volke zu reden. Wie wenig klar und im Zusammenhange er sich seines Strebens bewußt war und wie gering noch auf der andern Seite die Befriedigung seines Geistes sein konnte, welche ihm die Tagesordnung anbot zeigte der schlagende Eindruck, den Gleims Kriegslieder und später Minna von Barnhelm auf seine ästhetischen Vorstellungen machte.

 

Die Poesie der damaligen Zeit war erlogen, ihre Anschauung dem Altertum entnommen, nicht einmal aus reiner Quelle, sondern durch Gallische Vermittelung. Mitten unter diese Surrogate der Poesie warfen Gleim und Lessing das Erlebnis des Tages hinein, Taten, die alle sahen, einen Enthusiasmus, den alle fühlten, und Zustände, die jeder mit seinen eigenen vergleichen konnte. So bekam plötzlich die Literatur eine frische und natürliche Farbe, ein individuelles dichterisches Gepräge, gegen welches selbst Klopstock mit seinem zwar belebenden aber doch immer nur erfundenen Interesse in den Hintergrund treten muß.

Wie jedoch Goethe damals war, so fehlte ihm noch die hinlängliche Reife, um Eindrücke so schlagender Art zugleich als Epoche machend zu verstehen und festzuhalten, geschweige gar durch eigene Produktion teilnehmend sich ihnen anzuschließen. Die wenigen Anknüpfungspunkte an die Literatur, welche er in Leipzig schon gewonnen hatte, gingen ihm in Straßburg wieder verloren. Die weiteren Fortschritte zu vergleichen, wurde er durch Entfernung und Brotstudium abgehalten. Sogar das Technische in der poetischen Kunst, die innere Maschinerie in der poetischen Wirkung vergaß er so sehr, daß Herder in ihm einen jungen Mann kennen lernte, der ihm nur ein gutmütiger Leser zu sein schien, ein unbefangener Interessent der Literatur, der sich düpieren ließ und das Schöne mit offenem Munde anstarrte. Und war dennoch Goethe nicht glücklich, daß ihn die Umstände aus seiner frühzeitigen Produktionslust herausrissen und sich sein Geist durch längeres Brachliegen erholte, um die Saatkörner neuer und reifer Ideen desto besser zeitigen zu können? Bei den meisten bewährt sich die traurige Erfahrung, daß sie in einem Alter lernen, wo sie kein Urteil haben; und daß sie endlich im Besitze des Urteils, statt nun erst zu lernen, dann schon zu produzieren anfangen.

Das Interesse an großen Geistern, welches jugendliche Seelen erfüllt, pflegt immer nur einzelne Teile zu treffen, die sie sich von einer im Ganzen und Großen schwierigen Persönlichkeit zu ihrer eigenen andächtigen Verarbeitung loszutrennen wagen. Indem sie bei großen Vorgängern sich am liebsten in der Richtung halten, wo sie deren Atem hören und das Außerordentliche als etwas allen, also auch ihnen Gemeinsames reduzieren können, glauben sie sich im Zuge der Vervollkommnung mit desto glücklicherem Erfolge anzutreffen. Im achtzehnten Jahrhundert fanden sogar die Tendenzen gar keinen andere Ausdruck als einen persönlichen und bilden darin einen vollkommenen Widerspruch gegen unsere Zeit. Wir, schon daran gewöhnt, daß die Schrift im allgemeinen ihre die positive Macht vertretende und schlagende Gewalt verloren hat, und die Tendenzen nach dem Anhang ihrer Bekenner numerisch abschätzend, knüpfen unsern Enthusiasmus selten mehr an Individualitäten an. Als Prüfstein der Tendenz verlangen wir sogar die Verleugnung der Individualität und sind durch mannigfache Erfahrung und durch nichts so sehr als durch Selbsttäuschung längst dahin gelangt, an keine Idee zu glauben, die man nicht ebenso gut eine Tatsache nennen dürfte. Im achtzehnten Jahrhundert aber war der Autor noch Prophet und seine Schrift die Ergänzung eines Evangeliums, das sich am vollständigsten durch sein Leben selbst auszusprechen schien.

In dieser Art umfing auch Goethe, was damals an Namen und Interessen auf dem Meere der Öffentlichkeit auftauchte, und durchschaute bei dieser Begünstigung seiner Zeit die innern Prozesse der tonangebenden Talente. Rousseaus Subjektivitäten mögen hier als abstoßender Pol gewirkt haben; wenigstens läßt Goethes spätere Zukunft erraten, daß ihm auch schon früh eine Lebensanschauung widerstehen mußte, die zu krankhaft war, um sein gesundes Urteil, und zu monoton, um seine Phantasie zu befriedigen. Rousseau offenbarte Schicksal genug, aber wenig Leben. Seine Empfindung war Einseitigkeit, und, düpiert an allen Ecken und Enden, mußte zuletzt seine Glaubwürdigkeit selber wanken. Goethe merkte bald, wo zuletzt diese Lamentationen über Verfolgung und Seelenfreundschaft hinaus kamen, und formte sich jenes sichere Urteil, das im Pater Brey scharf genug ausgesprochen wurde.

Goethe erlag bekanntlich dem Zuge der Sentimentalität, aber sie mußte einen etwas farbenreichen Hintergrund und im Vordergrunde etwas mehr als nur umarmte und mit Tränen benetzte Bäume haben. Hier eben ging ihm die humoristische Gruppe des Vicars auf und verließ ihn während einer ganzen Periode seines Lebens nicht. Was er hörte und sah, wohin er kam und wo er beobachtete, überall fühlt' er sich versucht, um das teure Bild einen neuen Rahmen zu ziehen. In Sesenheim, in Wetzlar glaubt' er, durch dortige Zustände bezaubert zu werden, so ähnlich waren sie der Dichtung Goldsmiths um so mehr, da Thornhills Rolle in sein Inneres manchen finstern und dämonischen Schlagschatten warf. Werther war der vollendetste Ausdruck dieser gefühlvollen Nervenregungen, und ohne es zu wollen, gelang es Goethen, mit dieser Dichtung die Empfindungen aller seiner Zeitgenossen zu galvanisieren.

Aber gleich nach diesem ersten Triumph erhob sich Goethe über den Charakter des achtzehnten Jahrhunderts. Eben eine Tendenz geworden, Repräsentant einer Stimmung, die man nach ihm bezeichnete, Fürst und Herr aller empfindenden Herzen, flüchtete er sich von dem schnell eroberten Throne und duldete, obgleich den Ruhm nicht verschmähend, doch keine Konsequenz des Ruhmes. Mit dem Grundsatze, daß Dichtung Befreiung der Seele ist und der Schmerz sich abkühlt, wenn er historisch wird, erhielt sich Goethe oben auf dem Niveau seines Jahrhunderts. Er begann zum Erstenmale gegen ein Vorurteil zu kämpfen, und das Vorurteil seiner Zeit war die fortgesponnene Empfindung, war jenes Einfache und Partikuläre, das man zur Manie erhob, war jene vergötterte Erinnerung, welche die gottvollere Zukunft niederdrückte.

Von dieser Zeit an, wo Goethe die Dichtung für Abschließung vorangegangener Verhältnisse und nur im Sinne von Vergessen für Trost erklärte, kömmt in die Geister eine neue Bewegung. Leben wird Bereicherung, Denken wird Erfahrung, Dichten wird jene kluge Maßregel, wo man durch einen unwegsamen Wald Steine säet, um auf alle Fälle den Rückzug wieder zu finden. Dies frivole Bestreben sollte erst mit einem Widerspruche endigen, als die Revolution die Exzentrizität des Gemütes überraschte und dem egoistischen aus der Lüge die Wahrheit saugenden Genie in die Zügel fiel. Die Revolution frug: Wohin führ' ich dich zurück, du Mittelpunktloser? Und das Genie hatte so wenig für seinen Rücken gesorgt, daß es in der Eile keine andere Wohnung wußte, als die Prosa. Alle Empfindungen, die ihr Herz mit der Geschichte der Zeit parallel ausgebildet hatten, verletzte Goethe am Schluß des Jahrhunderts so hart, daß Unbillige niemals wieder mit ihm an eine Aussöhnung dachten.

Die Herz- und Geisttendenzen, welche in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Deutschland beherrschten, lassen sich auf zwei Erscheinungen zurückführen, die eben so sehr individuell wie allgemein waren und durch Lavater und Basedow am schärfsten bezeichnet werden. Beide Richtungen gingen von demselben Anfange aus und bedienten sich, um zu ihren Zielen zu gelangen, derselben Mittel. Rousseaus das ganze vorige Jahrhundert ergreifender Einfluß ist auch hier unverkennbar; nur, daß in Deutschland seine Tendenzen durch den Charakter der Nation ein theologisches Beigemisch erhielten, das ihm selbst fremd war.

Lavater ist ein merkwürdiger Beweis, wie man bei gänzlichem Mangel zureichender Bildung dennoch überzeugen kann, einzig und allein durch die Wahl der richtigen Töne. Lavater überzeugte nicht einmal von seinen Intentionen, sondern nur von seiner Person. Er hatte sich mit seiner naiven Unbefangenheit, mit einer bei aller individuellen Liebenswürdigkeit doch unstreitig immer ein wenig überlästigen dreisten Treuherzigkeit, so weit unter die Masse gewagt daß er, ehe man ihm Glauben schenkte, zuvor Beweise über sich selbst liefern mußte. Und in diesem Betracht war Lavater wahrlich ein Wundertäter! Eine aller Welt klar vor Augen liegende falsche Exegese, eine von ihm selbst zugestandene Unzulänglichkeit im Wissenschaftlichen; eine unleugbare den freien Geist beleidigende Intoleranz, die unverhohlene Absicht eine Sekte, man weiß nicht auf wessen Namen zu stiften – dies alles unumwunden ausgesprochen, von vielen verdächtigt, von allen widerlegt; und dennoch gerade in den mißlichsten Punkten der ungeheure Fortgang, der hingebendste Enthusiasmus. Dieser Triumph war nur in damaliger Zeit möglich, denn wodurch siegte Lavater? Durch seine persönliche Gegenwart; auch durch seine Gegenwart bei dem, was er schrieb, durch die zuströmende, muntere und geschwätzige Quelle seiner Naivetät, durch die Originalität des Irrtums und die Wunderlichkeit seiner Intoleranz. Dazu gesellte sich das große physiognomische Kunstnetz, wo von den fatalsten Karpfen- und Forellenprofilen an jede unbedeutende Visage als ein Beitrag zu einer das Jahrhundert aus seinen Angeln hebenden Wissenschaft angesehen und zugleich das Verbündungsinteresse für die mannigfachen Intentionen des klugen Menschenfischers in Zürich gefangen genommen wurde. Es bildete sich ein öffentlicher Geheimbund der physiognomischen Bevorzugung, eine vollständige Verschwörung der schönen Seelen, welche Lavater in dem bekannten großen Gesichtsherbarium auftrocknete. Mit hunderterlei Aufgaben hielt sich Lavater seine Gemeinde zusammen. Er forderte z.B. jeden Menschen, d.h. nach seinem Systeme jeden Christen auf, sich hinzusetzen, den Heiland so zu zeichnen, wie er sich ihn ungefähr vorstellte, und das Bildnis dann portofrei nach Zürich zu schicken. Konnte den damaligen Gemütsegoismus etwas heftiger anschüren? Nicht nur, daß selbst die kläglichste Zeichnung von Lavater hier als ein Meisterstück der Herzoffenbarung angenommen und die stille Überzeugung genährt wurde, daß zuletzt vor Gottes Thron jeder Pfuscher ein Raphael wäre; sondern hier durfte auch der kleinste unter den Menschen seine Gesichtszüge dem Größesten unter ihnen unterschieben. Wie berechnet war diese Koketterie in einem Zeitalter, wo sich jeder, der einen Brief an einen großen Geist schrieb und sich von ihm einen Vers in sein Stammbuch herauslockte, für eine der inhaltsvollsten Fermaten im Notensatze der Schöpfung hielt! Die Wirkung Lavaters pflanzte sich zunächst fort auf Jakobi, wurde dann durch die Kreise der Fürstin Gallizin unterstützt und bereitete in Deutschland jene prüde, selbstbespiegelnde und empfindsam Tendenz vor, von welcher wir noch immer nicht ganz geheilt sind. Ja man muß sie als ein Glück anerkennen, wenn sie den jetzt grassierenden eben so gemüt- wie geistlosen Pietismus ein wenig beschönigt und ihn hie und da zwingt, wenigstens eine honette und ihres Verstandes nach frohe Gesellschaft zu bilden.

Goethe weidete sich an den Persönlichkeiten, die sich während dieses flüsternden Geisterzuges zuweilen prägnant herausgaben; doch die Tendenz selbst betreffend, zog er es nach seinem launigen Gedichte vor, lieber einen Rheinsalmen zu essen, selbst wenn Lavater, der Prophet, in eigener Person zugegen ist.

Und zur Linken saß ihm in Koblenz die zweite Halbscheid des denkenden und fühlenden Deutschland, der gesunde, trockene und despotische Menschenverstand, die neue Pädagogik, der grimme Basedow.


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