Karl Gutzkow
Die Selbsttaufe
Karl Gutzkow

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5.

Am folgenden Morgen wußte Agathe nun wohl, daß sie mit ihrem Vater eine große Unterredung würde zu bestehen haben. Der Tag ließ sich schon ganz feierlich an. Der Vater stand früher als gewöhnlich auf und blieb länger allein, als er sonst ertragen konnte. Wahrscheinlich schrieb er sich einige Punkte der Rede, die er Agathen zu halten gedachte, auf. Er war in seinen Auseinandersetzungen immer ein umständlicher und wunderlicher Mann. Agathe wußte, wie sehr er ihre gute Mutter mit seinen professorischen Anfällen gequält hatte, wie kränkend der armen, zuletzt leidenden Frau seine Frühpredigten und Mittagsunterhaltungen gewesen waren. Etwas, was er ihr leichthin, mit wenigen Worten und darum doch ebenso nachdrücklich hätte sagen können, sagte er ihr immer wie ein Bruder Redner, wie ein Meister vom Stuhl. Ja, er hatte die Gewohnheit, wenn er über gewisse Fragen recht bedenklich erscheinen wollte, seine Ansichten, die jedoch meist immer Befehle waren, niederzuschreiben, das Papier als Brief zusammenzuschlagen und sie auf den Schreibtisch seiner Gattin legen zu lassen. Die arme Frau hatte einen tödtlichen Schreck, wenn sie eine solche Depesche mit der Aufschrift: An meine Frau! auf ihrem Tische liegen sah. Mit bebender Angst öffnete sie dann immer und lief sogleich zu Wallmuth hinüber, um mit Thränen ihm Alles einzuräumen, was sein Begehren war. Das Monatsgeld, welches er ihr verabfolgte, wickelte er immer in geschriebene Klagen ein, in Vorwürfe über die Ausgaben der Wirthschaft, und oft waren es die Kinder selbst, die in ihrer Schürze der Mutter diese wirklichen Schmerzensgelder hinübertragen mußten.

Trotz dieser Erinnerungen flammte es freudig in Agathen auf, als es hieß, das Fräulein sollte zum Commerzienrath hinüberkommen. Schüchtern trat Agathe bei dem strengen Pedanten ein. Er stand von seinem Lehnstuhl auf, nahm bald die goldene Dose, bald sein seidenes Taschentuch, um damit zu spielen, und fing erst von Kleinigkeiten an, die Agathe beklommen beantwortete. Dann stellte er sich, wie es Redner, die der Anblick ihrer Zuhörer stört, gern hätten, wenn sie ihre Augen schließen dürften, an das Fenster und sprach, indem er zur Straße hinuntersah, Folgendes:

Meine Antwort auf einen deiner letzten Briefe, liebes Kind, hat dir schon zeigen können, daß mein weiches Gemüth deinem Glücke nichts in den Weg legen will. Indessen erheischt die Wichtigkeit der Angelegenheit, daß dabei doch noch manche Punkte von meiner väterlichen Fürsorge erwogen werden. Ein Herz, wie das meinige –

Hier machte eine Anmeldung, die sich Jacob, der Bediente, erlaubte, eine unangenehme Störung. Der unterbrochene Redner verwies jedes Wiederbetreten der Schwelle, bis er selbst klingeln würde. Jacob zog sich zurück, aber der Commerzienrath hätte den Faden seiner Rede sicher verloren, wenn er in solchen Verlegenheiten nicht immer bei sich selbst ihn wieder angeknüpft hätte, und diesmal fand er ihn gerade wieder bei seinem guten Herzen. Ein Herz, wie das meinige, sagte er, will nur das Wohl seiner Kinder. Mein Leben floß nicht immer heiter dahin. Zwar war irdische Sorge, Sorge um des Lebens irdische Güter mir fremd; denn mein Vater hinterließ mir ein wohlgeordnetes Geschäftswesen, eine völlige Freiheit von der trüben Nothwendigkeit, an meinen Erwerb selbst Hand anzulegen. Ich bekam früh von ihm die Aufgabe, nur den Glanz seines Hauses zu mehren und durch den Duft einer feineren Bildung, den Duft jener Farben-, Leder- und Gewürzstoffe zu verscheuchen, welche die Grundlage unseres geschäftlichen Wohlstandes waren. Deine Mutter, ach, ob sie meinen vielleicht geringen Werth zu schätzen verstand?! –

Agathe, von Rührung ergriffen, legte ihren Arm auf seinen Nacken und zeigte ihm das Bild der Verewigten, das über dem Schreibtische hing. Wallmuth, der den feinsten Takt für die Momente hatte, wo die Welt es liebt, daß die Herzen aufthauen, Wallmuth sah das Bild mit feuchten Augen an, ging an einen Schrank und nahm ein Kästchen heraus, das er behutsam öffnete. Das ist der Schmuck deiner seligen Mutter! Ich schenk ihn dir am Tage, wo du dich vermählst!

Agathe sah mit Wonneschauer diese heiligen Reliquien an. Es fiel ihr nicht ein, daß Sidonie am Tage ihrer Vermählung vom Vater Colliers, Bracelets, Brochen, Diademe erhalten, gegen welche dieser alte Schmuck der Mutter armselig war. Es war der Schmuck ihrer Mutter! Diese Bernsteinkorallen an verblaßten gelbseidenen Bändern aufgezogen, diese plumpgefaßten großmächtigen Rubine mit dicken knolligen Perlen schienen ihr unschätzbare Reichthümer. Ein schwarzes Kreuz, das die Mutter auf der Brust getragen hatte, schien ihr ein Amulet. Wallmuth war zufrieden, daß sich der immer genügsame Sinn seiner Tochter auch jetzt nicht verleugnete.

Nun ging er auf Agathens Wahl über und runzelte nachdenklich die Stirn. Mein Sinn hat nie nach Auszeichnungen gestrebt, sagte er, indem er den Schmuck neben jenes Kästchen stellte, welches seine Orden enthielt, und wieder zuschloß, nie hab' ich äußere Vorzüge über den innern Menschenwerth setzen mögen; allein die Nachricht, daß du mir einen völlig unbekannten, eben von der Universität kommenden, noch dazu nicht ganz jungen Mann zu deinem Geliebten machen kannst, hat mich denn doch überrascht. Der Umstand, daß dieser Mann fünf Jahre über seine Universitätszeit hinaus zwecklos an dem Musensitze oder sonstwo verweilen konnte, erscheint mir sehr bedenklich für seine geistigen Fähigkeiten und nur der Zufall, daß Gottfried der Sohn des würdigen Eberlin ist, an dem deine Mutter schon mit kindlicher Verehrung hing, kann mich mit dem, was gegen ihn spricht, aussöhnen. Ich habe mich über Gottfried erkundigt und erfahren, daß er nach vielem Hin- und Herstudiren und verkehrten nichtssagenden Experimenten zu dem Plane, Geistlicher zu werden, zurückgekehrt ist, und das hör' ich gern, besonders deinetwegen! Laß keine unangenehme Erinnerung diese Stunde trüben, Agathe; allein das steht zwischen meiner Wahrheitsliebe und deiner Bescheidenheit fest, daß der Himmel, wie Sidonie einmal in einem ihrer Gedichte von sich sagt, deinem Geiste keine Adlerschwingen gegeben hat. Ich kann mir denken, daß du als die Gattin eines Geistlichen deinen Beruf erfüllst. Auch würde die Landluft deiner Gesundheit wohlthun.

Agathe küßte dem Vater die Hand. Er wollte es aber abwehren, weil er, wie er sagte, noch Bedingungen zu machen hatte, die Agathen nicht erfreulich sein würden. Wann denkst du, daß Ihr Euch verheirathen werdet?

Verheirathen? sagte Agathe. Sie dachte erst an die Liebe, noch nicht an die Ehe. Sie wurde roth, dies Verheirathen lag ihr so fern, war so wenig in den Gefühlen, die sie jetzt bestürmten, ausgesprochen. Der Vater erwartete aber eine Antwort und so sagte sie beklommen: Wenn Gottfried ein Amt hat.

Ich glaube, fiel Wallmuth ein, für ein Amt gutsagen zu können – wenn dein Verlobter die letzten Prüfungen bestanden hat. Wie konnt' er sich diesen überhaupt so lange entziehen! Genug, Agathe, du siehst, daß ich Alles thue, was ein liebender Vater nur vermag. Nur gestatte mir zur Sicherheit deines durch junge Leute nur zu bald gefährdeten Rufes folgende Anordnungen zu treffen: Gottfried wird, wenn er seine Prüfung bestanden hat, ein halbes Jahr auf Reisen gehen. Ich halte dies für nöthig, weil mir ein Mensch, der nicht wenigstens einen Theil der gebildeten Welt gesehen hat, stets die Empfindung macht, als müßt' ihn etwas aus seinem häuslichen Leben hinausdrängen, als würd' ihm durch seine bürgerlichen Pflichten ein Genuß vorenthalten, den Manche vielleicht nie erreichen und darum auch ewig grämeln und namentlich in der Einsamkeit des Landlebens Hypochonder sind. Während dieser Reise schreibst du an Gottfried so viel du willst, jedoch offen, durch mich, als Einlage für die Briefe, die ich selbst an ihn richten werde. Ebenso werden die an dich gerichteten Briefe offen durch meine Hand gehen.

Agathe stand wie vom Donner gerührt. Es regte sich in ihrem duldenden Gemüthe fast etwas wie Einspruch, wie Widerstand. Als aber der Vater die Schatulle öffnete und eine Rolle mit dreihundert Dukaten herauszog mit dem Bemerken, daß er diese Summe seinem künftigen Schwiegersohne zum Behufe jener Bildungsreise zu schenken beabsichtige, erstarrte sie so vor Schreck über diese an ihrem Vater, ihr gegenüber, wunderbar seltene Großmuth, über diese zwar aller Welt bekannte, ihr jedoch noch nie erwiesene Freigebigkeit, daß sie sich an seine Brust warf und ihren Dank mit Worten aussprach, die in ihrer schluchzenden Stimme erstickten. Wallmuth hielt immer Stand, wenn man ihn in einem großen und blendenden Lichte betrachten konnte. So dazustehen, im Widerschein einer großen That, angeleuchtet vom Verklärungsschimmer einer edeln Handlung; er war Meister in diesen Attitüden. Auch verstand er bei solchen Momenten passend abzubrechen, ihren Effekt nicht durch Alltäglichkeiten wieder zu vernichten. Mit einer sanften Handbewegung entließ er Agathen, die mehr schwebend, als gehend in ihr Zimmer zurückkehrte.

So hatte sie denn nun das, was ihr so viel Furcht und Beklommenheit eingeflößt hatte, hinter sich. Sie hatte des Vaters, wenn auch sehr bedingte doch wiederholt zusagende Beistimmung und fühlte sich besonders glücklich in dem Gedanken, daß Gottfried durch sie nun schon etwas höchst Erfreuliches gewonnen hatte, die Aussicht und die Mittel zu einer Reise, die ihn zwar örtlich von ihr entfernen, ihn aber geistig ihr nur näher bringen konnte. Denn was würde sie nun von ihm noch Alles hören, erfahren und lernen können, sagte sie sich und gedachte mit Wehmuth, daß sie ihm und er ihr nur schreiben sollten in gestörter Vertraulichkeit, im beklemmenden Dreibunde mit dem Vater oder gar mit der Schwester, die nun Alles prüfen und bekritteln würden, was sie beide Liebende sich zu sagen hätten! In einem Briefe, den sie nach der Unterredung sogleich an ihren fernen Geliebten aufsetzte, sprach sie auch unverhohlen, obgleich in mildester Form, die Betrübniß aus, ihm noch nicht ganz so gehören zu können, wie sie sich's in Schönlinde unter dem Nußbaum gedacht hätten! Auch von der Reise sprach sie und der dreihundert Dukaten that sie so zart als möglich, aber doch tröstend und nicht ohne einen kleinen geschmeichelten Stolz Erwähnung. Der Vater las diesen Brief, gab ihm in den Hauptsachen seine allerhöchste Billigung und sandte ihn, mit seinem Petschaft versiegelt, zur Post.

Im Uebrigen entrollte sich für Agathen nun wieder der Kreislauf ihrer alten Pflichten. Sie war des Hauswesens vielbeschäftigte Leiterin. Ein großer Korb mit Schlüsseln war ihr Scepter. Aus diesem wurde bald diese bald jene Vorrathskammer geöffnet. Es hatte sich so Vieles aufgehäuft, was jetzt durch ihre Rückkunft erledigt werden mußte. Auch Sidoniens Wäsche wurde in den großen Waschkellern des väterlichen Hauses besorgt. Agathe war es, die der Schwester zu ihren gelehrten Diners die weißen Tischtücher und Servietten lieferte. Gab der Vater selbst Gesellschaft, so hatte sie ihre Noth. Es wandelte sie immer förmlich ein Schwindel an, wenn es hieß, ich will heute einige Gäste sehen. Denn es war schwer, richtiger gesagt, unmöglich, seine Anforderungen zu befriedigen. Agathe saß natürlich an der Tafel, sollte auch mitsprechen, aber ihre Gedanken durften dabei nur in der Küche, im Vorzimmer sein. Aufzustehen und selbst nachzusehen wäre unpassend gewesen und doch zitterte sie bei der kleinsten Lücke, die sich bemerkbar machte, bei der kürzesten Pause, die einmal eintreten konnte. Der Vater war im Gespräch mit seinen Gästen ganz Liebenswürdigkeit, ganz Gemüth und Großmuth; sie wußte aber nur zu gut, daß er seine Rolle wie ein Künstler spielte. Sie empfand diese jeweiligen finstern Blicke, die mitten in einer pikanten Anekdote, die er vortrug, zu ihr hinüberschossen und sie tief durchbohrten. Die Gesellschaft trennte sich immer auf das Angenehmste angeregt und Niemand ahnte, wie schwierig es war, eine solche Anregung zu veranstalten. Niemand wußte, daß am Tisch ein Wesen saß, das mitten in den Scherzen, mitten in dem heitern Lachen zitterte. Niemand wußte, daß, nachdem der Kaffee genommen war, über dies Haus, über diese Säle eine plötzliche Todtenstille kam und derselbe Mensch, der eben die Gefälligkeit und urbane Weltlaune selbst war, wie im Handumwenden abstoßend, bitter und verletzend sein konnte. War Alles gut und recht? fragte Agathe schüchtern den plötzlich mislaunigen Mann. Selten, daß er nichts zu tadeln gefunden hätte, selten, daß er, während er sich noch die Zähne stocherte, seinem Kinde ein Wort der Ermunterung in jenem Tone gesagt hätte, mit welchem er eben erst seine Gesellschaft bezaubert hatte. Wenn auch Alles tadellos von Statten gegangen war, eines konnte ja Agathe doch nicht verhindern, die Schalheit, die nach dem Genusse eintritt, das Gefühl der Uebersättigung, den Zorn, daß man alt wird, die Verzweiflung, daß man von diesem heitern geist- und trüffelreichen Leben doch scheiden müsse, scheiden und wie bald scheiden! Agathe war schon glücklich, wenn der Vater schwieg und er auf die Frage: War Alles gut? die Antwort ganz vermeidend, erwiederte: Ich will in den Club fahren.

Agathe trug mit Engelsgeduld. Sie fühlte kaum das Verletzende. Sie war seit ihrer frühesten Jugend an Zurücksetzung gewöhnt. Ihre Schwester war es, die das ganze Herz der Eltern, auch der Mutter, die Agathe so liebte, besessen hatte. Sidonie verheirathete sich früh und glänzend, glänzte selbst durch ihre Schönheit, ihren Geist, ihre bezaubernde Liebenswürdigkeit. Agathe war klein, nicht schön; gewöhnlich, nicht auffallend. Früh nahm ihre Liebe die dienende Gestalt an, früh beugte sie ihren Nacken unter den Fuß der Tyrannei. Wie hätte sie nicht dienen sollen einer Mutter, die sie anbetete, dienen einem Vater, der so ernst, so wichtig, so gefürchtet war? Betrete nur Einer mit bescheidener Ehrfurcht den Weg der Pflichten und Mühen, die Schlinge ist ihm bald umgeworfen und läßt ihn nicht wieder los. Agathe machte keine Ansprüche, nicht einmal an die Herzen der Ihrigen. Sie war von ihrer Liebe so überzeugt, so sicher, daß sie die Quelle unfreundlicher Behandlung nur in sich, in eigener Mangelhaftigkeit suchte. Sie sah doch, wie sehr sie gegen die Uebrigen zurückblieb, wie konnte sie murren, daß man sie nicht hervorzog? Ihr noch so junges Leben war eine Dornenkette von Zurücksetzungen aller Art. Oeffentlich zwar nie verleugnet, nie vom Vater oder der Schwester mit einer Ungunst behandelt, die der Welt hätte auffallen können, entging ihr doch jede Auszeichnung, jede Freude. Wenn die Schwester im Salon glänzte, mußte sie im Nebenzimmer den Thee machen. Die schlechtesten Plätze im Wagen, im Theater waren immer auch die ihrigen. Oft war bei Landpartien die Zahl der Mitfahrenden so übel ausgerechnet, daß nothwendig Einer zurückbleiben mußte. Wer blieb zurück? Agathe. Und sie murrte nicht einmal darüber. Sie fand das in der Ordnung, ja an den Triumphen ihrer Schwester hatte sie ihr eignes Vergnügen. Sie half sie schmücken, sie entsagte Einladungen, wenn sie die Zeit nicht finden konnte, außer ihrer Schwester sich selbst zu putzen. Agathe hatte trotz ihrer leidenden Gestalt, trotz ihrer schwachen Brust eine melodische Stimme und viel Gehör für die Musik. Da Sidonien beides fehlte, so wurde auch Agathens Talent unterdrückt. Es hätte das ihren Uebungen zu viel Effekt für die Nachbarschaft, ihren Leistungen im Salon zuviel Widerschein auf sie selbst gegeben. Und das Alles geschah wirklich nicht absichtlich. Wahrlich nein, es geschah nicht absichtlich. Niemand wollte sie kränken, Sidonie liebkoste sie sogar, wenn sie allein waren; von selbst verstand sich das Alles, von selbst! Es war wie bei den Rollenaustheilungen, wenn Sidonie im Winter dramatische Leseabende veranstaltete. Die ganze Gesellschaft würde gelacht haben, wenn man Hamlet las und Einer sich hätte einfallen lassen, die Rolle der Ophelia Agathen zuzutheilen. Ophelia konnte nur Frau von Büren sein, obgleich diese Frau bei all ihrem Geist, all ihrer Genialität, all ihrem poetischen Vermögen die Rolle der Ophelia lange nicht so vollkommen las, wie sie vielleicht die einfache, geknickte Agathe mit ihrer kindlichen Stimme würde gelesen haben. Diese bekam immer nur Pagen, Kammerfrauen oder mußte, wenn das männliche Personal nicht ausreichte, sich zur Aushülfe für Verschworne und Mörder im Trauerspiel oder Bediente und Bauernbursche im Lustspiel hergeben, wo sie denn statt Beifall natürlich nur Lachen ernten konnte.

Alle diese Verhältnisse hatten seit Agathens Rückkehr von Schönlinde nicht etwa aufgehört, sondern blieben, wie sie waren. Ihre Liebe konnte am wenigsten dazu beitragen, ihre Stellung zu heben. Im Gegentheil drückte dies unebenbürtige Verhältniß sie nur noch mehr herab. Sie hatte sich mit einem Geliebten, der Gottfried hieß, die letzte Anlehnung an ihre Geburt, ihre Erziehung und Verwandtschaft genommen. Sie hatte sich in dieser Neigung förmlich die Sphäre selbst angewiesen, welcher sie anzugehören wünschte. Und trotz dieser ironischen Nachfrage ihrer Schwester, trotz dieses ewigen Selbstlobes ihres Vaters, der sich durch die Duldung einer solchen Neigung Wunder wie großer Philosoph dünkte, trotz dieser Nichtachtung ihres Juwels, schloß sie ihn tief in ihr Herz ein und bewahrte ihm eine heilige, treue Liebe. Sie gab Alles auf, Eines besaß sie, dieses Herz eines Mannes. Man mochte ihr nehmen Ehre, Auszeichnung, Freude, was war das Alles gegen das, was sie besaß! Fast stolz trug sie ihr demüthiges Haupt und dünkte sich groß in ihrer Erniedrigung.

Wie entsetzt mußte sie daher sein, als eines frühen Morgens ihr Vater, noch in Schlafrock und Pantoffeln, in ihr Zimmer trat! Dunkelroth vor Zorn streckte er ihr einen offenen Brief entgegen, den er zerknickt in der beringten Hand hielt. Dieser Elende! war Alles, was er im ersten Ausbruch seines Zornes sagen konnte. Agathe, von einer schrecklichen Ahnung ergriffen, nahm den Brief. Er war von Gottfried. Unfähig, ihn zu lesen, eingedenk des väterlichen Verbotes, blickte sie den entrüsteten Mann starr an und erwartete in bebender Todesangst, blaß und wesenlos, was die Ursache dieses entsetzlichen Zornes wäre. Das zu wagen, schrie Wallmuth, das zu wagen! Mir gegenüber! Diese Schamlosigkeit! Ein Bettler mir diesen Trotz! Ein Nichts, das sich aufbläht wider mich, wider mich! Unter Agathen wankte der Boden, sie wußte nicht, woran sie sich halten sollte, und wankte mit dem Ausrufe des kläglichsten, mitleidswürdigsten Schmerzes auf den Sessel. Lies, was er schreibt! sagte Wallmuth. Da aber Agathe sich kaum zu sammeln vermochte, polterte er den Inhalt des Briefes mit den Worten heraus: Vorwürfe macht er dir, daß du eine Liebe so entweihen und sie nur durch dritte Hand könntest pflegen wollen, Vorwürfe mir, daß ich mich zum Vertrauten eines Bundes aufwürfe, den ich ja gebilligt hätte und den die Mitwissenschaft eines Dritten nur zu einer unwahren Komödie herabwürdigen könne! Den Vorschlag einer Reise weist er von der Hand, weil ihn die Welt nur zerstreuen würde, und selbst wenn er reiste, schließt er, würd' er doch lieber zu Fuß wandern, als mit einem Stipendium, das er sich nicht selbst verdient hätte! Agathe fand blitzschnell heraus, daß es hier für sie nichts zu fürchten gab, sie sah nur den Vater, den jetzt kreideweiß vor Ingrimm sich färbenden stolzen Mann, der nie gewohnt war, in seinen allerhöchsten Anordnungen sich stören zu lassen, der allenfalls im äußersten Falle da Widerspruch ertragen konnte, wo er von Andern etwas forderte, da aber, wo er gab und den edeln Mann entwickelte, verletzt worden zu sein, nimmermehr vergeben konnte. Wie er so stand und sie mit Basiliskenblick durchbohrte, fiel sie vor ihm zu Füßen und flehte um Nachsicht, um Schonung, um Vergebung. Wer ist denn dieser Mensch, war die vernichtende Antwort, daß er sich gegen einen Mann aufzulehnen wagt, der sich so tief herabgelassen hat, wie ich mich gegen ihn? Das der Dank für meine unendliche Liebe und Güte, für ein Vaterherz wie das meinige, für eine Handlung, die in der Gesellschaft ihres Gleichen sucht? Agathe bot Alles auf, ihn zu beruhigen. Ihre Zunge beflügelte sich. Sie versprach, dem Geliebten seinen Irrthum vorzuhalten, sie bedeckte die Hände des verletzten Mannes mit Küssen, mit Thränen. Alles das war ihm widerlich. Er stieß sie von sich. Er zerriß den Brief und warf die Fetzen auf die Erde, zertrat sie und schied mit den Worten: Die kleinste Zeile, die du ihm ohne mein Wissen zukommen zu lassen wagst, ist dein Unglück, dein Verderben!

Die Thür war zugeworfen. Agathe war allein, auf den Knien, in Verzweiflung die Hände ringend. Sie war wie ohnmächtig. Sie verstand das nicht. Das konnte sie nicht geduldig hinnehmen, das mußte erklärt, zusammengesetzt, das mußte erst ganz verstanden werden, um es nur tragen zu können. Sie erhob sich nur langsam, besann sich und stöhnte sich in Seufzern aus, die erst nach und nach in milden Thränen sich beruhigten. Es war ein endloses Weinen, wie milder Mairegen. Lange, lange währte das. Es war soviel, was aus der Erinnerung in diese Schmerzen hineinströmte. Sie sah nun doch, daß sie unglücklich war. Sie fühlte es tief und unheilbar. Die Fetzen des Briefes lagen auf der Erde. Sie sammelte sie und versuchte, sie zusammenzusetzen. Sie konnte deutlich lesen, was den Vater so empört hatte. Wohl hatte er geschrieben, was sie schon hören mußte. Offene Briefe an eine Geliebte, sagte der junge Mann, sind Diogeneslaternen am Tage! Die dreihundert Dukaten hatten ihn wirklich verletzt. Sie sann darüber nach und konnte seine Stimmung nicht ganz begreifen. Sie war zu sehr daran gewöhnt, die großmüthigen Regungen ihres Vaters zu bewundern, sie fand im Grunde doch auch in dem Befehl, daß der Briefwechsel durch den Vater sollte geführt werden, nichts als das Privilegium väterlicher Macht und Würde. Daß Wallmuth etwas Anderes dabei bezweckte, ahnte sie nicht. Sie war nicht scharfsichtig genug, die eitle Natur ihres Vaters ganz zu durchschauen und in jenem Befehle die eigentliche, im unverbesserlichen Egoismus entspringende Quelle zu entdecken. Bei allem dabei sein, bei allem der Mittelpunkt, in jeder Gruppe die Hauptperson spielen, das war die Rolle, die er immer haben wollte. Durch ihn, mit ihm, von ihm – Alles. Ohne ihn aber Nichts! Eine solche Natur zu ergründen lag Agathen fern. Sie sah nur Liebe in seinen Handlungen, väterliche Fürsorge in seinen Befehlen und hätte auch nimmer gewagt, dagegen irgend einen Einspruch zu thun.

Die lieben Schriftzüge in der Briefmosaik, die vor ihr lag, sprachen sie so traulich an. Wie gern hätte sie geantwortet! Wie gern den Geliebten von seinem Irrthum, wie gern ihn von seinem verletzten Ehrgeize zurückgebracht! Es war ihr verboten worden. Es regte sich ein Eva-Gelüsten in ihr. Sie dachte, wenn ich ihm nun doch schriebe, und wie sie's gedacht hatte, setzte sie sich hin, schrieb einen langen rührenden Brief voll Versöhnung und guter freundlicher Zurede; aber den Brief abschicken? Das wagte sie nicht. Aber zum Vater ging sie damit und zeigte ihm diese Antwort. Er las sie, verzog dabei nicht eine Miene und zerriß auch diese Antwort. Ich allein werde antworten, sagte er kalt und indem er ihr wiederholt das Verbot, in irgend einer Art sich mit Gottfried in Verbindung zu setzen, einschärfte, wies er sie aus seinem Zimmer.

Agathe verlebte nun Tage des tiefsten Elends. Ihrer Schwester sich zu entdecken, wagte sie nicht; denn sie war gewohnt, in Dingen, die ihren Vater ganz in Anspruch nahmen, keinen Schritt vor- oder rückwärts zu thun. Seit Jahren hatte Wallmuth seine Familie gewöhnt, sich in solchen Haupt- und Staatsactionen nicht zu rücken und zu rühren, sondern Alles, was dabei zu thun oder zu lassen war, seiner Weisheit anheimzustellen. Auch sah sie die Schwester seltener als je. Es schien ihr, als hätte auch sie ihre Leiden, Leiden anderer, höherer Natur. So weit sie sich in Sidonien vertiefen konnte, merkte sie wohl, daß auch diese sich nicht glücklich fühlte; wahrscheinlich, weil sie zu glücklich war oder in dem Gewühl von Zerstreuung sich gelangweilt, unter ihren zahllosen Bekanntschaften sich einsam, unter den auffallendsten Huldigungen sich ohne Liebe fühlte. Und um Agathens Qual zu mehren, ein Tag verging nach dem andern, ohne daß von dem Geliebten eine Nachricht kam. Sie merkt' es dem Vater an, daß auch er ohne Antwort blieb. Wochen vergingen. Sie schlich wie ein Schatten. In ihre Wangen trat wieder zuweilen jene Röthe, die der Hofmedicus durch die mißlungene Molkenkur hatte vertreiben wollen. Oft sagte sie sich: Auch das Letzte, das Letzte hat man mir geraubt! Dann sprang sie aber auf und rief: Nein, das ist nicht möglich, das nicht, ich ertrüg' es nicht!

Ein Monat war vergangen. Keine Kunde von dem Manne, an dem ihr Herz hing. Der Vater, der seinen Zorn, ohne Antwort zu bleiben, nur an ihr auslassen konnte, würdigte sie keines Wortes, keines Blickes mehr. Die Schwester erklärte sich auch für krank und zog sich ganz zurück. Harriet wurde in eine Pension geschickt. Agathe war ein Bild des Leidens und rührte doch Niemanden, da sie sich Niemanden entdecken konnte, ja durch ihre Lage gezwungen war, sich jenen häuslichen Geschäften hinzugeben, welche über das tiefste Elend den Schein einer befriedigten und gleichgültigen Alltäglichkeit lügen können. So nahte der Spätsommer und mit ihm der Todestag ihrer Mutter. Sie wollte das Grab der Verewigten besuchen und dort auf dem grünen Rasen sich einmal von Herzen ausweinen.

Mit Mühe erübrigte sie sich einige Morgenstunden. Aus dem Kunstgarten des Vaters, der an schmerzliche Begebnisse nicht erinnert zu werden wünschte, nahm sie einige Lieblingsblumenstöcke der Mutter mit und setzte sich in einen Fiaker, der sie vors Thor an die Friedhöfe führte. Diese »stillen« Plätze lagen dicht an der großen Heerstraße, waren aber tief genug, um dem Geräusch der Welt doch die liebende Betrachtung und verehrende Erinnerung etwas zu entziehen. Agathe sah mit Wehmuth, daß die Blätter sich schon gelb färbten. Sie gedachte des Frühlings, in dem sie gekeimt waren, dieses einzigen Frühlings, der nun auch für sie sich entfärben sollte. Sie fühlte einen Schmerz wie noch nie. Langsam stieg sie an der Pforte des Friedhofes aus dem Wagen und ließ sich von dem Kutscher die Blumenstöcke nachgeben, sich von ihm das schwarze, an den Spitzen vergoldete Eisengitter öffnen und trug ihre Bürde selbst den wohlbekannten Weg hinauf bis zur Schlummerstätte der Mutter. Hierher war sie so oft gepilgert in frühern Tagen und hatte ihre stillen Klagen mitgenommen, nicht um sie hier auf dem grünen Hügel niederzulegen und anzubringen – Vorwürfe waren ihr fern – sondern nur, um da, der Mutter näher, gewesen zu sein. Sie kehrte immer so gekräftigt wieder! Ach, sie brauchte jetzt diese Kraft aus der Geisterwelt, sie brauchte diesen Trost von Jenseit, der so sanft erhebt, so lind uns zuruft: Trage, dulde, hoffe! Indem sie so weiter schritt, bot sich ihrem Auge ein sonderbar störender Anblick. Sie war in der Gegend des theuern Grabes und entdeckte einen Wirrwarr von Steinen und Arbeitern. Was sollte der hier? Sie suchte das Grab, sie fand seine Stelle, aber der grüne Hügel war niedergetreten; die Arbeiter hatten ihre Kleider darauf geworfen. O mein Himmel, rief sie, was geschieht hier! Indem erblickte sie auch schon den Todtengräber, der ein wenig weiterhin arbeitete, lüftete sein Käppchen und näherte sich der zum Tod Erschrockenen. O mein Fräulein, sagte der Alte, was sind Sie so lange ausgeblieben! Was hab' ich Sie vermißt, die fleißigste Kirchhofgängerin der Stadt! Ja sehen Sie da! Ihr Herr Vater hat es groß im Sinn mit seiner Seligen! Die Spate des Gärtners verdrängt der Meißel des Steinmetzen. Es wird ein prächtiges Monument geben, aber recht kalt, recht hart!

So wurde jetzt die Idee ausgeführt, von der Wallmuth gleich im ersten Schmerz gesprochen hatte, als er seine Gattin verlor. Jahre waren darüber hingegangen. Nun war das marmorne Mausoleum in Arbeit. Die Unordnung machte ihr einen trostlosen Anblick. Es war ihr, als wären die theuern Gebeine in ihrem Frieden gestört. Sie mußte diesen Anblick fliehen, es preßte ihr das Herz ab, auch hier sich nicht mehr heimisch fühlen zu können. Dieses weiche schwellende Gras war zertreten. Marmorplatten sollten hier künftig von der Geschiedenen reden – auch hier mußte sie sich einsam und arm erscheinen? Traurig nahm sie ihre Blumen und ließ sie auf einem Nachbargrabe stehen. Es war der Hügel eines hoffnungsvollen jungen Mädchens, das der Sturm in der Blüte knickte. Der alte Gärtner sagte ihr's, als er den Almosen in Empfang nahm, den er erst ausschlug, dann aber von ihr nehmen mußte, weil ihre Schuld es ja nicht war, daß das weiche Gras vom Marmor verdrängt wurde.

In Thränen aufgelöst wankte Agathe zur Pforte zurück. Es machte ihr zu großen Schmerz, sich auch von hier verscheucht zu sehen. Diesen Hügel hatte sie so lieb gehabt! Er war ihr ganzes Eigenthum, ihr Asyl, ihre Trostesstätte. Nun war ihr auch das genommen. Es beugte sie zu tief. Es zog sie zu schwer herab. Sie mußte sich halten, um nicht zu sinken, und sank auf eine steinerne Bank, die eine Trauerweide beschattete. Da saß sie wohl eine halbe Stunde und betete still zum Geist ihrer Mutter und bat sie, sie hinüberzunehmen in ihr stilles Reich. Wer sie sah, hätte glauben mögen, sie beweinte einen eben erst begrabenen Todten. Und war ihr nicht eben erst ein frisches, freudiges Leben abgeschieden? Fehlte ihr denn mehr, als nur noch ein schwarzes Trauerkleid? Hier hatte sie Trost gehofft. Sie schied ohne Trost, durchwühlt von einem Schmerz, der ihr die Worte entlockte: Vergebens! Vergebens!

Indeß schweifte ihr Blick in die Weite hinaus. Der Friedhof stieg empor und die Bank, auf der Agathe saß, mußte es möglich machen, daß man von ihr über die niedrige Mauer hinweg auf die Landstraße sehen konnte. Erst verfolgte Agathe die Gegenstände, die sich dort ihrem Blick darboten, gedankenlos. Dann zogen die Markt- und Fuhrleute, die Wanderer und Reiter sie lebhafter an. Das bunte Leben zerstreute sie. Sie konnte die Landstraße bis weit hinunter übersehen. Da fiel ihr in der Ferne ein Strohhut auf mit breitem Rande und einer grünen Schleife daran. Sie hatte in Schönlinde dem Geliebten eine solche Schleife an den Hut genäht. Auch der weiße Staubmantel des fernen Wanderers fiel ihr auf. Er trug grüne Bänder auf den Achseln, wie sie Gottfried auch solche auf sein Reisekleid genäht hatte. Sie stand bewegt auf. Der Wanderer kam immer näher. Gang, Haltung waren ihr so bekannt. Sie mußte sich an einen Denkstein halten, so schwindelten ihr die Sinne. Der Wanderer trug einen leichten Ranzen auf dem Rücken. Das war keine gewöhnliche Erscheinung, kein gewöhnlicher Wanderer. Bald trat er in der Allee licht heraus, bald fielen verdunkelnd die gelben Schatten der Kastanienbäume auf ihn. Nun aber wurde er immer kenntlicher, immer sichtbarer, Agathens Herz pochte, sie sah, sie sah, es war kein Zweifel – der Wanderer war ihr Geliebter – und mit dem Gedanken: die Mutter sendet ihn mir! stürzte sie hinunter, die leichte Anhöhe, riß das schwere Eisengitter auf und lag in des überraschten Fremden zögernden Armen. Der junge Mann war todtenblaß vor Schreck, entsetzte sich auch über den Hintergrund dieses Wiedersehens, den Kirchhof, den er an seinen Kreuzen und Hügeln sogleich erkennen mußte, war aber selbst so bewegt und ergriffen von Agathens Freude, daß es wohl Secunden währte, bis er sich sammeln und die stürmischen Fragen der nun nach allem Leid so überglücklichen Agathe beantworten konnte.


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