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VI

»Eben habe ich ›Spiridion‹ von George Sand beendigt«, begann der Landrat zu lesen. Bei Spiridion schon, das er mehr buchstabierte als las, unterbrach er sich: »Wer ist ›Spiridion‹? Was ist das für ein ›Spiridion‹?« August schwieg. Der Landrat zog die Brille, die er hatte aufsetzen müssen, mehr auf den Nasenrücken herunter und fuhr fort: »Beendigt – und noch bebt es geisterhaft in mir nach, und in allem, was ich tot und leblos vor mir sehe, scheint sich mir's lebendig zu regen, und die Bäume nehmen Gestalt an, und die Berge schütteln ihre Häupter wie schweigende ernste Riesen der Vorzeit, die nicht begreifen können, was sich hier in diesem grünen Tal begibt.«

Hier klopfte es an die Tür. Ärgerlich rief der Landrat: »Hinaus!« Aber Fritze steckte schon den Kopf ins Zimmer und fragte, mit sichtlicher Verstimmung auf den Grafen schielend: »Herr Landrat, Ihr Abendtrunk?« Und statt eine Antwort abzuwarten, stand schon Andres mit einer Bowle Punsch in der Tür. »Es ist jetzt meine Gewohnheit«, sagte der Landrat entschuldigend zu August, »abends ein paar Gläser vor Schlafengehen. Setz Er's nur hin, Andres, und hinaus!«

Fritze zögerte. Der Landrat sah sich daher genötigt, energischer zu reden, und rief in dem bekannten Gendarmenlatein: »Fritze, Paschol!«

»Paschol«, soviel als »packe dich!« wurde von Fritze wohl verstanden. August aber hielt ihn zurück und sagte: »Da Sie jetzt von den hiesigen Vorfallenheiten mehr wissen, als nötig ist, so können Sie Erkundigungen einziehen, wie und wohin sich die Tochter, des Herrn Landrats entfernt hat.«

»Gräfin Imagina von Wartenberg!« ergänzte der Landrat.

Fritze sagte ruhig: »Spur haben wir schon. Das Kloster drei Stunden von hier!«

»Na ja! Da haben wir's! Wo freilich auch sonst!« Der Landrat atmete schwer und entließ den Arm der Gerechtigkeit mit Wendungen der Kochemer- Gaunersprache oder Diebssprache, die soviel sagen sollten als: »Vorsichtig und mit Anstand Erkundigungen eingezogen!«

Der Landrat prüfte den Punsch. Sein Schwiegersohn lehnte ein Glas, das ihm angeboten wurde, mit einer betrübt verneinenden Gebärde ab und ließ seine Blicke bald gedankenlos in das Licht der Lampe, bald sinnend auf Feodorens Brief gleiten, den er in der Hand zerknitterte.

»Wer bürgt mir denn«, fuhr der Landrat in den Blättchen zu lesen fort, »daß dieser unförmliche Weidenstamm drüben an dem rauschenden Bache nicht in der Tat eine Verzauberung ist? Sieht er mich denn nicht im Mondschein oft so stumm beredsam, so feierlich fragend an, als wollte er von meinem Munde das erlösende Wort hören, das sein müdes Haupt endlich zur Ruhe bestattete?«

»Der alte Weidenstamm?« unterbrach sich der Landrat etwas verdutzt.

»Bitte«, bemerkte August, »lassen Sie diese Lektüre, die zu nichts fruchtet. Das, wovor man zu erröten hat, wird niemand dem Papiere anvertrauen.«

»Da irren Sie sich! Aus meiner Praxis könnte ich Ihnen ganz andere Fälle anführen. Aber das seh ich wohl, der alte Weidenbaum hat nichts, was mein Kind graviert oder Verdacht erweckt. Aber hier, fuhr er weiter lesend fort, hier – aha! da kommen Namen – Schloßruine – Picknick – Otto von Sudburg – Kennen Sie einen Otto von Sudburg?«

August horchte hoch auf und fragte: »Otto von Sudburg?« Der Landrat, kleinlaut über des Grafen Spannung, aber begeistert von einem fanatischen Gerechtigkeitsgefühl gegen jedermann, und wäre es auf Kosten seines eigenen Blutes, legte sich das Blatt zurecht und las: »Wenn wir nun alle gebunden wären an Bäume, Blumen, Steine? Wenn Erinnerung, volle, bewußte Erinnerung unsere künftige Seligkeit wäre und wir auf dieser Erde nur trachten sollten, unserm Ursprunge in der Heimlichkeit der Seele nachzusinnen und dann beruhigt sterben könnten, wenn wir wissen, von wannen wir stammen? Bei diesem prosaischen Picknick auf der poetischen Schloßruine mußte ich dich wiedersehen, Otto von Sudburg (so nennt dich das Fremdenblatt, aber ein Gedicht dir weihend, würde ich dich Elpenor nennen oder Prinz Wismut, um doch die volle Wahrheit zu sagen) ...« – »Prinz Wismut – Elpenor?« unterbrach sich der Landrat, aber August drängte: »Lesen Sie doch; ich kenne einen Sudburg!« Der Landrat, immer kleinlauter, las: »Mußt ich dich wiedersehen, nach fünfjähriger Trennung, du blasser Elfensohn, ganz so geisterhaft schmerzlich wie damals, als ich dich zum ersten Male in den Bergen und dann in Breslau erblickte!« August richtete sich auf: »Otto von Sudburg hat in Breslau studiert – ich kenne ihn«, stammelte er: »das ist ja unerhört – noch eine andere, frühere Geschichte –! Herr Landrat, Sie sehen, mit wem man mich verheiratet hat!« – »Ruhe! Ruhe!« stammelte Herr von Unruh, und als ihm August die Blätter entreißen wollte, ließ er es nicht zu, sondern faßte sich zu fernerm würdigen Vortrage.

»Hier steht«, sagte der bekümmerte Vater, dem sich die Augen umflorten, »hier steht: ›Wie damals, als ich dich zum ersten Male in den Bergen und dann in Breslau erblickte.‹ Wie fassen Sie das?«

»Es ist eine Universitäts- und Pensionsbekanntschaft, die sich ohne Zweifel schon in Bischofswalde, im Gebirg angeknüpft hat!« sagte sein Schwiegersohn.

Der Vater, der wohl wußte, daß Breslauer Studenten sehr oft seinen gebirgigen Landratsbezirk besuchten, bereitete sich im stillen auf ein furchtbares Gewitter für Madam Milde, die Erzieherin, vor. Inzwischen las er weiter: »Wie dieser erste Jugendeindruck so plötzlich in Baden erscheint ...« – »Er machte allgemeines Aufsehen«, unterbrach August den Vater. »Wie ich ihn an die Höhle«, las dieser, »an den Kreis seines ursprünglich ihm bestimmten Wirkens klopfen sah, als wollte er rufen: ›Erde, tue dich auf.‹« August schaltete ein: »Sie müssen wissen, dieser Sudburg studierte vor fünf Jahren in Breslau Mineralogie!« – »Wie ich den Sohn der Metalle angezogen erblickt an den teuflischen grünen Tisch ...« – »Ja«, ergänzte August, »daß dieser Sudburg ein unverbesserlicher Spieler ist, steht fest!« – »Wie ich gedachte, daß sieben Bürgen um dich ...« – »Sieben Bürgen!« unterbrach August und wollte dem Landrat das Papier entreißen. Dieser hielt aber fest und fragte, ob das auch zuträfe? Der jetzt von Eifersucht Gepeinigte schwieg eine Weile, um sich zu sammeln. Dem Landrat kehrte sich das Herz in seiner bei alledem teilnehmenden Vaterbrust um – sein Punsch wurde kalt, ein Frösteln rieselte durch seine Glieder. Er mußte Andres rufen, um im Ofen das Feuer zu schüren. Dadurch trat eine Stärkung des Gemüts ein, und August erklärte seinen erneuerten Schrecken: »Otto von Sudburg gehört zu einem alten Geschlechte ausgewanderter erzgebirgischer Ansiedler, die sich in Siebenbürgen niederließen. Er studierte in Breslau Mineralogie, um sich für den praktischen Bergbau vorzubereiten. Später erfuhr ich nichts mehr von ihm, als daß er im Auftrag seiner heimatlichen Regierung als Berggeschworner reist, um sich für die Markscheidekunst die neuen Erfindungen anzueignen. Er hat sich in London und Paris länger aufgehalten, als für seine Moralität vorteilhaft war. Wenigstens in Baden-Baden zeigte er sich als einen der unerschütterlichsten Spieler, der sich selten in der frohsinnigen und heitern Gesellschaft erblicken ließ!« – »Haben Sie ihn oft im Umgang mit Imagina gesehen?« – »Mit meiner Frau? Niemals! Kaum daß er ein flüchtiges Kompliment mit ihr gewechselt hat!«

Des Vaters Augen umflorten sich immer mehr. Sein Gerechtigkeitssinn war ihm so heilig, daß er mit Rührung sagte: »Armer Gatte! Lesen Sie selbst!« August ergriff die Fortsetzung der Blätter und las, während es im Ofen durch das neuhinzugelegte Holz polterte und knisterte und sich der Landrat feierlich erhob und mit Wehmut die Bowle auf den Ofen trug, um den Inhalt wieder zu erwärmen. – »Wer kann mich verdammen«, hieß es in den Blättern, »wenn ich an eine tiefe, heilige, über das Irdische hinausgehende Beziehung zu diesem Einzigen glaube, der dich anzieht und der in diesem Tale dich doch am wenigsten zu kennen scheint! Und doch täusche ich mich, wenn ich bei dem Wiedersehen auf der Schloßruine auch in seinem Auge etwas liegen fand, das da sagte: Du kennst das Geheimnis meines Lebens, du weißt, was mich hierher führte und warum ich diese Erde noch nicht lassen darf?«

»Freilich, freilich«, erläuterte der Landrat, indem er den steigenden Wärmegrad des Punsches untersuchte, »freilich sollte der Herumtreiber als Berggeschworner längst hundert Klafter unter der Erde sein, was sein Beruf mit sich bringt!«

August las: »Ich weile oben, sagte mir sein trüber Blick, bis meine Stunde kommt, und ich fürchte, sie wird nicht zur Freude meines Vaters sein!«

»Oh, gewiß nicht!« meinte der Landrat, eine Träne im Auge zerdrückend. »Sein Vater wird schöne Freude an ihm haben!«

»Ich gedachte der Worte, die einst Sudburg in den Bergen hören mußte, ich gedachte, wie er damals auszog in die Welt und wie ich ihn in Breslau wiedersah. Er ist voller, männlicher geworden, aber an seinem Innern nagt ein tiefer Schmerz. Wenn an ihm die Hölle ihr Spiel gewönne!«

»Ein Spieler! Natürlich!« seufzte der Landrat.

»So weit hatt ich geschrieben, und nun ich ihn gestern wieder an dem grünen Tische sah, wächst mir die Sehnsucht, mutig in sein Leben zu greifen und ihn seiner reinen und edeln Herkunft und den guten Geistern zu erhalten. Gestern mit der Abenddämmerung hatten sich die feuchten Abendnebel wie durchsichtige Schleier auf die grüne Flur niedergelassen. Dunkler und dunkler wurden die vollen Kronen der Kastanienbäume, leise kamen die schwarzen Schatten vom Fuße der Berge geschlichen und umarmten in stiller Feier, zum Schlummer bewältigend, die kleine, an ihrer schlechten Bestimmung unschuldige Stadt. Ich öffnete das Fenster. Durch das nächtliche Schweigen schallte nur mit bewußtem sicherm Rauschen der Sturz des Waldbaches, der zur Bewässerung der Mühlen, in einem Teiche sich sammelnd, von Schleusen aufgehalten, an der Brücke wie eine flüssige, große Sichel schneidend, ausgleitet und dann donnernd niederstürzt. Wie ich hinausblicke – August weilt noch in dem erleuchteten Kursaale –, da sehe ich still und traurig unter den Bäumen den Jüngling schreiten. Eine Weile lehnt er sich an einen Stamm duftender Akazien – er sieht mich bittend, flehend an; ich springe auf – werfe die leichte Mantille über die Schulter – und hinaus zu ihm – ich liege ihm weinend an der Brust. Da sagte er: ›Imagina, komm! Du bist es, die mich erlösen und von meinem finstern Schicksal erretten kann.‹ Da lege ich den Arm um seine Schulter, und mehr gezogen als freiwillig folgend, schlüpfe ich mit ihm durch die Schlangenwindungen der Wege zu den grünen Matten, auf eine einsam stehende Bank, an eine weiße, fernhin leuchtende Erle. Hier mich an sich ziehend, deutet er hinunter in die neblichten Gründe und zeigt mir einen geisterhaften Reigen weiß verhüllter Frauengestalten, sieben an der Zahl, und schaudernd stöhnt es ihm aus der beklommenen Brust: ›Da sind sie!‹ Ich hielt es für ein Blendwerk. Aber der Jüngling nannte jede bei Namen, und ich erbebte; denn es waren wirkliche Frauengestalten, die ernst und kalt in den Gründen vorüberschlüpften. Ich, Imagina, ergriff meinen Rosenkranz und betete; denn die Töchter der Hölle nannte mir der Jüngling bei Namen. ›Jene Schlanke dort‹, sagte der blasse Freund, ›ist Superbia, die Hochmütige; die zweite Gebückte und Lauernde Avaritia, die Geizige; die dritte im üppigen, rosenfarb schimmernden Kleide ist Luxuria, die Üppige; dort, die vierte, die Behende, Kirschrotfarbene, nennt sich Ira, der Zorn; dann die Volle, Starke, mit dem seelenlosen Auge ist Gula, die den Völkern gelehrt hat, der Bauch sei euer Gott, und die da groß ist im Erfinden von Genüssen für Zunge und Gaumen; die sechste im gelblichen Gewand ist Invidia, die Neidische – ach, und alle, alle haben sie schon den Sieg über mich davongetragen, und nur der siebenten da, der Acedia, der trägen Feigheit des Herzens, trotze ich noch, weil ich noch nicht ganz den Mut verloren habe, zu sagen, was ich wahrhaftig liebe und was ich hasse.‹ Diese Acedia war aber die Baronin Feodore Zaluska.«

August, der die letzten Worte kaum noch hatte aussprechen können, machte hier eine lange Pause und richtete die Augen zum Landrat empor. Dieser saß starr. Ein Glas Punsch hielt er fest in der Hand, ohne es zu merken, und feierlich schritt er auf August zu, faßte ihn gleichfalls ins Auge, und beide schienen sich fragen zu wollen: Ja, wie ist uns? Wo weilen wir? Baden-Baden war allerdings berüchtigt auch für seine weiblichen Nebelgestalten.

»Hm!« meinte aber doch der Landrat. »Sollte das nicht die Beschreibung eines Traumes sein?«

Kleinlaut geworden über die Erwähnung der Zaluska, fuhr Graf August fort: »Aus dem Kloster weiß ich es, daß die sieben Todsünden dem Menschen nicht vergeben werden können, denn diese sind es, welche so tief in der verdorbenen Seele wurzeln, daß sie sich vor dem Priester verstecken, ja, vor dem verhärteten eigenen Gewissen, und nur dem höchsten Richter offenbar werden. Und allen diesen Sünden war der unglückliche Sudburg schon erlegen und nur noch der Acedia nicht, der Feigheit des Herzens, jener kalten und erbärmlichen Gesinnungslosigkeit, die ihren Charakter nach den Umständen ändert, äußerlich warm und innerlich lau ist, der kalten Härtigkeit des Herzens, die ich in den Romanen der Sand Blasiertheit genannt finde. ›Noch nicht erlegen?‹ sagte ich triumphierend. ›Noch nicht ganz!‹ antwortete Sudburg traurig, und es drängte mich, ihn zu umarmen und zu sagen: ›Oh, könnte ich dir etwas von meinem Mut in die Seele gießen! Könnte ich dich heilen, erlösen, erretten, armer Jüngling, durch die Tapferkeit meines Herzens erretten, durch den Freimut meines Bekenntnisses für dich! Oh, komm hinaus in die Welt, laß uns Arm in Arm vor die Menschen treten, sage, wer du bist, ich sage, wer ich bin! Mögen uns alle Schwächen der Erde, alle Laster der Hölle überwunden haben, wir retten uns durch den Adel des Herzens, durch unsern Sieg über seine Trägheit, durch Gesinnung, Aufrichtigkeit, Wahrheit!‹ Da blickte er nieder, reichte mir die Hand, und wir schieden. Als ich über die Brücke an dem rauschenden Wassersturze ging, fröstelte mich's. Oben löschte August eben sein Licht aus; er war mit der Baronin vom Kursaal zurückgekommen.«

Nach einer langen Pause, als August geendet hatte, fragte der Landrat inquisitorisch: »An welchem Tage könnte das gewesen sein?« August, statt zu antworten, bat um ein Glas des stärkenden Getränks. Sein Geist bedurfte eines von innen wirkenden Zusammenhalts. Nacheinander wurde abwechselnd von beiden noch eine ganze Lage dieser Blätter durchgelesen. Alle enthielten sie die Beweise einer auffallend vertrauten Beziehung der jungen Gräfin zu einem Fremden, den August vollkommen für einen leichtsinnigen und gefährlichen Abenteurer zu kennen erklärte. Dem Landrat leuchtete der bedenkliche Charakter Ottos von Sudburg um so mehr ein, als Imagina einige Male andeutete, daß er sich bei der Begegnung mit ihr im Gebirge, wie schon mancher Schwindler, Prinz Wismut genannt hätte. »Fritze hat ihn gewiß auf der Liste!« sagte der bekümmerte Mann und fuhr fort: »Und wenn er der beste Mensch von der Welt wäre, so fühle ich, daß Sie Ansprüche auf Genugtuung haben. Hier ist nichts mehr zu widerlegen. Das klagt sich alles selbst an!«

Die Schloßuhr hatte schon zehn geschlagen. Draußen fiel der erste Winterschnee in leichten Flocken. Die Glut des Ofens ließ nach. Von dem erwärmenden Getränk war nur noch eine geringe Neige übrig, und dem schmerzbewegten Paar kam so sehr das Bedürfnis des Schlummers, daß es eine große Gewissenhaftigkeit verriet, als sie auch noch, um nicht ungerecht zu verurteilen, sich entschlossen, das letzte dieser Blättchen zu lesen.

Mit jenem verbissenen Ausdruck des Zorns und der hämischen Betonung eines von dem, was er liest, widerwärtig Berührten las August noch zuletzt: »Ist es denn wahr, daß die Stunde der Trennung schlagen mußte! Auch in diese grüne Pracht kann der bräunende Herbst und einst ein entblätternder Winter kommen? Ich fühlte es schon an der Unruhe des Herzens, als ich ihn seit drei Tagen nicht mehr sah, daß ihm Unglück droht – ihm?! Wunderliche Törin, die du in Träume dich verlierst und deine Phantasien mit lebensfrischer Wirklichkeit bekleidest! Nun denn, so ziehe hin, du blasser Dämon, und kämpfe deinen letzten Kampf mit Acedia aus! Ich muß dich immer vor mir sehen, wie ich dich in der blauen Grotte zum ersten Male erblickte. Schweigend legtest du dein lockiges Haupt an die Brust des bekümmerten Vaters ...« – »Vaters?« unterbrach sich August und fixierte den Landrat. – »Vaters?« antwortete dieser; »Sie werden doch nicht etwa glauben ...« – »Herr, es wäre doch auffallend, wenn Sie dieses Verhältnis schon früher gekannt hätten!« – »Wo hab ich es gekannt! Hier sehen Sie ja, hier ist von einer Ferienreise die Rede, die ohne Zweifel der alte Sudburg mit dem jungen in unsere Gebirgsgegend gemacht hat.« – »Das müßt es natürlich sein, sonst ...«, ergänzte August, schöpfte Atem und las: »Ich sehe sie alle noch um dich, die Geister des Gebirges, und grauenhaft tönt mir ins Ohr, wie ich erfuhr, was auf der Bahn deines Lebens für Augen auf dich blicken, gute und böse, himmlische und teuflische. Wie ich dich dann wiedersah in Breslau! Der Wagen rollte nieder in die fröhliche Stadt, die Türme blinkten im Abendgolde, schattige Gärten mit einladenden Schildern und Kränzen, Sitze der Freude und Erholung zur Linken und Rechten. Da auf einer Terrasse, unter einem breitastigen Baume, von übrigen trinkenden und lärmenden Genossen getrennt, blickst du hinüber übers Geländer auf die Landstraße, und ich erkannte dich sogleich! Ich zitterte vor Freude, dich so heiter, so gut zu sehen; ich hätte zurückfliegen mögen in die Berge und ausrufen: ›Er siegt! Er gewinnt! Die bösen Mächte haben keinen Teil an ihm!‹ Und wie oft schloß ich dich seitdem in mein Gebet! Wie schauerlich auch überrieselte es mich, wenn im Religionsunterricht die sieben Todsünden erwähnt wurden und sie mir erschienen wie Totengerippe in langen, weißen Frauengewändern und mit falschen lächelnden Larven! Ich wußte, daß sie daheim für dich in des Vaters Banden schmachteten, aber oft ängstigte mich's im Traum, daß eine von ihnen vor mein Lager trat und sagte: ›Siehe, ich bin frei! Ich kehre zurück zur Hölle! Ich überwand deinen Freund!‹ Und dann wacht ich auf und fühlte mich so unglücklich, so unendlich weh war mir im Herzen, daß ich tagelang weinte und niemand wußte, was mir war, und ich selbst konnte nicht sagen, was mich schmerzte. So habe ich Jahre hindurch sechsmal schwer von dem Jüngling geträumt, und als ich dich hier wiedersah, am Spieltisch, mit zusammengebissenen Lippen, lächelnd vor Ernst, spöttisch vor Schmerz, einer Rolle Goldes nachsehend, die mit teuflischer Ruhe ein Mann mit einem kleinen Holzrechen dir fortnahm, da wußte ich: Meine Träume sind wahr gewesen! Sechsmal ist er gefallen! Sechsmal ist er den Seinigen verloren! Und wohl begriff ich es, daß du in der Schlucht an die Felsen pochtest und riefest: ›Oh, laßt mich ein zu euch in euer blaues, reines, gutes Reich: ich erliege, ich halte diese Lebensbahn nicht aus!‹ Aber die stummen und tauben Felsen öffneten sich nicht, und wohl begreife ich den wehmutvollen Blick, den du vom Schloß auf die weite, weite Ebene nach dem blitzenden Rhein hinüberwarfst...« August hielt inne und fragte den Landrat: »Was tun Sie denn?« Der Landrat antwortete nicht, sondern schluchzte. Sich sammelnd, sagte er: »Hören Sie nur auf! Denn nun, offen gestanden, rührt mich das mit Imagina! Ich denke an ihre Mutter! Wie kann das Mädchen, die Frau, sich so in einen Menschen vernarren! Wie kann sie eine so überschwengliche Liebe ihrem Vater verschweigen!«

August las den Rest: »Leb nun wohl, du jenseitiger Geist! Ich weiß, dein Herz ist nicht verdorben. Acedia wird dich nicht besiegen, darf es nicht! Diese teuflische Schmeichlerin! Hat sie nicht die lieblichste Gestalt gehabt in jener Nacht auf dem Wiesenrain, die Gestalt der Baronin ...« August stockte wieder. »Welche Baronin ist denn das immer?« fragte der gefolterte Vater. »War sie nicht so lieblich, so schmeichelnd, so umstrickend mit tausend schimmernden Reizen wie Feodore ...«, fuhr August, die Frage nicht beachtend, fort. »Wer ist denn das wieder, Feodore?« fragte der Landrat, halb schlafend. »Wenn ich euch beide zusammen sah, hätt ich rufen mögen: Das ist deine Feindin, das ist die meine! Feodore Zaluska, dich will ich malen als die siebente Todsünde, dich mit deinem Lächeln, das aus der Leere des Herzens kommt, dich mit deinen schwarzen, glimmenden Kohlen im Auge, die das einzige sind, was in dir brennt, dich, die du ...« Hier brachen die Schriftzüge unleserlich ab, und ein langer heftiger Gedankenstrich mit malerischen Verschnörkelungen drückte die Leidenschaft der Schreiberin aus, die hier ihren Phantasieroman geendigt hatte.

August, den die Erinnerung an Feodore Zaluska elektrisierte, blickte starr auf das Papier, der Landrat, zuletzt vom Punsch übermannt, schnarchte, draußen an den Fenstern ballte sich der Schnee zusammen, die Lampe war dem Erlöschen nahe, der Ofen schon wieder kalt, die Bowle leer. Da pochte es donnernd an die Tür. August fuhr zusammen, der Landrat wachte auf und sah sich gespenstisch um. Ein zweites Klopfen. »Wer da?« rief August. Fritze trat ein und meldete, ohne den Grafen, der ihn beleidigt hatte, anzublicken, militärisch dem Landrat: »Im Kloster ist es nichts!« – »Was? Nichts?« fragte der Landrat. – »Gar nichts!« bestätigte der Potsdamer. – »Gar nichts?« wiederholte der Landrat entsetzt. – »Aber an der Hinterpforte des Klosterhofs bemerkte ich im Schnee frische Wagenspur«, fuhr Fritze fort, »leider hat es nur strichweise geschneit, und es wurde hinterher zu dunkel.« – »Richtung?« examinierte der Landrat. »Sächsische Grenze!« rapportierte Fritze, und damit war die Feststellung des Tatbestandes: Untreue und bösliche Verlassung, zu Ende. August nahm die Papiere. Der Vater drückte ihm wehmütig die Hand. Andres leuchtete. Fritze hob den Deckel von der Punschterrine und brummte auch hier, hineinlugend, ein lakonisches »Gar nichts!« Alle gingen zur Ruhe. Sie bedurften derselben.


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