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II

So klar und zusammenhängend, wie vorhin erzählt, stand allerdings nicht alles im Gedächtnis der mit einem so merkwürdigen Traume Ausgezeichneten gleich beieinander. Erst spätere Betrachtung ergänzte die Einzelnheiten. Oft sagte sie sich: Alles, was ich sah, war wirklich, nur der Prinz Wismut ... da stockte sie. Denn das konnte auch allenfalls der erste Student gewesen sein, der ihr auf einer Gebirgswanderung ausnehmend gefallen und den nun die Phantasie in den Schacht verlegt hatte.

Nachdem einige Stunden des trägen Dahinfahrens und Herabrollens von den Gebirgshöhen verflossen waren und der Gendarm Fritze von dem Fräulein seines Landrats erlangt hatte, daß er rauchen durfte, entspann sich ein Gespräch zwischen Imagina und dem aus der Mark Brandenburg hierher versetzten, aus Potsdam gebürtigen Gendarmen über das Wunderbare. Fritze, ein völlig aufgeklärter und abstrakt denkender Weltbürger, schien nicht zu wissen, daß er eines von den tausend praktischen Organen einer christlich-germanischen, mehr mystischen als aufgeklärten leitenden Regierungsidee war. Er gehörte, trotz seiner monatlichen Löhnung und Remontekassengelder, Gelder für an das Heer gelieferte Pferde. zu demselben lichtfreundlichen Prinzip, das er mitunter polizeilich zu überwachen hatte. Jede andere Auffassung des Lebens als eine vernunftklare, nannte er mit seiner märkischen Entschiedenheit »verbiestert«, während doch gerade Nicolai und Biester Friedrich Nicolai (1733-1811) und Johann Erich Biester (1749-1816), Herausgeber von Schriften der deutschen Aufklärung. in ihm völlig aufgegangen waren. Nur den Enthusiasmus des schlesischen Kutschers Andres für die Breslauer Studenten teilte er nicht. Andres als echtes schlesisches Landeskind hatte seine Freude an der Aussicht, dem gnädigen Fräulein den ersten Breslauer Studenten zu zeigen. Imagina ihrerseits, je näher sie Breslau kam, mußte das pochende Herz mit der Hand halten, weil sie sich unter einem Breslauer Studenten immer das Liebste, Schönste und Goldigste in ganz Schlesien dachte. Das war schon früh zum Ausströmen voll eingesogen, und Andres war nicht der Mann, sie eines Zurückhaltendern zu belehren. Während er lustig mit der Peitsche knallte und schon die Türme Breslaus in der Abendsonne sichtbar wurden, nahm sein Auge nur den ersten ihnen etwa begegnenden Studenten aufs Korn, und Imagina harrte mit pochender Erwartung, wenn Andres rufen würde: »Frolen, da ist einer! da ist einer!«

Fritze als Potsdamer, als Gendarm brummte über diesen ihm unverständlichen Enthusiasmus für Studenten. Er wußte zu gut, wie sein Staatsberuf in vollem Widerspruch zum Nähren akademischen Selbstgefühls stand, und einmal über das andere rief er aus: »Seh Er auf seine Pferde, Andres! Laß Er die Studenten unterwegs! Sind lauter Tunichtgute! Drehen noch den ganzen Staat um! Rauchen wollen sie überall! Despektieren die Gendarmerie! Will Er wohl zufahren!«

Andres ließ sich jedoch nicht die Mühe verdrießen, seinem gnädigen Fräulein das erste junge Breslauer akademische Blut zu zeigen, und als er hin und her lugend und in der sanften Abenddämmerung die Augen zwinkernd und vor jedem Wirtshause der Landstraße angenehm lockend und pfeifend endlich wirklich den ersten Studenten entdeckt hatte und losschrie: »Frölen, da ist einer!« und Imagina, im Wagen jubelnd aufspringend und sich hastig über Andres' Schulter lehnend, vom Wege aus freundlich grüßend einen Jüngling in schwarzer altdeutscher Tracht mit bloßem Halse, mit rotem Barett auf braunen Locken und mit Silbertroddeln erblickte und mit erstickter Stimme hauchte: »Prinz Wismut –!«, da ward es Fritzens märkischem Gemüte denn doch zu arg, und zornig nahm er seine Pfeife, die ihm Imagina zu rauchen erlaubt hatte, legte sie fort, wollte den Erzieher spielen und sagte: »Himmeldonnerwetter, Fräulein, wollen Sie wohl geruhig sitzen bleiben! Hier ist bloß Breslau!«

Imagina hörte aber und sah nichts mehr. Sie war in König Kobalts blauer Grotte, erblickte Nickel den Kontrakt mit der Hölle unterschreiben, sah Prinz Wismut, für den die sieben Todsünden in Versatz gegeben wahren, als Student auf die Erde hinausziehen und sank träumend, zitternd und geisterblaß in die Arme einer sie herzlich begrüßenden, würdigen Dame, an welche Fritze einen Brief vom Landrat abgab, während Andres große und kleine Koffer, Kisten und Schachteln von der Kalesche losband. Träumend und bewußtlos gab Imagina Fritzen und Andres die Hand und folgte der würdevollen Dame, die sie feierlich in einen Saal voll junger Mädchen führte. Sie war in ihrer Pension.

Über Imaginens nächste Lebensjahre können wir um so leichter hinweggehen, als ein Brief, welchen Madam Milde, ihre Erzieherin, im dritten Jahre ihrer Pensionsaufnahme nach Bischofswalde an den Vater schrieb, das meiste zusammenfaßte, was zur Seelenkunde der künftigen Gräfin von Wartenberg zu wissen nötig ist. Nach vielen kürzeren und längeren Konferenzen, welche Madam Milde mit dem Landrat bald zu Ostern, bald zu Michaelis bei seinen Breslauer Besuchen abhielt, schrieb eines Tages die würdige Frau dem Vater folgende Zeilen: »Hochgeehrtester Herr Landrat! Ew. Hochwohlgeboren haben vollkommen recht, mir Vorwürfe zu machen, daß ich so lange nichts von mir habe hören lassen. Die Entschuldigung mit meinen überhäuften Geschäften wäre keine; denn welche Geschäfte sind für mich dringender als die, mich mit den Eltern der mir anvertrauten Kinder in Verbindung zu setzen und gemeinschaftlich deren Wohl und Wehe zu beraten! Sie wissen, wie sehr ich die holde, gute Imagina liebe! Sie wissen, wie mir dies Kind seit den Jahren, daß es meiner Pflege und Aufsicht anvertraut wurde, ans Herz gewachsen ist; ein Ausdruck, den ich in seiner ganzen ursprünglichen Kraft gebrauche. Sie ist die älteste meiner Zöglinge, sie ist jetzt schon in das achtzehnte Jahr getreten und, wie ich Ihnen schon oft zu sagen die Ehre hatte, über den Kreis ihrer übrigen viel jüngeren Genossinnen, ja auch längst über die Sphäre meines Wirkens hinausgewachsen. Fünf Jahre lang haben Sie bei Ihrer vielfach in Anspruch genommenen, schwierigen Lebensaufgabe dem Kinde soviel Teilnahme gewidmet, daß ich Ihr Vaterherz beruhigen kann. Oft haben Sie von mir Klagen, viel öfter Lobeserhebungen gehört. Sie haben sich durch das Urteil anderer Menschen, die vielleicht weniger bestochen sind als wir beide, überzeugt, daß die außerordentlichen Fortschritte in der Musik und Malerei, die Imagina machte, keine Selbsttäuschungen der Eltern- oder Erzieherliebe sind. Ebensooft haben Sie aber auch darauf gedrungen, daß sich Imagina dem reellen Wissen, den Sprachen, der Geschichte, nicht so verschließen möchte, wie ich es für mein Teil am wenigsten wünschte. Alle diese Ihnen kundgewordenen Tatsachen über Ihr gutes Kind, geehrter Herr, sind jedoch nur vereinzelte Dinge und stehen zu dem eigentlichen Wesen desselben in untergeordnetem Verhältnisse. Meine Pflicht ist es, ehe Imagina von mir scheidet, noch einmal im ganzen zu versuchen, Ihnen ein Bild Ihres teuern Kindes und treu nach der Natur zu zeichnen.

Hier muß ich, kraft meines heiligen Amtes als Erzieherin, Ew. Hochwohlgeboren offen und ehrlich bekennen, daß mir Ihre Tochter einer Besorgnis einflößenden Zukunft entgegenzugehen scheint. Zwar sei so viel sogleich abgetan, daß ich sie das lieblichste, merkwürdigste, interessanteste weibliche Wesen nenne, das mir je in meinem Wirken und Walten vorgekommen ist. Ob aber diese Auszeichnung Ihre Tochter zum Glück führen wird, das weiß ich nicht und bezweifle es sehr, falls nicht die richtigen Wege eingeschlagen werden, Imagina in die Geleise des wirklichen Lebens zu führen.

Wenn ich sagte, daß sie träumerisch, schwärmend, unpraktisch in einem erschreckenden Grade ist, so schiebe ich davon die Schuld auf zwei Dinge, auf die erste Klostererziehung und das einsame Walten im väterlichen Hause. Ich gehöre der katholischen Konfession an, beklage aber tief, wenn Kinder in die Hände ausschließlich religiöser Erzieherinnen geraten. Der Umgang mit Nonnen ist für ein weibliches, dem Leben bestimmtes Wesen der gefährlichste. Früh gewöhnt sich das von Nonnen erzogene Kind an eine Traumwelt, die wohl die Einsamkeit entsagender Klosterjungfrauen beglücken und die Stille ihrer Klosterzelle beleben kann, doch für empfängliche und phantasiebegabte Gemüter, die dem Leben angehören sollen, nur eine trostlose, unendliche Sehnsucht weckt, die nie ein von der Erde gebotenes Glück befriedigen kann. Imagina hat als Kind die Legenden der Heiligen nicht nur gelesen und mit Andacht, was hinreichend hätte sein sollen, in sich aufgenommen, sie hat sie mit durchlebt, durchempfunden, sie ist die fühlende, leidende Teilnehmerin aller der Geschichten geworden, womit ihre kindliche Phantasie überfüllt wurde. Noch bis zur Stunde kann ich in ihr die Vorstellung nicht unterdrücken, daß es neben unserm wirklichen sichtbaren Leben ein zweites, geisterhaft unsichtbares auf dieser unsrer nämlichen Erde gibt und daß die Schicksale der Menschen von den wunderlichsten Launen des Zufalls durchkreuzt und die entferntesten Fäden der Geschicke zusammengewoben werden. Es ist wirklich, als wenn diese Nonnen bei ihren künstlichen Stickereien, Blumenarbeiten, Meßgewandverzierungen ein Vergnügen daran finden, die Fülle von Lebenswünschen, die in ihnen selbst ersticken mußte, in solche jugendliche Gemüter zu verpflanzen und wilde, selbst begehrliche Geister in den unschuldigen Seelen aufzuwiegeln. »Du bist für die Welt verloren!« können diese unglücklichen Schwestern solchen Zöglingen ihrer Pflege mit auf den Lebensweg, wenn sie die Klosterpforte hinter sich zufallen hören, nachrufen. Ja, ich habe eine geistreiche, durch viele Lebensstürme gepilgerte und endlich Äbtissin gewordene Nonne gekannt, die mit fast mephistophelischem Behagen ihre verdorbenen Zöglinge in die Welt hinausziehen sah.

Fern sei es von mir, meiner guten, lieben Imagina irgendeine Verdorbenheit, irgendeinen Makel ihrer reinen Seele nachzusagen; aber dieses in den Lüften schwebende ätherische Dämmern und Träumen, das ihr eigen ist, bleibt darum nicht minder gefährlich. Im väterlichen Hause hat sie ihren Erzählungen zufolge eine Freiheit genossen, die mich zittern macht. Diesem guten Kinde war es freigestellt, in Feld und Wald zu schweifen, während es daheim, am häuslichen Herde, versäumte, sich über die einfachsten Bedingnisse der wirklichen Welt, besonders über diejenigen zu unterrichten, welche in den künftigen Beruf der Frauen einschlagen. Wäre sie nicht so wunderbar graziös, die Blößen, die sie in den gewöhnlichsten Vorkommnissen des Lebens gibt, würden sie oft zum Gegenstand des Spottes machen. Sie verwechselt die geläufigsten Dinge miteinander, sie weiß oft nicht, was für ein schlesisches Mädchen stark ist, Leinwand von Baumwolle zu unterscheiden, stellt sich beim Essen, Trinken, in Gesellschaft so wunderlich, daß einem weniger anziehenden Wesen in diesem Falle längst müßte nachgesagt worden sein, sie sei linkisch. Sie tanzt, aber auf eigene Art, nicht nach den üblichen, gemeinschaftlichen Touren. Sie kann keine Sprache lernen, weil ihr die Gedanken auf der Zunge nicht standhalten, sondern sich bunt übereck jagen. Nur in der Zeichenkunst und der Musik hat sie es dahin gebracht, daß sie ihr eigenes, erfinderisches Talent durch die äußerlich erlernten und angeborenen Handgriffe unterstützen kann.

Wenn ich Ew. Hochwohlgeboren dringend bitte, in Imaginen den Sinn für das wirkliche Leben zu befördern, so muß ich hier noch einen Schritt weiter gehen. Wenn sie Geschichten und Erfindungen so durchleben kann, daß sie tage-, ja wochenlang in ihnen heimisch bleibt und aus ihnen heraus handelt, spricht und schreibt, so ist das eine für ihre Umgebungen allerdings sehr unterhaltende Gabe, aber eine für sie selbst gefährliche. Geehrter Herr Landrat, wir leben in einer eigenen Zeit! Sie mögen in Ihrer Stellung mit den groben Auswachsen des Dranges, der die überlieferte Ordnung der Dinge stören will, zu tun haben, aber viel gewaltiger ist das geheime Rütteln an unserer überlieferten Ordnung, das geheime Anzweifeln, das versteckte Untergraben. Ach, es gibt unzählige unsichtbare, Verbrechen gegen das Überlieferte, und von den zartesten Händen werden dieselben verübt! Ich gedenke meines frühern Bildungsganges, meiner eigenen jungen Tage. Wie waren sie anders als die jetzigen! Die frühere Literatur gefiel sich darin, einen oft vielleicht zu weit gehenden überschwenglichen Glauben an das Bestehende zu predigen. Eine Menge frommer Jugend- und Bildungsschriften lagen überall der Erzieherin zur Auswahl vor. Jetzt würde man sich vergebens nach neuen Werken dieser Art umsehen. Wir selbst lesen diese neuen Romane, die aus der Feder sogar unserer weiblichen Schriftstellerinnen fließen, mit geteilten Empfindungen. Unser Urteil ist gereift. Wir wissen, was wir von diesen Gemälden einer wirklichen oder erträumten Welt zu halten haben; aber wie anders, wenn wir uns einmal denken, daß nach uns eine Generation kommen könnte, die ganz in den Anschauungen der Gräfin Hahn-Hahn, der Ida von Düringsfeld, unsrer schlesischen Landsmännin, der Fanny Lewald und vieler anderer hochromantischer Naturen aufwachsen und erzogen worden sind! Wohl hüte ich mich, daß irgend auch nur ein Buchstabe von dieser Literatur in mein Institut oder in die Nähe meiner Zöglinge dringt. Kann ich aber vermeiden, daß Imagina, ins Leben tretend, diese Schriften zur Hand nimmt und aus ihnen in langen Zügen neue Berauschungen ihrer Phantasie trinkt? Ist denn da noch irgendeine Form des Lebens fest und sicher, ist da noch irgendein Wahn und alter Glaube heilig? Nicht, daß ich diese hochpoetischen Frauen anklage, wenn sie das ohnehin ausgebeutete Feld der Erfindung mit neuen Wirr- und Irrgärten bepflanzen, in denen sie vielleicht und gereifte Gemüter sich zurechtfinden; aber ängstigend ist dieser Drang nach Idealität, nach Poesie des Lebens, wo doch nur die Prosa des Lebens, die Wirklichkeit von uns Pflichten und Leistungen verlangt, der Drang nach Schönheit, während doch so vieles seiner irdischen Natur nach häßlich sein muß. Ich denke mir, wie das einst alles auf einen Geist wie Imaginens wirken muß; und wie ich für Ihre Tochter fürchte, so fürchten jetzt zahllose Eltern für ihre Kinder.

Schon jetzt hat Imagina die feurigsten Ahnungen von einer freien, nur sich selbst verantwortlichen Macht des Willens. ›Nur Taten sind schön!‹ rief sie kürzlich aus. Zitternd mußt ich antworten: ›Du nennst Taten, was andere dumme Einfälle nennen!‹ Jeden Einfall ausführen, das kann originell erscheinen, wird aber selten für schön herauskommen. Am erschreckendsten ist mir Imagina, wenn sie am Klavier sitzt und sicher zu sein glaubt, nicht belauscht zu werden. Da variiert sie nur zwischen wenigen Akkorden und Tonarten, ist an Fertigkeit hinter meinen meisten, selbst jüngern Mädchen zurück, und doch habe ich gesehen, daß unter ihrem Fenster mancher Musikkundige stillsteht und sich nicht vom Anhören dieser allerdings oft zu Tränen rührenden, aber ganz lose und locker gefügten Phantasien trennen kann. Da ist es zugleich erstaunlich, welche versteckte Leidenschaft auf den Tasten mit zum Ausbruch kommt, welche Sehnsucht, welches Hangen und Bangen, Hinüberschweifen in Welten, die nur der Ahnung und dem Schmerze angehören. Nicht Melodien, nicht Reminiszenzen sind es, die sie spielt, ja dem rohen Ohr möchte ihre Übung spielende Klimperei erscheinen; aber dem Lauschenden, dem ihr Folgenden kann nicht entgehen, was diese bald leisen, bald anschwellenden, bald langsamen, bald wogend bewegten Akkorde bedeuten. Was bedeuten sie? Vorläufig ein träumerisches, sich in unbestimmte Fernen sehnendes Herz. Bedenklich erst wird diese Richtung werden, wenn Imagina, wie dies nun jetzt geschehen soll, ins Leben tritt und mit den in unsrer jungen Frauenwelt unglaublich spukenden Unabhängigkeitsideen vertrauter wird. Es gehen selbst in unseren besten Frauenseelen Dinge vor, und Ahnungen ziehen in sie ein, die mir Grauen erregen vor allem Zukünftigen. Selbst an das Herz treuer Lebensverhältnisse pochen Geister, die nicht aus dem blauen Himmelreich von oben kommen.

Das war es, was ich Ew. Hochwohlgeboren über Ihr schönes, liebreizendes und gutes Kind schreiben mußte. Andere, die mit ihm in Berührung kamen, mögen Ihnen von allerhand Possen erzählen, von denen sie rede, von Berggeistern, von einem Geliebten, den sie bewachen müsse, weil die sieben Todsünden für ihn aus der Hölle zum Versatz gegeben wären, und ähnliche märchenhafte Späße, über die sie selbst lacht, an welche sie selbst nicht glaubt, mag es auch allen anderen oft ganz schauerlich dabei über den Rücken rieseln. Auch im Religiösen hat sie etwas Freies und Schönheitsuchendes. Sie ist nicht bigott, noch weniger scheinheilig, sie bleibt in ihrer Andacht immer lieblich und menschlich. Was sie nicht aus ihrer bildlichen Welt ins menschliche Herz verpflanzen und von da aus deuten kann, das ist für sie selbst nur poetische Grille. Aber gerade dies ihr Herz hält sie für eine große geheimnisvolle Welt und weiß dahinein so viel zu dichten und zu erfinden wie in ihr Tagebuch, wo ich ebenfalls oft genug finde, daß sie Bekanntschaften darin ausspinnt, die sie nie hatte, und mit Menschen redet, die sie nie gesehen.

Sorgen Sie dafür, geehrter Herr, daß Imagina eine Stellung zum Leben findet, die bestimmt und deutlich genug ist, um sie auf einen großen Kreis von Pflichten, die ihr und allen Menschen obliegen, aufmerksam zu machen. Habe ich zu ängstlich beobachtet, so will ich dem Ruhm, Menschenkennerin zu sein, da gern entsagen, wo mein Irrtum durch eine heiter beruhigende Wirklichkeit widerlegt wird. Eltern und den sich krank Glaubenden gönnt man ja am liebsten, daß sie unsere Besorgnisse beschämen! Was mich drängte, habe ich ausgesprochen. Es bleibt Ihnen überlassen, aus meinem Briefe zu entnehmen, was Ihnen gutdünkt –!«

Als der Landrat in Bischofswalde diese Zeilen zu lesen bekam, saß er vor seinem Aktentische, und sein Leibgendarm Fritze lugte zum Fenster zur Straße hinaus, um Polizeiwidrigkeiten zu entdecken. Es war sein Stolz, daß sich, so weit sein Auge reichte, alles im Gleise des Hergebrachten bewegte, selbst die Wagenräder der Frachtfuhrleute, die von der grünen Höhe herab in das freundliche Bischofswalde an Hemmschuhen glitten, die Fritze aus der Ferne schon für reglementsmäßig erkennen mußte. Nur die katholischen Auswüchse der Gegend störten ihn, da ein Kreuzlein, dort auf einem Brückchen ein verwitterter und gebrechlicher St. Nepomuk und so manches andere vom Pfarrer Patronisierte, worüber vornehm hinwegschauend Fritze in den rotgrauen Schnurrbart murmelte: »Dieses dulden wir, weil es sein muß!«

Indessen donnerte an Fritzens Ohr ein entsetzlicher Fluch des Landrats. Wir wissen nicht, wieviel Schock Mohren und sonstige Elemente nach dem Wunsche des Hauptmanns a. D. in Imagina hineinschlagen sollten. Der beendigte Brief war es, dem diese Explosion von Zorn und Drohungen galt. »Was bringt ein Frauenzimmer zur Räson, Fritze?« fragte der Landrat seinen Gendarmen. »Ein Mann!« war die einfache, militärisch würdevolle Antwort. Und der Landrat seinerseits stimmte feierlich ein: »Ja, Fritze! Meine Tochter muß bald heiraten.«

Madam Milde würde sich nicht erbaut haben über die Kritik, die ihr Brief in Bischofswalde zu erfahren hatte. Der Landrat fand ihn viel zu zimperlich und zu quengelig, und hätte sie's nur hören können, der barsche Haudegen sagte geradezu: »Diese Frau ist auch nicht recht klug, hat wohl auch keinem Mann je im Leben Ordre pariert! Dem Ding wollen wir bald ein Ende machen –!«

Die Schwierigkeit, für Imagina von Unruh einen Mann zu finden, war deshalb nicht so groß, weil gerade in Breslau Wollmarkt war. Die außerordentlich reiche Schafwollproduktion dieser Provinz versammelt in jedem Junimonat des Jahres die Gutsbesitzer auf dem gesuchtesten aller Wollmärkte, den selbst englische Agenten beziehen. Was in Posen die Johannisversur, im Holsteinischen der Umschlag ist, das ist in Breslau der jährliche Wollmarkt, das Stelldichein der in den Provinzen zerstreut wohnenden Familien, der Zielpunkt einer Menge geschäftlicher Verbindlichkeiten, Zahlungstermin, Veranlassung zu neuen Geschäften, kurz der Umsatz aller materiellen und moralischen Lebenskräfte dieses schönen Landes. Wenn nach des Landrats Meinung irgend etwas bei der von Madam Milde geschilderten, so ätherischen und zweckwidrigen Natur seiner Tochter entscheidend ins Mittel treten konnte, so war dies der Breslauer Wollmarkt.

Im Gasthof »Zur goldenen Gans« war es, wo sich Landrat von Unruh unter den möglichen Partien seiner Imagina bald zurechtfand. Er vermied es diesmal, sich im entferntesten in die Debatten einzulassen, welche den größten Teil des hier versammelten Adels beschäftigten. Seine Stellung zur Regierung zwang ihn wohl sonst, über Eisenbahnpläne, Kreditvereine, Provinziallandtage Rede zu stehen; aber von den Erörterungen über Kirchentum, Domstifte und Klosterpräbenden Klostereinkünfte. hielt er sich diesmal ebenso fern wie von dem Gemurr über Beeinträchtigungen der Kirche, den Vorbereitungen einer kategorischen Entweder-Oderzeitung und ähnlichen erst in neuester Zeit ausgebrochenen, aber lange schon eingeleiteten Äußerungen des dortigen Provinzlebens. Er hielt sich diesmal mehr an die reellen Schaustellungen der Tierveredelung, der Wollproduktion und fand denn auch bald nach Rücksprache mit alten Freunden beim Glase Wein unter mehreren Söhnen des auf seinen Wollsäcken ruhenden alten Grafen von Wartenberg denjenigen, den er suchte. Die Verheiratung seiner Tochter Imagina an den ältesten der hoffnungsvollen Söhne des Grafen, an den frischen, blonden, etwas zum Embonpoint neigenden Grafen August war eine geschäftliche Sache. Der Gendarm Fritze hatte seine Freude daran, wie sich das so glatt, so reell, so nett machte mitten unter den doppelten Friedrichsdoren, die der Agent des Hauses Smith und Scott aus Manchester dem alten Grafen Wartenberg für seine Wollsäcke zahlte.

Sechs Wochen nach dem Wollmarkt war Imagina in ihrem noch nicht ganz vollendeten achtzehnten Jahre die Verlobte und bald darauf die Lebensgefährtin des Grafen August von Wartenberg.


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