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Fünftes Capitel.

 

Eines Morgens riß sich mein Pferd vom Pfahle los, und floh in die Ebene. Ich lief ihm den ganzen Tag nach, und als die Sonne verschwunden war, hört' ich noch nicht auf, zu laufen, sondern ich lief drei Tage und drei Nächte, und wie ich den Schwanz meines Pferdes in der Hand hatte, zog es mich in die Wohnung der Götter. Ich ruhte meine Glieder in einem Stalle des Himmels. Was waren da für Pferde!

Erzählungen aus der Wüste.

 

Wir sind jetzt endlich auf den Punkt gekommen, zu unsrer ersten Bekanntschaft, den Schicksalen Hali-Jongs, wieder zurückzukehren.

Wir verließen ihn im Gefängnisse, kaum dem tumultuarischen Ausbruch eines priesterlichen Fanatismus entronnen. Wenn solche Menschen, wie sie ihn empfangen hatten, seine Richter seyn sollten, so blieb für ihn nichts mehr zu hoffen übrig.

Hali-Jong befand sich in einem finstern Kerker, der am Tage nur durch einige spärliche Oeffnungen an der obern Wand erleuchtet wurde. Die erste Nacht, die er hier auf einem Strohlager zubrachte, schwand ihm unter Vorstellungen über seine Lage, welche jetzt gerecht zu werden anfingen. Erst am frühen Morgen löste ein erquickender Schlaf die Brust von ihren lastenden Ketten.

Am folgenden Tage wachte er über einem Wortwechsel auf, der in der Nähe seines Kerkers geführt wurde. Er unterschied sehr bald die in Streit begriffenen Stimmen, und hoffte aus dem sich Nähern der ihm wohlbekannten, auf einen für ihn so wohlthätigen Besuch seiner Brüder und Gylluspa's schließen zu dürfen. Aber da es wieder still wurde, und er nur noch in der Ferne ein Klagen und Schluchzen hörte, so wußte er, was ihm ein eintretender Mönch, sein Kerkermeister, hernach bestätigte. Seine Lieben hatten ihn begrüßen und sich nicht eher wieder von ihm trennen wollen, bis der hereinbrechende Abend sie aus den heiligen Mauern vertrieb; aber die grausame Strenge der ersten Vorsteher des Klosters hatte sie daran verhindert. Einige Speisen mußten die Stelle der besorgten Ueberbringer derselben vertreten.

Das Fest des neuen Lama verhinderte die schwarzen Gylongs, noch an diesem Tage ein solennes Ketzergericht zu veranstalten. Hätte Hali-Jong darum gewußt, so würd' er nicht jene knarrende Thürangel für den Boten seines entschiedenen Looses gehalten haben. Gegen Abend hörte er hastige Tritte seinem Aufenthalte nahen, der Riegel vor der Thüre wurde zurückgeschoben, und eine Person trat ein, die zu erkennen die Dämmerung verhinderte.

»Rüste dich eiligst, diesen Ort zu verlassen,« sagte der Fremde, und Hali-Jong, der diese Wände nur zu seinem Tode zu verlassen gewärtigte, zögerte, seinen Winken zu folgen.

»So mögen mich die Götter behüten!« sagte der Gefangene, als ihm der Andere deutlich von Flucht gesprochen hatte; »entweder ist dein Rath nur eine Falle, die mir die Väter legen, oder die Gefahr wird um so größer, wenn wir ihr entrinnen wollen und auf der Flucht ergriffen werden. Wer bist du auch, daß mein Schicksal dich erbarmte?«

»Wir entweichen,« entgegnete eilig der Fremde, »ohne deßhalb zu fliehen, weil deine Wächter dich diesen Ort verlassen sehen werden. Säume nicht länger, damit wir die Rückkehr der Vorsteher vom heutigen Feste vermeiden.«

Hali-Jong besann sich jetzt nicht länger, raffte seine Kleider zusammen und folgte seinem Führer, in dem er und wir den Schamanen erkennen. Der Weg ging durch dichtgedrängte Straßen, in denen sich Hali-Jong ohne Begleiter verirrt hätte. Sie folgten dem Zuge, der über das Gebiet der Stadt hinausströmte und den Palast des Dalai Lama belagerte, um die endlich auf seinen Zinnen erscheinenden Fahnen mit einem donnernden Geschrei zu empfangen. Sie wandten sich aber von der Fronte dieses großartigen Gebäudes, das selbst einer kleinen Stadt glich, ab, und verfolgten eine Reihe von Seitengebäuden, an deren äußerstem Ende sie innehielten und durch eine kleine Thür in das Innere der großen Wohnung des Dalai Lama traten. Hier wies der Schaman seinem Schützling ein abgelegenes, aber bequemes Zimmer an, das er unter keiner Bedingung verlassen zu wollen versprechen mußte.

Der Schaman hatte Alles an die Rettung Hali-Jongs, die er Gylluspa versprochen, zu setzen, wenn er sie gegen eine so mächtige Partei, als die Priester waren, durchsetzen wollte. Obschon ihm seine Würde, als Bruder des Höchsten, alle Wege öffnete, die er einschlagen mußte, um Hali-Jong einstweilen zu sichern, so durften ihm doch überall die Fanatiker folgen und zuletzt ihr Opfer wieder zurückfordern, wenn es der Spruch des Lama ihnen nicht entzogen hatte. So war die Rettung, die er dem Ketzer angedeihen lassen konnte, nichts mehr als ein Aufschub der Strafe, die nur durch höchsten Spruch abwendig gemacht werden durfte. Wie vieler Verantwortung er sich dabei aussetzte, bewies ihm der jüngste Vorfall mit dem Correspondenten. Sey es nun, daß das System der Spionage, welches dieser Mensch über ganz Lassa verbreitet hatte, ihn von den kleinsten Abweichungen der gewöhnlichen Ordnung der Dinge, in Kenntniß setzte, oder daß ihm die Gylongs von den eigenmächtigen Eingriffen des Schamanen in diese Ordnung, Nachricht gegeben hatten, so war es ferner unumgänglich, den Dalai Lama von diesen Verwicklungen zu benachrichtigen. Der Schaman hätte dieß gern vermieden, weil er wohl einsah, wie schwer es dem Bruder ankommen würde, gleich durch seine erste Regierungshandlung den Eifer der Zeloten gegen sich aufzuwiegeln. Aber was ließ sich Anderes thun?

Den Laien ist der Dalai Lama nur zu gewissen Stunden des Tages zugänglich. Alle übrigen muß er im Gebete und Regieren mit den höchsten geistlichen Würdeträgern zubringen. Selbst dem Bruder war es dann unmöglich, zu dem ängstlich bewachten Gotte Zutritt zu finden. Dieser Umstand mußte seinen Planen sehr ins Licht treten. Was er befürchtete, traf auch zu.

Die geistlichen Herrn drangen auf Maha Guru mit Verwunderungen über die im Namen Gottes begangene Befreiung eines Gottesläugners ein. Der Lama wußte aber selbst von der Angelegenheit nicht mehr, als daß sein Bruder diese Befreiung vorgenommen habe, und wie entrüstet er darüber war, daß ihm dadurch die Geistlichkeit mit ihrem Argwohn und ihrer immer regen Verdächtigung auf den Rücken kam, so war er doch begierig auf die Umstände, die seinen Bruder zu solchen Eingriffen in die Vorrechte der Inquisition bewogen haben mochten. Selbst wenn er von diesen mehr gewußt hätte, so würde er zwischen den Wünschen des Herzens und des Mitleids und den Forderungen der großen Kirchenlichter einer schwierigen Wahl nicht ausgewichen seyn. Da er aber von dem Urheber des himmelschreienden Verbrechens nichts wußte, nach seiner Person und Herkunft sich nicht erkundigt hatte, so hatte er, um die harte Zurückweisung der chinesischen Anmaßungen wieder gut zu machen, noch an demselben Abend den drängenden Priestern versprochen, dem Gange der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen und von seinem Bruder die Auslieferung des entführten Verbrechers zu verlangen. Er hatte damit mehr versprochen, als er leisten konnte. Denn wenn er die Person erfuhr, um deren Leben es sich handelte, wie konnte er sie denen ausliefern, unter deren Händen man bald sein Leben aushauchte!

Die ersten Augenblicke, da es den Laien gegönnt war, den Lama zu sprechen, hatte der Schaman schon benutzt. Jetzt verließ er ihn, und Maha Guru blieb mit einem zerrissenen Herzen und mit unsicheren Entschlüssen auf dem Throne seiner Herrlichkeit zurück. Welche Dinge hatte er vom Bruder erfahren! Derselbe Verbrecher, dessen Schicksal er preisgab, wenn er sein Versprechen wegen der Auslieferung erfüllte, war der Vater eines Wesens, das ihm über Alles theuer und werth war. Gylluspa selbst, ein Gedanke, der sonst nur schwache Fäden in seiner verwickelten, wunderbaren Laufbahn zog, trat jetzt wieder mit der ganzen Macht, die in der Erinnerung und in der Ueberraschung der Nähe liegt, vor seine Seele. Er fürchtete das Wiedersehen und sann darüber nach, wie er es für Hali-Jong zu einer Abwendung seiner Gefahren machen sollte. Wie Gylluspa begegnen? Darüber fand er bei sich nur dämmernde Beschlüsse, und wir sehen in ihm einen Gott, der etwas auf die lange Bank der Zukunft schiebt, um davon nicht in Augenblicken gedrängt zu werden, da er zu Mißgriffen vielleicht sehr empfänglich war.

Der Schaman kehrte von seinem Bruder ohne einen andern Erfolg zurück, als den, ihn durch seine Mittheilungen überrascht zu haben. Weil er wohl einsah, daß Maha Guru zu willenlos war, um in dieser Sache einen festen Entschluß zu fassen, so beschloß er so auf ihn zu wirken, daß er in einer Uebereilung sich dem Clerus gegenüber stellte, und diese Uebereilung so zu machen, daß er sie nicht widerrufen konnte. Er gab daher dem Wunsche Hali-Jongs nach einer Audienz beim Herrn der Heerschaaren nach, und führte ihn vor den Lama, von dem sein Schutzbefohlener aber nicht wußte, daß er an ihm einen ehemaligen Bekannten wieder finden würde.

Hali-Jong trat vor Maha Guru mit aller Zerknirschung seiner Lage, seines Verbrechens, seiner Anbetung vor dem Heiligsten. »Wehe mir!« rief er aus, »ich hoffte noch einst in meinen alten Tagen vor den Löwen des Weltalls zu treten; aber ich ahnte nie, daß ich statt der erwarteten Belohnung meiner Tugenden mich im Staube meiner Verbrechen winden müßte. Ich liege wie ein Wurm vor dir, der nichts zu erwarten hat, als von dir zertreten zu werden.«

Maha Guru erkannte die Züge des alten Herrn wieder, dem er oft bei seinen wunderlichen Fabricationen mit kindischer Neugier zugesehen hatte. Hali-Jong scherzte damals gern mit dem jungen Buben, gab ihm hundert sonderbare Namen, und lief zuweilen, um ihn zu schrecken, mit einem glühenden Eisenstabe hinter dem Schreienden her. Wie oft hatte er die Streitigkeiten geschlichtet, welche zwischen Maha Guru, seinem ältern Bruder und den vielen Kindern der Fabrik oft mit blutigen Köpfen ausbrachen. Wie oft hatte er in der Art eines spaßhaften, gutmüthigen alten Vaters die früh keimende Neigung zwischen Gylluspa und Maha Guru zu einer Heirath ausgelegt, und bedauert, daß der wilde Störenfried, der ältere Bruder, gegen sein Verdienst durch die hergebrachte Sitte, dann an diesem glücklichen Bunde Theil nehmen durfte. Und dennoch hatte die Zeit und sein Schicksal alles aus seinem Gedächtnisse, was das Bild des jungen Maha Guru zurückrufen konnte, verwischt. Seine Erinnerung reichte nicht weiter, als der Anfang seiner entdeckten Strafbarkeit. Am wenigsten konnte er seinen jungen Freund in dieser göttlichen Eigenschaft, an diesem Orte, in dieser Umgebung wieder zu finden erwarten.

Nachdem sich der Lama über die nähern Umstände des in Frage stehenden Versehens unterrichtet hatte, frug er Hali-Jong nach vielen Dingen, von welchen dieser nie geahnt hätte, daß sie einem Fremden bekannt seyn könnten. »Wie groß bist du in deiner Herrlichkeit!« rief er erstaunt aus; »dein Auge reicht weit über die Länder und Meere, und nichts bleibt ihm verborgen. Du kennst meine Niederlassung (ach, daß sie mich wieder hätte!) ohne sie gesehen zu haben. Du weißt die Anzahl der Schornsteine, die den Rauch aus meinen Feueressen leiten. Sogar die Sprossen auf den Leitern, die zu meinen Taubenschlägen führen, hast du gezählt!«

Maha Guru lächelte über die Täuschung, die den Alten blendete. »Wie leben deine Brüder?« fragte er; »kann sich Hili-Jong noch immer nicht an die Schafsfelle gewöhnen? Wie ist's mit Holi-Jongs linkem Auge, das er sich einst durch glühendes, spritzendes Metall verbrannt hat? Er verschmähte es damals, sich heilen zu lassen.«

»Großes, unendliches Wesen!« stammelte der Gefragte, den diese Kenntniß seiner häuslichen Angelegenheiten erstaunen machte; »was darf ich dem Allwissenden sagen, das er nicht schon weiß? Jetzt darf ich hoffen, daß du meinem gerechten Wandel Glauben schenkst. Du wirst die Büchsen kennen, die ich, mit heiligem Gangessande gefüllt, unter meinem Haupte des Nachts liegen habe. Du wirst die frommen Amulette, welche mir heilige Waller von Jagarnaut gebracht, in meiner Behausung wohl gesehen haben; ja es kann dir auch nicht unbekannt seyn, um wie viel leichter meine Geldtruhen geworden sind, seitdem ich unermeßliche Summen darauf verwandt habe, in Alahabad für meine Rechnung jährlich zehn Büßende zu kasteien.«

Maha Guru ließ diese Anpreisungen eines gottheiligen Wandels, den er zu würdigen wußte, und fragte: »Du sprichst aber nicht von Gylluspa. Wie viel Zoll braucht sie noch, um so groß zu seyn wie du?«

Hali-Jong riß die Augen auf. Er stand wie versteinert über die Kenntnisse, die sein König und Meister von seinen Angelegenheiten hatte. Gylluspa's Name konnte für ihn nicht besser erwähnt werden. Er glaubte durch eine Schilderung ihrer Tugenden seine Verdienste in ein besseres Licht zu stellen, und schickte sich zu einem endlosen Redeschwall an. »Daß ich Euch ein Bild dieses Weibes entwerfen könnte!« rief er aus. »Soll ich von ihrer Mutter und ihrer Wiege und den glücklich überstandenen Kinderkrankheiten anfangen? Nein, man muß ihre Tugenden und Vollkommenheiten kennen, um die Verdienste ihres Vaters zu würdigen. Die Erziehung ist ein Werk des Beispiels und der Unterweisung. Gebt Gylluspa eine Cither in die Hand, welche Lieder wird sie singen? Lieder, die sie selbst verfertigt und nur den Preis der Mäßigung, der Natur und der Götter besingen. Daran erkennt man den Umgang, den sie gepflogen. Ihre Stimme im Gesang hat nichts von der weltlichen Frechheit, welche die chinesischen Komödianten über unsre Berge verbreitet haben, sondern sie ist nach Grundsätzen modulirt und nur der Ausdruck einer für das Schöne in der Kunst empfänglichen Seele. Allerdings ist dieses Alles nur durch dein Zuthun, großer Meister, so herrlich ausgeschlagen; aber ich habe verhindert, daß sie deine Wirkungen mißkannte; ich war es, der sie lehrte, nur deinen Preis zu erheben und in Liebessehnsucht zu dir zu vergehen. O kann die Tugend einer Tochter nicht die Schuld eines Vaters tilgen?«

Maha Guru empfand nichts von dem Lächerlichen, das in den Schlußfolgen und Beweisführungen des Alten lag. Es genügte ihm, daß sie im Zusammenhange mit Gylluspa, der unvergeßlichen Freundin seiner Jugend, standen, und er hörte mit Entzücken auf die kleinlichen Ausführungen ihrer Vorzüge im Munde ihres Vaters. Er würde noch länger sich der Wonne dieser Erinnerungen hingegeben haben, hätte nicht ein neuangekündigter Besuch die schnellste Entfernung Hali-Jongs, der von keinem Priester gesehen werden durfte, verlangt. Er winkte mit der Hand, und der Ketzer verließ nicht ohne einige Hoffnungen den Saal.

Hinter dem Palaste des Lama liegt ein umfangreicher Garten, und hier sehen wir Maha Guru einige Stunden später im Schatten der Bäume wandeln. Wie rauh und abwechselnd auch das Klima dieser hochgelegenen Gegend ist, so trifft man hier doch auf Pfirschen und Granatäpfel, ja selbst auf Orangen und Limonen. In der Mitte des Gartens stand ein großer Mangobaum, dessen Zweige von den reifenden Früchten herabgebogen waren.

Ein lustwandelnder Gott! Das ist eine Scene aus den ersten Tagen der Schöpfung. Freudig müssen dem Herrn der Welten die Augen geglänzt haben, als sein erstes Meisterstück vollendet vor ihm lag. Damals, als sein Bart über den vielen Kummer, den ihm die Erde verursacht hat, noch nicht grau geworden war, oder, wie die Juden und Heiden lehren, als die Götter noch Wohlgefallen hatten an den Töchtern dieser Erde, gingen sie wohl unter den Bäumen und labten ihr Auge an den Blüthen und Früchten, die an den Zweigen herunterhingen. Die Weiber kamen dann oft zu ihren Männern und die Jungfrauen zu ihren Vätern, wonnetrunken, daß sie hinter einem blühenden Gesträuch einen Gott erblickt hatten, oder daß er ihnen auf einem grünen Wiesenplan begegnet, sie mit kosenden Worten verführt, und in einer heimlichen Grotte unsterblicher Umarmungen gewürdigt habe. Die Väter und Männer jauchzten über diese Botschaften freudig auf, errichteten einen Altar und opferten Brandopfer des Dankes und der Anbetung. Die Söhne und Enkel aber wuchsen heran, und ragten mächtig im Volke als unverwundbare Helden hervor, beschützten und vertheidigten Troja, stahlen das goldene Vließ, gründeten Städte und Königreiche, und säuberten die Erde von giftigen Ungethümen. Das waren die alten Götter und ihre lustwandelnden Spaziergänge. Die neuen Götter sind alt und mürrisch; sie legen keine Sorgfalt mehr auf ihren Bart, seitdem er grau geworden ist, sie leiden an Hypochondrie und scheuen das Tagslicht. Die Menschen haben sich auch längst daran gewöhnt, sie auf ihren Ausfahrten nicht mehr zu sehen. Denn als ein Unglück, der Tod, damit verknüpft war, daß man einen Gott erblickt hatte, da hatte man auch das Auge für diese Erscheinung verloren, und seitdem sind die Götter nicht mehr von Angesicht geschaut worden. Aber sollten sie nicht zuweilen noch auf die Erde herabsteigen, und sich in den Räumen, die sie geschaffen, ergehen? Es gibt Augenblicke, im Leben des Alls, da man an eine solche göttliche Erholung glauben möchte. Aber ach, daß sie immer seltener werden! Die Räder der alten Maschine rosten immer mehr ein; wir hören die schreienden Töne, wenn sie einmal heftiger in Bewegung gesetzt werden. Das große Weltenauge wird je älter, je schwächer. Es wird noch dahin kommen, daß sich das Auge der Vorsehung einer Brille bedienen muß. Die große Schlange, deren Ring die Welt umgürtet, häutet sich nur noch mit den größten Anstrengungen, und der Erdball hat auf dem Rücken der Schildkröte, die ihn trägt, sehr tiefe Eindrücke gemacht. Schon seit vielen Jahren sehen wir Gott in der größten Arbeit, die Vorsehung hat alle Hände voll zu thun, und das Amt der Gerechtigkeit ist wegen überhäufter Geschäfte gänzlich den Richtern der Erde überlassen worden. Wie ist das auch anders möglich? Die alten Götter wechselten unter einander ab, und wer nicht die Wache hatte, ging auf die Erde zur Erheiterung, die ihm der langweilige Olymp nicht gewähren konnte. Wir haben alle Sorgen des Weltregimentes auf einen einzigen Gott übertragen: wann kann er Zeit finden, fertig zu werden und ein Stündchen der Erholung zu widmen! Darum leben wir auch ein Leben, so traurig, so umwölkt, während unsre Vorfahren sich im Glanz ihrer Götter sonnen konnten! Wann werden wir wieder die Geister der Natur in freudiger Aufregung sehen, weil ihnen der Besuch des Höchsten angekündigt ist? Wann wird meine Seele wieder untertauchen in die ganze, volle, wonnige Lust einer dämmernden Mondnacht? Und wann wird an das entzückte Ohr der Wonneschauer klingen, wie der Gott lustwandelnd unter den Zweigen vorüberzieht?

Maha Guru lag unter dem duftenden Mangobaum, und verfolgte die Aussichten, welche sich seinem Auge darboten. Der Garten lag tiefer als seine Umgebung. Es führten terrassenförmige Stufen, die in den Felsen, ringsherum gehauen waren, von mehreren Seiten in ihn hinein, so daß er ohne Einfriedigung Jedem zugänglich war. Die oberhalb der Terrasse führende Landstraße war mit Fußgängern, Reitern, Fuhrwerken belebt. Welcher Reisende hätte sich so in der Nähe seines Gottes geahnt?

Dort wagte Jemand, vom Wege in den Garten herabzusteigen. Es war ein Weib, tief in weite Kleider gehüllt, doch nicht verschleiert. Sie maß besorgt ihre Schritte, blickte zuweilen ängstlich um, stand dann wieder still, und mußte daher Maha Guru's Neugierde auf das lebhafteste spannen. Er stand auf und ging der Kommenden, deren Absicht er nicht begreifen konnte, entgegen.

Dieser majestätische Wuchs, diese schönen trotz der Verhüllung erkennbaren Glieder, dieser vorsichtige, aber doch eigene Gang, waren dem Gotte nicht unbekannt. Es bedurfte nicht einmal der Nachricht, daß Gylluspa in Lassa sich befände, er würde sie in der Fremden erkannt haben. Gylluspa erschrack, als ihr ein Mann den Weg vertrat. Sie war hieher gekommen, um den Aufenthalt ihres Vaters, der in dieser Gegend liegen sollte, aufzusuchen.

Die Liebe hat ihre Erkennungszeichen, die auch nach vielen Jahren noch untrüglich sind. Ein scharfer Blick, ein Erstaunen, ein halber Zweifel und zuletzt die süßeste Gewißheit! Die Liebenden lagen sich in den Armen, ehe sie noch sicher seyn konnten, sich nicht getäuscht zu haben. Dem Pizzicato der ersten Umarmung folgte ein trunkener Staccatokuß, bis sich die Freude des Wiedersehens, die Wonne der Ueberraschung, die Seligkeit der heitersten Hoffnungen in die langaushaltende Fermate auflös'ten. Gylluspa sah in Maha Guru nur den Freund ihrer ersten Jugend wieder, dessen Nähe für sie in dieser Gegend nichts Auffallendes hatte, da sie den Schamanen hier wußte. Maha Guru selbst aber vergaß, was er sich und dem Himmel schuldig war; die Erde hatte ihn wieder; nur der Mensch kann eine jauchzende Freude empfinden.

Jede Europäerin würde ihrem wiedergefundenen Liebhaber den Vorwurf gemacht haben, warum er wenigstens bei seiner langen Abwesenheit nicht an sie geschrieben habe? In einem postenlosen Lande geschah das nicht, und Gylluspa unterließ es, von der Vergangenheit zu reden, mit Entschlossenheit der Gegenwart in die Zügel fallend.

Sie setzten sich im Schatten des Mangobaumes nieder, mit verschlungenen Händen, den Sehkreis nur in dem engen Raume des wechselseitigen Auges suchend. Gylluspa erhob ihre melodische Stimme und fragte Maha Guru, warum nur sein Bruder in die Herberge gekommen sey, und nicht auch er, der ihr unzählige Male willkommener?

Jetzt erst fühlte Maha Guru, in welche Lage er gekommen. Wenn ihm auch die stumme Sprache des Blicks, der Umarmung des Kusses nicht fremd war, weil der Mensch, wo er sich ihrer bedient, immer an das Gebiet des Himmels streift, so überraschten ihn doch diese naiven Fragen, die eine lauschende Priesterschaft, an den Dalai Lama gerichtet, für blasphemische Ketzerei erklärt hätte. Was sollte er antworten?

Zum Glück behandelt die Liebe das Gespräch immer nur sehr geringschätzig. Sie wirft oft drei Fragen mit Einem Male auf, und wartet die Antwort so wenig darauf ab, daß sie dieselbe, wenn sie wirklich erfolgt, für eine ihr vorgelegte Frage hält. Darum konnte Gylluspa eine Frage auf die andere stellen, ohne daß es ihr auffiel, wie ungenügend die Antworten waren, die Maha Guru darauf gab. Als sie aber auf die Schicksale ihres Vaters und die Hoffnungen kam, welche Maha Guru's Wiedererscheinen für die Zukunft in ihr rege gemacht hatte, da war es ihr um unumwundene, leserliche Ausdrücke zu thun, die sich bis jetzt in seinen Reden noch nicht gefunden hatten.

»Dein Bruder,« sagte Gylluspa, »will meinen Vater durch den Schutz des größten aller Götter, den er für sich in Anspruch nehmen muß, retten. Er hat ihn auch deßhalb in den Palast des Dalai Lama verborgen, wo ich ihn aufsuchen wollte. Du wirst mich zu ihm führen, und wenn ich auch nur unter seinem Fenster einige Worte sprechen darf: sie werden genügen, um ihm auf Augenblicke einen Trost zu verschaffen. Dein Bruder hat doch den Ort vor dir nicht geheim gehalten?«

»Meine theure Gylluspa,« antwortete Maha Guru, »mir ist nichts verborgen. Mein Auge sah Alles, meine Hand war bei Allem zugegen; du wirst den unglücklichen Mann wiedersehen, den du nicht mit Unrecht deinen Vater nennst.«

So konnte noch immer ein Gott sprechen, ohne sich etwas zu vergeben.

»Dürfen wir hoffen,« fragte Gylluspa, »daß sich der Herr des Himmels seiner schlechtbestellten Sache annehmen wird? Dein Bruder sagte, daß von deiner Verwendung Alles abhänge!«

»Nichts kann hierin gegen meinen Willen geschehen,« entgegnete der Gott. »So groß das Verbrechen ist, dessen Hali-Jong bezüchtigt wird; so streng der Gang der Gerechtigkeit, den er ohne Widerrede machen muß: so wird doch die Einsicht seine Unschuld erkennen, oder die Gnade ihm seine Schuld vergeben. Gylluspa, habe Vertrauen zu deinem Freunde, und lege die Sache ganz in seine Hand!«

Die besorgte Tochter konnte mit dieser Erklärung sich zufrieden geben. Alle Hindernisse auf der luftigen Bahn der Träume und Erwartungen, die Maha Guru's Liebe in ihr weckte, waren damit aus dem Wege geräumt. »Noch ehe der Schnee die Thäler verschüttet,« sagte sie, ihre Arme um den Geliebten schlingend, »wird das dumpfe Gemurmel des Pa-Tschieu wieder an unser Ohr schlagen. Du kannst an diesem Ort nicht zurückbleiben wollen, da ich nichts von einer Würde höre, die du hier bekleidest. Du bist weder Zumpun, noch Zempi, noch trägst du Waffen, daß ich den Krieger in dir vermuthen könnte. Warum wolltest du nicht in die verödeten Hallen deines väterlichen Wohnsitzes nach Dukka Jeung zurückkehren? Die rauhen Wintertage würden dich nie abhalten, deinen Weg nach Paro zu nehmen; von grauem, Alles verhüllendem Nebel umgeben, würden wir nur Muße finden, unsre Augen auf uns allein fallen zu lassen. So wahr ich diesen Kuß von dir auf meine Stirn empfangen habe, du kannst in Lassa nicht bleiben, und wirst mit meinen Vätern zu den Gräbern der deinigen zurückkehren!«

»Ich bin überall,« sagte Maha Guru, »wo dein Athem die Luft belebt!«

»Wir suchen die Oerter wieder auf, welche die Heiligthümer unserer Erinnerung sind.«

»Sie sind meinem Gedächtnisse noch nicht entschwunden. Die Liebe ist die Ewigkeit, und im Reiche der Unsterblichen gibt es nur den Frühling.«

»Was werd' ich dir Alles zu zeigen haben,« fuhr Gylluspa mit kindischer Freude fort; »Vorhänge hab' ich gewebt, welche die Thaten der Götter darstellen, und du sollst mir das Zeugniß geben, daß ich die rechten Momente wählte und in den Gruppirungen mit Geschmack verfuhr. Auch in der Kunst der Verse hab' ich Fortschritte gemacht, obschon sie den deinigen nicht gleich kommen werden. Eine Reihe von Oden ist an den zukünftigen Dalai Lama gerichtet, die andern an dich, von dem ich sicher weiß, daß er die Mängel in der Form auf die Rechnung des Herzens setzen wird.«

»Du solltest diese beiden Reihen,« fiel Maha Guru ein, »in einen Band leimen.«

Sey es nun, daß Gylluspa dieser hingeworfenen Bemerkung nicht nachdenken wollte, oder daß sie ein Geräusch hinter den Blättern des Gebüsches davon abbrachte, sie fuhr in ihren Schwärmereien ungestört fort: »Auf einem großen Gemälde hab' ich Narrain, von seinen Freundinnen umgeben, gemalt, wie sie den Anfang des Frühlings feiern. Es stellt eine Scene des Himmels dar, aber die Personen sind dem Feste entnommen, wie wir es oft zusammen gefeiert haben. Du selbst bist der jugendliche Gott, der Meister der Musik und des Tanzes, der Spender der Freude und der Schönheit, wie du mit den aus der Blume Julba zusammengekugelten Blättern auf mich, als die Göttin deiner Wahl, wirfst. Alle andern Huli's zeigen lachend auf die scharlachrothen Flecken, welche die Kugeln auf mein Gesicht gefärbt haben.«

In demselben Augenblicke wurden die traulich Kosenden durch ein lautes Geschrei aufgeschreckt. Der älteste Bruder Maha Guru's, der Kalmückengeneral, sprang auf sie ein, trat schützend vor den Lama, und drängte ihn in das Gebüsch hinein. Zu gleicher Zeit zog am obern Rande des Gartens ein Detaschement chinesischer Cavallerie vorüber, der Oberst Tschu-Kiang an der Spitze, und der Correspondent in einem Palankin in der Mitte. Die zärtliche Gruppe unter dem Mangobaum war von dort oben vollkommen sichtbar, und in der That streckte sich der Correspondent aus seinem Tragsessel mit langem Halse hervor, die Brille an die Augen drückend, und eine im Garten des Dalai Lama so auffallende Erscheinung mit unbeschreiblicher Neugier fixirend. Hatte er Maha Guru in dieser Lage erkannt, so ließ sich von einer solchen Entdeckung leicht eine Anwendung erwarten, die selbst ein Gott zu fürchten Ursache hatte.

Der General war in Begleitung mehrerer hohen Beamten erschienen, die zwar nicht Zeuge der göttlichen Umarmungen, aber nicht wenig erstaunt waren, in diesem Bereiche auf ein Weib zu stoßen. Gylluspa begriff von diesen Auftritten nichts; sie erschrack vor der geheimnißvollen Art, wie man Maha Guru begegnete; kein anderes Gefühl würde in dieser Lage ihre Scham über die plötzliche Dazwischenkunft zurückgedrängt haben; aber diese augenblickliche Umgebung, diese Zwei- und Dreideutigkeit der Mienen, der Bewegungen hatte für sie etwas so Auffallendes, daß sie regungslos die Blicke wiedergab, welche die Männer verwundert auf sie warfen. Es ließ sich wohl nicht umgehen, daß sie endlich durch die sie umgebenden, zuletzt in Andacht sich auflösenden Umstände, auf eine Vermuthung kam, die zu tödtlichem Schrecken ihr bald bestätigt wurde. Mit einem Schrei des Entsetzens sank sie zu Boden; ihr Auge rollte, die Haare lösten sich flatternd am Winde, und ein phantastisches Gemurmel legte sich wie Schaum vor den Mund einer Wahnsinnigen.

Die griechischen Heroinen, welche in grauer, mythischer Vorzeit der Ehre einer göttlichen Liebe gewürdigt wurden, standen mit den Göttern längst auf dem Fuße einer weitläuftigen Schwägerschaft, oder in sonstigen Beziehungen, die ihnen die Zärtlichkeiten des Himmels nicht so schrecklich machten. Die Götter erschienen auch nicht nicht im glänzenden Gefolge ihrer Heerschaaren; sie zogen sich die Flügelschuhe von den Füßen, nahmen die Gestalt eines Dritten an, oder huschten in allerhand spaßhafte Verwandlungen. Danaë sah ihren Gott als goldenen Regen, Leda als einen wollüstigen Schwan, Europa als einen schwanzwedelnden Stier. Diese Incognitos waren selbst in jener, an göttliche Erscheinungen gewöhnten Zeit so nothwendig, daß Semele, als ihr Jupiter einmal nicht durch das Hinterpförtchen, sondern mit sechs Pferden in glänzender Carrosse, mit betreßten Mamelucken, seine Aufwartung machte, wie sie es wünschte, augenblicklich des Todes erblich. Was soll man daher von einer Lage sagen, wo ein Mädchen in ihrem Freunde nicht nur den Abgott ihrer Schwärmerei, sondern in der That den Gott ihrer Andacht wiederfindet! Wenn das Weib in Europa an einem glattgescheitelten, hagern, verklärten Candidaten der Theologie schon sehr wenig hat, was hatte Gylluspa an einem Wesen, das die Theologie selbst war? Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß eines Dalai Lama der Umgang mit dem weiblichen Geschlechte gänzlich unwürdig ist.

Gylluspa erwachte aus ihrer Bewußtlosigkeit in den Armen des Schamanen.

 


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