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Drittes Kapitel

Poesie und Leben

Was dann doch den jungen Dichter ermutigt hatte, sich in einem Hause wieder einzustellen, wo ihn nur die peinlichsten Erinnerungen hätten begrüßen sollen, das auszuführen würde mehrere umständliche Kapitel aus einem System der praktischen Seelenkunde kosten. Er selbst, als er eingetreten war, sich verbeugt und Platz genommen hatte, sprach von einer in der Nähe gelegenen Wohnung eines Freundes, von welcher aus er die freie Übersicht aller Spaziergänge gehabt hätte, die »gnädige Frau« in ihrem kleinen Garten machte. Schon im vorigen Jahre wäre er fast mit allen Vorgängen des Hauses bekannt gewesen. Er hätte den kleinen Oskar austragen sehen, hätte die Besuche mustern können, als die kleine Rahel gekommen wäre, hätte von seines Freundes Wohnung aus immer raten und träumen können, welches wohl die »warme innere lebendige Seele dieser kalten Steine, die Herrn Herzens Haus bildeten«, gewesen – Michael Herz bewohnte vor dem Tore ein schönes Landhaus –, kurz er hätte, seitdem er des abgereisten Freundes Wohnung dann selbst übernommen, sich hier nicht länger als Nachbar wissen können, ohne dem Drange Folge zu leisten, sich bei »gnädiger Frau« wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Diese Erklärung war besonnen und gut. Zustatten kam ihm ohne die Krisis in Leontinen jene bekannte Tatsache, daß eine junge Frau zwar in den ersten Jahren ihrer Ehe ihre Vergangenheit für zu geringfügig hält, um sich mit ihr noch besonders viel zu befassen; sind aber erst zwei Jahre vergangen, kommt mit zwei Kindern mehr oder weniger der Druck der Pflichten und löst zuweilen manche kleine Sorge die Freuden selbst des glücklichsten Besitzes ab, so drängt sich durch die leis geöffnete Pforte der Reflexion auch die Vergangenheit wieder ein, und zu gern hat sie es dann, Gespielen, alte Freundinnen, alte Plätze der Träumerei und des unschuldigen Spiels oder, wie sie es jetzt vielleicht schon nennt, des »Glückes« wieder zu begrüßen.

Leontine mußte sich gestehen, daß ihr Sanchos Besuch wohltat. An seinem Zartgefühl hatte sie nie Ursache gehabt zu zweifeln, und eine schwere Schuld lag ihm gegenüber doch auf ihrem Herzen! Sie hatte ihm nie Hoffnungen ihres Besitzes gegeben, aber angenommen hatte sie seine Huldigungen; sie hatte alles, was sie auf Erden schön und poetisch fand, mit dem Namen dieses ehemaligen Freundes in Verbindung gebracht. Und nun vollends war sie von ihrem Doppelleben beunruhigt. Die alte verklärte Welt- und Lebensauffassung drohte sie zu verlassen. Es waren Geister in ihr Herz gezogen, die ihr unrein dünkten. Sie war niedergehalten, niederwärts zur Erde, und das so tief, daß sie zuweilen vor sich selbst erschrak, wenn sie die Aufwallungen bemerkte, deren ihr Innerstes um Kleinstes fähig war. Sich um eine Frage der Wirtschaft erzürnen, zanken, die Umgebungen ihrer Existenz auf einer Hetzjagd verfolgen, mit allen Gedanken spionieren (es war die Tagesordnung), das erschien ihr denn doch oft so unwürdig, so klein und beklagenswert, daß sie begreifen konnte, wie sie eine Stunde lang am Klavier gesessen und gespielt und nicht eine einzige Note selbst gehört hatte. Wenn sie etwas las, war sie zerstreut und wußte nicht, was sie las. Mitten in den Schilderungen, die ihr ein Dichter vom Zauber schöner Gegenden oder von den Weiheaugenblicken der Gefühlswelt entworfen, kam ihr die Sorge und Angst um die spekulierenden Spiele, in welche sie sich auf Michaels Aufforderung eingelassen hatte. Auch sie nahm seit einem Jahr an den Schwankungen der Börse teil. Gewinne, die ihr Michael, der Seelenkünstler, in Aussicht gestellt hatte und für deren Anwendung sie praktischen Rat wußte, nahmen sie mit fieberhafter Ungeduld in Anspruch. Sie fühlte, daß ihr in dieser neuen Wendung ihres Gemüts etwas Altes verloren zu gehen drohte, und so konnte sie dem Drange nicht widerstehen, den Repräsentanten ihrer Vergangenheit in ihrer Nähe zu wissen, ihn einzuladen, daß er wiederkommen möchte, und ihn dann auch öfter zu sehen, als er aus eigenem Antrieb zu kommen gewagt haben würde.

Und welch ein rätselhaftes Ding ein Frauenherz ist, das wußte niemand besser als Michael Herz, der nicht wenig erschrak. Er hatte die Wiederannäherung Sanchos zwar vorausgesehen, und im Scherz, wenn von den früheren Verehrern seiner Gemahlin gesprochen wurde, die Rückkehr des Doktors für nahe bevorstehend prophezeit. Aber nun war die Gefahr da. Er stellte sich die weiche Stimmung Leontinens nach dem Kindbett vor. Gelang es dem Doktor, ihr wieder eine Verachtung der materiellen Bedingungen des Lebens beizubringen und über die Pflichten eines Hauswesens zu spotten, über Geld und Gut, so war mit der Erneuerung dieser Bekanntschaft Gefahr verbunden.

Dennoch wagte Michael Herz nicht, trotz seiner aufwallenden Eifersucht, die Besuche des Doktors zu verbieten. Er nahm die Nachricht scheinbar gleichgültig auf und trug sogar Sorge für eine förmliche Einladung. Es blieb ihm später nicht im mindesten verborgen, daß Sancho viel öfter, als schicklich war, kam und bei Leontinen Morgen- und Nachmittagsbesuche abstattete. Er setzte voraus, daß beide in solchen Augenblicken zurückhaltend sprachen, immer in einer gemessenen Entfernung, mit Anerkennung der gegenseitigen Rücksichten, aber die Gefahr für eine weiland Schwärmerin, die jetzt schon heuchelte, verblieb; denn Heuchelei war es, daß Leontine wieder die alte Begeisterung für Mondnächte und Comer-See-Fahrten affektierte; Heuchelei, daß sie zu dem Dichter von Interesse für Dinge sprach, die sie im Drang ihrer schon lange nur rein praktischen Gedanken gar nicht mehr mit irgendeiner Teilnahme verfolgte. Geld! Geld! waren ihre Gedanken, sonst nichts.

Dies Stadium einer jungen Frauenentwicklung ist gefahrvoll. Empfindungen werden herausgehängt, die man nicht besitzt. Man will nicht gering erscheinen, will den Duft der Bedeutsamkeit nicht verloren haben. Die Haltung wird tiefinnerlich berechnend und kalt, äußerlich kokett. Man lügt eine Szene der Empfindsamkeit. Ist sie vorüber, rächt man sich an seiner Umgebung, wird rücksichtslos, wirrt alles durcheinander und gibt den Grazien den Abschied.

Michael Herz traf Leontinen schon oft, nachdem sich eben der Herr Doktor entfernt hatte, in vollem Lachen, in vollem Spott über die wiederangeknüpfte Bekanntschaft. Sie tat vor ihrem Gemahl, als wenn sie den Schwärmer nur aufzöge und die wiedererwachte Huldigung des Dichters nur wie eine Narrheit ansähe. Michael Herz pflegte über die Geständnisse zu lächeln, sprach vom Wirtschaftswesen, vom Gelde, von den Staatspapieren und der Politik, er wußte, was er zu denken hatte. In früheren Jahren hatte er zu eifrig seinen Balzac gelesen, um sich nicht zu sagen, daß die Außenseite der Frauen für ihr Verhalten keinen Maßstab gibt.

Einstweilen zog er vor, Moritz Sancho recht liebenswürdig zu finden, sich ihm ganz kordial anzuschließen, nach seinen Planen, Absichten zu fragen, ihm seine Hülfe, seine Förderung anzubieten. Er fühlte wohl die Lächerlichkeit dieser Handlungsweise, fühlte sie, wie in einem solchen Fall alle besonnenen Männer, wenn sie mit der einen Hand einem eingebildeten und verblendeten Manne, der sich unterfängt, den Frieden ihres Hauses untergraben zu wollen, die Rechte schütteln, mit der andern nach dem Dolch im Busen greifen möchten. Er lachte mit Moritz Sancho wie mit seinem besten Freunde, rauchte mit ihm Zigarren, machte Spaziergänge mit ihm, doch war es nur ein Friede wie über einem Pulverfaß.

Der Doktor handelte wie in solcher Lage alle jungen Männer handeln, die unter dem Einfluß ihrer Vorteile stehen. War es doch eine stadtkundige Tatsache, daß Herz nur durch sein Geld und seinen Namen die schöne Simonis gewonnen haben konnte. Allen denen, die nach Sanchos Auffassung die Welt beurteilten – er fand deren nicht viel –, war Herz unwürdig, diese reizende junge Frau zu besitzen. Mußte ihm auch der nähere Umgang zeigen, daß der kleine Mann Vorzüge des Geistes besaß, die sein anspruchloses Äußere vergessen ließen, so ist die Einsprache der Gerechtigkeit da, wo Leidenschaft waltet, immer nur gering. Sancho lebte nur für die schöne junge Frau, der er wieder sein Dichten und Trachten widmete. Er hatte noch nicht gewagt, an die alte Vergangenheit zu erinnern, er hatte sich noch keine Vertraulichkeit erlaubt, da sich immer noch Gegenstände der Unterhaltung fanden, die eine neutrale Diskussion erlaubten. So gärte und braute es nur vorläufig in ihm, bis er den Versuch wagte, wieder Saiten der Vergangenheit zu berühren und zu hören, wie sie anklingen würden.

Nach zwei Monaten der erneuerten Bekanntschaft wagte er, das Eis zu brechen. Er wagte es in Form eines Gedichts. Von seiner Wohnung aus hatte er beobachtet, daß Leontine tagtäglich einen kleinen an ihrer Villa angebrachten allerliebsten Turm bestieg, wo sie eine Anzahl Tauben hielt und diese regelmäßig fütterte. Diese Taubenzucht war ihm das Symbol einer dauernd und unzerstörbar in Leontinens Seele verbliebenen Poesie. Wenn sie mittags auf der Galerie des kleinen Turms erschien und die Täublein rief und diese herzte und an sich zog und die Vögel Aphroditens aus ihrem Munde mit dem Schnäbelchen Erbsen oder andere kleine Körner picken ließ, da verwandelte sich ihm die seit ihrer Ehe in doppeltem Reiz strahlende junge Frau in ein feenhaftes Zauberbild, das nach Erlösung schmachtete. Schon hundertmal hatte ihr Sancho gesagt, daß ihm ihre Erscheinung auf dem Taubenhause in jeder Beziehung den Eindruck eines Märchens, eines Bildes aus der Fabelwelt machte.

Leontine war von diesen Worten jedesmal höchst geschmeichelt, hatte aber doch gesucht, den Gegenstand abzubrechen und auf anderes überzugehen. Dennoch knüpfte der verliebte Hausfreund den Versuch, endlich an das innerste Herz der jungen Frau befragend anzupochen, an ihre Erscheinung unter den Tauben an und entwarf ein Gedicht, das er bemüht war, ihr auf eine verschwiegene und sichere Art in die Hand zu spielen.

Sancho war an einem Sonntag bei Michael Herz zu Tisch geladen. Vor seinem Eintreten fand er Zeit, der ihn empfangenden Leontine sein gewagtes Gedicht zuzustecken mit der Bitte, es zu lesen, es zu beurteilen. Sie zögerte einen Augenblick. Doch nahm sie es. In dem Augenblick öffnete Michael Herz die Tür, um Sancho zu sich zu rufen, dem er in den Pariser Blättern eine Neuigkeit zeigen wollte. Herz sah die Übergabe des Gedichtes nicht. Leontine fand noch Zeit, es zu lesen.

Kaum aber hatte sie, in ein Nebenzimmer schlüpfend, die Lektüre beendet, kaum in aller Eile das Blatt wieder zu sich gesteckt, als Herz mit Sancho zurückkehrte. Herz, scheinbar besonders gut angeregt, Sancho, mit sichtlicher Befangenheit, doch voll Hoffnung. »Was hast du, liebes Kind?« fragte Herz, die Unruhe und Verlegenheit seiner Frau bemerkend. Statt eine Antwort zu geben, eilte Leontine mit ihren rauschenden seidenen Gewändern aus dem Zimmer. Sancho erschrak. Himmel! dachte er. Was hast du getan! Das wird eine Szene geben! – »Sie wird wohl noch eine Anordnung für den Tisch treffen«, sagte Herz und freute sich des Diners, das er wie immer schon am Abend vorher mit seiner Gattin besprochen hatte; sein Satz war der, daß bei ökonomischen Frauen besser wäre, vorher schon zu wissen, was man bekommt, man könnte sonst auch zu sehr enttäuscht oder wohl gar versucht werden, vor seinen Gästen das Mahl zu kritisieren, was, nach aller Frauen Meinung, ein äußerster Verstoß gegen den Anstand sein soll.

Nach wenig Augenblicken kam Leontine zurück, heiter, lachend, in angenehmster Laune und beinahe freudestrahlend. Sancho schwamm in Entzücken. Wie war er so angeregt, wie ging er heute so sich unterordnend auf alle Scherze Michael Herzens ein, wie stieß er mit so absichtlicher Freundschaft für den, wie er ihn unter seinen Genossen nannte, häßlichen Geldsack an, sooft ihm dieser das Glas entgegenhielt!

Leontine schwieg, legte vor, war von Zeit zu Zeit nachdenklich, aber mit einer gewissen inneren Befriedigung. Ob infolge der Freude über Sanchos Gedicht, ob infolge einer noch in der Küche getroffenen Anordnung, ließ sich nicht sagen. Der Wirt sprach von Politik, von den Staatseffekten, heute sogar von Poesie, neuen Musenalmanachen, Emanzipation und den künftigen Anstellungen, die sich den jungen Musensöhnen jüdischen Glaubens eröffnen würden. Er zog Béranger und Robert Burns dem meisten vor, was man so auf dem deutschen Parnaß seit Jahren hätte zu hören bekommen, und ließ sich, wenn ihn dafür Sancho einen herzlosen Yankee nannte, diese Bezeichnung gefallen. Er würzte das Gespräch mit allerhand Drolerien, Drolligen Bemerkungen die ihm gut standen und seine kleine Figur oft schon an einer großen Tafel zur Hauptperson gemacht hatten. Zugleich schenkte er dem »Freunde« fleißiger ein, als es Leontine liebte. Es war dies jene »Engherzigkeit der Frauen, die auf einem Sinn für das Maßvolle beruht und die beste Garantie ihrer Tugend ist«, so sagte wohl sonst ihr Gatte, der – ihren Geiz kannte.

Die Suppe, das Roastbeef waren vorüber. Man kam an die Gemüse. Es gab junge Erbsen. Michael Herz, der den Küchenzettel voraus kannte, tat jedesmal, als wäre er vom Dargebotenen angenehm überrascht und freute sich der schönen Ordnung. Alles ging am Schnürchen. Die Fäden, welche die Verwirklichung des Menüs vom Tische zur Küche, von der Küche zum Tische lenkten, wurden nicht bemerkt.

Jetzt aber, beinahe wie um ihn zu zerstreuen, richtete Leontine an Herz einige lebhafte Fragen. Herz antwortete nicht sogleich, es fesselte ihn etwas, ein Fehler im Servieren, eine auffallende Lücke beim Gemüsegange. Man hatte zwei Gemüse und nur eine Beilage. Es fehlten junge Tauben, die zu den grünen Erbsen hatten gegeben werden sollen. Hätte er ahnen können, daß gerade diese jungen Tauben von Leontinen eben in der Küche abbestellt worden waren!

Mit dem ihm eigenen Humor sagte Michael Herz: »Bester Doktor! Sie müssen heute mit Pasteten vorliebnehmen, die ein wenig trocken sind! Leontine, warum haben wir zu den jungen Erbsen nicht Tauben, die man unter deiner Leitung so vortrefflich zuzubereiten versteht?«

Sancho, dessen Seele immer zwischen Poesie und Tauben und Tauben und Poesie schwebte, biß sich bei Erwähnung der Tauben auf die Lippen, und vollends geriet Leontine in Verlegenheit. »Tauben?« sagte sie fast tonlos und mit einem blinzelnden Auge, dessen Aufforderung zum Schweigen Herz entweder übersah oder nicht verstehen wollte. Er wandte sich zu dem aufwartenden Diener und erinnerte an die Tauben. – »Tauben! Welche Tauben?« fragte Leontine. – »Unsere in drei Tagen mit Eröffnung des elektrischen Telegrafen ausgedienten alten Kurstauben!« sagte Herz und wandte sich nochmals an die Bedienung: »Habt ihr die Tauben vergessen?« Die Bedienung schwieg und sah nieder. – »Brav, Leontine«, sagte Herz in aller Unbefangenheit, »jetzt versteh ich dich! Du hast mir einen Schmerz ersparen wollen. Was sagen Sie, Doktor? Sie wissen doch, daß ich mir seit einem Jahr Kurstauben gehalten habe?« – »Kurstauben?« fragte Sancho mit einem bedeutsamen Blick auf Leontinen, die auf den Teller niedersah und keines Wortes fähig war. – »Haben Sie nie meine Frau gesehen«, fuhr Herz fort, »wenn sie mittags um zwölf Uhr auf unsern kleinen Turm stieg und die Kurse abwartete, die mir meine Tauben von Brüssel brachten? Von Paris nach Brüssel signalisiert sie der Telegraf, von dort bis hierher ist jetzt erst der elektrische Draht fertig geworden. Jeden Mittag hatte ich meine Kurse durch eine Taubenpost, die ein Relais am Rhein, ein zweites an der Weser und ein drittes an der Elbe hatten. Kamen die Kurse mittags auf unserm Türmchen an, so empfing sie meine gute Leontine, schrieb sie rasch auf und schickte sie mir aufs Comptoir, wo sie gerade noch zur rechten Zeit ankamen, um sicherer damit auf der Börse operieren zu können.«

»So! So! So!« sagte Sancho in einem Ton, der einem aus allen Himmeln Gefallenen, Enttäuschten oder eher noch demjenigen gleichkam, der sich bewußt war, eine große Albernheit begangen zu haben. Die poetischen Illusionen, die er sich von Leontinens kindlichem und noch wie in alter Zeit auf dem Hohen Graben in idealsten Anschauungen lebendem Sinne gemacht hatte, sollten, wenn nicht zu seiner, doch zur Verzweiflung Leontinens immer noch mehr zerstört werden. Denn Michael Herz fuhr fort: »Sie sind Dichter, Doktor! Was sagen Sie von einer so praktischen Frau wie die meinige! Ich esse gern Tauben, aber unsere in drei Tagen ausgedienten Tierchen zu schlachten und die auf dem Tisch zubereitet vor sich zu sehen, nachdem sie in unserm Dienst hin- und hergeflogen sind und unter ihren Fittichen die geheimnisvollen Zeichen aus der Ferne trugen, ist selbst einem kalten Geschäftsmann wie mir zu viel zugemutet. Aber mein gutes Weibchen demonstrierte mir, und eigentlich mit Recht, daß die Fortsetzung der Taubenzucht ein sehr kostspieliges Vergnügen sein würde. Wie billig, was soll man mit den Tauben anfangen! Aber ich sehe sie immer noch vor mir, die zarten Dinger, mit ihren Häubchen und Hörnchen auf dem Kopf, mit ihren kleinen Sporen an dem befranzten Fuße, die Boten des Friedens auch in unserer Zeit – denn ohne Frieden keine angenehmen Kurse –, aber alles das gebraten, gespickt, au gratin (franz.) mit Kruste in geriebenem Zwieback vor sich zum Essen hingestellt zu sehen! Nein! Ich danke dir, daß du mir diesen Anblick meines weißbraunen Lolo und meiner blaugrünen Pretty und des zierlichen, fast wie ein kleiner Pfau so glänzenden Krakelfüßchens Fidy erspart hast! Nehmen Sie vorlieb, Doktor! Wir Geldsäcke sind nicht so unpoetisch, wie ihr euch, ihr Herren Dichter, einbildet! Zum Beweis dafür haben Sie heute zu zwei Gemüsen nur eine Beilage.«

Michael Herz sprach diese Worte in der größten Unbefangenheit. Er ahnte nicht, welche Wirkung sie hervorbrachten. Leontine, die sich so lange Zeit den Nimbus einer nur aus idyllischer Neigung die Tauben herzenden und pflegenden poetischen Natur hatte gefallen lassen, sprach während der übrigen Gänge kein Wort mehr, Sancho saß in Erinnerung seines Gedichts wie auf der Folter und zeigte in seinen Mienen ein Lächeln, das beinahe etwas Borniertes hatte, wenn man ein solches Wort auf einen so geistreichen Mann anwenden konnte.

Michael Herz wußte nicht, was diese Veränderung hervorgebracht hatte. Daß seine Gattin in solchem Grade die poetische Empfindlerin spielen sollte, ihm übelzunehmen, wenn er die Geschichte seiner Kurstauben erzählte, mochte er nicht glauben. Doch war ihr Benehmen auffallend. Er bereute bereits bitter, ihre Ökonomie bloßgestellt zu haben; denn sie hatte in der Tat am Abend vorher zu ihm gesagt: »Lieber Mann, das sind ja kuriose Skrupel! Der elektrische Telegraf macht die Tauben überflüssig. Die Kurse weiß jetzt alle Welt. Wir haben einen Gewinn weniger, aber auch einen Vorteil mehr! Der Scheffel Erbsen ist um einen Taler gestiegen! Eine Ausgabe vermindert sich. Ich sehe nicht ein, was ich noch mit den Tauben soll! Sie zu verschenken wäre Torheit. Magst du sie nicht essen, nun so mögen sie die Leute essen!« Mit Aufrichtigkeit hatte sich Herz sagen müssen, daß dies die Sprache einer vernünftigen Hausfrau und einer so guten Ökonomie war, wie sie eben auch nur die Frauen mit allen sonstigen Ansprüchen an Poesie verbinden können.

Nach dem Kaffee war Sancho gegangen, nicht wenig bestürzt über die Einsilbigkeit Leontinens. Ihr Abschied war kalt zu nennen. Als Michael Herz mit seiner Gemahlin allein war, machte er sich auf Vorwürfe gefaßt. Wie erstaunte er, als Leontine auf dem Sofa sitzen blieb, erst schwieg, dann immer ernster wurde, zuletzt das Haupt aufstützte und endlich in Tränen ausbrach. Herz hatte gerade die französische Zeitung in der Hand. »Aber um's Himmels willen, was ist dir, Kind?« fragte er und ließ das Papier fallen. Statt aller Antwort folgten wieder nur Tränen. Das war doch ein seltener Anblick für Herz. Bewegt trat er zu Leontinen. »Bist du unzufrieden mit mir? Hab ich dich mit irgend etwas verletzt?« fragte er voll gutmütiger Zärtlichkeit. »Vergib mir! Ich hätte wohl von den Tauben schweigen sollen?« Leontine verbarg das mit Tränen bedeckte Antlitz und bückte sich auf die Sofalehne. »Aber mein Gott«, rief ihr Gatte, »was ist dir nur, Leontine?« Und so drängte er denn in sie, sich auszusprechen. Sie schwieg lange, kämpfte sichtlich mit sich; endlich reichte sie ihm, nachdem er gelobt zu schweigen und in der Sache, die sie ihm anvertraute, nichts zu tun, das Papier, worauf das Gedicht des Doktor Moritz Sancho sauber abgeschrieben stand.

Staunend ergriff er das Blatt, ahnte sogleich den Zusammenhang, wollte ihr Vertrauen ablehnen; aber sie zwang ihn zu lesen, und so las er:

Mit Adlerflügeln glaubt ich aufzusteigen
Einst in ein Reich des höchsten Erdenglücks!
Der Traum war kurz! Wandt ich mich hinterrücks,
So saß ich, ach! in dunkeln Waldeszweigen
Allein mit meinem Schmerz und meinem Schweigen.

Und daß ich dennoch wieder aus dem Laube,
Das mich verbarg, mich wage hoffnungsbang,
Ist nicht mehr Adlers kühner Schwung und Drang –
Nein! Zu dem Zagen sprach: »Vertraue! Glaube!«
Ein Bild der Schüchternheit, die zarte Taube.

Wenn ich Dich sah mit holder Frauenmilde
Hoch auf dem Söller Deines Hauses stehn,
Des Windes Hauch in Deinen Locken wehn –
Und um Dich her im anmutvollsten Bilde
Geleit der Venus, eine Taubengilde –

Wie flatterte, wie schwirrte das im Kreise
Um Deine Gunst! Die eine sucht die Hand,
Die andre fliegt Dir auf der Schultern Rand,
Die dritte, die ist mehr als weise,
Sie streift Dir schnäbelnd Deine Lippen leise –

Und jede hört Dich schelten, hört Dich loben:
»Du bist bescheiden! Du da allzu gier!«
Noch blickst Du auf zum hohen Luftrevier,
Ob nicht ein Spätling angstvoll ruft von oben:
»Ihr habt den Tisch doch noch nicht aufgehoben?«

Wie hast Du treu gesorgt! Die besten Körnchen
Hast Du dem Spätling liebend aufbewahrt.
Wie drückst Du ihn ans Herz so mild und zart,
Den Friedensboten, ob er gleich ein Hörnchen
Am Köpfchen trägt, am Fuß ein trutzig Spörnchen.

Ach! wär ich Noah doch und könnte wagen
Zu hoffen, wenn verrauscht die Leidensflut,
Es kämen Boten mir der Himmelshut,
Es brächten Tauben mir nach Schreckenstagen
Ein grünes Friedensölblatt so getragen!

An alte Sagen denk ich, an Geschichten,
Die aus des Südens Landen allbekannt,
Wie Liebende sich ihrer Liebe Stand,
Ihr Hoffen, die Gefahren, Wünsche, Pflichten
Verschwiegen so durch Taubenflug berichten.

Von meinem Auge will es nimmer schwinden,
Das Bild: Gefangner Troubadour,
Dem ach! die Hoffnung einer Taube nur!
Sie kommt! Ein Blatt! Es flattert in den Winden –
Was würd ich wohl auf ihm geschrieben finden?

Mein Himmelslicht, wenn Sonn und Stern erblinden!
Strahlst Du mir noch in meines Lebens Nacht?
Wirst Du in Deiner Schönheit Pracht
Mir nicht mehr, Göttin, wie schon einst entschwinden?
Oh! lasse Lieb ein Wort der Liebe finden!

Anfangs wallte in dem überraschten Gatten ein Reiz zum äußersten Gelächter und ein »Was ist?« auf, dann aber überkam es ihn doch, als sollte er Leben und Tod über sich und den Schreiber dieser Aufforderung zu einer Korrespondenz entscheiden lassen.

»Um Gottes willen!« rief Leontine. »Vergessen wir den Vorfall! Du hast es mir versprochen! Ich trage die Schuld allein. Kein Wort zu Sancho – ich beschwöre dich! Versprich es mir noch einmal!« Michael Herz sammelte sich. Endlich sagte er: »Liebst du denn wirklich diesen Dichter?« Leontine lehnte die Frage mit bittender Miene ab. »Dann beschämt dich«, sagte er, »der Widerspruch dessen, was man von dir glaubt, und dessen, was die Wirklichkeit bietet! Du glaubtest ein Gegenstand der Poesie zu sein, gebärdetest dich auch so, es zu erscheinen, und fühlst dich nun gedemütigt durch die Enthüllung der reinsten Prosa. Es ist wahrhaftig der Tränen wert!«

Leontine erwiderte mit erstickter Stimme, sie wüßte nicht, wie sie es nennen sollte, aber sie fühlte schon lange einen schmerzlichen Zwiespalt in sich, sie könnte nicht sagen, was in ihr Wahrheit oder Lüge wäre, sie hasse und verachte sich. Der wohlwollende Mann war gerührt. Er küßte die dargereichte Hand, und um rasch, wie es seine Natur erforderte, ein allzu weiches Thema zu verlassen, sagte er: »Also das Gedicht wirst du ohne ein Wort zurücksenden. Dann benutzen wir die Jahreszeit und reisen. Der Comer See war deine Jugendsehnsucht. Gut, wir wollen ihn sehen und dabei so viel schwärmen, als uns die Hotelrechnungen gestatten. Ein »praktischer Verstand«, der bei den Gondelfahrten die Taxen nachsieht, ein Rechner, der in den italienischen Wirtshäusern die üblichen Münzfüße im Auge behält, ist bei allen diesen Schönheiten, die wir genießen werden, denk ich, nicht zu verachten.«

»Der Comer See!« rief Leontine. »Nein, wähle ein anderes Ziel! Aber wie du willst. An jedem Orte werde ich dir gestehen, daß die tiefe Beschämung, die ich heute erfuhr, für mein ganzes Leben ein unverlorener Gewinn sein soll.«

In einigen Tagen schon reiste das Paar – und wirklich nach Italien. Leontine hatte von diesem Augenblick an den Mittelpunkt ihres Lebens in ihrem Gatten gefunden, den sie betrachtete wie ein ihr bisher verschlossen gewesenes Buch, dessen seltsamer und edler Inhalt sie überraschte, hob und ihr die Möglichkeit eröffnete, Poesie und Leben zu verbinden. Sie mußte zugleich versprechen, nun auch ihre Geldbeziehungen aufzugeben und die Leitung der Ökonomie unter die Obhut einer alten Wirtschafterin zu stellen, die sich bei den Eltern ihres Mannes bewährt hatte und dieser aus der Heimat herüberkommen ließ. Feierlich überreichte sie der neuen Verwalterin die Schlüssel zu Küche, Keller, Vorratskammer, ihrem Mann die zu ihrer Schatulle und ihrem aus Aktien, Obligationen, Losen, Promessen Schuldverschreibungen. bestehenden Privatschatz. Das Mittel, um eine Frau vor Untreue zu bewahren, sie geizig zu machen, also einen Fehler durch den andern zu heilen, schien ihm nicht mehr nötig. Er hoffte auf die Nachwirkung der Beschämung durch die gebratene industrielle Poesie seiner Kurstauben.

Doktor Sancho erhielt bald darauf einen Brief von seinem Vater, worin ihn dieser zu einer Brautschau einlud. Das Verhältnis machte sich. Er heiratete die Tochter eines Pfandleihers, die nicht schön, aber wohlhabend und gebildet genug war, seine Verse zu verstehen.


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