Karl Gutzkow
Imagina Unruh
Karl Gutzkow

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2.

So klar und zusammenhängend, wie vorhin erzählt, stand nun freilich nicht Alles in ihrem Gedächtnisse beieinander. Spätere Betrachtung erst ergänzte, ja das eigentliche Verständniß kam in den nachfolgenden Jahren. Oft sagte sie sich später: Alles, was ich sah, war wirklich, nur Prinz Wismuth – hier stockte sie. Es konnte der erste Student gewesen sein, den die Phantasie in den Schacht verlegte, da er ihr doch eigentlich erst vor dem ohlauer Thore erschienen war. Lärmend genug führte sich auch diese Vision ein. Denn nachdem einige Stunden des trägen Dahinfahrens und Herabrollens von den Gebirgshöhen verflossen waren und der Gendarme Fritze von dem Fräulein seines Landraths erlangt hatte, daß er rauchen durfte, entspann sich erst ein Gespräch zwischen der frommen, katholischen Imagina und dem aus der Mark Brandenburg hierher versetzten, aus Potsdam gebürtigen Gendarmen über das Wunderbare. Fritze, ein völlig aufgeklärter und abstract-denkender Weltbürger, schien nicht zu wissen, daß er eines von den tausend praktischen Organen einer christlich-germanischen, mehr mystischen, als aufgeklärten leitenden Regierungsidee war. Er gehörte, trotz seiner monatlichen Löhnung und Remontekassengelder, zu demselben lichtfreundlichen Principe, das er mitunter polizeilich zu überwachen hatte. Jede andere Auffassung des Lebens, als eine vernunftklare, nannte er mit seiner märkischen Entschiedenheit verbiestert, während doch gerade Nicolai und Biester in ihm völlig aufgegangen waren. Nur den Enthusiasmus des schlesischen Kutschers Andres für die breslauer Studenten theilte er nicht. Andres, als echtes schlesisches Landeskind, hatte seine innigste Freude an der Aussicht, dem gnädigen Fräulein den ersten breslauer Studenten zu zeigen, Imagina ihrerseits, je näher sie Breslau kam, mußte das pochende Herz mit der Hand bedecken, weil sie sich unter einem breslauer Studenten das Liebste, Schönste und Goldigste in ganz Schlesien dachte. Das war schon früh zum Ausströmen voll eingesogen, und Andres war nicht der Mann, sie eines Zurückhaltendern zu belehren. Während er die Peitsche lustig knallte und die Thürme Breslaus in der Abendsonne schon sichtbar wurden, nahm sein Auge nur den ersten etwa ihnen begegnenden Studenten aufs Korn und Imagina harrte mit pochender Erwartung, wenn Andres rufen würde: Frölen, da ist Einer! da ist Einer!

Fritze, als Potsdamer, als Gendarme, brummte über diesen ihm unverständlichen Enthusiasmus für Studenten. Er wußte zu gut, wie sein Staatsberuf in vollem Widerspruch zu dem akademischen Selbstgefühle stand, und einmal über das andere rief er aus:

Seh Er auf seine Pferde, Andres! Laß er die Studenten unterwegs! Sind lauter Thunichtguts! Drehen noch den ganzen Staat um! Rauchen wollen sie überall! Despectiren die Gendarmerie! Will Er wol zufahren!

Andres ließ sich aber nicht die Mühe verdrießen, seinem gnädigen Fräulein doch das erste junge breslauer akademische Blut zu zeigen, und als er hin- und herlugend und in der sanften Abenddämmerung die Augen zwinkernd und vor jedem Wirthshause der Landstraße angenehm lockend und pfeifend endlich wirklich den ersten Studenten entdeckt hatte und losschrie: Frölen, da ist Einer! und Imagina, im Wagen jubelnd aufspringend und hastig über Andres' Schulter sich lehnend, vom Wege aus freundlich grüßend einen Jüngling in schwarzer altdeutscher Tracht mit bloßem Hals, mit rothem Barett auf braunen Locken und mit Silbertroddeln erblickte und mit erstickter Stimme schrie: Prinz Wismuth – da ward es Fritzens märkischem Gemüthe denn doch zu arg und zornig seine Pfeife, die ihm Imagina zu rauchen erlaubt hatte, wegwerfend und den Erzieher spielend, rief er: Himmel-Donner-Wetter, Fräulein, wollen Sie wol geruhig sitzen bleiben! Hier ist blos Breslau!

Imagina hörte aber und sah nichts mehr. Sie war in König Kobalt's blauer Grotte, erblickte Nickel den Contract mit der Hölle schreiben, sah Prinz Wismuth, für den die sieben Todsünden in Versatz waren, als Student auf die Erde hinausziehen und sank träumend, zitternd und geisterblaß in die Arme einer sie herzlich grüßenden, würdigen Dame, an die Fritze einen Brief vom Landrath abgab, während Andres große und kleine Koffer, Kisten und Schachteln von der Kalesche band. Träumend und bewußtlos gab Imagina Fritzen und Andres die Hand und folgte der würdigen Dame, die sie feierlich in einen Saal voll junger Mädchen führte. Sie war in ihrer Pension.

Ueber Imaginens nächste Lebensjahre können wir um so leichter hinweggehen, als ein Brief, den Madame Milde, ihre Erzieherin, im fünften Jahre ihrer Pensionsaufnahme nach Bischofswalde an den Vater schrieb, das Meiste zusammenfaßt, was zur Seelenkunde der künftigen Gräfin von Wartenberg zu wissen nöthig ist.

Nach vielen kürzern und längern Conferenzen, die Madame Milde mit dem Landrath bald zu Ostern, bald zu Michaelis in vier aufeinander folgenden Jahren bei seinen breslauer Besuchen abhielt, schrieb eines Tages die würdige Frau dem Vater folgende Zeilen:

 

»Hochgeehrtester Herr Landrath!

Ew. Hochwohlgeboren haben vollkommen Recht, mir Vorwürfe zu machen, daß ich so lange nichts von mir hören ließ. Die Entschuldigung meiner überhäuften Geschäfte wäre keine; denn welche Geschäfte sind für mich dringender, als die, mich mit den Aeltern der mir anvertrauten Kinder in Verbindung zu setzen und gemeinschaftlich deren Wohl und Wehe zu berathen! Sie wissen, wie ich die holde, gute Imagina liebe! Sie wissen, wie mir dies Kind seit vier Jahren, daß es meiner Pflege und Aufsicht anvertraut wurde, ans Herz gewachsen ist; ein Ausdruck, den ich in seiner ganzen ursprünglichen Kraft gebrauche. Sie ist die älteste meiner Zöglinge, sie ist in das achtzehnte Jahr getreten und, wie ich Ihnen schon oft zu sagen die Ehre hatte, über den Kreis ihrer übrigen viel jüngern Genossinnen, ja auch längst selbst über die Sphäre meines Wirkens hinausgewachsen. Fünf Jahre lang haben Sie, bei Ihrer vielfach in Anspruch genommenen, schwierigen Lebensaufgabe, dem Kinde so viel Theilnahme gewidmet, daß Ihr Vaterherz sich über sich selbst beruhigen kann. Sie haben oft von mir Klagen, viel öfter Lobeserhebungen gehört. Sie haben sich durch das Urtheil anderer Menschen, die vielleicht weniger bestochen sind als wir Beide, überzeugt, daß die außerordentlichen Fortschritte in der Musik und Malerei, die Imagina machte, keine Selbsttäuschungen der Aeltern- oder Erzieherliebe sind. Ebenso oft haben Sie aber auch darauf gedrungen, daß Imagina dem reellen Wissen, den Sprachen, der Geschichte sich nicht so verschließen möchte, wie ich selbst es am wenigsten wünschte. Alle diese Ihnen kundgewordenen Thatsachen über Ihr gutes Kind, geehrter Herr, sind aber nur vereinzelte Dinge und stehen zu dem eigentlichen Wesen desselben in untergeordnetem Verhältnisse. Meine Pflicht ist es, ehe Imagina von mir scheidet, noch einmal im Ganzen zu versuchen, Ihnen ein Bild Ihres theuern Kindes und treu nach der Natur zu zeichnen.

Hier muß ich, kraft meines heiligen Amtes als Erzieherin, Ew. Hochwohlgeboren offen und ehrlich bekennen, daß mir Ihre Tochter einer Besorgniß einflößenden Zukunft entgegenzusehen scheint. Das sei gleich abgethan, daß ich sie das lieblichste, merkwürdigste, interessanteste weibliche Wesen nenne, welches mir je in meinem Wirken und Walten vorgekommen ist. Ob aber diese Auszeichnung Ihre Tochter zum Glücke führen wird, das weiß ich nicht und bezweifle es fast, wenn nicht die richtigen Wege eingeschlagen werden, Imagina in die Geleise des wirklichen Lebens zu führen.

Wenn ich sage, daß sie träumerisch, schwärmend, unpraktisch in einem erschreckenden Grade ist, so schieb' ich davon die Schuld auf zwei Dinge, auf die erste Klostererziehung und das einsame Walten im väterlichen Hause. Ich gehöre der katholischen Confession an, beklage aber tief, wenn Kinder in die Hände ausschließlich religiöser Erzieherinnen gerathen. Der Umgang mit Nonnen ist vollends für ein weibliches, dem Leben bestimmtes Wesen der gefährlichste. Früh gewöhnt sich das von Nonnen erzogene Kind an eine Traumwelt, die wol die Einsamkeit entsagender Klosterjungfrauen beglücken und die Stille ihrer Klosterzelle beleben kann, für empfängliche und phantasiebegabte Gemüther aber, die dem Leben gehören sollen, nur eine trostlose, unendliche Sehnsucht weckt, die nimmer irgend ein Glück der Erde befriedigen kann. Imagina hat als Kind die Legenden der Heiligen nicht nur gelesen und, was hinreichend sein sollte, mit Andacht in sich aufgenommen: nein, sie hat sie mit durchgelebt, durchempfunden, sie ist die fühlende, leidende Theilnehmerin aller der Geschichten geworden, mit denen ihre kindliche Phantasie überfüllt wurde. Noch bis zur Stunde kann ich in ihr die Vorstellung nicht unterdrücken, daß es neben unserm wirklichen sichtbaren Leben ein zweites geisterhaft unsichtbares auf dieser selben Erde gibt, und daß die Schicksale der Menschen von den wunderlichsten Launen des Zufalls durchkreuzt und die entferntesten Fäden der Geschicke zusammengewoben werden. Es ist wirklich, als wenn diese Nonnen bei ihren künstlichen Stickereien, Blumenarbeiten, Meßgewandverzierungen ein Vergnügen daran fänden, die ganze Fülle von Lebenswünschen, die in ihnen selbst ersticken mußte, in solche jugendliche Gemüther zu verpflanzen und selbst die wilden, selbst die begehrlichen Geister in den unschuldigen Seelen aufzuwiegeln. Du bist für die Welt verloren! können diese unglücklichen Schwestern solchen Zöglingen ihrer Pflege mit auf den Lebensweg, wenn sie die Klosterpforte hinter sich zufallen hören, nachrufen. Ja, ich habe eine geistreiche, durch viele Lebensstürme gepilgerte und endlich Aebtissin gewordene Nonne gekannt, die ein so verdorbenes Wesen mit fast mephistophelischem Behagen in die Welt hinausziehen sah.

Fern sei es von mir, meiner guten, lieben Imagina irgend eine Verdorbenheit ihrer Aeußerungen, irgend einen Makel ihrer reinen Seele nachzusagen; aber dieses in den Lüften schwebende ätherische Dämmern und Träumen, das ihr eigen ist, bleibt darum nicht minder gefährlicher Natur. Im väterlichen Hause hat sie, ihren Erzählungen zufolge, eine Freiheit genossen, die mich zittern macht. Diesem guten Kinde war es freigestellt, in Feld und Wald zu schweifen, während es daheim, am häuslichen Herde, versäumte, sich über die einfachsten Bedingnisse der wirklichen Welt, besonders aber über diejenigen zu unterrichten, welche in den künftigen Beruf der Frauen einschlagen. Wäre sie nicht so wunderbar graziös, die Blößen, die sie in den gewöhnlichsten Vorkommnissen des Lebens gibt, würden sie oft zum Gegenstand des Spottes machen. Sie verwechselt miteinander die geläufigsten Dinge, weiß, was für ein schlesisches Mädchen stark ist, oft nicht Leinwand von Baumwolle zu unterscheiden, stellt sich beim Essen, Trinken, in Gesellschaft so wunderlich, daß einem weniger anziehenden Wesen in diesem Falle längst müßte nachgesagt worden sein, sie wäre linkisch. Sie tanzt, aber auf eigene Art, nicht nach den üblichen, gemeinschaftlichen Touren. Sie kann keine Sprache lernen, weil ihr die Gedanken auf der Zunge nicht Stand halten, sondern sich bunt über Eck jagen. Nur in der Zeichenkunst und der Musik hat sie es dahin gebracht, daß sie ihr eignes, großes erfinderisches Talent durch die äußerlich erlernten Handgriffe unterstützen kann.

Wenn ich Ew. Hochwohlgeboren dringend bitte, in Imaginen den Sinn für das wirkliche Leben zu befördern, so muß ich hier noch einen Schritt weiter gehen. Wenn sie Geschichten und Erfindungen so durchleben kann, daß sie Tage, ja Wochen lang in ihnen heimisch bleibt und aus ihnen heraus handelt, spricht und schreibt, so ist das eine für ihre Umgebungen allerdings sehr unterhaltende Gabe, aber eine für sie selbst sehr gefährliche. Geehrter Herr Landrath, wir leben in einer eignen Zeit! Sie mögen in Ihrer Stellung mit den groben Auswüchsen jenes die überlieferte Ordnung der Dinge störenden Dranges zu thun haben, aber viel gewaltiger ist das geheime Rütteln an dieser Ordnung, das geheime Anzweifeln, das versteckte Untergraben. Ach, es gibt unzählige unsichtbare Verbrechen gegen das Ueberlieferte, und von den zartesten Händen werden sie verübt. Ich gedenke meines frühern Bildungsganges, meiner eignen jungen Tage. Wie waren sie anders als die jetzigen! Die frühere Literatur gefiel sich darin, einen oft vielleicht zu weit gehenden überschwänglichen Glauben an das Bestehende zu predigen. Eine Menge frommer Jugend- und Bildungsschriften lagen überall der Erzieherin zur Auswahl vor. Jetzt würde man sich vergebens nach neuen Werken dieser Art umsehen. Wir selbst lesen diese neuen Romane, die aus der Feder sogar unserer weiblichen Schriftstellerinnen fließen, mit getheilten Empfindungen. Unser Urtheil ist gereift. Wir wissen, was wir von diesen Gemälden einer wirklichen oder erträumten Welt zu halten haben; aber wie anders, wenn wir uns einmal denken, daß nun nach uns eine Generation kommt, die in den Anschauungen der Gräfin Hahn, der Ida von Düringsfeld, unserer schlesischen Landsmännin, der Fanny Lewald und vieler anderer hochromantischer Naturen aufwachsen und erzogen werden! Wol hüt' ich mich, daß ein Buchstabe von dieser Literatur in mein Institut oder wenigstens in die Nähe meiner Zöglinge dringt. Kann ich aber vermeiden, daß Imagina, ins Leben tretend, diese Schriften zur Hand nimmt und aus ihnen in langen Zügen Berauschungen ihrer Phantasie trinkt! Ist denn da noch irgend eine Form des Lebens fest und sicher, ist denn da noch irgend ein Wahn und alter Glaube heilig? Nicht, daß ich diese hochpoetischen Frauen anklage, wenn sie das ohnehin ausgebeutete Feld der Erfindung mit neuen Wirr- und Irrgärten bepflanzen, in denen sie und gereifte Gemüther sich wol zurechtfinden; aber ängstigend ist doch dieser Drang nach Idealität, wo die Wirklichkeit thront, nach Poesie des Lebens, wo die Prosa von uns Pflichten verlangt, nach Schönheit, wo so Vieles seiner irdischen Natur nach häßlich sein muß. ich denke mir, wie das Alles einst auf einen Geist, wie Imaginens, wirken muß, und wie ich für Ihre Tochter, fürchten jetzt zahllose Aeltern für ihre Kinder.

Schon jetzt hat Imagina die feurigsten Ahnungen von einer freien, nur sich selbst verantwortlichen Macht des Willens. Nur Thaten sind schön! sagte sie kürzlich. Zitternd mußt' ich antworten: »Du nennst Thaten, was Andere Einfälle nennen.« Jeden Einfall ausführen, das kann originell erscheinen, wird aber selten für schön herauskommen. Am erschreckendsten ist mir Imagina, wenn sie am Clavier sitzt und sicher zu sein glaubt, nicht belauscht zu werden. Sie variirt nur zwischen wenigen Accorden und Tonarten, ist an Fertigkeit hinter meinen meisten, selbst jüngern Mädchen zurück, und doch hab' ich gesehen, daß unter ihrem Fenster mancher Musikkundige still steht und sich nicht vom Anhören dieser wunderbaren, oft zu Thränen rührenden Phantasien trennen kann. Es ist erstaunlich, welche versteckte Leidenschaft da auf den Tasten zum Ausbruch kommt, welche Sehnsucht, welches Hangen und Bangen, welches Hinüberschweifen in Welten, die nur der Ahnung und dem Schmerze angehören. Nicht Melodien, nicht Reminiscenzen sind es, die sie spielt, ja dem rohen Ohre möchte ihre Uebung eine spielende Klimperei erscheinen; aber dem Lauschenden, dem ihr Folgenden kann nicht entgehen, was diese bald leisen, bald anschwellenden, bald langsamen, bald wogend bewegten Accorde bedeuten. Sie bedeuten nur vorläufig ein träumerisches, in unbestimmte Fernen sich sehnendes Herz. Bedenklich erst wird diese Richtung werden, wenn Imagina, wie dies jetzt geschehen soll, frei ins Leben tritt und mit den in unserer jungen Frauenwelt unglaublich spukenden Unabhängigkeitsideen vertrauter wird. Es gehen selbst in unsern besten Frauenseelen Dinge vor und Ahnungen ziehen in sie ein, die mir vor der Zukunft Grauen erregen. Selbst an das Herz treuer Lebensverhältnisse pochen Geister, die nicht aus dem blauen Himmelreich von oben kommen.

Das war es, was ich Ew. Hochwohlgeboren über Ihr schönes, liebreizendes und gutes Kind schreiben mußte. Andere, die mit ihm in Berührung kamen, mögen Ihnen von allerhand Possen erzählen, von denen sie rede, von Berggeistern, von einem Geliebten, den sie bewachen müsse, weil die sieben Todsünden für ihn aus der Hölle zum Versatz gegeben wären und ähnliche märchenhafte Späße, über die sie selbst lacht, an die sie selbst nicht glaubt, mag es auch allen Andern oft ganz schauerlich dabei über den Rücken rieseln. Auch im Religiösen hat sie etwas Freies und Schönheitsuchendes. Sie ist nicht bigott, noch weniger scheinheilig, sie bleibt in ihrer Andacht immer lieblich und menschlich. Was sie nicht aus ihrer bildlichen Welt ins menschliche Herz verpflanzen und von da aus deuten kann, das ist für sie selbst nur poetische Grille. Aber gerade dies ihr Herz hält sie für eine große geheimnißvolle Welt und weiß dahinein so viel zu dichten und zu erfinden, wie in ihr Tagebuch, wo ich auch oft finde, daß sie Bekanntschaften darin ausspinnt, die sie nie hatte, und mit Menschen redet, die sie nie gesehen.

Sorgen Sie dafür, geehrter Herr, daß Imagina eine Stellung zum Leben findet, die bestimmt und deutlich genug ist, um sie auf einen großen Kreis von ihr obliegenden Pflichten aufmerksam zu machen. Hab' ich zu ängstlich beobachtet, so will ich dem Ruhm der Menschenkenntniß da gern entsagen, wo mein Irrthum durch eine heiter beruhigende Wirklichkeit widerlegt wird. Aeltern und sich krank Glaubenden gönnt man ja am liebsten, daß sie unsere Besorgnisse beschämen! Was mich drängte, hab' ich ausgesprochen. Es bleibt Ihnen nun überlassen, aus meinem Briefe zu entnehmen, was Ihnen gut dünkt. –«

 

Als der Landrath in Bischofswalde diese Zeilen las, saß er vor seinem Actentische und sein Leibgendarme Fritze lugte am Fenster zur Straße hinaus, um Polizeiwidrigkeiten zu entdecken. Es war sein Stolz, daß, so weit sein Auge reichte, Alles sich im Gleise des Hergebrachten bewegte, selbst die Wagenräder der Frachtfuhrleute, die von der grünen Höhe herab in das freundliche Bischofswalde an Hemmschuhen glitten, die Fritze aus der Ferne schon für reglementsmäßig erkannte. Nur die kleinen katholischen Auswüchse der Gegend störten ihn, da ein Kreuzlein, dort auf einem Brückchen ein verwitterter und gebrechlicher St. Nepomuk und so manches Andere, worüber vornehm hinwegschauend Fritze in den rothgrauen Schnurrbart murmelte: Dieses dulden wir.

Indessen donnerte an Fritzens Ohr ein entsetzlicher Fluch des Landraths. Wir wissen nicht, wieviel Schock Mohren- und sonstige Elemente nach dem Wunsche des Capitains a. D. in Imagina hineinschlagen sollten. Der beendigte Brief war es, dem diese Explosion von Zorn und Drohungen galt.

Was bringt ein Frauenzimmer zur Raison, Fritze? fragte der Landrath seinen Gendarmen.

Der Mann! war die einfache, militairisch würdevolle Antwort.

Und der Landrath seinerseits stimmte feierlich ein: Fritze! Meine Tochter wird verheirathet.

Madame Milde würde sich nicht erbaut haben über die Kritik, die ihr Brief in Bischofswalde zu erfahren hatte. Der Landrath fand ihn zimperlich und quengelig, und hätte sie's nur hören können, der barsche Haudegen sagte.

Die Frau ist auch nicht recht klug, hat auch wol keinem Mann Ordre parirt. Dem Ding wollen wir schon ein Ende machen.

Die Schwierigkeit, für Imagina von Unruh einen Mann zu finden, war deshalb nicht so groß, weil gerade in Breslau Wollmarkt war. Die außerordentlich reiche Schafwollproduction dieser Provinz versammelt in jedem Junimonat des Jahres die Gutsbesitzer auf dem gesuchtesten aller Wollmärkte, den selbst englische Agenten beziehen. Was in Posen die Johannis-Versur, im Holsteinischen der Umschlag ist, das ist in Breslau der jährliche Wollmarkt, das Stelldichein der in den Provinzen zerstreut wohnenden Familien, der Zielpunkt einer Menge geschäftlicher Verbindlichkeiten, Zahlungsfrist, Veranlassung neuer Geschäfte, kurz der Umsatz aller materiellen und moralischen Lebenskräfte dieses schönen Landes. Wenn nach des Landraths Meinung irgend etwas bei der von Madame Milde geschilderten ätherischen und zweckwidrigen Natur seiner Tochter entscheidend ins Mittel treten konnte, so war dies nur der breslauer Wollmarkt.

Im Gasthof zur goldnen Gans war es, wo sich der Landrath von Unruh unter den möglichen Partien seiner Imagina bald zurechtfand. Er vermied es diesmal, sich im entferntesten in die Debatten einzulassen, welche den größten Theil des hier versammelten Adels beschäftigten. Seine Stellung zur Regierung zwang ihn sonst wol, über Eisenbahnpläne, Creditvereine, Provinziallandtage zuweilen Rede zu stehen; aber von den Erörterungen über Kirchenthum, Domstifte und Klosterpräbenden hielt er sich diesmal ebenso fern, wie von dem Gemurr über Beeinträchtigungen der Kirche, den Vorbereitungen einer kategorischen Entweder-Oderzeitung und ähnlichen erst in neuester Zeit ausgebrochenen, aber lange schon eingeleiteten Aeußerungen des dortigen Provinzlebens. Er hielt sich diesmal mehr an die reellen Schaustellungen der Thierveredlung, der Wollproduction, und fand unter den Söhnen des auf seinen Wollsäcken ruhenden alten Grafen von Wartenberg Das, was er suchte. Die Verheirathung seiner Tochter Imagina an den Aeltesten der hoffnungsvollen Söhne des Grafen, an den frischen, blonden, etwas zum Embonpoint neigenden Grafen August war eine durchaus geschäftliche Sache. Der Gendarme Fritze hatte seine Freude daran, wie sich das alles so glatt, so reell, so netto machte mitten unter den doppelten Friedrichsdoren, welche der Agent des Hauses Smith und Scott aus Manchester dem alten Grafen von Wartenberg für seine gewaltigen Wollsäcke zahlte.

Sechs Wochen nach dem Wollmarkt war Imagina in ihrem noch nicht ganz vollendeten achtzehnten Jahre die Lebensgefährtin des Grafen August von Wartenberg.


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