Carl Grunert
Der Marsspion und andere Novellen
Carl Grunert

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III.

Jedermann kennt eigentlich schon aus den Tagesblättern die Schlußszene dieser Erzählung:

»In der Nacht vom 18. zum 19. August cr. war das Kaiserliche Institut für Landesverteidigung der Schauplatz einer in ihren Einzelheiten noch nicht völlig aufgeklärten, geheimnisvollen Begebenheit. Mitten in der Nacht, zwischen 12 und 1 Uhr, wurde Direktor Starck plötzlich durch ein elektrisches Alarmsignal nach dem großen Laboratorium gerufen. Er war darauf vorbereitet und in wenigen Minuten an Ort und Stelle. Hier bot sich ihm und seinen Begleitern ein rätselhafter Anblick. Mitten unter der Kuppel des großen Saales, dicht neben dem Riesenfernsender, mit dem augenblicklich Versuche zur Übermittlung drahtloser Depeschen an Orientierungsballons in den verschiedensten Höhenschichten unserer Atmosphäre angestellt werden, lag ein rätselhaftes Geschöpf, wahrscheinlich bei der unvorsichtigen Berührung eines der dort aufgestellten Hochspannungsapparate von der elektrischen Entladung getroffen: ein – – weibliches Wesen, von zierlich-schlanker, sylphidenhafter Gestalt – der Körper, viel kleiner als der eines menschlichen Weibes im Durchschnitt, bekleidet von einem dicht anschließenden Gewande, das wie aus metallenem Gewebe angefertigt schien. Das Antlitz zeigte ein fast durchsichtiges Weiß, wie das einer Statue aus Alabaster. Dazu bildete das bläulich schimmernde Haar einen wundersamen Gegensatz. Die Stirn, die Schläfen, Nase, Wangen, Mund und Kinn waren von so zierlicher, feiner Modellierung, daß unsere menschlichen Gesichter dagegen bäurisch-derb erschienen; ebenso feinnervig und zart geformt waren die überschlanken Hände, die merkwürdigerweise nur vier Finger an jeder Hand zeigten . . .

Sofort angestellte Wiederbelebungsversuche schienen nach langen Mühen endlich doch von Erfolg gekrönt zu sein – als plötzlich ein zweites, noch rätselhafteres Ereignis eintrat: Mit einem furchtbaren Krach stürzte das eine der mächtigen, hohen Bogenfenster an der linken Seitenwand des Saales zertrümmert herab – in der leeren Wölbung erschien schwebend ein fischartig geformtes Luftfahrzeug! Ehe sich die Anwesenden noch Rechenschaft von dieser neuen geheimnisvollen Erscheinung zu geben vermochten, wurden sie mit unwiderstehlicher Gewalt beiseite geschleudert – unsichtbare Hände ergriffen den am Boden liegenden Körper des wunderbaren Geschöpfes und trugen ihn hinweg – in das Luftschiff, das in der nächsten Sekunde wie ein riesenhaftes, unheimliches, schwarzes Luftungeheuer mit pfeifendem Zischen im Dunkel der Nacht verschwand.«

Soweit der Bericht der Tageszeitungen.

Aus eigenen Erlebnissen aber kann ich dem noch folgendes hinzusetzen: An dem Abend, welcher dieser ereignisreichen Nacht voranging, befand ich mich, nach meinem Besuche bei Justus Starck, wie oben angedeutet, in der Abendschule, im Kreise der lieben Menschen, die der Leser kennt. Zwar konnte ich Herrn Rentier Fennmüller noch nichts über mein Verfahren, mich unsichtbar zu machen, mitteilen; aber auch das wenige, was ich von meinen und meines Freundes Erlebnissen berichten durfte, erregte allseitiges, berechtigtes Interesse.

Wie aber wuchs unsere Aufregung, als uns der Fernsprecher mitten in der Nacht – wir wollten gerade zum Nachhausegehen aufbrechen – in das Kaiserliche Institut für Landesverteidigung rief! Durch Justus wußte ich, daß alle Apparate dort durch unterirdische Leitungen mit seiner Privatwohnung verbunden waren. Ja, auch das letzte äußerste Mittel, dem unsichtbaren Geheimnis auf die Spur zu kommen, hatte mir Justus verraten: die Taster der riesigen Funkspruchapparate, überhaupt alle im Kuppelsaale des Instituts aufgestellten Maschinen waren über Nacht stets der vollen Entladung eines Wechselstroms von 100 000 Volt ausgesetzt, sodaß ein den Apparat Berührender sich selbst in die Funkenbahn einschalten und den vernichtenden Schlag erhalten mußte.

Im Automobil des Großhändlers Deckers fuhren wir wenige Minuten nach dem Anruf ins Kaiserliche Institut.

Dort fanden wir – die Unsichtbare, endlich sichtbar geworden, nachdem der gewaltige Flammenbogen der elektrischen Entladung ihr rätselhaftes, unsichtbar machendes Zaubergewand zerstört hatte.

Was aber hatte sie über Nacht in dem Institute gewollt?

Auf dem Tische, vor dem wir sie fanden, stand – das verschwundene Kohärermodell, und Justus entdeckte bei genauerer Untersuchung, daß es völlig betriebsfertig für den Empfang drahtloser Telegramme montiert war! Er fand auch Anzeichen dafür, daß sie trotz der Signalleitungen einzelne seiner neuesten Apparate untersucht haben mußte, ja, einige Zeichen schienen auch dafür zu sprechen, daß sie die Unbrauchbarmachung besonders wichtiger und empfindlicher Teile versucht hatte.

Dabei hatte der elektrische Schlag sie getroffen!

Wir standen alle noch wie gelähmt unter den letzten Eindrücken. Die Existenz und die Überlegenheit unserer »Feinde im Weltall« hatte sich uns klugen Menschen mit furchtbarer Deutlichkeit enthüllt. Greifbar hatte es vor uns gelegen, das sichtbar gewordene Unsichtbare, ein weibliches Wesen aus der Heimat jener geheimnisvollen Planetenbewohner, die seit Jahren auf unserer Erde Fuß zu fassen versuchten! Nach verzweifelten Bemühungen war es uns doch gelungen, das Rätselgeschöpf wieder zum Leben zu erwecken, und ungeduldig harrten wir des Augenblicks, da es die Augen öffnen, da seine Lippen das erste Wort formen würden, das nicht auf dieser Menschenerde geboren war.

Und ich? Ich war vielleicht der Bestürzteste von allen! Denn dies leblos vor mir liegende Zauberwesen war – das »Irrlicht«, wie ich es im Wachen und im Traum – ach, und wie deutlich im Traum! vor mir gesehen. Justus hätte mich wegen meiner Charakterlosigkeit gewiß gescholten: ich vermochte dem schönen Rätsel nicht einmal zu zürnen, als es so, von unsern künstlichen Blitzen getroffen, am Boden lag. Vergessen war all das Spionieren in meinen vier Pfählen, vergessen der Traumbetrug samt der Entwendung des kostbaren Apparates – wie Mitleid regte sich's in meiner Seele. Und auch Deckers mußte etwas ähnliches fühlen, denn er sagte einmal ganz unvermittelt:

»Welcher Mut, welche Selbstverleugnung und Selbstbeherrschung gehörte doch zu einem solchen Unterfangen! Welche begeisterte Hingabe an eine Idee mag in dem zierlichen Geschöpf gelebt haben!«

»Nun,« rief Justus Starck dazwischen, »denken wir zunächst an uns! Es ist ein glücklicher Zufall, daß die Elektrizität uns das Mittel gewiesen hat, diese neue, geheimnisvolle Waffe unserer fernen Feinde, das Unsichtbarmachen, unschädlich zu machen, wenn wir auch über das Material des unsichtbarmachenden Gewandes, nun die Unsichtbare uns mit Gewalt entführt worden ist, nichts wissen und wissen werden; denn die gewaltige Wechselstromentladung hat den wunderbaren Stoff völlig verflüchtigt.«

»Nicht völlig!« sagte da auf einmal Doktor Mathieu und trat näher an den Tisch heran, an welchem Justus stand.

»Ich stieß vorhin mit der Fußspitze an ein leichtes Hindernis auf dem Fußboden,« sprach er erklärend weiter, »ich richtete ganz mechanisch den Blick zu Boden, sah aber nichts. Aber beim nochmaligen Überschreiten derselben Stelle fühlte ich die gleiche elastische Berührung. Ich bückte mich danach und erfaßte es glücklich. Hier ist es!«

Dabei hielt er das fragliche Etwas gegen das Licht der Nernstlampe über dem Tische.

Wir sahen einen unregelmäßig begrenzten Schatten, wie von einem Kleiderfetzen.

Und nun legte Doktor Mathieu das fragliche Objekt auf die braunpolierte Tischplatte.

Und da verschwand es fast momentan für unsere Augen; nur mit gespanntester Aufmerksamkeit, geleitet von Doktor Mathieus Hand, fanden wir seine Konturen wieder!

»Schutzfärbung!« rief ich, aufs höchste überrascht aus, »wie bei Schmetterlingen und Heuschrecken! An dieses Mittel hat keiner gedacht!« »Ja, Schutzfärbung!« bestätigte Doktor Mathieu meine Vermutung, »aber von einer Anpassungsfähigkeit und Vollkommenheit, wie sie sich auf unserer Erde in ähnlicher Weise nur noch bei einer kleinen Krebsart im Atlantischen Ozean findet, einer kleinen Garneele – Mysis ist ihr wissenschaftlicher Name! – Sie vermag ihre Hautfärbung zum Zwecke des Unsichtbarwerdens der Farbe ihrer jeweiligen Umgebung sofort anzupassen, sieht auf dem dunklen Meeresgrunde schwärzlich aus, wird aber im hellen Sonnenscheine fast augenblicklich wasserheli durchsichtig, auf weißem Seesand weiß und für das Auge völlig ununterscheidbar, ja, sie durchläuft alle Farben, welche das Meerwasser mit der wechselnden Tageszeit und Beleuchtung annimmt, vom hellsten Rosenrot bis zum tiefsten Violett!« –

Schutzfärbung! Das war also das Geheimnis der Unsichtbaren gewesen! Gleich der Haut eines lebendigen Geschöpfes besaß der Stoff des sie verhüllenden Gewandes die Fähigkeit, sich momentan der Farbe seiner Umgebung anzupassen. Freilich mußte es die Trägerin dieses Gewandes verstanden haben, sich mit ihrem elfengleichen Körper allzugrellen Kontrasten der Beleuchtung zu entziehen. Das diffuse Licht unserer Wohnungen war ihr dabei wohl auch zu statten gekommen.

Noch vermochten wir alle es kaum zu glauben.

»Es will mir noch immer nicht in den Kopf, Herr Doktor!« sagte der Oberlehrer nach einer kleinen Pause, »ein toter Stoff soll diese wunderbare Anpassungsfähigkeit, ein solches fast künstlerisch gesteigertes Reaktionsvermögen auf so differenzierte Reize besitzen?«

Doktor Mathieu schwieg einen Augenblick; er hob den auf der braunen Tischplatte ganz unsichtbar gewordenen Stoffrest auf und legte ihn auf den Ärmel von Fennmüllers graublaumeliertem Überzieher.

In wenigen Sekunden verwandelte sich die im Moment des Auflegens noch braune Färbung in ein meliertes Graublau!

Und nun sagte er:

»Was hindert uns anzunehmen, daß es lebendige Organismen sind, welche in die Fasern des Stoffes eingebettet liegen?« Dann sich zu mir wendend: »Gerade die rätselhafte Phosphoreszenz, von der Sie uns an jenem ersten Abend erzählten, spricht für die Annahme solcher Mikroorganismen. Wer weiß, was jener uns feindliche Planet für wunderbare Wesen und Kräfte beherbergen mag! Hoffen wir, daß dies kleine Zipfelchen uns das Rätsel lösen hilft von dem Zaubergewande der Unsichtbaren!«

 


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