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Nach zwanzig Jahren

Erstes Kapitel

Die Gärtnergasse lag an der Grenze der großen Stadt. Sie führte ihren Namen mit Recht, denn sie wurde fast nur von Gärten gebildet, über deren mehr oder minder verwahrloste Zäune eben jetzt das frische Grün des frühsommerlichen Laubwuchses guckte. Auch Duft gab es gerade genug auf diesem stillen Wege, der sehr wenig frequentiert wurde.

Allmorgendlich fuhren die Gärtnersleute zu Markte, um so gegen die Mittagsstunde herum wieder mit leeren Wagen heimzukehren. Danach ward die Gasse wieder einsam.

Man sah nur wenige bescheidene Gärtnerhäuschen durch Baum und Busch lugen. Ein Haus aber sah man recht genau, denn es lag nur wenige Meter hinter der Straßenlinie und war stattlicher als seine Nachbarn.

Ein mit Sträuchern bepflanzter Vorgarten und ein hohes Gitter schlossen es gegen die Gasse zu ab.

Dahinter dehnte sich ein ziemlich großer Garten aus, der von einer weit mehr als mannshohen Mauer umgeben war.

Schon seit vielen Jahren gehörte das Gütchen einem wohlhabenden Privatmann. Er war schon recht alt und mußte wohl auch ein Sonderling sein, denn niemals verließ er seinen Besitz, niemals auch empfing er Besuch, und keiner seiner Nachbarn hatte jemals Briefträger an seiner Tür halten sehen oder sonstwie wahrgenommen, daß der alte Herr auch mit der Welt in Verbindung stehe.

Ihn selber aber konnte man fast täglich gewahren. Er saß noch gern an warmen Tagen unter dem hohen Fliederbusch, der das Prachtstück des Vorgartens bildete, oder ging langsam, sich auf seinen Stock stützend, auf dem schmalen, kiesbestreuten Weg spazieren. Und war das Wetter rauh, dann saß er gern am Fenster und schaute auf die stille Straße hinaus.

Alle, die rings um ihn lebten, kannten ihn von Person, hatten ihn oft gesehen, aber das war auch alles, denn – wie gesagt – der, den sie alle »den alten Herrn« nannten, pflegte gar keinen Verkehr und verließ – es war wohl sein hohes Alter daran schuld – niemals seinen hübschen, kleinen Besitz.

Eine Frau, etwa vierzigjährig, von gesundem und gutmütigem Aussehen, führte ihm, seit er das Haus erworben, die Wirtschaft. Die Frau hieß Müller, Josefa Müller.

Beide Namen hatten Vorübergehende zuweilen von dem alten Herrn rufen hören, wenn er unter seinem Fliederbusch oder an dem offenen Fenster saß und seiner Dienerin bedurfte.

Frau Müller war pünktlich wie eine gut gehende Uhr. Alltäglich um acht Uhr konnte man sie aus dem Haus treten sehen, um die nötigen Einkäufe zu machen. Sie mußte mehrere Gassen weit gehen, um zum Kaufmann, zum Bäcker und Fleischer und zu den anderen Geschäftsleuten zu gelangen, bei denen man alles zum Leben Nötige erhalten konnte. Milch, Gemüse und sonstigen Küchenbedarf kaufte sie bei ihren nächsten Nachbarn.

Redselig war sie nicht, diese Frau Müller, aber dennoch hatten die Leute schon aus ihr herausbekommen, daß ihr Herr einen Treffer in der Lotterie gemacht und von diesem Gelde sich sein Anwesen erworben, daß er, durch verschiedene Lebenserfahrungen verbittert, menschenscheu geworden, trotzdem aber gar gut sei und sie sich einen besseren Dienst gar nicht denken könne.

Auch den Namen des alten Herrn kannten die Leute. Er hieß Arnold Winkelmann. Und auch eine Liebhaberei von ihm war ihnen bekannt. Sie erstreckte sich auf Blumen. Täglich brachte ihm Frau Müller solche von ihrem Marktgange mit. Daß es in seinem Garten davon so wenig gab, daran trug des alten Herrn Mißtrauen und Menschenscheu die Schuld, er mochte nämlich niemanden anderen als seine brave, schon erprobte Frau Müller im Hause haben, und diese hatte natürlich vollauf damit zu tun, das Haus und den Garten sauberzuhalten und all ihren sonstigen Verpflichtungen nachzukommen, und konnte sich somit nicht auch noch der Blumenpflege widmen.

Eines war den Nachbarn Herrn Winkelmanns klar. Der alte Herr hätte kein stilleres, behaglicheres Heim und keine treuere Dienerin und Frau Müller keinen besseren Posten finden können. Im übrigen kümmerten sich die arbeitsamen Menschen in der Gärtnergasse nur wenig um die zwei.

*

Es war ein Sommerabend, doch nicht freundlich war es deshalb auf Erden, denn es hatte schon den ganzen Tag geregnet, und noch jetzt bedeckte graues Gewölk den Himmel.

In der Gärtnergasse herrschte bereits die tiefste Ruhe. Jetzt ward sie durch die eiligen Schritte eines Mannes unterbrochen. Es war ein noch junger Mann, der da so rasch daherkam. Er hatte ein hübsches, etwas hageres Gesicht, das glatt rasiert war und den ganz eigentümlichen Ausdruck hatte, welchen die Gesichter von Schauspielern zu besitzen pflegen.

Der junge Mann hatte auch sonst das Äußere eines Mimen: bewußte Bewegungen und etwas Geniales in seiner Gewandung. Aber ein berühmter, ein gut bezahlter Mime war er sicherlich nicht, denn seine Kleider waren schon recht abgetragen, wenn auch durchaus nicht verwahrlost, und seine Gestalt weit hagerer, als es seine Jugendlichkeit gerade bedingte.

Auch schauten sehr deutlich Unruhe und Not aus seinen klug blickenden Augen und hatten Verbitterung und Trotz schon ihre scharfen Linien in sein junges, charaktervolles Gesicht geschrieben.

Dieser Mann blieb vor dem Winkelmannschen Hause stehen und zog an dessen Klingel. Frau Müllers rundes Gesicht zeigte sich an einem der Fenster und überzog sich mit einer tiefen Röte, als sie den jungen Mann erkannte. Auch leuchteten ihre noch immer hübschen, klaren Augen auf, und sie eilte mit fast jugendlicher Hast aus dem Zimmer. Bis sie zur Gartentür kam, hatten sich indessen schon die Röte ihrer Wangen und der Glanz ihrer Augen verloren, und unruhig waren ihre Stimme und ihr Blick, als sie, während sie öffnete, rief: »Mein Gott, Hans, wie kommst denn du jetzt hierher? Ich habe gemeint, du wärest weit, weit weg von hier.«

»Vorgestern war ich auch noch weit weg von hier, aber von nun an muß ich – müssen wir in deiner Nähe leben, und ...«

Er kam nicht weiter in seiner merklich Verlegenheit verratenden Rede, während der er in den Vorgarten trat. Frau Müller sah ihn groß an. »Wir – was heißt das ›wir‹?« fragte sie und vergaß über ihrer Spannung, die Tür zu schließen; da drängte sie der junge Mann zurück, schloß selber und reichte ihr dann den Schlüssel.

»Ja, Mutter, es heißt ganz richtig ›wir‹«, sprach er dabei, und hohe Röte färbte seine Wangen. »Doch hier, unter dem tröpfelnden Himmel, kann ich dir die Sache nicht erklären, also komme in dein Zimmer. Es ist Abend und dein Gebieter wohl schon zur Ruhe gegangen; da hast du doch hoffentlich ein Stündchen für mich übrig.«

Er sagte es wehmütig, sichtlich bedrückt, und da konnte sie nur doppelt herzlich gegen ihn, ihren Einzigen, sein. Darum schloß sie ihn rasch in ihre Arme und küßte ihn zärtlich, wonach sie sagte: »Oh, mein Hans, habe ich nicht mein ganzes Leben für dich übrig? Was immer dich herbringt, du bist mir willkommen. Der Herr schläft schon, und somit bin ich frei.«

Sie gingen ins Haus. Alles darin spiegelte vor Sauberkeit, auch die große, freundliche Stube, welche Frau Müller nun schon seit vielen Jahren bewohnte.

Über dem steiflehnigen Sofa hing ein gut gemeintes, aber ziemlich schlecht gemaltes Bild. Es war das Porträt eines Mannes. Darauf fiel zuerst Hansens Blick; er grüßte es mit Hand und Augen. Das Bild stellte seinen Vater vor.

»Ich habe auf der Herreise sein Grab besucht«, sagte Hans weichen Tones und holte eine Brieftasche aus seinem fadenscheinigen Rock hervor. Dieser Brieftasche entnahm er einige Efeublätter, die er seiner Mutter reichte.

Sie drückte die Lippen darauf. Eine Träne netzte die Blätter, als die Frau sagte: »Daß du vom Grab deines Vaters kommst, sagt mir, daß du mir nichts zu melden hast, was mir gar zu sehr weh tun könnte. Jetzt aber setze dich und ruhe! Du siehst sehr müde aus und hungrig.«

Der Sohn drückte sich in eine Sofaecke. Die Mutter eilte geschäftig hin und her, und bald stand eine Flasche Bier vor ihm und hatte sie ihm Brot, Butter und kaltes Fleisch vorgesetzt.

Er aber aß nur wenige Bissen und tat nur einige heftige Züge, dann stellte er das Glas hin und legte die Gabel nieder.

»Laß mich doch zuerst sprechen, Mutter. Ich muß mir die Sache von der Seele reden, ehe ich an meinen Leib denken kann.«

»Sprich also vorher und stärke dich später, mir ist ja alles recht, wenn ich dich nur wieder so froh und ruhig sehe, wie du einstmals gewesen bist.«

»Ich bin es für gewöhnlich noch, liebe Mutter, nur in den letzten Wochen sind mir Fröhlichkeit und Ruhe verlorengegangen.«

»Und warum? Die Armut, die ich dir ansehe, hat dich doch sonst nicht geniert, du stolzer, hochmütiger Mensch, der nicht einmal von seiner Mutter Geld annehmen will.«

»Weil du es, was du verdienst und allenfalls zurücklegen kannst, selber für deine alten Tage brauchst und weil ich es mir nun einmal eingebildet habe, daß ich es allein, ganz allein, zu etwas bringen müsse.«

»Bei deinem Beruf?«

»Siehst du, Mutter! Da ist schon wieder die Verachtung, welche du für meinen Stand hast!« fiel er heftig ein und fuhr fort: »Wie viele haben es mit der Kunst zu Vermögen gebracht!«

»Du gehörst nicht zu diesen vielen«, sagte die sehr prosaisch denkende Frau Müller scharf, und ihre Schärfe wurde nur durch den Bück voll Mitleid gemildert, den sie auf die dürftige Kleidung ihres Sohnes warf. Er lächelte bitter.

»Nein, ich gehöre nicht zu diesen vielen«, wiederholte er seufzend und sprang dann plötzlich auf und fuhr sich mit den bleichen, hageren Fingern durch das üppige Haargelock.

»Und jetzt, eben jetzt, möchte ich zu ihnen gehören«, schrie er leidenschaftlich heraus.

Seine Mutter sah erstaunt zu ihm auf.

»Was ist denn in dich gefahren?« fragte sie. »Warst doch sonst nicht hinter dem Gelde her. Hast allezeit nur für die Kunst geschwärmt, hast nie und nie an andere Lebensgenüsse gedacht und bist – deine Briefe redeten wenigstens immer davon – trotz magerer Gagen glücklich gewesen.«

»So ist es, Mutter, ja, so war es bis – bis etwa vor einem Jahr«, antwortete Hans Müller, der mit raschen Schritten das Zimmer durchmaß.

»Bis vor etwa einem Jahr«, wiederholte die Frau, »und – und warum ist es denn jetzt nimmer so? Hast wohl eingesehen, daß in dir der große Künstler nicht steckt, der ...«

»Nicht das ist es, Mutter«, unterbrach er sie. »Wohl habe ich einsehen gelernt, daß es viel, viel schwerer ist, ein guter Schauspieler zu sein, als ich früher gemeint, aber ich verzweifle nicht an meinem Können und ich liebe meine Kunst so heiß wie einst – wenn ich auch vielleicht immer nur einer ihrer niedrigsten Diener sein werde.«

»So gefällst du nicht?«

»O doch – einer wenigstens habe ich nur zu gut gefallen.«

»Ah, ein Frauenzimmer hat dich also so unzufrieden gemacht?«

Frau Müller war nun selber recht unzufrieden.

Blitzschnell zogen die Jahre an ihr vorüber, in denen ihr Sohn der Liebling ihres gütigen alten Gebieters gewesen, der ihn zu ihrem, der armen Witwe, Stolz hatte studieren lassen. Wie schön diese Zeit gewesen war und wie liebe Hoffnungen sie an dieselbe geknüpft hatte! Und – wie ganz anders war alles gekommen! Eines Tages, Hans war schon in der letzten Gymnasialklasse gewesen, ging er einfach durch, um nach Tagen zu schreiben, daß er sich der Truppe eines wandernden Theaters angeschlossen habe und nie mehr zu dem reizlosen, stillen Leben zurückzukehren gedenke, darin er sich seit jeher nicht glücklich gefühlt. In jenen für sie so schrecklichen Tagen zeigte es sich, wie gut ihr Gebieter war. Der alte Herr tröstete sie und stellte ihr mit seltsamem Eifer vor, daß oft ein unabweisbarer innerer Drang eine stürmische, junge Seele zu solchen Schritten hinreiße und daß sie deshalb noch lange nicht endgültig zu verurteilen und für verloren anzusehen sei. Auch daß das Studiengeld verloren sei, wäre nicht richtig, denn die erworbene Bildung sei Hans auch auf den Wegen der Kunst notwendig, und wenn es ihn nicht reue, für des Burschen Geist gesorgt zu haben, so brauche sie sich keine Vorwürfe darüber zu machen, das, was ihm kein Opfer gewesen, für ihr Kind angenommen zu haben. Man müsse eben jetzt abwarten, ob Hans sich nicht in seinem Talente geirrt habe: schön sei es, daß er für jede fernere Unterstützung gedankt, ja eine solche durch das Geheimhalten seines Aufenthaltsortes überhaupt unmöglich gemacht hatte.

So tröstete damals Herr Winkelmann seine Wirtschafterin, und dann ward nicht weiter über die Sache gesprochen; aber Frau Müller spürte es, daß ihr gütiger Herr gerade so wie sie selbst Tag für Tag an Hans dachte und gleich ihr begierig auf Nachricht von ihm wartete, auf die Nachricht: »Ich bin jetzt auf dem richtigen Wege, und der Ruhm fängt an, sich an meine Fersen zu heften.«

Doch diese Nachricht kam nicht Es kam überhaupt durch mehr denn zwei Jahre keine Kunde von Hans, dann schrieb er, daß er auch jetzt nicht auf Rosen wandle, daß ihm aber die Schauspielkunst so ans Herz gewachsen sei, daß er nie daran denken werde, von ihr zu lassen. Dieser Brief kam aus einer Provinzialstadt, in deren Theater Hans Müller als Charakterspieler engagiert war. Und wieder nach etwa zwei Jahren besuchte er einmal seine Mutter und seinen Gönner. Er ward von beiden mit Herzlichkeit aufgenommen, und als er bei Ablauf seines kurzen Urlaubs ging, tat er es fast mit schwerem Herzen, denn so gut wie daheim war es ihm schon lange nicht gegangen. Er wußte jetzt auch, warum Herr Winkelmann sein Ausreißen vom Gymnasium so mild beurteilt hatte. Der alte Herr hatte es einst ähnlich gemacht, nur mußte in ihm nicht die richtige Künstlerschaft gesteckt haben, dann er hatte es beim Theater niemals zu etwas gebracht, und hätte er nicht, schon in vorgerückten Jahren, einen bedeutenden Gewinn gemacht, er hätte wohl sein Alter nicht so behaglich hinbringen können. Mit Beruhigung, weil der vollständigen Vergebung seiner Mutter und seines Wohltäters sicher, kehrte damals Hans Müller an den Ort seines Engagements zurück. All dies Vergangene zog blitzschnell an Frau Müllers Geist vorüber, während sie jetzt auf ihren Sohn blickte, der, ein Bild der Unruhe, mit hastigen Schritten durch das Zimmer ging.

»Ein Frauenzimmer hat dich also so unzufrieden gemacht?« hatte sie Hans zugerufen und dann hinzugesetzt: »Und zu was für einer Gattung Frauenzimmer gehört es denn?«

Der junge Mann blieb stehen und wendete sich ihr zu.

»Mutter«, begann er weich, »wohl hat Helene mich unzufrieden gemacht, aber auch unsagbar glücklich. Unzufrieden, bis zur Unerträglichkeit unzufrieden mit der Armseligkeit meiner Existenz, mit der Unmöglichkeit, der Geliebten auch nur einen kleinen Bruchteil dessen bieten zu können, woran sie seit jeher gewöhnt war. O ja, ich bin unzufrieden, aber doch glücklich, denn – Mutter, wirst du mir die neue Heimlichkeit vergeben? Denn Helene ist seit fast einem Jahr mein Weib.«

»Du – du bist verheiratet?« stammelte Frau Müller und schnellte empor.

Hans drückte sie sanft in den Sofawinkel. Er nickte. Es war ihm jetzt offenbar leichter ums Herz, und etwas wie ein schelmisches Lächeln huschte um seine Lippen, als er sagte: »Ja, ich bin Gatte und – Vater. Dein Enkel – er heißt Gottfried wie mein guter, seliger Vater – ist schon sieben Wochen alt.«

»Sieben Wochen«, wiederholte verwirrt die Frau. Hans hatte sich neben sie gesetzt. Der augenblickliche Frohmut war schon wieder verschwunden, und die Traurigkeit, die früher aus seinen Augen geschaut, lugte auch jetzt wieder heraus, und neben ihr war noch etwas zu schauen: Scham und bittere Verlegenheit.

»Kannst du es dir vielleicht denken, weshalb ich hier so ins Haus falle?« begann er stockend.

Sie nickte.

»Es geht dir, es geht euch schlecht, du brauchst Hilfe«, sagte Frau Müller, und ihre Hand schob sich dabei unwillkürlich in die ihres Sohnes, der von diesem Zeichen unverwüstbarer Herzlichkeit so bewegt wurde, daß ihm Tränen in die Augen traten.

»Du zürnst mir also nicht?« rief er aus.

Sie schüttelte den Kopf.

»Bist halt schon so. Hast dir dein ganzes Leben allein geformt, warum hättest du mich fragen sollen, als du eine Frau nahmst. Daß es eine richtige Ehe ist, setze ich voraus.«

»Es ist eine richtige Ehe – die freilich meinem lieben Weibe ihre Eltern und das gewohnte Wohlleben kostete, denn natürlich war Helenes Verwandtschaft nicht damit einverstanden, daß sie die Frau eines wenig bekannten Schauspielers werden wollte.«

»Was ich begreife«, warf Frau Müller ein. »Tatsache ist es ja auch, daß sie und du und euer Kind über den Hals im Elend seid. So ist es doch, Hans? Wäre es nicht so, du wärest niemals um Hilfe hierhergekommen.«

»Du kennst mich gut, Mutter! Ja, wenn ich mir noch allein helfen könnte, ich würde dich nicht in Anspruch nehmen. Bis jetzt konnten wir, freilich mit Ach und Weh, mit dem Leben fertig werden. Helene ist ja ein Engel, der nie klagt – unser Kind aber ist krank und braucht Hilfe: Mutter, ich weiß es, du hilfst ihm.«

»Natürlich. Wer sonst sollte es denn tun? Gott sei Dank. Mein Erspartes wird euch für längere Zeit aller Not entheben.«

Frau Müller erhob sich. Sie machte sich an einem Kasten zu schaffen, aus welchem sie einige Wertpapiere nahm, die sie vor Hans hinlegte, wobei sie einfach sagte: »Da, Kind – da ist, was ich dir sofort geben kann. Die Lose kannst du heute noch verkaufen. Einen Notpfennig habe ich schon noch.«

»Einen Notpfennig, den ich dir schmälere, ich, der gehofft hat, dich mit sich hinaufzutragen in ein Leben, das nicht nur aus Anstrengung und Dienstbarkeit besteht!«

Frau Müller legte ihm die Hand auf den Mund.

»Sei still, sei still«, sprach sie fast heftig, »was du da denkst, ist Hochmut, von dem dich alle deine trüben Erfahrungen also noch immer nicht geheilt haben. Ich danke Gott, daß er mich arme Witwe diesen Dienst hat finden lassen. Wo gibt es denn bald wieder solch einen Herrn? Hat er nicht für dich wie ein Verwandter gesorgt? Behandelt er mich nicht immer mit gleicher Güte?«

»Die du aber auch wie keine andere verdienst. Oh, Mutter, ich erkenne ja auch alles Gute, das Herr Winkelmann an dir und mir getan und noch tut, aber ich hätte dich doch am liebsten bei mir gehabt.«

»Damit wir hätten miteinander hungern können«, sprach bitter die Frau. »Oh, Hans – wenn du wenigstens jetzt auf einen guten Rat hören wolltest! Gib das Theater auf! Hättest du genügendes Talent, du hättest dich damit schon durchringen müssen.«

»Talent«, Hans lachte grimmig, »sage doch lieber Glück. Tausendmal hat man mir gesagt, ich sei ein trefflicher Charakterspieler – aber was nützt mir das Lob, wenn kein praktischer Erfolg danach kommt.«

»Das sage ich eben auch, und deshalb ist mir mein schwerverdienter Lohn so viel wert, denn er macht mich unabhängig von anderen. Warum zuckst du zusammen? Das hat doch kein Hieb auf dich sein sollen. Dich kommt das Bitten ja so schwer an, daß man dir gern, oh, wie gern gibt. Mache dir also das Herz nicht schwer, weil du jetzt Hilfe brauchst.«

»Ja, ich ziehe dir den Lohn aus der Tasche, den schwerverdienten Lohn – denn daraus, daß du selber mir das Tor öffnetest, muß ich annehmen, daß du noch immer allein alle Dienste im Hause versehen mußt.«

»So ist es auch. Herr Winkelmann haßt neue Gesichter, ich darf mir also keine Magd halten.«

»Du wirst an dieser Sonderlingslaune noch zugrunde gehen.«

»Oh – man arbeitet sich nicht so leicht zu Tode. Freilich, auch ich werde täglich älter, und Ruhe täte auch mir zuweilen not, aber kann ich es deshalb ihm, der so viel für dich getan hat, zumuten, zu tun, was ihm so zuwider ist, noch einen Menschen ins Haus zu nehmen? Das würde nur zu Szenen führen.«

Frau Müller seufzte. Es entstand eine längere Pause.

»Hat er denn wenigstens für dein Alter gesorgt?« fragte Hans plötzlich.

Seine Mutter schüttelte den Kopf.

»Er fürchtet ja das Sterben so sehr. Er denkt nicht daran, ein Testament zu machen.«

»Und er ist doch schon sehr alt.«

»Siebenundachtzig vorüber.«

Wieder schwiegen sie. dann unterbrach Frau Müller die Pause.

»Du hast dich sehr geändert«, sagte sie. »Früher hast du niemals nach derlei gefragt, da war dir das Geld von wenig Bedeutung.«

»Ja, das ist jetzt gründlich anders geworden«, gab er zu. »Seit ich eine Frau habe, eine an Vornehmheit gewöhnte, zarte, kränkliche Frau, die ich anbete, und seit ich einen Sohn habe, der an unserer Armut vielleicht sterben wird, seither ist geradezu eine Besitzeswut, ein Gelddurst in mir erwacht, die mich bestimmen könnten, selbst ein Verbrechen zu begehen, um nur diesen beiden schaffen zu können, was sie bedürfen. Oh, Mutter, Mutter, manchmal fürchte ich mich vor mir selber, so ergrimmt bin ich gegen die Reichen, so gierig nach Besitz bin ich geworden.«

Er war aufgesprungen und rannte wieder im Zimmer auf und ab. Seine Mutter schaute ihm erschrocken nach. Wie seine Augen glühten! Wie seine Lippen zitterten! Er sah zum Fürchten aus. Frau Müller redete beruhigend auf ihn ein, und er ward auch rasch wieder ruhig, er setzte sich jetzt sogar zu Tisch und sprach mit einer Gründlichkeit, die für die Leere seines Magens zeugte, den ihm vorgesetzten Speisen zu: dazwischen erzählte er seiner Mutter von dem Glück und Leid seines Lebens, und aus jedem seiner Worte redete die leidenschaftliche Liebe, die er zu Weib und Kind und zu seinem Beruf hatte.

Wohl an zwei Stunden mochten Mutter und Sohn so miteinander verbracht haben, und schon rüstete sich Hans zum Gehen, um noch den Nachtzug zu erreichen, als ein schriller Klingelruf durch das Haus tönte.

»Oh – der Herr will etwas«, sagte Frau Müller und verließ rasch das Zimmer. Hans trat ans Fenster, um zu schauen, ob es noch regne. Dabei murmelte er verdrießlich: »Wahrlich, ein schwerer Dienst. Sie ganz allein muß alles versorgen. Wahrhaftig, sogar seine Kleider flickt sie«, setzte er hinzu, als sein Blick zufällig auf die Gewandstücke fiel, die auf dem Nähtischchen und auf einem Sessel daneben lagen. Es war ein Schlafrock und eine schon ziemlich verbrauchte Hauskappe sowie mehrere Röcke und Westen.

Als Müllers Augen darüber hinglitten, blitzte es in jenen auf. Er lächelte, er lachte nervös laut auf – dann tat er etwas Merkwürdiges. Er schlüpfte hastig in den Schlafrock, setzte sich die Mütze Herrn Winkelmanns auf und ließ sich dann auf dem Sofa nieder.

Es herrschte schon Dämmerung, dennoch war noch alles ziemlich deutlich zu sehen. Hans Müllers Augen und Lippen lächelten, als er sich den Verlauf der nächsten Minuten vorstellte, und gar seltsam sah sein junges Gesicht unter der grauen Tuchmütze mit den breiten Ohrlappen aus.

Aber jetzt – jetzt war es doch kein junges Gesicht mehr, jetzt war es das Antlitz eines alten, eines uralten Mannes, und die eben noch hochaufragende Gestalt war genauso verkümmert und zusammengeschrumpft wie diejenige des Herrn Arnold Winkelmann. Ein letztes Aufblitzen noch, und auch die Augen wurden glanzlos und sahen müde aus dem welken Gesicht heraus.

Ja, Hans Müller verstand es mit schier unbegreiflicher Virtuosität und den kärglichsten Mitteln, aus seinem Äußeren das eines anderen zu gestalten. Die Türklinke ward niedergedrückt, Frau Müller kam zurück.

Die Gestalt hatte sich vom Sofa erhoben und ging ihr schweren, langsamen Schrittes entgegen.

Die Frau lehnte sich, bis in die Lippen erblaßt und an allen Gliedern zitternd, an die Wand.

Ich bin wahnsinnig, dachte sie und fuhr sich über ihre Augen, die eben noch drüben den Herrn in seinem Bette gesehen und die ihn jetzt wieder sahen. Ja, das war der alte Herr; das war sein Gesicht, seine Gestalt, seine Bewegungen.

»Mutter, habe ich dich zu sehr erschreckt?« klang es ihr jetzt entgegen, und die Mütze und der Schlafrock flogen in einen Winkel, und das Gesicht war wieder jung.

Da sank Frau Müller in die Arme ihres Sohnes und weinte laut, so sehr war sie erschüttert worden.

Hans führte sie zum nächsten Sitz und küßte ihr die Tränen von den Augen und bat ihr herzlich den dummen Streich ab.

Natürlich vergab sie ihm, wie sie ihm noch alles vergeben hatte, und gab nun selber zu, daß er eine seltene Begabung zu täuschen und andere darzustellen besitze.

Und als er nun, von der Zeit gedrängt, ein wenig eilig von ihr Abschied nahm, geschah es beiderseits mit gewohnter Herzlichkeit.

»Und grüße mir deine Frau. Wenn ihr in B. drüben leben werdet, wo dir, wie du sagtest, ein Engagement angeboten wurde, dann sehe ich wohl sie und meinen Enkel.«

»Gewiß, Mutter. Und nun tausend Dank.«

»Sprich nicht. Wer soll dir denn helfen, wenn nicht deine Mutter? Und nun Gott befohlen.«

Das waren die letzten Reden, welche die beiden miteinander wechselten, dann eilte Hans Müller fort.

Sinnend kehrte seine Mutter in das Haus zurück.

Noch oft an diesem Abend und in der ihm folgenden Zeit mußte sie an den furchtbaren Schrecken denken, den ihr Hans durch seine Verkleidungsrolle bereitet hatte, und oft dachte auch er mit einer gewissen Genugtuung an die vollendete Täuschung, die ihm gelungen, zurück; keiner aber von ihnen ahnte, welchen gewaltigen Einfluß jener augenblickliche Einfall auf ihr ferneres Leben nehmen werde.

Zweites Kapitel

An einem trüben Herbstmorgen klingelte der alte Herr vergeblich mehrmals seiner Dienerin. Frau Müller kam nicht, und doch wußte Herr Winkelmann ganz genau, daß sie im Hause, und zwar höchstwahrscheinlich in der Küche sei, um dort das Mittagsmahl zu bereiten. Eben vorbin war sie ja noch bei ihm gewesen, um sich zu erkundigen, ob er vielleicht heute gern einen Eierkuchen möge.

Sie war ja immer so bereitwillig, ihm gefällig zu sein, und jetzt, jetzt kam sie nicht, obwohl er in minutenlangen Intervallen ihr schon viermal geklingelt hatte. Ein wenig ungeduldig und wohl auch neugierig und besorgt, langte Herr Winkelmann nach seinem Stock und machte sich auf die Suche nach seiner Wirtschafterin.

Langsam, recht langsam ging er durch das Zimmer und den Korridor, an dessen Ende die Küche lag. Seine Beine hielten eben nimmer Schritt mit seiner Ungeduld. Und als er die Küche betrat, versagten sie ihm schier ganz den Dienst: er mußte sich schleunigst auf den Stuhl niederlassen, der gleich neben der Tür stand.

»Josefa, mein Gott. Josefa, was ist Ihnen?« stammelte er und starrte erschrocken auf die Frau hinüber, die totenblaß neben dem Herd auf den weißen Fliesen saß. Der Kopf der Frau lehnte müde an der Herdmauer.

Ihre Augen schauten verwirrt nach der Richtung, aus welcher eine Stimme irgend etwas zu ihr wie aus weiter, weiter Ferne herüberrief.

Jetzt aber. ja. jetzt wußte Frau Müller schon, daß ihr Gebieter zu ihr redete, und mit Gewalt schüttelte sie das Gefühl des Schwindels und der halben Ohnmacht ab und richtete sich auf.

»Verzeihen Sie. verzeihen Sie«, stammelte die arme Frau und richtete sich mühsam vom Boden aut. »ich habe das Läuten wohl vernommen, aber ich konnte mich nicht regen, so sehr hat mich diesmal der Schwindel erfaßt.«

Mit müden Bewegungen und noch wankend, war Frau Müller, während sie sich entschuldigte, auf ihren Herrn zugegangen.

»Also schon mehrmals war Ihnen ähnlich zumute?« sagte er leise und schaute scheu in ihre noch glanzlosen Augen, auf ihr Gesicht, das merklich angegriffen aussah.

Sie nickte. Dann brach sie plötzlich in ein krampfhaftes Weinen aus und rief: »Oh, gnädiger Herr, schicken Sie mich deshalb nicht fort. Ich werde nach wie vor meine Arbeit tun – und solche Anfälle werden ja nicht zu häufig vorkommen. Wollen Sie mich wegschicken, finde ich doch keinen Platz mehr, und Sie wissen, ich habe jetzt auch noch für Hansens Weib und Kind zu sorgen.«

»Schon gut, schon gut!« antwortete der alte Herr zerstreut. »Sehen Sie nur zu, wieder gesund zu werden. So könnte das ja nicht fortgehen, und fremde Gesichter, Sie wissen, wie ich fremde Gesichter hasse, tun Sie also schon mir zuliebe alles, um wieder gesund zu werden. Das Kochen lassen Sie nur für heute sein, etwas Tee genügt mir nach diesem Schrecken, und Sie können sich etwas aus dem Gasthaus holen. Bei dieser Gelegenheit geben Sie auch gleich an Doktor Kleiber eine Einladung auf die Post hierherzukommen, Sie müssen etwas für sich tun, liebe Müller.«

Herr Winkelmann hatte sich erhoben und schlurfte aus der Küche hinaus. Er hatte offenbar einen ihn höchlich peinigenden Eindruck erhalten, und unter diesem Eindruck vergaß er ganz und gar seine gewöhnliche Freundlichkeit.

Ja, dieser alte Mann, dem schon ein Sinn um den anderen untreu zu werden begann und der seinen Leib seit mehr denn siebenundachtzig Jahren auf Erden umherschleppte, der hatte vom Leben noch immer nicht genug, der dachte jetzt noch mit Entsetzen an den Tod!

Wie sollte der seit jeher von Todesfurcht geplagte Mann nicht tief getroffen davon sein? Er war es, und seine Bestürzung sah so genau einer argen Verdrossenheit ähnlich, daß Frau Müller, ihres Gebieters Aufregung verkennend, schmerzlich bewegt zurückblieb.

»Er ist halt doch nur ein alter Egoist«, sagte sie voll Bitterkeit zu sich selber. »Wohl zahlt er gut, aber er verlangt auch viel dafür; wohl ist er fast immer freundlich, aber muß man sich ihm dafür nicht völlig unterwerfen, jede seiner Eigenheiten schonen? Mein Unwohlsein trifft ihn nur um seiner selbst willen so hart, denn kann ich nimmer allein für ihn sorgen, dann muß er sich ja doch endlich an fremde Gesichter gewöhnen. Und das wäre ihm schrecklich, darum allein ängstigt er sich.« Ein herbes Lächeln umspielte die Lippen der Haushälterin, und langsam begann sie, obwohl ihr noch immer nicht ganz wohl war, sich wieder am Herde zu beschäftigen.

»Oh, er soll wie sonst sein gutes Mittagsmahl haben«, höhnte sie und schürte so grimmig das Feuer, daß es hoch aufloderte, »ich will ihm so lange als möglich dienen; er soll keine Ursache haben, mit mir unzufrieden zu sein; solange ich mich noch regen kann, ist ihm ja meine Kraft verkauft. Oh, Hans, ich muß ja schon deinethalben aushalten, denn ich kann dich doch jetzt, da du meine Unterstützung so notwendig brauchst, nicht verlassen!«

Seufzend hielt sie ein und begann mit dem Zurichten der Speisen. Aber ihre Gedanken kamen nicht los von dem heutigen Benehmen ihres Herrn. Immer mehr und mehr arbeitete sie sich in eine Bitterkeit hinein, zu welcher sie sich völlig berechtigt hielt.

»Habe ich ihm nicht seit siebzehn Jahren treu gedient? Hat er nicht oft gesagt, daß Hans und ich ihm wie Verwandte seien? Und doch rührt er keinen Finger, um unsere Zukunft zu sichern. Und er täte ja damit niemandem ein Unrecht! Hat er doch keine Menschenseele in der Welt, die irgendeinen Anspruch auf sein Vermögen machen könnte. Aber nein, aus purer Feigheit macht er kein Testament, darin er uns ja jedenfalls bedenken würde. Ewig will er leben, der alte Narr, und fürchtet sich jetzt wohl, da ein anderer sich danach sehnen würde, wie ein Verrückter vor dem Sterben.«

Sie lachte laut auf. Vor wenigen Tagen war der nächste Nachbar, ein alter, wackerer Gärtner, begraben worden, und da hatte es viele Leute gegeben, welche ihm die letzte Ehre erweisen wollten. Auch Musik gab es, jene unsagbar traurige, nervenaufregende Musik, welche zu all den anderen Qualen derer, die an einem eben erst geschlossenen Sarge stehen, noch eine neue Pein fügt und die doch schier jeder tapfer aushält. Einer aber, einer hatte sich beim Leichenbegräbnis des Gärtners entfernt, dieser eine war Herr Winkelmann.

Als die ersten Töne des Trauerchorales anhuben, war er gerade im rückwärtigsten Teile seines Gartens gewesen. Plötzlich sah ihn die Wirtschafterin mit fast komischer Hast auf das Haus zueilen, und schon von weitem rief er ihr zu: »Haben Sie mir das nicht sagen können?«

Danach humpelte er ins Haus, wo er bald ruhiger wurde, denn sie hatte schon alle Fenster geschlossen, damit nur ja kein Laut von draußen hereindringen könne. Als sie hinter ihm in sein Zimmer trat und sich entschuldigte und bemerkte, daß sie keine Ahnung davon gehabt, daß er eben jetzt im Garten gewesen sei, und ihm eben aus Schonung nichts von dem Sterbefall nebenan erzählt habe, da ward er ruhiger und ließ sich vollends bald durch ihr gleichmütiges Geplauder mit dem Entsetzlichen – daß zum mindesten andere Leute sterben – versöhnen.

An diese Szene mußte Frau Müller jetzt denken und voll Bitterkeit laut darüber lachen.

Oh, diese lächerliche Schwäche konnte ihr recht teuer zu stehen kommen!

Herrn Winkelmanns unsinnige Menschenscheu kostete sie ihre Gesundheit, denn sie konnte sich gar nicht schonen, weil er ihr nicht erlaubte, sich eine Helferin zu halten, und seine unsinnige Furcht vor dem Tode brachte sie und die Ihrigen um eine wenigstens halbwegs gesicherte Zukunft; denn der alte Herr konnte sich zu keinerlei Verfügungen im Hinblick auf seinen Tod entschließen.

In überaus verdrossener Stimmung bereitete Frau Müller das Mahl, und als sie es zu des alten Herrn Verwunderung und keineswegs unangenehmer Überraschung auftrug – war sie es, welche am wenigsten davon genoß.

Sie pflegte, da er es seiner Bedienung halber schon seit vielen Jahren so wünschte, stets mit ihm an einem Tisch zu essen. Das war natürlich auch heute der Fall, und weil sie schon gereizt war, fiel es ihr heute überaus unangenehm auf, wie dringlich er sie immer wieder zum Zulangen nötigte.

Wie ein Haustier, dessen Kraft er notwenig für sich braucht, füttert er mich reichlich und gut, dachte sie, und die Bissen schwollen ihr dabei im Munde.

Um die sie ängstlich beobachtenden Blicke des alten Mannes loszuwerden und um seine Aufmerksamkeit überhaupt von sich abzulenken und wohl auch um ihn, der ihr heute so widerwärtig war, zu ärgern, begann sie von den großen Veränderungen zu sprechen, die demnächst schon in der Umgebung des Hauses Platz greifen würden.

Hatte sie ihn wirklich ärgern wollen, dann war ihr Zweck erreicht; denn nun lenkte sich sein Denken auf die große Unruhe, die es bald, und zwar für lange Zeit, ringsum geben würde.

Ein Bauspekulant hatte nämlich die an und für sich sehr gute, aber für Herrn Winkelmann außerordentlich ungünstige Idee gehabt, im vergangenen Frühjahr alle Gartengründe rings um den Winkelmannschen Besitz anzukaufen, um an ihrer Stelle einen neuen Stadtteil entstehen zu lassen.

Jetzt, da der Herbst angebrochen und die Gärten fast geleert waren, begannen die einstigen Inhaber, denen schon im Frühjahr ihr Auszug zur Bedingung gemacht wurde, ihre bisherigen Heimstätten zu verlassen.

Auch an den alten Herrn hatte jener Bauspekulant das Ansinnen gestellt, ihm seinen Besitz für Geld und gute Worte zu überlassen. – Herr Winkelmann aber hatte ihn kurz und ein für allemal abgewiesen, und das war sehr natürlich. Was lag dem alten Manne an ein paar tausend Gulden Gewinn, den er bei dieser Sache hätte haben können? Ihm war es um einen stillen, behaglichen Winkel zu tun, in dem er nichts von der Welt erfuhr und kein anderes Gesicht zu sehen brauchte als das seiner treuen, verläßlichen Wirtschafterin.

Als er sein Gläschen Rotwein als »Magenschluß« getrunken, rollte sie ihm wie alltäglich seinen Armstuhl zum gemütlich prasselnden Ofen, schob ihm Kissen unter den Kopf und unter die Füße, reichte ihm die sorglich gestopfte Pfeife und den flammenden Fidibus und fragte dann, wie sie es jeden Tag Punkt zwei Uhr tat, ob er noch irgend etwas wünsche, ehe sie das Geschirr waschen gehe.

»Nichts, Josefa, nichts«, antwortete er freundlich. »Der Brief an den Doktor ist wohl schon aufgegeben?«

Das war nun nicht der Fall, doch Frau Müller bejahte, denn der alte Herr sollte sich nicht ärgern. Er nickte ihr denn auch befriedigt zu und sagte, nachdem er einen behaglichen Zug aus der Pfeife getan: »Also schauen Sie nur dazu. Sie müssen wieder gesund werden. Was täte ich denn ohne Sie?«

Er sah das bittere Lächeln nicht, welches ihre Lippen verzog und das sich vertiefte, während sie den Tisch rasch abräumte und das Zimmer verließ.

»Er ist und bleibt ein Egoist. Er denkt bei allem, selbst bei seinen Guttaten, nur an sich.«

So murmelte die Frau vor sich hin, als sie der Küche zuschritt.

Dort kam sie aber nicht sogleich zum Reinigen des Geschirrs, sondern begab sich in ihr Zimmer, um den Brief an den Doktor zu schreiben. Es blieb nicht bei diesem einen Brief. Sie schrieb auch an ihren Sohn. Der Brief trug, so wie ihr ganzes Wesen heute, den Stempel der Gereiztheit.

Er lautete:

 

»Lieber Hans!

Komme hierher. Du sollst Herrn Winkelmann begreiflich machen, daß ich nicht mehr alleine mit aller Arbeit fertig werden kann. Es wird Dir dies vielleicht besser gelingen als mir, die ich – seit ich die Sorge um Dich und die Deinigen habe und überdies körperlich nicht recht wohl bin – nervös und leicht reizbar werden würde und vielleicht ein unrechtes Wort sagen könnte. Das wird Dir nicht so leicht passieren und – Männer sprechen ja überhaupt leichter miteinander. Also komme! Ich habe große Sehnsucht nach Dir.

Nach Dir und meinem Enkel und auch nach Deiner Frau, muß ich sagen – denn kenne ich auch Helene nicht, so habe ich sie doch schon liebgewonnen, und mich gekränkt, daß dein Engagement nach B. erst im Winter angeht und ich daher noch so lange darauf warten muß, Dein Kind und Deine Frau in meine Arme zu schließen.

Wie gut muß Helene sein und wie sehr lieb muß sie Dich haben, da sie so klaglos Deine Armut mit Dir trägt!

Du lieber Gott! Und ich, die ich von Wohlhabenheit umgeben bin, kann Euch nicht helfen, kann Euch nur hier und da einen Brocken hinwerfen.

Und dies alles ist nur deshalb so, weil Winkelmann ein Egoist ist, weil er nur an sich denkt und um nichts in der Welt von seinen Eigenheiten lassen will.

Aber jetzt lebe wohl, mein Hans. Und küsse mir die Deinigen, und komme, sobald Du kannst, zu Deiner Dich treu liebenden

Mutter.«

 

Dieser Brief wurde samt dem, welcher an Doktor Kleiber adressiert war und in welchem der Doktor ersucht wurde, gelegentlich gegen Abend einmal im Hause Winkelmann vorzusprechen, von dem Mädchen, welches seit einigen Wochen die Milch und das Gebäck ins Haus brachte, mitgenommen.

»Ins Haus«, das war nicht richtig, denn Annerl, so hieß das frische vierzehnjährige Ding, gelangte immer nur bis zur Vorgartentür. Dort erwartete sie meist schon Frau Müller, um ihr die Waren abzunehmen und die Bezahlung dafür in die Hand zu drücken. In das Haus jemanden kommen zu lassen, das hätte sie nicht gewagt; aber ihr öfter auftretendes Unwohlsein zwang sie, sich ihren Dienst wenigstens insofern zu erleichtern, als sie sich den täglichen Bedarf an Lebensmitteln jetzt vor das Haus bringen ließ. Herr Winkelmann wußte davon und hatte dagegen nichts einzuwenden gehabt. Am zweitnächsten Tage war er ein wenig aufgeregt, aber es mußte keine geradezu unangenehme Aufregung sein, die ihn befallen und schon die ganze Nacht wach gehalten hatte. Als er Frau Müller beim Kochen wußte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb einen Brief.

Er hatte eine recht charakteristische Schrift, der alte Herr, schon charakteristisch gemacht durch das Papier und die Feder, die er benutzte. Er schrieb, was immer es sein mochte, auf grobem, geschöpftem Papier, davon er einstmals eine größere Partie bezogen hatte. Da nun der alte Herr sehr selten etwas zu schreiben hatte, befand sich fast noch der ganze Vorrat dieses Papiers in einer der tiefen Laden seines Schreibtisches. Es war elfenbeingelb, von großem Format und so schwer zerreißbar wie Pergament. Der alte Herr schrieb noch mit Kielfedern, und so brauchte er hübsch viel Platz für seine große, weite Schrift.

Auch sein heutiger Brief hatte eine recht bedeutende Ausdehnung. Während er schrieb, lauschte er zuweilen und drehte sich mißtrauisch um. Er schrieb also etwas, das Frau Müller nicht sehen sollte.

Unfreundliches aber oder gar ihr Feindliches konnte sein Brief nicht enthalten, denn während er ihn unterschrieb, lächelte er voll Güte und sagte leise vor sich hin: »Das Opfer muß gebracht werden, für mich gerade so gut wie für sie. Ja, auch die Müller ist nimmer jung. Na, ich bin neugierig, ob ich mich noch an ein kleines Kind gewöhne und an diese Fremde, die den guten Hans – wie ich höre– sogar glücklich macht.«

Wieder lauschte der alte Herr, aber nein, die Müller kochte ja am anderen Ende des Hauses – die kann jetzt nicht so bald herüber. Herr Winkelmann wollte den Brief ganz postfertig machen. Er faltete ihn so klein, als es der große Bogen zuließ, zusammen und steckte ihn in ein Kuvert, das er nun versiegeln wollte. Aber das verschob er doch lieber, denn er fühlte sich jetzt recht müde. Offen aber mochte er den Brief nicht liegenlassen, und so zog er aus dem alten, weiten, schwarzsamtenen Hausrock, den er heute trug, eine große Brieftasche und legte den Brief hinein. Er tat es ein wenig eilig und schloß die Brieftasche rasch wieder.

Er seufzte auch dabei und wollte schon die Brieftasche in die Schreibtischlade legen, doch besann er sich und ließ sie wieder in den tiefen Sack des Rockes gleiten.

»Ich muß es bei mir haben«, murmelte er, »Kleiber muß es ja unterschreiben. Recht gut, daß ich so rasch einen Zeugen finde.«

Eine halbe Stunde später trug die Müller das Essen auf.

»Ihr Schlafrock, gnädiger Herr, ist schon wieder instand gesetzt. Ich habe ihn auf Ihr Bett gelegt«, meldete sie, als sie die Suppe herausschöpfte.

»Schön, schön«, sagte der alte Herr, »heute aber werde ich ihn nimmer anziehen. Es kommt ja wohl Doktor Kleiber, da schickt es sich doch besser, ich behalte diesen schwarzen Flaus an.«

»Wie der gnädige Herr wünscht«, antwortete Frau Müller gleichmütig und löffelte in ihrer Suppe. Sie bemerkte es nicht, daß ihres Gebieters müde, alte Augen ganz ungewöhnlich gütig auf ihrem schon recht welken Gesicht ruhten.

Seine hagere Hand strich dabei über die Brieftasche, die seinen Rocksack hinunterhängen machte.

Dies geschah um halb zwei Uhr. Eine halbe Stunde später überreichte Josefa Müller ihrem Gebieter, wie alltäglich um diese Zeit, seine gestopfte Pfeife.

Herr Winkelmann mußte zerstreut sein. Er lächelte seine Wirtschafterin überaus freundlich an, aber er nahm seine Pfeife nicht. Seine Hand hatte sich in die tiefe Tasche seines Rockes versenkt. Endlich wußte er, was sie von ihm wollte.

»Ah, entschuldigen Sie. Ich dachte soeben an den Doktor. Ich hoffe nämlich sicher, daß er kommt. Meinen Sie nicht auch?«

Herr Winkelmann griff nach der Pfeife. Seine Wirtschafterin empfahl sich mit einer gewissen Steifheit von ihm.

Die Frau war gegen sonst wie ausgewechselt. Das Wohlwollen, welches sie noch vor kurzem für ihren Gebieter gehabt hatte, war einer Art von Ingrimm gewichen. Sie nannte ihn bei sich nur mehr ›den Egoisten‹. Ihre Nerven waren entschieden in übler Verfassung, sonst hätte sie nicht seit einiger Zeit alles so ganz anders angesehen als sonst. Es hatte sich ja in der Tat bezüglich ihres Herrn nichts, aber auch gar nichts verändert. Sie freilich, sie war nicht nur physisch derzeit übel daran, sondern ihre Seele war auch schon seit dem letzten sommerlichen Besuch ihres Sohnes in großer Sorge.

Wie sollte sie auf die Dauer ihrem Liebling und seiner Familie auch nur ein wenig das Leben verschönern? Sie sandte Hans ihren Lohn, aber wie wenig war das dort, wo es hinreichen sollte, eine zarte Frau, ein kränkliches Kind vor allzu großen Entbehrungen zu schützen.

Ja, Josefa Müller lebte in bitterer Sorge, und diese war vielleicht auch die Quelle ihrer körperlichen Leiden.

An dem Tage, von welchem wir sprechen, es war der vierzehnte November, war sie noch unruhiger als sonst.

Sie erwartete ihren Sohn.

Sie hoffte, oh, sie wußte es, daß er so bald als irgend möglich kommen würde. Das Reisegeld hatte sie ihrem Brief beigelegt, Urlaub konnte er, der unbedeutende Schauspieler, sicherlich auch bald haben, denn sein Wegsein störte ja kaum das Repertoire seiner Bühne, was sollte also Hans verhindern, zu seiner Mutter zu kommen? Wie sie sich nach ihm sehnte! Es war schon krankhaft. Nun, wäre es auch ein Wunder, wenn einer im Zusammenleben mit solch einem Sonderling, wie Herr Winkelmann es war, ebenfalls anfinge, absonderlich zu denken und zu empfinden?

Frau Müller kam, wie wir sehen, immer wieder auf ihren Gebieter zurück, und die Gereiztheit gegen diesen wuchs mehr und mehr in ihrer Seele.

Aber auch ihre schier unsinnige Sehnsucht nach ihrem Sohn ließ sie nicht ruhig werden.

Als sie, es war die Nacht schon eingetreten, wieder am Tor stand, nahten endlich eilige Schritte.

Ja – es war Hans!

Sie wußte es ja, er würde so rasch, als es ihm irgend möglich war, kommen. Lachend und schluchzend zugleich fiel sie ihm um den Hals.

»Ei, ei, ganz wie ein Liebespaar!« sagte in diesem Augenblick eine freundliche Stimme.

Sie gehörte dem Doktor Kleiber. Er war gegen seine Gepflogenheit zu Fuße gekommen.

Der Doktor wohnte nicht in der Stadt, sondern auf einem Dorf, das freilich jetzt schon fast an die Stadt grenzte, aber doch immer noch eine eigene Gemeinde bildete.

Dorthin hatte sich der noch nicht alte, aber kränkliche und zum Glück wohlhabende Mann zurückgezogen, um, fast ohne Praxis, still für sich zu leben.

Er war verheiratet und besaß eine Tochter, welche seit mehreren Jahren mit ihrem Mann in Trient lebte.

Noch unter Tränen lächelnd, reichte Frau Müller dem freundlichen Mann die Hand und scherzte: »Oh, Herr Doktor, wir sind auch Liebende, gerade so ein Liebespaar, wie Ihre Frau Tochter und Sie es sind. Ich habe es nicht vergessen, wie selig Sie ihr in die Arme flogen, als sie im letzten Winter unvermutet heimkam. War ich doch gerade in P. draußen, um unseren Holzvorrat zu ergänzen. Da ging ich, eben als der Wagen mit Ihrer Tochter ankam, an Ihrem Hause vorbei.« So plaudernd, führte Frau Müller den Doktor ins Haus. Hans sperrte das Tor ab und folgte ihnen. Er hörte seiner Mutter Reden so wie die Entgegnungen des Doktors ganz genau.

»So haben Sie uns also damals belauscht?« entgegnete Kleiber und setzte hinzu: »Da werden Sie es auch verstehen, wie ich mich nach meinem fernen Kinde sehne. Eben jetzt, sehen Sie, meine liebe Frau, eben jetzt bin ich auf dem Wege zu ihr.«

»Wahrhaftig. Sie sind zu einer Reise gerüstet«

»So ist's. Um neun Uhr fünfundzwanzig geht mein Zug ab.«

»Und doch haben Sie sich Zeit genommen, noch zu uns zu kommen?«

»Ja, ich fürchtete, dem alten Herrn sei etwas zugestoßen.«

»Keine Spur! Der ist frisch wie ein Fisch im Wasser. Ich bin es, die sich unwohl fühlt. Gleichwohl möchte auch der Herr mit Ihnen sprechen.«

»Also gehen wir.«

Sie gingen schon die Stiege hinauf. Hans blickte besorgt auf seine Mutter. Also sie war krank! Hatte sie ihn vielleicht nur deshalb hierhergerufen? War sie besorgt um sich, um ihn, und wollte sie über die Zukunft mit ihm sprechen? Ihr Brief war so dringlich.

Des armen jungen Menschen Herz zog sich zusammen.

Alle drei traten zugleich bei dem alten Herrn ein.

»Grüß Gott!« rief dieser frohgemut. Galt es dem Doktor? Galt es Hans? Er streckte beiden seine Hände entgegen.

»Sie sehen ja wie einer aus, der eine Reise tut?« fuhr Herr Winkelmann fort und zeigte auf des Doktors Reisepelz und Umhängetasche.

Jetzt erst, im vollen Licht der hellbrennenden Lampe, bemerkten die drei, wie unruhig Doktor Kleiber aussah. Er legte den Hut, den Pelz und die Tasche weg und setzte sich zu dem alten Herrn. »Ich werde von hier aus eine Reise antreten«, sagte er und zog seine Uhr aus der Westentasche. »Für Sie, lieber Freund, bleibt mir nur noch eine Stunde, dann heißt es Abschied nehmen, für immer.«

»Für immer? Warum?« fragte hastig der Greis.

»Meine Tochter ist hoffnungslos krank – lebt vielleicht nimmer, bis ich in Trient eintreffe. Meine arme Frau ist schon dort, sie schrieb mir vor einigen Tagen, daß sie an Rückkehr nimmer denkt. Unsere Enkel brauchen uns dort. Mein Schwiegersohn ist an seinen Amtsort gebunden, und da er nicht zu uns kommen kann, müssen wir eben zu ihm ziehen. Was hält mich denn auch hier? Nichts. Und so gehe denn auch ich. Meinen Haushalt löst mein Neffe auf, und so kann ich, nachdem ich heute telegrafisch nach Trient berufen wurde, sofort zu Luise eilen und habe nichts mehr hier zu tun, als auch noch von Ihnen Abschied zu nehmen.«

»Wie traurig dies alles ist – auch für mich wie traurig«, sagte Herr Winkelmann. »Mit Ihnen geht der einzige Mann, zu dem ich noch Vertrauen hatte.«

»Oh, gnädiger Herr!« warf betrübt Frau Müller ein; Herr Winkelmann begriff sie.

»Ist Hans nicht immer mein Liebling gewesen?« fragte er. »Aber kommt es zu etwas Ernstlichem, dann – dann möchte ich den Doktor hier haben. Du nimmst mir das doch nicht übel, Hans?«

Der junge Mann beugte sich trüb lächelnd über ihn und küßte seine welke Hand.

Danach sagte Herr Winkelmann: »So – und jetzt führe deine Mutter hinaus. Ich habe mit dem Doktor zu reden. Ich will ihn nicht lange aufhalten, Frau Müller«, warf er den beiden nach, als Mutter und Sohn das Zimmer verließen.

*

Der nächste Morgen, der Morgen des 15. November des Jahres 1881, fing eben zu dämmern an.

In der Gärtnergasse herrschte tiefe Stille. Die Marktwagen waren längst schon nach der Stadt gefahren, und somit lag die Gasse wieder in gewohnter Ruhe da.

Die beiden Laternen an ihren Enden brannten noch, doch konnte man ihr Licht kaum durch den dicken Nebel erkennen.

Und so war es auch mit dem Licht, das in einer Laterne flammte, welche im Hintergrund des Winkelmannschen Gartens auf einer Bank stand.

Es war eine grüngestrichene Bank, und der Tisch, welcher an die Gartenmauer gerückt war, gehörte offenbar zu ihr.

Er trug heute eine seltsame Last. Ein Mann stand auf ihm; der Mann schaute über die Mauer hinweg. So groß er war, mußte er sich, um dies tun zu können, noch auf die Zehenspitzen stellen. Sein angstvolles Auge überblickte, soweit dies der Nebel zuließ, den Nachbargarten.

Nein, von dieser Seite her brauchte man nicht zu fürchten, daß einem jemand bei einem heimlichen Werke zusehen würde! Nachdem sich der Lauscher darüber versichert hatte, verließ er seinen Posten. Er sprang leichtfüßig von dem Tische auf den weichen Gartenboden herab.

Jetzt fiel das Licht der Laterne in sein Gesicht Er sah sehr bleich, aber auch sehr trotzig und entschlossen aus; es war das Gesicht Hans Müllers.

Er wendete sich einem nahen Gebüsche zu. Darin kauerte, von den Zweigen fast versteckt, seine Mutter.

Sie blickte scheu zu ihm empor.

»Nun?« fragte sie mit heiserer Stimme.

»Natürlich ist niemand da. Wir können beginnen. Oder – Mutter – lasse es mich allein tun.«

Sie schüttelte den Kopf und erhob sich. Stumm ging sie an ihm vorüber und nahm das eine der beiden Grabscheite, die an der Bank lehnten.

Hans folgte ihrem Beispiel Sie gingen zu einer Stelle, welche unstreitig die schönste des Gartens war.

An drei Seiten von hohen, herrlichen Tannen umgeben, hatte man nur von der vierten aus einen freien Blick, konnte nach der efeuübersponnenen Mauer hinüberschauen, zu deren Füßen wilde Rosen und Fliederbüsche standen.

Auf dieses heimliche Plätzchen fiel jetzt der matte Schein der Laterne. Er leuchtete zu einem grausigen Werke.

Die beiden gruben ein Grab. Daß es nichts anderes werden sollte, das bewies das schauerliche Schweigen von Mutter und Sohn, das bewies ihr verzweifelt hastiges Arbeiten, und das bewiesen die entsetzen Blicke, mit denen sie aufschauten, wenn irgendwo in ihrer Nähe ein welkes Blatt zur Erde taumelte.

Als sie mit ihrer Arbeit zu Ende waren, wischten sie sich den kalten Schweiß von den Gesichtern und gingen, ohne einander anzusehen, ins Haus.

Die Laterne war nun schon überflüssig geworden. Hans löschte das Licht und trug sie mit hinein.

Noch immer war es nicht hell geworden, denn noch deckte grauer Nebel die Erde und hüllte sie in eine unheimliche Dämmerung. Und diese Dämmerung paßte zu dem unheimlichen Werk, das in ihr vollendet wurde.

Josefa Müller und ihr Sohn traten wenige Minuten, nachdem sie hineingegangen, wieder aus dem Haus.

Sie trugen eine Last, eine entsetzliche Last.

Sie trugen einen alten Mann, aus dessen verzerrtem, blau unterlaufenem Gesicht glanzlose Augen gen Himmel schauten.

Die Hände des Toten waren geballt, sein schwarzsamtener Rock wies einen Riß auf, und große Blutflecken färbten den Ärmel seines weißen Hemdes.

Der Tote war Arnold Winkelmann.

Die beiden legten ihn in die tiefe Grube und warfen dann die Erde auf ihn.

Der Boden war wieder glatt und mit weißem Kies bestreut. Bank und Tisch standen auf der gewohnten Stelle.

Und doch sah der erste Sonnenstrahl etwas Ungewöhnliches, sah ein totenbleiches Weib und einen nicht minder blassen Mann einander in die Arme stürzen und einander fest umschlungen halten. Die Augen des Weibes hatten keine Tränen, die glühten in unheimlichem Feuer, und was ihnen aus denen des Sohnes entgegenschaute, war grimmiger Trotz.

»Wirst du es nicht bereuen?« raunte sie ihm zu, und er antwortete: »Niemals, Mutter, niemals.« Hans lächelte grimmig. Der Blick, den die zwei dabei auf das heimliche Grab warfen, war so seltsam, daß ihn keiner hätte enträtseln können.

Scheu, Entsetzen, Trauer und Trotz hatten ihren Anteil daran, und es schien, als könnten sich beide von diesem Grabe nicht trennen. Doch ermannte sich Hans bald, und zog seine Mutter mit sich fort.

Eine Viertelstunde später flammte es hell in dem großen Herde auf. Diesmal machte sich Hans in der Küche zu schaffen. Er warf eben, als seine Mutter schweren Trittes in den freundlichen Raum trat, einen blütenweißen, mit Stickerei besetzten Kissenüberzug in die Flammen. Das schöne Gewebe verzehrte, sich bald in der Glut – doch schon von ihr erfaßt, zeigte es noch deutlich die roten Flecken, um derentwillen es vernichtet wurde.

Stieren Blickes schaute Josefa Müller darauf hin, dann sank sie, einen Schrei ausstoßend, zusammen.

Ihr Sohn sprang auf sie zu.

»Mutter, Mutter!« rief er mit erschreckter Stimme. »Wenn du mir stirbst, muß ich ja unsere Tat verfluchen. Bleibe bei mir, hilf mir tragen, was wir uns aufgeladen haben – sonst werde ich wahnsinnig.«

Langsam, müde richtete sie den Kopf empor, und ihr Auge suchte das seine.

»Ich will leben, Hans«, sagte sie leise, »ja, ich will leben. Wozu hätten wir es sonst getan? Und allein – nein, allein könntest du es nicht ertragen.«

Wie sie ihn ansah! So schaute die Mutterliebe – der Wahnsinn der Mutterliebe meinetwegen – und doch die stärkste, die herrlichste Liebe, selbst dann noch unbegreiflich groß, wenn sie vom Verbrechen besudelt wurde.

Hans begriff dies, und deshalb riß er sie an sich und küßte ihr voll wilden Dankgefühles die müden Augen, die eisigen Hände; dann führte er sie zärtlich wie ein Liebender nach ihrem Zimmer.

*

Herr Arnold Winkelmann war also tot und heimlich in seinem Garten begraben.

Ja, so war es.

Als aber acht Tage später das hübsche Milch-Annerl wie gewöhnlich ihre Ware zum Tor brachte, da sah sie ganz deutlich den alten Herrn wie sonst hinter den spiegelnden Fensterscheiben seines Zimmers sitzen.

Drittes Kapitel

Im Winkelmannschen Hause hatte sich für die wenigen Menschen, die mittelbar dafür zu tun hatten, nichts geändert, nichts Wesentliches wenigstens; es lebte eben jetzt außer dem alten Herrn und Frau Müller ein großer, schöner Hund darin.

Diesen hatte Hans noch im Laufe des Novembers seiner Mutter gebracht.

Josefa Müller war furchtsam, außerordentlich furchtsam geworden.

Das schien niemandem ein Wunder, denn Herrn Winkelmanns Haus, sonst von wohlgepflegten Gärten und den Wohnstätten fleißiger Menschen umgeben, stand jetzt inmitten einer wahren Wüstenei. Gleich nach dem Ausziehtermin hatten die Bevollmächtigten des Bauunternehmers mit der Demolierung der Häuser und Planken begonnen, damit man baldigst zur Neuparzellierung der weithingedehnten Gründe schreiten könne.

Nach wenigen Monaten schon war dies geschehen, und noch war der Winter nicht völlig zu Ende, begann schon allenthalben eine schier fieberhafte Bautätigkeit.

Wie die Schwämme wuchsen, mit geradezu unbegreiflicher Schnelligkeit, hohe Mietshäuser aus dem Boden hervor, dem ein halbes Jahr zuvor noch die blühenden Kinder Floras und Pomonas entstiegen waren.

Das einzige stille Plätzchen im neuen Viertel bildete der Winkelmannsche Besitz.

An einem naßkalten Frühlingsmorgen ward an dessen Tor die Klingel gezogen. Frau Müller trat bald danach aus dem Hause und kam blaß und müden Schrittes herbei.

Sie muß ernstlich krank sein, dachte der Fleischer, der mit seinem langen Strohzöger draußen stand, um, wie alltäglich, den Hausbedarf zu bringen. Er zog artig die Mütze.

»Guten Morgen, Frau Müller«, sagte er freundlich, »heute hätte ich ein schönes Stückchen für Ihren Herrn. Sie haben es zwar nicht bestellt, aber ich dachte, daß ich's doch mitnehmen solle. Sie haben ja so oft gesagt, daß Ihr Herr die Karbonaden gern habe, und es fiel mir ein, daß er schon seit dem Herbst keine mehr gegessen hat.«

Die Frau hatte ihm anfänglich mit dem trüben Gleichmut zugehört, den er schon seit Monaten an ihr kannte, bei seinen letzten Worten aber fuhr sie merkwürdigerweise zusammen, wurde rot und schaute ihn sichtlich bestürzt an.

»Ja, ja, Sie haben recht. Er hat schon lange keine Karbonaden gegessen, darum geben Sie her, und – und bringen Sie jetzt öfter welche.«

Merkwürdig hastig war ihre Rede, merkwürdig unruhig ihr ganzes Gehabe. Der Mann schaute sie aufmerksam an, das schien ihr widerwärtig zu sein, denn völlig gereizt fuhr sie ihn an: »Warum betrachten Sie mich so aufmerksam? Was fällt Ihnen denn an mir auf?«

»Nichts, als daß Sie recht, recht krank sein müssen, Frau Müller«, sagte er gutmütigen Tones und fuhr fort: »Es ist merkwürdig, der alte Herr bleibt sich immer gleich, dem fehlt nie etwas, der ist womöglich noch gelenkiger als früher. Das ist mir erst letzthin aufgefallen, wie ich hier vorübergekommen bin und ihn ans Fenster treten sah, und Sie, die so viel jünger sind, werden jetzt auf einmal so gebrechlich. Sie müssen sich halt nicht so viel plagen. Ich wüßte jetzt ein prächtiges Mädchen für Sie.«

»Oh, ich brauche noch lange keine Hilfe«, sprach sie hastig und setzte hinzu: »Überdies will der gnädige Herr keine fremden Gesichter sehen.«

»Na, daran wird er sich doch gewöhnen müssen«, meinte gleichmütig der Fleischergehilfe, »oder er darf gar nimmer zum Fenster gehen. In der nächsten Woche wird ja schon da drüben mit dem Bauen begonnen, und dann ist es wohl für immer aus mit der Stille hier herum. Überdies werden auch bald andere Leute Ihnen den Hausbedarf liefern, denn – das wissen Sie wohl noch gar nicht – auch unsere sowie alle Nachbargassen werden rasiert, und jeder, der dort ein Geschäft hat, muß sich nach einem anderen Laden und einer anderen Kundschaft umsehen.«

In Frau Müllers Augen hatte es bei dieser Nachricht aufgeblitzt; doch rasch war das seltsame Feuer darin wieder verlöscht, und scheinbar gleichgültig – in Wahrheit aber mit verhaltenem Atem – fragte sie: »Also werden Ihr Herr und unsere anderen Lieferanten nicht hierbleiben? Die neuen Häuser werden ja doch auch Läden erhalten.«

»Ja, aber kleine Geschäftsleute können so großen Zins, wie man ihn dafür fordern wird, nicht zahlen. Nein, nein, darum bleibt nichts übrig, als wieder an die neuen Grenzen der Stadt zu ziehen. Jetzt aber muß ich gehen. Behüt Gott, Frau Müller.«

Wieder zog der Mann die Mütze, empfahl sich artig und ging.

Frau Müller schaute ihm noch eine Weile nach.

Ihre Augen glänzten jetzt wieder, und ein Seufzer der Erleichterung drang aus ihrer Brust.

»Es wird wohl wahr sein, was er da gesagt hat«, murmelte sie, »und ist es wahr, dann ist es für uns sehr gut; dann wird die Gefahr der Entdeckung bedeutend geringer.«

Wieder seufzte sie. Die augenblickliche Befriedigung über das Gehörte war dahin, und sie war wieder die Beute der Reue und der Angst, die seit jener entsetzlichen Novembernacht an ihr zehrten. Müden Schrittes ging sie ins Haus. Sie schauderte, als sie über die Schwelle trat. Sie schauderte jedesmal, wenn sie dies tat, und der Frost war schier nimmer von ihr gewichen, seit sie allein das Haus bewohnte.

Ja, allein, denn ihr Sohn konnte nur selten bei ihr sein, kam nur jeden Monat auf zwei bis drei Tage hierher, um den alten Herrn zu spielen, um sich den spärlichen Vorübergehenden in der Maske Herrn Winkelmanns zu zeigen und um alle mögliche Hausarbeit für seine jetzt ernstlich kränkliche Mutter zu verrichten. Hans Müller, der kunstbegeisterte Mime, hatte durch seine Tat für sich rein gar nichts gewonnen; hatte sich damit außer Angst und Gewissensqualen auch noch sonstige Ruhelosigkeit und Unbequemlichkeit geschaffen, denn er mußte jede Stunde gewärtig sein, von seiner unglücklichen Mutter heimberufen zu werden, weil sie seines Rates und seiner Hilfe bedurfte, mußte im Winkelmannschen Hause heimlich mancherlei Arbeiten verrichten, an die er früher niemals Hand angelegt hatte, und mußte außer im Theater auch noch vor seinem Weibe und bei seiner Mutter Rollen spielen: vor seinem Weibe die Rolle des glücklichen Mannes, der durch Erbschaft plötzlich wohlhabend geworden, ihr und seinem Söhnchen nun alles Notwendige und allerlei darüber hinaus bieten konnte, und bei seiner Mutter, die ihm jetzt unbeschreiblich peinlich gewordene Rolle des alten Herrn. Mit Bitterkeit im Herzen mußte er sich jetzt darüber freuen, daß er ein so unbedeutender Schauspieler geblieben, denn wäre es nicht so gewesen, hätte er sich nicht so leicht frei machen können, um von seinem Domizil aus die Hauptstadt aufzusuchen. An all dies, an ihren Sohn und an den Toten, der im Garten in seinem heimlichen Grabe schlief, indessen die wenigen Leute, die ihn kannten, ihn noch zu den Lebenden zählten, dachte Josefa Müller, während sie langsam die Treppe hinaufstieg. Sie hatte, um eine Stütze zu finden, die Hand auf die polierte Stange gelegt, welche sich zu diesem Zweck an der Stiegenwand hinaufzog, doch zog sie plötzlich die Hand zurück und barg sie in den Falten ihres Rockes.

Es war ihr in Erinnerung gekommen, wie oft der alte Herr sich einstmals auf diese Stange gestützt hatte, und es schien ihr plötzlich, als brenne das glatte Holz unter ihren Fingern.

So erging es ihr oft und oft, und damit war ihr der Besitz, den sie sich in jener Nacht gesichert hatte, zur unbeschreiblichen Qual geworden. Überall tauchte ja des alten Herrn Gestalt vor ihr auf, immer sah sie seine brechenden Augen, sein verzerrtes, blaurotes Gesicht, seine blutbefleckte Gewandung vor sich, hörte ihn hüsteln, hörte ihn umherschleichen, wie er es zu seinen Lebzeiten getan, und konnte das gräßliche Empfinden, daß er allzeit in ihrer nächsten Nähe sei, nicht loswerden. Verbrechen rentieren sich niemals. Das mußten auch diese Mutter und ihr Sohn empfinden, die durch ihre Tat zwar wohlhabend, ja fast reich, aber auch innerlich unsagbar elend geworden waren.

Zu fürchten hatten sie eigentlich nichts.

Wer sollte ihre Tat entdecken? Wer interessierte sich für den alten Herrn?

Seit vielen Jahren hatten sich weder Bekannte noch Verwandte bei ihm gemeldet Er selber hatte gesagt, daß er letztere nimmer habe, und entere waren längst von ihm abgeschüttelt worden; Doktor Kleiber, der einzige Gast, der je über des Hauses Schwelle gegangen war, seit Winkelmann es bewohnte, hatte die Stadt für immer verlassen, und überdies waren alle Nachbarn, die den alten Herrn wenigstens vom Sehen her gekannt hatten, fortgezogen, und somit war niemand mehr da, welcher die Verhältnisse im Winkelmannschen Hause auch nur einigermaßen gekannt hätte.

Nun wurden auch die nächsten Straßen geräumt, und es veränderte sich also die Umgebung des kleinen Gutes bis auf weithin so gänzlich, daß keinerlei Gefahr mehr bestand, jene heimliche Tat könne entdeckt werden. Später einmal, wenn kein Bekannter mehr in der Nähe war, konnte man Haus und Garten verkaufen und irgendwo in der Ferne eine neue Heimat gründen.

So dachten Mutter und Sohn, und daß sie sich diesen Zeitpunkt herbeisehnten, ist leicht verständlich. Bis dahin aber mußte Frau Müller die Qual ertragen, an die Stelle gefesselt zu sein.

Als sie jetzt, nach dem Gespräch mit dem Fleischer, sich allein befand, ward es ihr klar, daß sie trotz aller Vorsicht immerhin Fehler begangen hatte, welche schuld sein konnten, daß ihre Sicherheit gefährdet wurde.

Die Kleinigkeit bezüglich der Karbonaden war solch ein Fehler.

Wie hatte sie es unterlassen können, die Lieblingsgerichte ihres Herrn weiter zu beziehen?

An Quantitäten hatte sie niemals gespart, sondern hatte stets genausoviel an Waren bezogen als früher; aber verschiedene Luxusartikel, die sie sonst gekauft, schaffte sie aus angeborenem Sparsinn nimmer an, seit der, welcher sie früher genossen, ihrer nimmermehr bedurfte.

Das mußte von nun an wieder anders werden, mindestens für so lange anders werden, als noch die bekannten Geschäftsleute in der Nähe waren.

Pluto, so hieß der Hund, hatte ja einen schier bodenlosen Magen, der vertilgte alles, was an verderblichen Dingen ins Haus geschafft wurde, der würde von nun an eben eine sehr leckere Kost haben. So war es auch. Pluto wurde der verwöhnteste Hund der großen Stadt. Er fraß die feinsten Braten und die teuersten Fische.

Das war sehr natürlich.

Josefa Müller konnte nämlich keinen Bissen von dem, was sie angeblich für ihren Gebieter kaufte, hinunterbringen. Oftmals hatte sie es mit einer Art grimmigen Trotzes versucht, eines der leckeren Stücke, die sie für sich selber bestellt hatte, zu genießen; doch jedesmal war ihr der Bissen im Munde angeschwollen, und so bekam eben Pluto, was die von Gewissensangst gefolterte Frau selber nicht zu essen vermochte.

Auch in anderer Beziehung war sie überaus genau. Wie zu Lebzeiten des alten Herrn, so hingen auch allmonatlich an einem bestimmten Tage seine blütenweißen Wäschestücke zum Trocknen im Garten, den die hohe Mauer schon längst nicht mehr vor neugierigen Blicken sicherte. War er ja schon von zwei Seiten her von hohen Mietshäusern umgeben, und eben jetzt erhob sich an seiner dritten Seite ein ebensolcher Bau.

Zu Ende des Winters, als man zu bauen begonnen hatte, schauten nur die neugierigen Handlanger von ihren Gerüsten aus in den uralten, selbst damals schattenreichen Garten hinein, in dessen Hintergrund herrliche Fichten und mehrere Kiefern mit ihren weit ausladenden Ästen den Gartenzaun teilweise verdeckten. Ihnen zuliebe hatte Frau Müller die Komödie der Betreuung des alten Herrn aufrechterhalten, denn – so dachte sie ganz richtig – diese Leute konnten es ja erfahren haben, daß es hier einen alten Herrn zu betreuen gab, ja, sie mußten ihn selber schon am Fenster gesehen haben, denn dort mußte er sich der wenigen Personen halber zuweilen zeigen, welche mit seinem Haus in geschäftlicher Verbindung standen und welche nicht ahnen durften, daß es keinen alten Herrn mehr gab.

Noch aber war das dritte der angrenzenden Häuser nicht vollendet, als das erstgebaute auch schon bezogen wurde, und so wagte es Josefa Müller nicht, ihre Komödie abzubrechen. So kam es denn, daß Monat um Monat und schließlich Jahr um Jahr verging und noch immer von Zeit zu Zeit die Wäsche des toten Herrn Winkelmann im Garten trocknete und noch immer hier und da Leckerbissen für ihn eingekauft wurden.

Den Einkauf aber besorgte seine Wirtschafterin jetzt auswärts, und zwar ziemlich weit weg vom Hause, denn sie wollte natürlich die Kontrolle über ihr Tun so fern als möglich halten und überdies zuweilen eine andere Luft atmen als die, welche in ihrem Heim bleischwer auf ihr lastete.

Und doch war dieses Heim jetzt nimmer so trostlos als ehedem. Eine junge Frau und ein Kind, ein fröhlicher Knabe, teilten es ja mit ihr, und ihr Sohn, der das Bühnenleben aufgegeben hatte, lebte auch daselbst, nun sein eigener Herr, aber freilich auch sein eigener Diener, denn weder er noch seine Mutter wagten es, Dienstleute zu halten.

Die junge Frau, Helene Müller, war gewiß auch krank; sie hätte sonst kaum so gedrückt und scheu ihr neues Heim betreten, um darin gleich einem Schatten so leise und gleich einer tüchtigen Magd so unermüdlich, ja fieberhaft tätig zu wirtschaften. Der einzige Glückliche in diesen alten Mauern war der kleine Gottfried, das Büblein von drei Jahren, das noch nichts von Sünde und Strafe wußte und das, an enge Stuben gewöhnt, sich gar wohl fühlte und darin vergnüglich auf seinen dicken Beinen kleine Reisen unternahm.

Nur wurden auch diese beschränkt, denn zu des zuweilen eigensinnigen Jungen Verdruß erlaubte ihm seine Mutter niemals, unter den schönen Kiefern zu spielen, deren Zapfen ihm so viele Freude gemacht hätten und die nun ganz ungenützt auf dem feuchten Grunde faulten.

Und als Gottfried später zur Schule ging, konnte er es abermals nicht begreifen, warum er nie einen Kameraden mitbringen durfte. Wie stolz und wie glücklich wäre er gewesen, wäre es ihm erlaubt worden; denn keiner seiner Mitschüler konnte über einen Garten verfügen, und oft hatte schon der eine oder der andere seine Sehnsucht, Gottfried besuchen zu dürfen, diesem zu erkennen gegeben. Und Gottfried hatte in dieser Beziehung so manche Bitte an seine Eltern und an seine Großmutter gerichtet, doch, wie innig gut sie sonst gegen ihn waren, an diesem Punkt zeigten sie sich unerbittlich.

Gottfried war schon in seiner frühesten Kindheit eingeschärft worden, daß er mit keinem Fremden zu reden habe, daß er niemandem eine Frage, die sich auf seine Verwandten oder sein Heim beziehe, beantworten dürfe.

Um seinem Sohn solche Fragen nach Möglichkeit zu ersparen, brachte ihn sein Vater täglich selber zur Schule und holte ihn auch selber wieder ab.

So konnte es aber allerdings nicht bleiben, nicht immer konnte ein Wächter hinter dem lebhaften Buben stehen, um jedes seiner Worte zu kontrollieren. Im Winkelmannschen Hause dachte man allmählich daran, Gottfried weit fortzugeben, irgendwohin, wo seine Jugend nicht so getrübt sein würde wie hier, wo er harmlos unter Fremden aufwachsen konnte und nicht immer so seltsam stille Menschen, wie die Seinigen es nun einmal waren, um sich sehen würde.

Ein an und für sich geringfügiger, für die drei erwachsenen Bewohner des Hauses jedoch sehr peinlicher Umstand bewirkte, daß dieser schon lange besprochene Plan rascher, als man anfangs gewollt, zur Ausführung kam.

Es war wieder einmal Frühjahr geworden, und der nun siebenjährige Gottfried befand sich im Garten.

Er war eben aus der Schule heimgekommen und hatte vorhin seinem Vater berichtet, was der Lehrer über das Leben der Insekten mitgeteilt habe, daß viele von diesen, unter Laub oder in der Erde verkrochen, überwintern und jetzt, bald vom warmen Sonnenschein gelockt, ihr Winterquartier verlassen würden.

Befriedigt von dem Eifer des Buben und erfreut darüber, daß Gottfried so viel Liebe zur Natur verriet, sprach sein Vater mit ihm noch über die Sache weiter und hieß ihn. nach eingenommener Jause, doch gleich ein wenig Nachschau im Garten halten.

Das ließ Gottfried sich nicht zweimal sagen. Kaum hatte er den Kaffee zu sich genommen, stürmte er auch schon mit seiner Buttersemmel aus der Stube.

»Was hat er denn vor?« fragte lächelnd seine Mutter.

Ihr Mann erklärte ihr daraufhin, daß Gottfried im Garten Nachschau halten wollte, ob sich daselbst schon Insekten zeigten, und setzte hinzu: »Wie mich das freut, daß der Bube so lerneifrig ist! Nun, er hat es ja auch nötig, tritt er doch schon im nächsten Herbst ins Gymnasium ein.«

Die junge Frau seufzte. Ihr Mann trat auf sie zu und strich mit Zärtlichkeit über ihren Scheitel.

»Du wirst dich also recht schwer in die Trennung finden?« sagte er kummervoll. Sie nickte nur, und dabei rollten schwere Tränen über ihre Wangen.

»Müssen sich denn nicht viele Eltern von ihren Kindern trennen?« begann er zaghaft, da fuhr sie empor, und ein lodernder Blick traf ihn aus ihren Augen.

»Aber nicht aus solchem Grunde«, entgegnete sie, und unsägliche Bitterkeit klang aus ihrer Stimme, während sie fortfuhr: »Oh, Hans! Wie glücklich war ich in unserer Armut, und wie gern hätte ich sie allzeit ertragen! Aber diese Stärke hast du mir nicht zugetraut; doch eine tausendmal schwerere Last hast du mir aufgebürdet, und die muß ich nun tragen bis – wenn es gut geht – zu meinem Ende ... geht es übel ... bis ... oh, ich kann es nicht ausdenken.« Aufschluchzend hielt sie inne und schlang die Arme um den Hals ihres Mannes, der neben ihr auf die Knie gesunken war und sein Gesicht in den Falten ihres Kleides verbarg.

»So elend habe ich dich gemacht und meinte in wahnsinniger Verblendung mit jener Tat deine Zukunft froh zu machen.« Er stöhnte.

Sie lachte grell auf.

»Froh!« rief sie. »Weißt du, wann ich zum letztenmal froh war? An dem Tage, an dem du damals zurückkehrtest und ich dich mit dem runde auf dem Bahnhof erwartete. In der Minute, in welcher du damals auf mich zukamst, spürte ich, daß irgend etwas an meinem Glück verdorben sei, denn du kamst als ein ganz anderer, als du früher gewesen warst, zurück Lange, lange hast du es mir verbergen können, was dich so ganz anders gemacht hatte, und hätte nicht das Fieber dich aufs Krankenbett geworfen, ich hätte vielleicht niemals erfahren, welch entsetzliche last du mit dir herumträgst.«

»Und die du mir so liebreich tragen hilfst«, fiel er unter Tränen ein. »Oh, du Barmherzige, wie soll ich es dir jemals vergelten, daß du mich nicht schon längst verlassen hast.«

»Ist denn das Entsetzliche nicht eben meinetwegen geschehen?« fragte die bleiche Frau. »Und mußte ich nicht deshalb schon bei dir ausharren? Daß keiner von uns allen, außer unserem schuldlosen Kind, sich des so erworbenen Wohlstandes erfreut, ja, daß wir im Grunde noch einfacher und plagereicher leben als früher, ist nur selbstverständlich, und daß wir in ewiger Angst vor Entdeckung sind, das ist unsere wohlverdiente Strafe.«

»Und so müssen wir schon unsere heimlichen Strafen ertragen und für immer wenigstens unsere eigenen Gefangenen hier sein«, setzte der einstige Schauspieler in verzweiflungsvollem Ton hinzu und erhob sich.

»Warum für immer? Hast du die Hoffnung, diesen unseligen Besitz verkaufen zu können, schon ganz aufgegeben?« forschte, ihre Tränen trocknend, seine Frau.

Ihr Mann nickte.

»Völlig aufgegeben«, sprach er. »Wenn er alte Herr sein Haus verkaufen will, muß er sich persönlich verschiedenen Leuten zeigen, muß vor Gericht legalisierte Unterschriften leisten. Kann er das? Früher, da ich der Sache noch ferne stand, meinte ich, daß eine Besitzübertragung etwas recht Einfaches sei, seit ich aber Erkundigungen darüber einzog, was bei solchem Verkaufe zu tun sei, weiß ich, daß ich ihn niemals abschließen kann. Aber, was ist das? Hast du nicht die Stimme der Mutter gehört? Sie scheint zornig zu sein. Ist wohl Gottfried wieder einmal ungehorsam gewesen?«

So redend, schritt Müller rasch der Tür zu, doch noch ehe er sie erreicht hatte, ward die Klinke heftig niedergedrückt und flog die Tür auf.

Totenbleich, aber mit glühenden Augen stand seine Mutter mit zitternden Beinen auf der Schwelle.

Sie hielt Gottfried an der Schulter. Wie einen Sträfling hatte sie ihn eingebracht, und wie einen Sträfling behandelte sie ihn noch jetzt, denn da er sich ihrer erwehren wollte, schüttelte sie ihn auf fast rohe Weise, und niemand hätte in dieser Minute merken können, daß der hübsche Junge ihres Herzens großer Liebling war.

»Was hat es denn gegeben, Mutter! Was hat denn Gottfried getan?« fragte rasch der Vater.

Doch Josefa Müller hatte nicht so viel Atem, um ihm antworten zu können.

Da berichtete Gottfried stockend, daß er ja nur im Garten gewesen sei, um dort nach Insekten zu suchen, und daß er auch habe sehen wollen, wie tief sich in diesem Winter die Regenwürmer in die Erde gegraben hätten, weshalb er sich ein Grabscheit geholt habe und – Gottfried zauderte bei dieser Stelle seines Bekenntnisses, denn er wußte wohl, daß er Verbotenes getan – und bei den Fichten gegraben habe.

Gottfrieds Bekenntnisse hatten einen Wutausbruch von Seiten seines Vaters zur Folge. Kaum merkte dieser, was geschehen war, als auch schon seine Stirnader schwoll und seine Hände sich ballten und er wie ein Toller auf das Kind losstürzen wollte. Da aber sprang Helene zwischen ihn und den entsetzten Gottfried und breitete ihm abwehrend die Hände entgegen.

Sie redete kein Wort; ihre erblaßten Lippen wenigstens redeten nicht, wohl aber ihre Augen, die den zornigen Mann mit drohendem Mahnen von einem unsinnigen Tun zurückhielten, und da der wieder zur Besinnung Kommende sich beschämt abwendete, verließ sie, Gottfrieds Hand ergreifend, mit ihm die Stube.

»Weil du nicht folgen willst, weil du immer wieder zu den Bäumen gehst, die aufzusuchen der Vater und die Großmutter dir verboten haben, mußt du für heute in deinem Zimmer bleiben. So, da denke darüber nach, daß Ungehorsam niemals zum Guten führt.«

So redete Helene Müller auf ihr Söhnchen ein, welches sich es ganz verdutzt gefallen ließ, daß seine immer gerechte Mutter es jetzt einsperrte.

Als dies geschehen war, kehrte die wackere Frau zu ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter zurück.

Sie fand beide in tiefer Verstimmung.

»Wenn ihr derlei noch einigemal aufführen wollt, wird Gottfried es ganz bestimmt wissen, daß es bei den Fichten ein Geheimnis gibt«, begann sie bitter lächelnd; doch als sie sah, wie beschämt die beiden waren, fuhr sie ruhiger fort: »Damit nicht wieder vorkommen kann, was Gottfried heute getan hat, bleibt nichts anderes übrig, als dort, wo – wo der alte Herr liegt, ein Blumenbeet anzulegen. Je besser wir dieses pflegen werden, desto weniger wird das Kind oder ein anderer dort irgendein Zerstörungswerk ausüben oder anderes dort suchen als eben Blumen.«

»Dort, Helene, dort sollen wir die Erde umgraben?«

Josefa Müller schrie es fast in ihrem Entsetzen heraus, und auch ihr Sohn starrte Helene an, als ob sie etwas Unmögliches vorschlage. Die junge Frau aber lächelte jetzt ruhig.

»Lasset mich nur machen. Ganz allein bringe ich es an einem Tage zustande, und ich wundere mich nur, daß es mir nicht schon längst eingefallen ist, dies zu tun. War es mir doch immer eine Pein zu denken, mein Kind könne irgendwann auf jene Stelle seinen Fuß setzen.«

Wenige Minuten nach diesem Gespräch verließ Helene Müller das Haus. Eine Stunde später kam sie in Begleitung zweier Männer, welche auf einer großen Trage eine Menge Blumenstöcke und Rasensoden brachten, zurück.

Ehe noch der Abend kam, befand sich dort, wo, nie mehr benützt, Tisch und Bank gestanden hatten, ein hübsches Blumenbeet.

Als die fleißige Gärtnerin ins Haus ging, war ihr erstes, ihrem Buben wieder die Freiheit zu geben.

Gottfried aber machte von dieser für heute nur mehr bescheidenen Gebrauch; er schaute überhaupt seit diesem ihm unbegreiflichen Wutausbruch seiner beiden Verwandten scheu nach ihnen, denn so wie das harmlose Graben nach Regenwürmern sie so sehr aufgeregt, so konnte ja jedes andere Tun auch ihren Zorn entfesseln!

Furchtlos blieb der Junge nur seiner Mutter gegenüber, und so tat ihm denn auch nur bezüglich dieser das Scheiden weh, als er im nächsten Herbst in einem weit entfernten Ort als interner Zögling in einem geistlichen Stift untergebracht wurde.

Im Winkelmannschen Hause lebten sie von da an noch stiller als sonst.

Gottfried fehlte es an nichts, für den wurde reichlich bezahlt, und er fühlte sich überaus glücklich darüber, daß er jetzt seinem Übermut nicht so strenge Zügel anlegen mußte wie daheim. Er, das einst so schwächliche Kind, das in der Not sicherlich umgekommen wäre, erwuchs zum kräftigen Jüngling.

Ihm tat also die Wohlhabenheit gut – ihm allein. Seinen Verwandten war sie nichts als eine Qual geworden. Trüb und still lebten sie miteinander, und zuweilen schaute der alte Herr aus dem Fenster.

Viertes Kapitel

Seit jener Nacht, in welcher der alte Herr heimlich in seinem Garten verscharrt worden, waren fast zwanzig Jahre verstrichen.

Das neue Stadtviertel war längst nicht mehr neu, und es enthielt nur ein grünes Fleckchen: den Garten des Winkelmannschen Besitzes.

Er gedieh noch immer, denn die Anrainer hatten ihm in ihrem eigenen Interesse nicht alles Licht und alle Luft genommen. Es schlössen sich ihm weite Höfe an, aus denen mehr als hundert Fensteraugen neugierig und sehnsüchtig in das Gewirr von Baum und Busch niederschauten, das sich unter ihnen ausbreitete.

Oft hatten die Leute gewechselt, welche hinter diesen Fenstern lebten, und so war den vorsichtigen Bewohnern des Winkelmannschen Hauses keinerlei Gefahr aus ihrer Nachbarschaft erwachsen.

Noch immer lebten die drei allein darin. Gottfried, der in dem Glauben erzogen wurde, seine Großmutter sei zeitweilig geistesgestört, war niemals heimberufen worden und machte sich wenig daraus, denn das stille, düstere Leben dort hatte ihm niemals gefallen, und seine Eltern sah er ja oft. Nach Pausen von einigen Wochen besuchten sie ihn abwechselnd, und so konnten es niemals in ihm zu einem Zweifel an ihrer Liebe kommen. Seit etwa zwei Jahren befand er sich jedoch so weit weg von ihnen, daß jeder persönliche Verkehr aufgehört hatte. Gottfried Müller studierte an einer Universität Medizin, und da, wie man ihm gesagt, seine Mutter nun niemals mehr allein mit seiner Großmutter bleiben konnte, fand er es ganz natürlich, daß auch sein Vater die weite Reise zu ihm nicht machen und auch die Ferien nicht mehr, wie sonst, auf Reisen mit ihm zubringen könnte. Nein, Hans Müller besuchte seinen Sohn nicht mehr – aber nicht aus dem Gottfried angegebenen Grunde, sondern weil es ihm peinlich war, dem jungen Menschen in die zuweilen forschenden Augen zu schauen. Gottfried hatte einigemal Fragen gestellt, aus denen seine heimlich entsetzten Eltern entnehmen konnten, daß er sich über die Eigentümlichkeit ihre Lebens Gedanken mache.

Ein furchtbar hartes, aber gerechtes Geschick nahm also den beiden unglücklichen Gatten die einzige, reine Freude, die ihr Leben noch barg: das Schauen, das ohnehin so seltene Beisammensein mit ihrem Kinde, das niemals heimkehren durfte. Gottfried durfte ja nicht ahnen, daß noch immer zuweilen die entsetzliche Komödie der Schaustellung des alten Herrn aufgeführt wurde, und schon allein deshalb war ihm das Heim seiner Verwandten für immer verschlossen.

Dem Kinde hatte jene Komödie verborgen bleiben können, der junge Mann konnte es zu beliebiger Stunde aus beliebigem Munde erfahren, daß der oder jener den alten Herrn gesehen habe – und was dann folgen mußte, das wußten die drei Schuldigen, welche sich wohl längst selber angeklagt hätten, hätte nicht eben Gottfried mit ihnen büßen müssen.

Ungeschehen konnte die Tat aber nun einmal nicht mehr gemacht werden, und Gottfried sollte – so ward es längst beschlossen – ihre Früchte allein genießen.

Nicht nur weil sie keinerlei Genuß vom so errungenen Wohlleben gehabt hätten, darbten die drei, sondern sie hatten dabei auch einen praktischen Hintergedanken.

Was da niet- und nagelfest war, konnte von ihnen allerdings niemals zu Geld gemacht werden, die Wertpapiere jedoch, die man im Schrank des alten Herrn gefunden und welche immerhin auch ein hübsches Vermögen repräsentierten, die konnten dem künftigen jungen Doktor helfen, sich irgendwo in der Ferne eine angenehme Zukunft zu gestalten. Daher durften sie nicht angegriffen werden, daher mußte man sich so einrichten, daß nicht einmal die Zinsen davon völlig aufgebraucht wurden, denn diese mußten wieder ein kleines Kapital geben, wovon es sich für drei zu ewiger Einsamkeit verurteilte Menschen notdürftig leben ließ.

Ein Geschäft also, ein für sie selber gutes Geschäft, hatten Müllers mit der Beseitigung des alten Herrn nicht gemacht, denn ganz abgesehen von den inneren Qualen, die sie sich damit geschaffen hatten, lebten sie jetzt fast noch armseliger als früher.

Und konnten sie dies auch ganz gut vor ihrer neuen, so oft wechselnden Nachbarschaft verbergen, so konnten sie doch einzelne Beobachter nicht hindern, sich darüber zu wundern, daß die beiden Frauen und der jüngere Mann im Winkelmannschen Hause merkwürdig dürftig gegenüber dem Rahmen aussahen, in welchem sie lebten.

Dieser zog mit seinem vornehm altvaterischen Aussehen die Blicke aller an, die zum erstenmal zwischen den hohen Mietskasernen hingingen. Er zog auch die Blicke eines Herrn auf sich, welcher einmal zur Herbstzeit die Straße passierte. Es waren genau zwanzig Herbste seit jener für Müllers Geschick so wichtigen Jahresneige vergangen. Besagter Herr war in noch jungen Jahren: er mochte kaum die Mitte der Dreißig überschritten haben und besaß ein feines Aussehen.

Wer ihn, als er, von dem ihn überraschenden Anblick des Hauses gefesselt, stehenblieb, genauer beobachtet hätte, der müßte wahrgenommen haben, daß die Augen dieses Herrn einen auffallend klugen, ja scharfen Blick hatten, einen Blick, der unter Umständen unangenehm werden konnte, so klar und durchdringend, so unwillkürlich forschend war er selbst jetzt, da er doch mit sichtlichem Wohlgefallen langsam über das alte Haus wanderte. Erst als der Herr bemerkte, daß er den beiden Frauen, welche sich im Vorgarten eifrig mit dem noch ziemlich reichlichen Blumenflor beschäftigten, lästig sei, nahm er seinen Weg wieder auf und ging langsam die Straße hinunter.

Unwillkürlich aber warf er noch einen Blick hinüber, und da fiel es ihm auf, daß die beiden Frauen ein wenig hastig, wie es ihm schien, ihre Arbeit unterbrachen und in das Haus gingen. Die eine davon war etwa vierzig Jahre alt, die andere schon eine Greisin. Ihr Haar war weiß, ihre Gestalt gebückt, ihr Gang schwerfällig, und doch humpelte sie jetzt mit fast komischer Eile die wenigen Stufen hinauf, welche zur Haustür führten, und ebenso eilig folgte ihr die jüngere Frau.

Als das Tor sich hinter ihnen geschlossen, kehrte der Herr um, ging über die Straße und stand nun dicht vor dem schönen Gitter. Er harte jetzt, da niemand mehr im Garten war und sich auch niemand hinter den spiegelklaren Tafeln der Fenster sehen ließ, keine Ursache mehr, seinem Gefallen an dem Hause Zwang anzutun.

Warum die zwei wohl so davongerannt sind? dachte er, als er langsam am Gitter entlang schritt

Jetzt sah er erst, bei welcher Art Arbeit er sie gestört hatte.

Sie waren dabeigewesen, die letzten Blüten von den Rosenbäumen zu schneiden, die in dichten Gruppen diesen schönen Vorgarten schmückten.

Einige der Rosen, es waren herrliche Marschall Niel, hatten die Frauen bei ihrem Gange – bei ihrer Flucht – nach dem Hause verloren.

Als der Herr die schönen, auffallenden Blumen auf dem Kiesweg liegen sah, schüttelte er den Kopf.

So eilig hatten sie es, daß sie nicht einmal ihren Verlust bemerkten, mußte er denken, indessen er langsam weiterging. Bald lag der Garten hinter ihm. Er kam an einem Laden vorüber, in welchem Kränze und andere Blumengaben ausgestellt waren, denn Allerseelen, das Fest der Toten, stand schon vor der Tür. Der Herr dachte bei diesem Anblick flüchtig daran, daß wohl jene Rosen auch zum Schmuck eines Grabes bestimmt seien, und nun erst tat es ihm leid, daß er die vielleicht von einem noch frischen Schmerz niedergedrückten und daher empfindlichen und menschenscheuen Frauen durch seine Neugier in ihrem Liebeswerk gestört habe. Daß er jedoch, einer augenblicklichen Laune nachgebend, bei seinem Spaziergang heute diese früher nie gesehene Straße betreten hatte, das tat ihm nicht leid, denn er hatte ja dabei das hübsche alte Haus kennengelernt, das gleich einem Zauberbau sich ausnahm zwischen all diesen poesielosen Häuserkolossen, welche die Neuzeit aufgestellt.

Doctor juris Hermann John nahm sich sogar vor, gelegentlich wieder einmal diesen Weg zu machen, um den schönen Besitz noch genauer besichtigen zu können.

Er, der Untersuchungsrichter in der Provinz gewesen war, hatte vor kurzem seines Onkels Vermögen und Notariatskanzlei geerbt und hatte nun viel damit zu tun, sich in die neuen Verhältnisse einzuleben.

In einen wahren Arbeitsrummel gelangte er unter anderem, als er damit begann, die hinterlassenen Geschäftspapiere seines verstorbenen Oheims zu sichten.

Doktor Heinrich John hatte die löbliche Gewohnheit gehabt, alle Schriften, die sich auf seine Klienten bezogen, sauber geordnet in einigen umfangreichen Schränken aufzubewahren.

Sein Neffe beschloß nun, sich durch eine genaue Einsicht in diese Papiere über die verschiedenen Verbindungen seines Vorgängers und über die Art seines Vorgehens und die Art seiner Klienten zu orientieren.

Dazu konnte er kaum eine geeignetere Zeit finden, als sie ihm die rauhen und immer länger werdenden Herbstabende boten. So saß er denn oft noch stundenlang nach Schluß seiner Sprechzeit in seinem Arbeitszimmer und studierte einen Faszikel nach dem anderen. Er war bei dieser Arbeit nicht allein.

Franz Moser, ein grauhaariger Mann von nicht eben stupender Gescheitheit, wohl aber von musterhafter Treue und Redlichkeit, der, seit Johns Oheim seine Praxis geübt, bei diesem als Schreiber und Vertrauter, als Diener und Freund lebte, leistete nun auch dem Erben seines einstigen Gebieters alle Dienste, die er jenem geleistet hatte.

Und dessen war der junge Doktor froh, denn Mosers Personen- und Sachkenntnis ersparte ihm manch gänzlich überflüssige Durchsicht irgendwelcher Schriftenbündel.

»Mit dem plagen Sie sich nicht, Herr Doktor – der Mann ist längst tot, der führt keine Prozesse mehr«, hieß es nach Lesung dieses und jenes Namens, mit welchem jeder Aktenpack auf seinem Umschlag versehen war. Dann wurden die betreffenden Papiere in eine mächtig große Truhe getan, die im Vorzimmer draußen bereitstand, um die ein für allemal abgetanen Schriften aufzunehmen. Sie waren in den verschiedenen Fächern der Aktenkiste alphabetisch geordnet gewesen, und dahin wanderten nur jene Schriften zurück, mit deren Namensträgem die Kanzlei Johns noch in Verbindung stand.

An einem stürmischen Herbstabend arbeiteten Doktor John und Franz Moser wieder einmal miteinander.

Sie waren eben bei dem Buchstaben W angelangt In dem Fache »W« befanden sich nur zwei Aktenbündel.

Das eine davon war sehr umfangreich und trug auf seiner Umschlagseite den Namen Aurelius von Willmer.

»Na, Moser! Was ist denn mit diesem Manne?« fragte Doktor John, und sein Adlatus antwortete: »Der war schon ein recht alter Herr. Ich habe in Vertretung Ihres Herrn Onkels ziemlich oft mit Herrn von Willmer verkehren müssen. Er war ein Querulant bester Güte, und der Herr Doktor war froh, als der alte Mann mit Tod abging. Ich selber war bei seinem Leichenbegängnis.«

Moser langte, während er diese Auskunft gab, sichtlich ungeduldig nach dem Schriftenbündel, welches sein jetziger Gebieter nachlässig auf der schlanken Hand schaukelte.

Doktor John schaute ob dessen hastiger Bewegung nach dem alten Mann. »Oh, entschuldigen Sie! Sie werden wohl schon daheim erwartet? Und Ihr Geburtstagskind wird mir zürnen, weil ich Sie heute noch länger als sonst aufhielt«, sprach er, sich nun selber rasch erhebend und Moser die Akten reichend. Der lächelte befriedigt darüber, daß seine Ungeduld endlich bemerkt worden war, und beeilte sich, den abgetanen Schriftenpack zu den anderen seinesgleichen in die Truhe zu legen.

Vor Doktor John lag nur noch ein mageres Papierbündelchen. Sein Umschlag trug den Namen »Arnold Winkelmann«.

Während Moser hinausging, durchblätterte der Doktor die wenigen vergilbten Lagen. Er ersah sofort, daß diese eine Sache behandelten, welche vor dreißig Jahren ausgetragen worden war. Auch lagen einige Dokumente dabei, welche Eigentum des Klienten waren. So unter anderem auch ein Paß und ein Militärentlassungsschein auf den Namen Arnold Winkelmann. Selbiger war ein Ausländer, ein Schweizer, und im Jahre 1794 geboren. John warf nur einen flüchtigen Blick auf diese Jahreszahl, dann faltete er die Papiere wieder zusammen und rief Moser, der eben mit Hut und Rock hereinkam, zu: »Da haben Sie noch einen, der in die Truhe gehört, den Arnold Winkelmann. Mit diesem schließen wir für heute; und nun eilen Sie, lieber Moser – und seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie so lange aufgehalten habe.«

»Ei, Herr Doktor, wie werde denn ich, dem Sie so viel Gutes tun, so genau sein und wegen einer Viertelstunde bocken? Wenn unser heutiges Fest so recht sorgenlos begangen werden kann, danken wir es ja doch einzig ihrer Güte. Aber nun zu diesen Akten. Sie gehören nicht in die Truhe. Herr Winkelmann lebt noch und kann immerhin noch als Klient betrachtet werden. Vor etlichen Jahren wenigstens ließ er noch durch einen gewissen Müller, einen seiner Verwandten vermutlich, hier nachfragen, mit welchen Umständen der Verkauf seines Besitzes – er hat nämlich ein hübsches Haus mit Garten – verbunden sei. Also darf ich diesen Faszikel wohl wieder in den Kasten legen?«

Moser war trotz seines Amtseifers schon sehr in Eile, deshalb hieß Doktor John ihn in freundlichster Weise sich heimtrollen, drängte ihn selber zur Tür hinaus und beruhigte des gewissenhaften Mannes Einwendungen mit den Worten: »Gehen Sie nur, Moser, gehen Sie nur! Über den Winkelmann reden wir morgen weiter.«

Moser war fort. Doktor John hatte hinter ihm die Tür versperrt und war wieder zu seinem Arbeitstisch zurückgekehrt.

»Dieser Mann lebt also noch?« fragte er verwundert und schickte sich an, die Winkelmannschen Papiere wieder in das Fach W zu legen. Doch besann er sich und entfaltete sie noch einmal.

Er hatte sich wieder in seinem bequemen Sessel niedergelassen. Das helle Licht der Lampe überstrahlte überaus freundlich den Tisch und sammelte sich mit besonderer Schärfe auf dem alten, rauhen, geschöpften Papier, darauf Doktor Johns Augen jetzt ruhten. Ja, er hatte sich nicht geirrt, Arnold Winkelmann war am 14. Juli 1794 zu Horgen im Kanton Zürich geboren. Als Johns Augen nun zum zweitenmal die Geburtsdaten lasen, hatten sie einen nachdenklichen Ausdruck.

Der Doktor lehnte sich in seinen Sessel zurück und sagte zu sich selber: »Moser irrt sich da wohl. Winkelmann lebt sicherlich nimmermehr. In unserer Zeit erreicht man solch hohes Alter nicht leicht. Der Mann müßte ja, da wir jetzt am Schlusse des Jahres neunzehnhunderteins stehen, das hundertsiebente Jahr überschritten haben.«

Doktor John lächelte ungläubig, ließ die Papiere offen auf dem Schreibtisch liegen, beschwerte sie mit einem hübsch geschliffenen Glasgusse und schickte sich dann auch an, seine Kanzlei zu verlassen. Eine Viertelstunde später lag diese in tiefster Finsternis und Ruhe da, und Doktor John saß eine Stunde später auf einem Parkettsitz des Opernhauses und lauschte entzückt den perlenden Fiorituren einer bravourösen Koloratursängerin. Trotz aller Ablenkung aber und trotz aller Hingebung an den noch ungewohnten Genuß zog zuweilen, einem flüchtigen Schatten gleich, der Gedanke an die hundertsieben Lebensjahre Arnold Winkelmanns durch das Hirn des Doktors, und als er nach Stunden sich in seinem Bett ausstreckte, schlief er mit einem nach Unglauben ausschauenden Lächeln ein und warf im Traum das Aktenbündel, das den Namen Winkelmanns trug, in die Truhe.

Am nächsten Tag aber fand er es auf seinem Arbeitstisch, und als Moser in die Kanzlei trat, schob John den Geschäftsbrief, den er eben begonnen, zurück und sagte: »Setzen Sie sich, lieber Moser. Vorerst sollen Sie mir, soweit Sie es können, über Arnold Winkelmann Auskunft geben.«

»Interessiert Sie der so, Herr Doktor?« sagte lächelnd Moser, war aber zugleich sehr bereit, die begehrte Auskunft zu geben.

»Der alte Herr«, begann er, »so nennt nämlich seine ganze Nachbarschaft Herrn Winkelmann, war schon recht alt, aber trotzdem außerordentlich kräftig und frisch, als er, ich weiß das zufällig ganz genau, denn es war einen Tag vor meiner Hochzeit, am zweiundzwanzigsten August achtzehnhunderteinundsiebzig, zum erstenmal zu uns kam. Ihr Herr Onkel, damals noch ein junger Mann, der noch nicht lang die Kanzlei eröffnet hatte, empfing den alten Herrn mit ziemlicher Feierlichkeit, und auch ich machte ihm die Honneurs, so gut ich konnte, denn damals hatte Ihr Herr Onkel natürlich noch wenig zu tun, und so war jeder neue Kunde ein Ereignis.

Herr Winkelmann, der überaus bärbeißig aussah, versprach uns eben durch sein Äußeres beim Eintritt einen schönen Prozeß, aber darin hatten wir uns geirrt.

Er war nur in Angelegenheit einer Hauserwerbung gekommen, und diese Angelegenheit war bald erledigt.

Es fanden sich zwei Zeugen, die ihn persönlich kannten und sich dafür verbürgten, daß die Legitimationspapiere, die er produzierte, sich wirklich auf seine Person bezogen, somit war seine Identität hergestellt, und auch alle anderen Formalitäten wurden rasch erfüllt. Die Kaufsumme wurde bar erlegt, der Kauf rasch abgeschlossen und das Haus sofort bezogen. Wenn ich mich nicht irre, war Herr Winkelmann erst in ziemlich vorgeschrittenen Jahren, und zwar durch einen Gewinn, zu Vermögen gekommen und konnte sich nun ein sorgenloses Alter bereiten. Er war verheiratet, aber schon kurze Zeit, nachdem er sein Haus bezogen hatte, starb seine Frau, und da nahm er sich eine Wirtschafterin, eine Witwe mit ihrem Söhnchen, ins Haus.

Die Frau, sie heißt Josefa Müller und lebt noch jetzt bei ihm, muß ein wahrer Schatz für ihn sein. Er rühmte sie selber einmal, es war während seines letzten Besuches bei Ihrem Herrn Onkel, über alle Maßen. Es handelte sich bei jenem zweiten und bisher auch letzten Besuch um den Ankauf von Papieren, welche Ihr Oheim besorgen sollte und auch tatsächlich für Herrn Winkelmann kaufte. Ich selber habe sie ihm überbracht. Da konnte ich bemerken, wie ungemein behaglich Frau Müller es dem alten Herrn machte und wie herrschaftlich Haus und Garten aussahen. Sie gehörten ja auch wirklich einstmals einem uralten freiherrlichen Geschlechte und sind heute noch eine Zierde der Gasse, in welcher sie sich befinden.«

»Der Gärtnergasse also«, bemerkte John, auf die Papiere schauend, wo Winkelmanns Adresse angegeben war.

Moser schüttelte den Kopf.

»Jetzt nicht mehr Gärtnergasse«, sagte er, »jetzt – die Kielaustraße.«

John blickte rasch auf.

»So«, sprach er lebhaft, »so ist die Gasse umgetauft worden?«

»Ja, ihr früherer sehr passender Name wäre jetzt, da dort nirgends mehr Gärten und Gärtner sind, unverständlich gewesen, darum hat man ihr den neuen Namen eines Mannes gegeben, der sich um jene Gegend sehr verdient gemacht hat.«

»Aber ein Garten befindet sich doch noch in ihr.«

»So ist es. Dieser ist der Winkelmannsche Garten. Sie sind wohl schon durch diese Straße gegangen, Herr Doktor?«

»Vor acht Tagen etwa, und da habe ich also auch unseres Klienten Haus gesehen?«

»Und ihn selber sahen Sie nicht? Ich bemerkte ihn erst vorgestern, als er im Sonnenschein an seinem Fenster saß.«

»So? Ihn selber sahen Sie? Ich sah dort nur zwei Frauen.«

»Die junge und die alte Müller natürlich. Sonst kommt ja außer dem Manne der einen, er war früher Schauspieler, niemand über die Schwelle.«

»So? Was für Leute sind das, diese jüngeren Müllers?«

»Stille, überaus stille, scheue Menschen, die sich gleich Josefa Müller dem Wunsche des alten Sonderlings völlig gefügt haben und gleich ihm keinerlei Umgang pflegen. Meine Base, die das Milchgeschäft ihrer Eltern fortführt und als kleines Mädchen der Frau Müller oft die Milch ans Haustor brachte, hat uns zuweilen erzählt, was für ein geradezu unheimlich stilles Leben diese Menschen seit jeher führten. Ah, da klingelt es, und Karl ist noch nicht zurück. So muß ich an die Tür«, unterbrach sich der Alte und ging hinaus. Es war eine Dame, welcher er öffnete; sie hatte schon mehrmals vergeblich versucht, Doktor John zu sprechen, heute fand sie ihn endlich und teilte ihm ziemlich weitschweifig ihr Anliegen mit. Sie nahm des Doktors Zeit wohl an zwei Stunden in Anspruch. Der Diener Karl, der inzwischen gekommen war, tat ihr endlich artig die Tür auf und schickte sich nun an, seinem Herrn Rock und Hut zu bringen, damit dieser ungesäumt in sein Restaurant gehen könne, denn es war bereits Mittag geworden.

Doktor John verließ denn auch bald sein Büro und begab sich zum Speisen.

Er mußte jetzt schon über sich selber lächeln, denn immer und immer wieder ertappte er seine Gedanken bei dem alten, bei diesem gar so sehr alten Arnold Winkelmann.

Es war schon ganz merkwürdig, wie oft er an dessen zufällig entdecktes Haus hatte denken müssen, und nun beschäftigte ihn noch viel mehr dessen Besitzer selbst, dessen Besitzer und die Menschen, die mit diesem lebten und die so scheu, so seltsam scheu waren, wovon er ja neulich selber eine Probe gesehen.

Auch auf seinem Wege zum Restaurant dachte Doktor John mehrmals an den alten Herrn und prallte förmlich zurück, als er, zu seinem Stammtisch tretend, von dort als erstes vernehmliches Wort den Namen »Kielaustraße« hörte.

»Was ist es denn mit der Kielaustraße?« fragte John, nachdem er seine gewohnten Tischgenossen gegrüßt, und einer der Herren antwortete ihm: »Der Herr Steuerrevisor ist heute von dort weggezogen.«

»So. Sie wohnten in der Kielaustraße?« wendete sich John jetzt diesem zu. »Das ist ja eine Straße im jüngsten Stadtteile!«

Steuerrevisor Baumann bejahte diese Frage, und bald hatte Doktor John ihn in ein Gespräch verwickelt, in dessen Verlauf er erfuhr, daß Baumann mehr denn zehn Jahre sein dortiges Quartier innegehabt und es eben nur deshalb in der sonst so reizlosen Gegend ausgehalten habe, weil man von den Fenstern seiner Wohnung aus eine wunderhübsche Aussicht auf einen ihnen gegenüberliegenden Garten gehabt habe.

»Den Winkelmannschen Garten?« fragte Doktor John.

»Denselben«, antwortete der Steuerrevisor. »Er hat prachtvolle Bäume, und schon der Vorgarten ist allerliebst, und wenn man bedenkt, daß nur eine kränkliche Frau ihn pflegt, bewundernswert schön gehalten. Freilich, die Blumenpflege scheint die einzige Freude dieser Frau zu sein.«

»Kennen Sie diese Frau?«

»Nur vom Sehen her. Diese Leute verkehren ja mit niemandem. Der alte Herr – so wird Herr Winkelmann nämlich von der ganzen Nachbarschaft genannt – soll ein Menschenhasser sein.«

»Sie haben ihn auch schon gesehen?«

»Ja, zuweilen sitzt er am Fenster und schmaucht seine Pfeife.«

»Merkwürdig.«

»Warum ist das merkwürdig?«

»Der Mann ist hundertsieben Jahre alt.«

»Was Sie nicht sagen! Na, das sieht man ihm nicht an. Für solch ungewöhnlich hohes Alter ist er noch sehr rüstig.«

Neue Gäste traten an den Stammtisch, und das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu.

Doktor John hätte das angeschlagene Thema freilich am liebsten festgehalten, doch hatte er zuviel Takt, um andere zu nötigen, bei dem zu bleiben, was doch nur ihn allein interessierte.

Am Mittag des anderen Tages ging er nach der Kielaustraße. Es war sonnig und auch sonst schönes Wetter, und so konnte er hoffen, den alten Herrn, für den er nun einmal ein ihm selbst unerklärliches Interesse gefaßt hatte, zu sehen.

Aber er sah ihn nicht. Und noch so manches Mal ging er durch die Kielaustraße, ohne seinen Zweck erreichen zu können. Rechte Ausdauer führt jedoch immer zum Ziel. So kam auch Hermann John schließlich einmal dazu, den alten Herrn an seinem Fenster sitzen zu sehen.

An einem freundlichen Sonntag war es, als der Doktor wieder einmal durch die Kielaustraße wandelte und zu seiner Befriedigung wahrnahm, daß ein Kaffeehaus, an dessen Ausstattung man schon wochenlang gearbeitet hatte, endlich dem Publikum seine Tür geöffnet hatte. Es konnte niemandem auffallen, wenn da einer, und mochte es selbst stundenlang sein, an einem Fenster seinen Platz okkupierte, und das war für John weit besser, als – wieder und wieder um des alten Mannes willen, der sich so selten zeigte – Fensterpromenaden zu machen. Rasch trat John in das Lokal und saß bald vor einem Kaffeegedeck, das ebenso vor Neuheit funkelte wie alles ringsumher. Übrigens war er nicht der einzige Gast. Die Größe und der Glanz des neueröffneten Lokales hatten auch viele andere Menschen angelockt. So fiel es sicherlich nicht auf, wenn einer unter den vielen seine Aufmerksamkeit mehr der Straße als dem hübschen Raume widmete. Einen besseren Beobachtungsposten bezüglich des Winkelmannschen Hauses hätte man übrigens kaum finden können. Kaum ein wenig schräg gegenüber dem Platze, an welchem John saß, glänzten die sauberen Fenster, hinter denen er jetzt den uralten, unbekannten Mann auftauchen zu sehen hoffte.

Und richtig, diesmal sollte Johns Geduld belohnt werden. Sein scharfes Auge bemerkte endlich die lang ersehnte Greisengestalt. Langsam, ganz langsam ließ sie sich in dem hochlehnigen Stuhl nieder, welcher dicht am Fenster stand.

Das also war Herr Winkelmann!

So lebt er also noch! dachte John und mußte wieder über sich selber lächeln. Natürlich lebte der alte Herr. Hatten ihn doch auch andere jüngst erst gesehen, andere, die ihn kannten, soweit dieser Sonderling überhaupt jemandem bekannt war. Und auch des Doktors scharfe Augen sahen ihn jetzt ganz genau. Nun – er war doch schon recht gebrechlich. Wie langsam und müde seine spärlichen Bewegungen waren, wie weiß sein Haar, wie grau und mumienhaft sein Gesicht!

Warum wundere ich mich so über das Alter dieses Mannes? Es kommt ja zuweilen selbst in Großstädten vor, daß einer das Hundert überschreitet. Ich möchte es nicht tun müssen. Der da drüben ist ja doch nur mehr der Rest eines Menschen; halb taub, halb blind, keinen Zahn mehr im Munde und kein Atom Kraft mehr in den Knochen. Nein, ich möchte, notabene, wenn ich nicht mit meinesgleichen leben will, kein so langes Leben.

So dachte John, während er, ein Zeichen seines Befriedigtseins, sich unwillkürlich eine Zigarre anzündete, ohne doch dabei – es geschah auch unwillkürlich – den endlich erschienenen alten Herrn aus den Augen zu lassen.

In dieser Zeit aber geschah etwas Seltsames, worauf freilich keiner der übrigen Gäste achtete, denn deren Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf anderes.

Doktor John hatte sich plötzlich erhoben, die eben erst angerauchte Zigarre war seiner Hand entsunken und rollte auf der schwarzen Marmorplatte des Tisches bis zu einem Stoß Zeitungen, von denen sie aufgehalten wurde. John achtete nicht darauf, er starrte, ein Bild des Staunens, auf den alten Herrn hinüber. Auch das fiel niemandem im Lokal auf, denn jetzt schaute ja jeder nach der Straße.

Ein Fiaker, dessen Pferde im Durchgehen begriffen waren, sauste vorüber. Dem Kutscher waren Hut und Peitsche entfallen, und einen Augenblick lang sah man den bleichen Mann sich auf seinem Bock weit zurücklehnen und mit Kraft eines Verzweifelnden die Pferde zurückhalten. Ohnmächtiges Wollen! Die schäumenden Tiere fühlten wohl die Zügel gar nicht. In rasender Eile stürzten sie weiter, vor sich den Schrecken herjagend, hinter sich das Entsetzen lassend.

Ein blutender alter Mann lag draußen auf der Straße.

Er war schon umdrängt von einem ganzen Knäuel von Leuten, auch aus dem Kaffeehaus waren viele Gäste gestürzt, um sich an dem nutzlosen Gaffen und Jammern zu beteiligen. John aber war nicht darunter, der schaute auf den »alten Herrn«.

Und da gab es auch Interessantes zu schauen.

Der Greis dort drüben war ein anderer geworden. Blitzschnell war er, als der Wagen vorübersauste, emporgefahren, kraft- und hastvoll hatte er das Fenster aufgestoßen und hatte sich einen Augenblick lang, alles um sich vergessend, ja sich selbst vergessend, weit hinausgebeugt.

Wie schlank und gerade jetzt sein vorher gekrümmter Leib war, und wie ganz anders sein Gesicht, aus welchem entsetzensvoll große, dunkle, weitgeöffnete Augen schauten.

Wieviel jünger sah jetzt dieses Gesicht aus, dessen Lippen, sich im Schrecken geöffnet und fest aufeinandergepreßte, blitzende Zähne gewahren ließen.

All dies dauerte nur wenige Sekunden lang, dann verschwand der alte Herr aus dem hellen Sonnenschein, der ihn grell beleuchtet hatte. Er zog sich freilich noch immer um vieles schneller, als er gekommen war, vom Fenster zurück, an welches eine bleiche Frau trat, um es – nach einem langen Blick, den sie hinauswarf – zu schließen.

Doch merkwürdig, dieser Blick galt nicht der durcheinanderwogenden Menschengruppe, welche sich um den Verunglückten ballte, er galt vielmehr den gegenüberliegenden Häusern, an deren Fenstern ja wohl auch so mancher Kopf aufgetaucht war.

Doktor John starrte noch immer hinüber, trotzdem kam nichts mehr, das seiner Aufmerksamkeit wert gewesen wäre.

*

Eine halbe Stunde später betrat Doktor John ein wenig eilig seine Kanzlei.

Es war natürlich recht kalt darin, denn heute hatte ja noch niemand die Räume betreten, und es war daher auch nicht geheizt worden.

Der Doktor fühlte jedoch diese Kälte gar nicht; seine Wangen glühten, und sein Puls ging so schnell, als sei er im Fieber.

Er legte übrigens weder Rock noch Hut ab, ja zog nicht einmal die Handschuhe aus, sondern nahm sofort einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und sperrte denjenigen der Aktenschränke auf, welcher den Buchstaben W enthielt.

Er nahm den Faszikel Winkelmann heraus, setzte sich an seinen Schreibtisch und schaute eine Weile starr vor sich hin. Er sah wieder alles im Geiste, was sich jüngst vor seinen Augen abgespielt hatte, und er fragte sich: »Bin ich ein Narr? Leide ich an Halluzinationen? Oder habe ich recht gesehen? Der kleine gebrechliche alte Herr – ist er wirklich plötzlich groß und stramm und kraftvoll vor mir gestanden? Habe ich – mein Gott – habe ich das nur als Wahnbild oder in Wirklichkeit vor mir gesehen?«

Doktor John stand dann hastig auf, um vor den Spiegel zu treten, der im Vorzimmer hing. Als er sein Bild, Gesicht und Gestalt eines vollkommen normalen Menschen, eine Weile mit sehr kritischen Blicken betrachtet hatte, ging er beruhigt wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück. »Es scheint, daß ich ganz gesund bin und daß die Täuschung nicht bei mir liegt«, sagte er mit einem merkwürdig scharfen Lächeln, als er den Umschlag der Winkelmannschen Akte öffnete.

Er sah sie noch einmal genau durch, ganz besonders den Militärentlassungsschein und einen alten Paß, der sich bei den Papieren befand.

»Mittelgroß, blaue Augen, schadhafte Zähne«, las John laut, als er zu diesen einzelnen, ihn besonders interessierenden Punkten kam, und rief sich danach den heute gehabten Anblick wieder recht lebhaft ins Gedächtnis zurück. Der, welcher sich dort aus dem Fenster gelehnt, war ein großer, ein recht großer, keineswegs ein nur mittelgroßer Mann.

Und wie prächtig hatten seine weißen Zähne geblitzt!

Freilich heutzutage können sich auch alte Leute hübsche Zähne kaufen, aber wer solche will, der muß zum mindesten mit einem Zahntechniker verkehren, muß diesem seine Besuche machen oder dessen Kommen gestatten. Der alte Herr jedoch hatte, so hieß es wenigstens, seit vielen Jahren sein Haus nicht verlassen und auch keinen Fremden über dessen Schwelle treten lassen.

Wohl konnte er sich vor vielen Jahren, etwa in einer Zeit, in welcher er noch nicht so gar merkwürdig menschenscheu gewesen, statt der in seinem Passe angeführten »schadhaften« Zähne neue angeschafft haben, doch sinkt nicht der Kiefer der Greise ein? Ziehen sich nicht alle Knochen und Muskeln im hohen Alter zusammen? Muß da nicht eine Zahngarnitur, welche einst gepaßt hat, nach vielen Jahren unbrauchbar werden?

Und da das auch bei dem alten Herrn der Fall gewesen sein mußte, konnte er jetzt unmöglich so herrliche Zähne im Mund haben.

Wie das Sonnenlicht darauf gelegen hatte! Wie sie geschimmert und aus dem dunklen, so merkwürdig grauen Gesicht herausgeblitzt hatten. »Der Sohn der Wirtschafterin war einst Schauspieler«, sagte John laut vor sich hin und wiederholte sich diesen Satz und lächelte dazu recht seltsam.

Er fühlte, daß der Instinkt ihn zu dem »Fall« Winkelmann hingezogen habe. Wo keiner mehr aus und ein wußte, er hatte sich bei den Untersuchungen, die er einst geleitet, noch immer zurechtgefunden, für ihn hatte es stets einen Punkt, oft ein Pünktchen nur gegeben, von dem aus er wieder einen Faden spinnen konnte, und früher oder später war er allemal in der Lage, das Netz über dem Verbrecher, den er eben unter den Händen hatte, zusammenzuziehen.

Und heute – wen hatte er heute vor sich gesehen?

Mußte der nicht ein Verbrecher sein, der da, wer weiß wie lange schon, die Rolle des alten Herrn spielte?

Wo war denn der alte Herr? Was war mit ihm geschehen?

Warum konnte er nicht mehr selber zum Fenster heraussehen?

Und seit wie lange tat es der andere schon statt seiner – natürlich mit der Absicht, die Nachbarschaft daran glauben zu machen, daß der alte Herr noch lebe?

Während sich Doktor John alle diese Fragen stellte, atmete er tief auf und konzentrierte den Blick seiner klugen Augen sozusagen nach innen.

Er fand aber bei seinem Verstande einstweilen nur eine Antwort: Der alte Herr ist tot, und andere genießen seine Habe, andere, die sich selbstverständlich widerrechtlich, ihr Tun beweist dies, zu seinen Erben gemacht haben.

Bei dieser Antwort, die ihm sein Verstand gab, ballten sich seine Hände, und er sagte leise, mit seltsam rauh klingender Stimme: »Arnold Winkelmann, du mir Unbekannter, du warst im Leben meines Oheims Klient – tot sollst du der meine sein. Ich will doch sehen, ob ich dir dein Recht – Vergeltung – schaffen kann.«

Fünftes Kapitel

Am nächsten Tage wußte John schon, daß der Meldezettel eines Arnold Winkelmann, ehemals Gärtnergasse wohnhaft, sich nicht mehr vorfand. Er mußte im Jahre 1871 ausgefüllt worden und samt seinen Zeitgenossen längst abgestoßen und irgendwo in einem Archiv vergraben worden sein. Jedenfalls war Winkelmann nicht abgemeldet worden.

Johns nächstes Ziel war die Kirche, in deren Sprengel die jetzige Kielaustraße eingepfarrt war. Er fand da wohl eine Melanie, nicht aber einen Arnold Winkelmann als gestorben eingetragen.

»Arnold Winkelmann ist tot«, sagte John leise vor sich hin, als er über den weiten, menschenleeren Kirchplatz ging. »Eine Reise hat er – nach allem, was man über sein Leben spricht – nicht unternommen, kann also auswärts nicht gestorben sein. Wann und wie ist also der alte Herr geendet?«

Am selben Tage noch ging ein Brief an den Pfarrer von Horgen, Kanton Zürich, Schweiz, ab.

Sechs Tage später kam die Antwort darauf.

Arnold Winkelmann war richtig anno 1794 zu Horgen geboren worden.

Viel mehr wußte der hochwürdige Briefschreiber nicht anzugeben, denn selbst unter den ältesten Leuten des Ortes gab es keinen, der sich Arnold Winkelmanns erinnern konnte.

Da er der einzige Sohn seiner Eltern gewesen und die Pfarrbücher jener Zeit keine anderen Gemeindeangehörigen mit dem Namen seines Vaters oder dem Familiennamen seiner Mutter anführten, war anzunehmen, daß Arnold Winkelmann ohne Verwandte, mindestens ohne nahe Verwandte, gewesen sei.

Auch nach Horgen war, wie der Pfarrer mit Ausdrücken der Verwunderung seinem Bericht hinzusetzte, keine Todesanzeige bezüglich dieses freilich längst vergessenen, einstigen Gemeindeangehörigen gelangt.

Mit der Bitte um Verständigung, wann und wo Arnold Winkelmann gestorben sei, schloß der Brief des gefälligen Geistlichen.

Doktor John konnte ihm in seinem Dankschreiben nur versichern, daß er nach erhaltener Aufklärung über diesen Punkt dem hochwürdigen Herrn sofort die gewünschten Daten senden werde.

Wieder nach einigen Tagen bezog ein junger und trotz seiner einfachen Kleidung und geringer Effekten vornehm aussehender Mann ein kleines Zimmer im Hoftrakte eines Hauses, welches an den Winkelmannschen Besitz stieß.

Es war John. Er war nun schon einigermaßen über Müllers informiert. Mit ihnen in Verkehr zu treten versuchte er gar nicht, denn was Moser ihm erzählt hatte, bewies, daß diese Menschen überhaupt niemanden über ihre Schwelle ließen; unter welchem Vorwande hätte es ihm gelingen können, dies zu tun?

Er wußte keinen solchen Vorwand.

Die Anzeige des Verdachtes, ja der subjektiven Gewißheit, daß Arnold Winkelmann längst tot, vermutlich von den Müllers ermordet worden sei, hätte wohl der Polizei, nicht aber ihm das so wohlbehütete Haus geöffnet.

Aber dieser Weg paßte dem einstigen Untersuchungsrichter nicht; dessen Ehrgeiz und dessen Interesse für seinen einstigen Beruf ließen es ihm wünschenswert erscheinen, selbst, und zwar ganz allein, diesen Fall in die Hand zu nehmen und Winkelmanns merkwürdiges Verschwinden aufzudecken.

Deshalb hatte er sich aufs Beobachten verlegt, und er, der schon so mancherlei wußte, sah nun auch so mancherlei, das, mit jenem zusammengebracht, bedeutungsvoll war.

Wenn er daheim war, trat er oft an das Fenster und blickte lange auf den hübschen Garten hinab. Er tat dies so aufmerksam, als wolle er jeden Baum und Strauch zählen, und einmal hatte er gar ein Fernglas vor dem Auge und betrachtete damit den wunderschönen verschneiten Garten, und sein Gesicht war sehr gespannt dabei.

In dieser Stunde machte er die erste wichtige Beobachtung.

Von seinem Fenster aus konnte man so ziemlich den ganzen Garten und einen Teil des Hofes überblicken, welcher von den zwei kurzen Seitenflügeln des Winkelmannschen Hauses und einem niedrigen Lattenzaun gebildet wurde.

Als John jetzt dort hinuntersah, bemerkte er, daß sich die Hoftür öffnete und zwei Männer ins Freie traten. Den einen von ihnen erkannte John sofort wieder, es war der, welcher an jenem Sonntag den alten Herrn gespielt hatte. Der andere mochte die Zwanzig noch nicht lange überschritten haben. Jedenfalls war er ein Sohn der Alma mater, das bewies das bunte Band über seiner Brust und die farbige Mütze, die sein blondes Haupt bedeckte.

Die beiden sind sehr hastig in den Hof getreten, und sie reden miteinander. Die Gebärden des Älteren lassen vermuten, daß er den Jüngeren von irgendeinem Vorhaben zurückhalten will, doch dieser achtet nicht auf seine Bitten und Vorstellungen und schreitet auf die den Garten abschließende Planke zu. Doktor John sieht dies alles ganz gut mit bloßem Auge, sieht auch noch, daß der ältere Mann wie widerwillig hinter dem anderen hergeht und auf einen Wink von diesem, vielleicht auch auf ein Wort, das jener ihm zugerufen, plötzlich stehenbleibt und sich sichtlich schwer an die Planke klammert. Da geht also Ungewöhnliches vor! Doktor John bringt das Fernglas vor das Auge.

Rasch hat er den Sohn der Josefa Müller, den einstigen Schauspieler, gefunden. Wie entsetzlich bleich dessen Gesicht ist! Und was erblicken seine dunklen Augen, daß sie gar so starr und trostlos vor sich hin schauen?

Das Fernrohr sucht sich ein anderes Ziel. Es ist der schlanke, blonde Student.

Sein junges, hübsches Gesicht zeigt einige Ähnlichkeit mit den Zügen des bleichen Mannes, der an der Gartenplanke lehnt. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß dieser junge Mann Gottfried Müller ist. Wen außer ihn hätten denn wohl Müllers über ihre Schwelle treten lassen?

Der junge Mann ist verstört. Er fährt sich jetzt über die Augen, und nun reißt er die Mütze vom Haupt und überläßt sein lockiges Haar dem Sturm als Spielzeug. Wie zögernd und unsicher und dabei doch hastig sein Gang ist!

Und er hat ein Ziel. Es ist die Fichtengruppe im Hintergrund des Gartens. Jetzt hat er sie erreicht.

Warum starrt er so seltsam lang vor sich hin? Was suchen, was sehen seine Augen in dem Rondeau, das jene Baumgruppe bildet?

Und – warum sinkt er jetzt auf die Knie und birgt das Gesicht in den Händen?

Nicht lange dauert die sichtlich peinvolle Versunkenheit des jungen Mannes. Er ist zu einem Entschluß gekommen, zu einem häßlichen, gräßlichen Entschluß.

Einen scheuen Blick nach dem Hause werfend, in dessen Hof noch immer der bleiche Mann sich auf die Planke stützt, was freilich der Student nicht sehen kann, denn zwischen ihm und dem Mann befinden sich mancherlei Baum und Busch, einen scheuen Blick nach dem Hause werfend, schreitet der junge Mensch auf ein Rosenbäumchen zu, das nebst mehreren seiner Artgenossen dicht in Stroh verpackt ist. Dieses Stroh ist mit dünnen Stricken umschnürt. Nach einem dieser Stricke streckt sich des jungen Menschen Hand aus. Was er damit will, das besagt der Zug der Verzweiflung in seinem Gesicht.

Doch kaum hat seine zitternde Hand den Knoten gelöst, muß sein Sinn sich geändert haben.

Ist der Strick schon mürbe?

Scheint ihm solches Sterben denn doch zu häßlich? Der Student läßt die Hand sinken, schüttelt das Haupt und wendet sich dem Hause zu.

Doktor John legt rasch das Fernrohr hin, greift nach Rock und Hut und verläßt eilig sein Zimmerchen. In großer Hast rennt er die Stiege hinunter und kommt eben auf die Straße, als das Gittertor des Winkelmannschen Vorgartens lärmend ins Schloß fällt.

Eine schlanke Gestalt im leichten Hausanzug, eine rote Mütze auf dem Kopf, stürmt die Straße hinunter, John ihr nach.

Er sieht im Vorbeieilen ein totenblasses Gesicht, das sich hinter dem Gittertor zeigt, dann achtet er nur mehr auf den jungen Menschen, der vor ihm hineilt, dem Flusse zu, der wenige Gassen weiter seine trüben Wellen gegen Osten wälzt.

Gegen wie viele Leute John rennt, er weiß es nicht, er sucht nur immer in dem Menschenschwarm, der sich eben jetzt durch diese breiten, ewig belebten Straßen ergießt, die rote Mütze. Und jetzt, jetzt hat er sie erreicht. Dicht an der Brücke, auf deren Geländer sich eben jetzt des Studenten Hand legt.

Sie zittert jetzt nicht mehr. Auch das hübsche Gesicht des jungen Mannes ist jetzt ruhig, oder ist es nur erstarrt im Leid? John tut das Herz weh, als er in dieses Gesicht, in diese todestraurigen Augen schaut, als er seine warme Hand auf die eisigkalte legt, die auf der eisernen Brustwehr liegt.

»So endet ein braver Mensch nicht«, sagte John leise; da kommt in des Angesprochenen Augen Leben, großer Schrecken und große Verwunderung schauen daraus, und seine fahlen Wangen färben sich.

»Was – wollen Sie von mir?« stammelte Gottfried Müller mit heiserer Stimme.

»Daß Sie heimgehen sollen, trotz allem, was Ihnen dort schrecklich ist, heimgehen sollen, damit ihre Eltern nicht verzweifeln. Auch in solchen Zeiten darf ein guter Sohn seine Eltern nicht verlassen.«

Das gibt John dem verstörten Frager zur Antwort, schiebt seinen Arm in den Gottfrieds und führt den armen, ganz wirren, gar nicht widerstrebenden Menschen fort.

Eine Viertelstunde später stehen sie wieder vor dem Winkelmannschen Hause.

Sie brauchen nicht zu läuten.

Der bleiche Mann steht noch immer hinter dem Tor.

»Gott sei Dank, daß du zurückkommst«, sagt, nein schluchzt er. Da liegt auch schon der junge Mann an seinem Halse und küßt ihn stürmisch und stammelt: »Verzeih mir, Vater, verzeih mir, daß ich habe aus der Welt gehen wollen!«

»Gottfried!« schreit Hans Müller qualerfüllt auf.

Der junge Mann nickt, dann zeigt er auf John und sagt ernst: »Diesem Herrn dankst du es, daß du noch einen Sohn hast, der mit dir tragen wird, was nun kommen muß.«

»Kommen muß!« wiederholte der ältere Müller. »Dieser Herr weiß also ...«

»Nichts durch mich, Vater!«

»Und doch schon vieles«, sagt John ruhig. »Herr Johann Müller, ich muß Sie bitten, mich ...«

»Sie kennen mich also?« unterbricht ihn der Mann. John nickt. Ein sarkastisches Lächeln kräuselt seine Lippen.

»Ich habe Sie letzthin – es war an einem Sonntag – als alten Herrn gesehen«, sagt er leise.

Brennende Röte huscht über Hans Müllers Gesicht, und seine Augen senken sich einen Moment, dann aber blickt er John fest an und sagt: »Kommen Sie, Herr! Ich will Ihnen drinnen dafür danken, daß Sie uns Gottfried erhalten haben, und Ihnen erzählen, wie ich zu der Rolle gekommen bin, aus der Sie mich letztlich fallen sahen.«

Hans Müller sperrte daraufhin das Tor ab und führte Doktor John ins Haus.

Er zeigte die Ruhe eines Menschen, der mit seinem Geschick völlig abgeschlossen hat.

Mit recht eigentümlichen Empfindungen und Gedanken betrat Doktor John das Haus, das, seit wer weiß wie vielen Jahren, ein Geheimnis umschloß, welches seinen Bewohnern alle Ruhe, alles Glück genommen hatte.

Verwundert war Doktor John auch. Er fand diesen Hans Müller merkwürdig ruhig. Ja, war denn nicht jetzt die Stunde der Entscheidung da? Mußte nicht jetzt sein höllischer Betrug und weit mehr noch aufgedeckt werden? Und dieser Mann schien sich vor der notwendigerweise folgenden Strafe nicht zu fürchten. War ihm sein und der Seinigen Leben vielleicht eine weit größere Strafe gewesen als diejenige, die ihn jetzt erwartete? Aber wenn es so war, weshalb hatte er sich nicht schon längst angezeigt? Diese und noch manch andere Frage stieg in des Doktors Seele auf, während er neben Gottfried hinter dessen Vater die Stiege zum ersten Stockwerk hinaufschritt.

Als sie auf dem Gange angelangt waren, tat sich eine Tür auf, und die alte Frau kam zum Vorschein, welche John vor einigen Tagen am Grab der Frau Winkelmann gesehen hatte.

Sie fuhr zurück, als sie den Fremden erblickte, und war schon im Begriff, in ihrem wirren Schrecken die Tür zu schließen, als Hans Müller sie mit einer Frage zurückhielt.

»Mutter! Wie geht es Helene?«

Die Alte seufzte.

»Schlecht, recht schlecht«, sagte sie dann leise und warf einen scheuen Blick auf den ihr unerklärlichen Besuch. Doch plötzlich belebten sich ihre Züge. Rasch näher tretend, sagte sie lebhaft: »Gottfried! Dieser Herr ist ein Arzt. Du hattest Angst um deine Mutter und hast ihn geholt. Den Gedanken gab dir Gott ein, du guter Sohn. Ich fürchte, daß hier ein Arzt sehr nötig ist.«

Josefa Müller hielt plötzlich inne. Es kam ihr wohl zum Bewußtsein, daß sie sehr, sehr unvorsichtig geredet hatte. Ihr Gesicht zeigte jetzt große Ängstlichkeit, aber ganz verwirrt war sie nicht; das bewiesen die Worte, welche sie nun zu dem vermeintlichen Arzt redete.

»Meine Schwiegertochter will nämlich nichts von einem Doktor wissen, und deshalb natürlich, deshalb allein ...« Nun verlor sie doch den Faden, denn sie war ob der hilfesuchenden Blicke, die sie auf Sohn und Enkel warf, erst all ihrer Fassung bar geworden.

Sah sie doch in dem Gesicht des ersteren ein gar seltsames Lächeln und in den Augen Gottfrieds eine so tiefe Traurigkeit, daß es ihr plötzlich zum Bewußtsein kam, daß etwas weit Ungewöhnlicheres vorgehe, als es der Besuch eines Arztes gewesen wäre.

Unwillkürlich suchte da die arme Alte nach einer Stütze. Und während ihre zitternde Hand nach der Türklinke griff, hörte die alte Frau entsetzensbleich, was der Sohn zu ihr sprach: »Mutter, die Komödie ist aus. Geh immerhin um einen Arzt. Gottfried wird inzwischen bei seiner Mutter bleiben. Ich aber, ich habe mit diesem Herrn zu reden, und dann – nun, dann gehen wir wohl beide miteinander fort. Mutter! Gottfried! Hütet mir die arme Kranke gut. Und nun – Gott befohlen.«

Hans Müllers Hände lagen zu langem, festem Druck in denen seiner Mutter und seines Sohnes.

Die beiden hatten ihn gut verstanden. Ihr Erblassen, ihr Erbeben, ihre tränenvollen Augen bewiesen es.

Hans Müller führte John in sein Zimmer. Letzterer dachte nach, was die alte Frau ihren Enkel fragte und was dieser antwortete: »Gottfried – du weißt ...?«

»Ja, Großmutter, bald nach meiner Heimkunft heute zwang ich dem Vater euer so lang gehütetes Geheimnis ab. Bald wird es alle Welt wissen; darum sollst du jetzt, so rasch es angeht, einen Doktor holen. – Es gibt hier ja doch nichts mehr zu verbergen.«

»Nein, es gibt hier nichts mehr zu verbergen«, wiederholte Hans Müller die Worte seines Sohnes, während er die Tür seines Zimmers, in welches er und der Doktor eingetreten waren, schloß, und setzte jenen Worten hinzu: »Und es ist gut so. Seit mein Sohn nun alles weiß und – und es nicht ertragen wollte, neben uns zu leben, seither ist mir alles gleichgültig, und wer Sie auch sein mögen, Sie und alle Welt soll es wissen, ›der alte Herr‹ ist seit zwanzig Jahren tot.«

»Ah!« rief nun doch überrascht Doktor John und setzte dann schnell hinzu: »Und er liegt rückwärts im Garten, zwischen den Fichten begraben.«

»Wissen Sie das auch schon?« fragte Müller müde lächelnd.

John nickte, und jener fuhr fort: »Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir zu den Fichten. Dort wird es mir sein, als ob der alte Herr es bestätigen könnte, daß das, was ich Ihnen gestehen will, die reine Wahrheit ist.«

Im nächsten Augenblick schritten die beiden wieder die Treppe hinab. Vor ihnen her huschte die Alte. Sie eilte sehr, einen Doktor zu holen. Es war nun auch ihr völlig leicht ums Herz, war ihr, als sei eine Bergeslast davon gesunken, eine Last, die sie seit zwanzig Jahren geschleppt hatte.

Doktor John und Hans Müller gingen langsam durch den Garten. Nun sah ersterer so recht, wie wunderschön dieser selbst jetzt zur Winterszeit gehalten war.

»Meine Frau zuerst und dann wir alle wendeten uns der Garten- und Blumenpflege zu, so konnte es niemandem auffallen, daß wir so viele Blumen zum Schmuck unseres heimlichen Grabes brauchten. Sie werden ja gleich sehen, wie hübsch es gehalten ist. Es war uns ein tröstender Gedanke, den alten Herrn nach seinem Tode ebenso zu betreuen, wie ihn meine Mutter einst zu seinen Lebzeiten betreut hatte.«

Kopfschüttelnd schaute John auf den seltsamen Menschen, der da so ruhig neben ihm ging, um ihn zum Grabe des alten Herrn zu führen.

Und nun standen sie davor.

Es war kein gewöhnlicher Grabhügel, der sich über dieser heimlichen Begräbnisstätte wölbte, sondern ein kreisrundes, erhabenes Beet, das von Efeu eingefaßt und mit Immergrün ausgefüllt war. Zwischen dessen zarten Blättern wiesen sich runde Stellen, welche verrieten, daß zur wärmeren Zeit daselbst noch andere, wohlblühende Pflanzen eingesetzt gewesen waren.

Inmitten dieses Beetes aber befand sich ein prächtiger gediehener, wohl schon recht alter, wilder Rosenstrauch, auf dessen schwankenden Zweigen hundert und aber hundert tiefroter Hagebutten verrieten, welche Blütenpracht ihn sommers bedeckt hatte.

Eines war sicher. Ein schöneres Grab hätte sich der alte Herr nicht wünschen können, ein schöneres Grab und ein teureres Gedächtnis der Hinterbliebenen.

Lange, sehr lange umschritten die beiden Männer das kleine Rondeau zwischen den Fichten.

Von der Kälte spürten beide nichts. Den einen machte das Reden, den anderen das Zuhören warm.

Endlich wußte Doktor John alles, was sich auf dieses Grab bezog, und als er es wußte und als Hans Müller erschöpft schwieg, reichte John ihm die Hand und sagte: »Mein Lieber, gestatten Sie mir, Ihre Sache in die Hand zu nehmen.«

Er hatte sehr warm gesprochen, und Müller hatte ihm mit traurigem Lächeln die Hand gedrückt.

»Und nun ist es für heute genug«, fuhr John fort. »Zu Ihrer Selbststellung hat es auch morgen noch Zeit. Beruhigen Sie jetzt Ihren Sohn. Das alles ist so rasch über ihn hereingebrochen, daß es nur selbstverständlich ist, wenn es ihn niedergeworfen hat. Er wird sich hineinfinden lernen, um seiner Mutter eine Stütze zu sein, wenn ...«

»Wenn ich nicht da bin«, fiel Müller ein, »ich und meine arme, alte Mutter. Oh, Herr Doktor, daß man auch diese zur Verantwortung ziehen wird, ist mir das Entsetzlichste an der ganzen Sache.«

»Regen Sie sich nicht unnötig auf. Suchen Sie mir lieber Doktor Kleibers Adresse.«

»Oh! Die kenne ich auswendig.«

»Sie haben diesen Mann wohl niemals aus den Augen verloren?«

»Wie denn auch? Er ist ja unser einziger Zeuge. Also er lebt noch in Trient.«

John notierte sich die Adresse, dann reichte er dem ehemaligen Schauspieler die Hand und sagte: »So, und jetzt gehen Sie zu Ihrem Sohn und zu Ihrer Frau. Wir sehen uns morgen beim Gericht. – Ah, da geht eben der Arzt fort.«

Müller hatte das auch bemerkt. Er war schon an des Genannten Seite.

»Was fehlt ihr?« fragte er hastig.

Der junge Doktor schaute ihm ernst in die Augen.

»Sind Sie der Gatte der Kranken?«

»Ich bin es.«

»Dann muß ich es Ihnen sagen, daß hier sehr viel – unverantwortlich viel versäumt wurde. Das Leben Ihrer Frau hängt an einem Haar.«

»Mein Gott! Mein Gott!« kam es in bitteren Klagelauten über die Lippen des bleichen Gatten.

»Und hätte es mir die Kranke nicht selber – und sichtlich unbeeinflußt von irgend jemand anderem – gesagt, daß sie, sie ganz allein, gegen die Berufung eines Arztes gewesen ist, ich müßte, wenn dieser Fall letal endet, eine Anzeige machen.«

Der Arzt hatte scharf, zuletzt fast grob in seiner Entrüstung gesprochen. Als er aber die schwere Träne, das bittere Lächeln des Gescholtenen sah, ward er milder und sagte: »Nun, alle Hoffnung ist ja noch nicht verloren. Der liebe Herrgott macht so manches wieder gut, was die Menschen verfehlten. Wenn mich nicht alles täuscht, ist die Krisis nahe, und da Sie in keiner Weise zu sparen brauchen, kann noch viel für die Kranke geschehen. Ich schicke Ihnen heute noch eine Schwester her, die beste Pflegerin, die ich kenne.«

Müller atmete schwer, als er, die Hand auf des jungen Arztes Arm legend, sagte: »Sie irren. Ich kann eine Pflegerin nicht zahlen. Ich bin ein Bettler.«

»Und doch, Herr Doktor, senden Sie nur Ihre beste Pflegerin, und sparen Sie in nichts. Ich – Notar John aus der Domgasse – nehme alle Kosten auf mich. Nun aber habe ich es eilig. Auf morgen also, Müller, Punkt zehn. Früher kann ich nicht kommen.«

John ging rasch fort. Er hörte nur noch, wie Hans Müller laut aufschluchzte.

*

Am nächsten Vormittag, fünf Minuten vor zehn Uhr, bog Doktor John in die Gasse ein, in welcher das Gebäude des Gerichts lag. An dessen Tor traf er mit Müller zusammen. Er reichte ihm die Hand. Schweigend gingen die beiden daraufhin weiter.

An einer Tür, darauf eine Tafel mit den Worten »Doktor Leopold Striegler, Untersuchungsrichter« angebracht war, trennten sie sich. John trat allein in das Zimmer. Er kam nach etwa zwanzig Minuten wieder heraus.

»Nun, Müller, jetzt gehen Sie hinein, er ist vorbereitet. Ich sehe Sie jedenfalls noch, ehe ...«

»Ehe man mich abführt«, vollendete mit schmerzlicher Ruhe Müller, nickte John zu und verschwand hinter der Tür, die ein kleiner, buckliger Schreiber für ihn geöffnet hatte.

Ein freundlich aussehender ältlicher Herr, welcher an einem großen Arbeitstisch saß, nickte ihm ganz gemütlich zu und wies, wohl weil ihm das totenbleiche Antlitz Müllers Mitleid einflößte, auf einen Stuhl.

Der seltsame Besucher machte jedoch von dessen besonderer Freundlichkeit keinen Gebrauch.

»Also, lieber Lackner, beginnen wir«, sagte Doktor Striegler mit einem Blick auf den Schreiber. Dieser saß schon auf seinem Drehstuhl und tauchte die Feder in die Tinte.

Doktor Striegler war jetzt nur mehr »im Amte«.

Seine Miene war ernst, sein Blick war scharf geworden.

»Ihr Name?« begann er.

»Johann Müller.«

»Ihre Geburtsdaten?«

Müller gab sie genau an.

»Ihre Beschäftigung?«

»Ich war Schauspieler.«

»Stimmt. Sie waren bis vor wenigen Jahren Schauspieler, aber haben das jetzt aufgegeben.«

Über Müllers Gesicht huschte ein fahles Rot, und seine Augen senkten sich. Doktor Striegler fuhr fort: »Sie kamen hierher, um sich selber dem Gerichte auszuliefern. Das ist richtig, sehr richtig gehandelt, warum warteten Sie so lange damit?«

»Bei Gott! Nur meines Sohnes wegen. Seit dieser – es ist seit gestern der Fall – mir unser Geheimnis abrang und deswegen für immer von uns gehen wollte, habe ich keinen Grund mehr, die Komödie weiterzuspielen, die uns seit zwanzig Jahren unbeschreiblich unglücklich und ruhelos gemacht hat.«

»Sie haben es also auch gründlich einsehen gelernt, daß keine Sünde ihre Kosten trägt?«

»Ob wir das einsehen lernten!«

»Also reden Sie, Mann! Und reden Sie völlig aufrichtig. Haben Sie dem Doktor John aber auch die ganze Wahrheit gesagt?«

»Ist sie nicht schmählich genug? Sie halten mich doch wohl nicht für einen Mörder? Doktor Kleiber in Trient wird, muß Zeugenschaft dafür ablegen, daß der alte Herr an jenem unseligen Abend vom Schlag gerührt wurde.«

»Und er, ein Arzt, verließ den Schwererkrankten? Das ist unwahrscheinlich.«

»Nicht so unwahrscheinlich, als man, den Sachverhalt nicht kennend, glauben muß. Doktor Kleiber war damals auf dem Weg zum Zug, der ihn zu seiner, wie er fürchtete, sterbenden Tochter bringen sollte. Seine Furcht war begründet. Als er in Trient ankam, fand er sein Kind in den letzten Zügen.«

»Für uns hat dieses Traurige etwas Gutes. Doktor Kleiber wird das Datum, an dem er diese Reise machte, nicht leicht verwechseln. Wie wissen Sie selbst es so genau, was damals in Trient geschehen ist?«

»Weil ich dort war. Es trieb mich hin zu dem einzigen Menschen, der das richtige Maß für unsere Tat haben würde. Daß ich dann dennoch nicht mit ihm redete, mich ihm nicht zeigte, war die Frucht meiner Überlegung. Wir wollten ja doch die Früchte unserer Tat genießen, daher mußte sie Kleiber verborgen bleiben, denn er hätte sie ja selbstverständlich sofort angezeigt, und wir hätten nur die Strafe, aber nicht den Nutzen gehabt.«

»Übermäßig viel Nutzen haben Sie, wie Doktor John mir andeutete, ja ohnehin nicht daraus gezogen. Bettelhaft leben, das hätten Sie ohne diese Tat auch zusammengebracht. Noch aber ist mein Zweifel bezüglich des Betragens Kleibers nicht ganz behoben. Ich kann es nicht glauben, daß ein Arzt einen Sterbenden verläßt. Dieser Kleiber müßte denn wenig Gewissen besitzen oder damals den Kopf verloren haben.«

»Es ist beides nicht der Fall. Doktor Kleiber ist überaus gewissenhaft, und er war, trotz seines Leides um seine Tochter, nicht im geringsten verwirrt, das werden Sie gleich merken. Ich will Ihnen jenen Abend kurz schildern. Doktor Kleiber kam damals um meiner Mutter willen ins Haus. Sie litt an Schwindelanfällen, und Herr Winkelmann selbst hieß sie Kleiber rufen. Ich war an dem Abend, an welchem er kam, eben zu Besuch bei meiner Mutter. Er wurde zuerst zum Herrn geführt, von dem er, ehe er sich meiner Mutter widmete, Abschied nehmen wollte. Herr Winkelmann bat ihn zu sich, er hatte irgend etwas mit ihm zu besprechen. Eine Viertelstunde etwa blieben die Herren beisammen, dann kamen sie in die Wohnstube heraus, wo wir den Doktor erwarteten. Herr Winkelmann sah noch ganz gut aus, als er herauskam. Mitten im Zimmer aber fing er plötzlich zu taumeln an und rief ängstlich nach meiner Mutter. Ehe diese ihm beistehen konnte, waren schon der Doktor und ich hinzugesprungen und halfen ihm auf das Sofa, wo er bewußtlos niedersank. Er war bläulichrot im Gesicht und sah wie ein Sterbender aus.

›Ein Schlaganfall‹, sagte Kleiber und setzte hinzu: ›Er wird wohl letal enden. In solchem Alter erholt sich kaum einer wieder von solch schweren Anfällen. Nur wenn das Leben völlig aus ihm schwindet, ist kaum zu sagen. Jedenfalls kann ich ihm nur die erste Hilfe leisten. Während ich mich um ihn kümmere, können Sie Doktor Caserti holen. Er wohnt in der Kirchengasse einundzwanzig. Aber, eilen Sie, denn ich muß, Sie wissen ja, ich muß fort.‹ So redete der Doktor, nachdem er mit Hilfe meiner Mutter den Kranken in eine passende Lage brachte und seine Kleider öffnete.

Ich war schon im Flur. Da kam mir die Mutter nach. Sie rannte zum Brunnen um Wasser.

›Beeile dich, um Gottes willen, beeile dich und komme nicht ohne Arzt‹, rief sie mir zu, und ich eilte natürlich wirklich, so rasch ich konnte, nach der Kirchengasse.

Doktor Caserti war nicht zu Hause, wurde aber jeden Augenblick zurückerwartet. Ich riß einen Zettel aus meinem Notizbuch, schrieb unsere Adresse darauf und bat die Magd, es ja auszurichten, daß es sich um einen dringenden Fall handle und der Herr Doktor unverweilt kommen möge.

Dann ging ich. Kein Wagen ließ sich blicken. Damals war ja jene Gegend so öde. So mußte ich zu Fuß den ziemlich weiten Weg machen. Durch die Dammstraße gehend, sah ich das Schild eines Arztes. Ich eilte in das Haus. Auch dieser Doktor war nicht daheim. Man sagte mir, für diese Nacht sei auf ihn überhaupt nicht zu rechnen; er sei soeben zu einer Schwerkranken gerufen worden, zu einer Frau, welche einer Operation entgegensah. Ich rannte weiter. Schweißtriefend kam ich zu Hause an. Doktor Kleiber hatte inzwischen den alten Herrn zur Ader gelassen. Winkelmann atmete schwer. Er war noch immer blaurot im Gesicht. Meine Mutter kauerte verstört in einem Winkel. Kleiber hielt die Uhr in der einen Hand, mit der anderen fühlte er den Puls des Kranken.

›So kann es noch stundenlang fortgehen‹, sagte er eben, als ich ins Zimmer trat. Als er mich bemerkte, warf er mir einen fragenden Blick zu. Ich sah qualvolle Ungeduld aus seinen Augen schauen.

›Nun?‹ fragte er hastig, als ich nicht gleich redete.

›Doktor Caserti kommt gleich‹, sagte ich. Mir tat der Mann in seiner Angst und bitteren Unruhe schrecklich leid. Ich wollte es nicht auf mich nehmen, daß er den Zug versäumte.

Er atmete denn auch recht erleichtert auf, als er meine nicht ganz richtige Antwort hörte, reichte mir das Rezept, welches er während meiner Abwesenheit geschrieben hatte, und sagte: ›An ein Aufkommen ist kaum zu denken. Der Arme ist teilweise gelähmt. Wie gesagt, er kann noch stunden-, ja tagelang leben, aber zu helfen ist ihm, wenn nicht ein Wunder eintritt, nicht mehr. Zeigen Sie Caserti dieses Rezept. Ihre Mutter muß sich nun auch von ihm untersuchen lassen, denn Sie sehen ja, in zwanzig Minuten muß ich auf dem Bahnhof sein.‹

So redend, hatte Kleiber seinen Rock angezogen, Hut, Reisetäschchen und Schirm genommen, nickte dem alten Herrn, der freilich nichts davon ahnte, freundlich wehmütig zu, grüßte Mutter und mich und verließ die Stube. Man sah es ihm an, wie es ihn drängte fortzukommen.

›Es ist also sicher, daß Caserti bald eintrifft?‹ fragte er auf der Stiege noch einmal.

›Ganz sicher‹, antwortete ich mit großer Bestimmtheit. Er sollte wenigstens in bezug auf diesen Fall ruhig sein. Und er war ruhig. Der Tod eines schon so alten Mannes konnte ihn, den Arzt, naturgemäß nicht besonders bewegen, und da er alles mögliche für ihn getan und überdies meinte, sein Stellvertreter sei schon unterwegs, so hatte er beim Verlassen des Hauses sicherlich nur mehr einen Gedanken, den: möglichst rasch den Bahnhof zu erreichen.

Sein letztes Wort war: ›Natürlich schreiben Sie mir. Briefe erreichen mich mit der Adresse Doktor Kleiber im Hause des Regimentsarztes Doktor Polzer.‹

Ich versprach, ihm zu schreiben. Er ging eilig, fast laufend weiter. Ich kehrte ins Haus zurück.

›Wenn nur der andere Doktor bald kommt. Mir ist schrecklich bang.‹

Mit diesen Worten empfing mich meine Mutter.

Auch mir war bang. Wenn Caserti nun nicht kam, nicht rechtzeitig kam?

Diesen Gedanken durfte ich die Mutter nicht merken lassen. Ich tröstete sie, und wir pflegten den alten Herrn genau nach den Anweisungen Kleibers. Dazwischen lauschten wir auf das Kommen Casertis. Um neun Uhr fünf hatte Kleiber das Haus verlassen, genau zwei Stunden später starb der alte Herr. Er war einen Augenblick lang zu sich gekommen und versuchte zu reden. Erkannt hat er uns ganz gewiß, der sprechende Ausdruck seiner Augen bewies dies, und er hat uns auch noch etwas, das ihm ungemein wichtig dünken mußte, sagen wollen. Doch er war nicht mehr Herr seiner Zunge. ›Nehmt‹, meinte ich aus seinen Sprechversuchen herauszuhören, aber was er etwa mit diesen Worten andeuten wollte, konnten wir uns nicht denken. Eine neue Blutwelle schoß zu seinem armen Hirn, dann verzerrte sich sein Gesicht, und sein Kopf fiel zurück. Sein Herz schlug nicht mehr, davon überzeugte ich mich. Und immer warteten wir noch auf Caserti. Es wurde zwei Uhr morgens. Der Doktor war noch nicht da. Die Leiche war bereits eiskalt.

›Nun ist es mit allem aus. Nun werden wir bald Bettler sein. Wer wird mich kränkliches Weib noch in Dienst nehmen? Und deine Gage reicht ja nicht einmal für dich und Weib und Kind. Oh, hätte er nicht für uns sorgen können! Er hätte ja niemanden geschädigt. Wie oft hat er es mir gesagt, daß er nicht einen Verwandten mehr in der weiten Welt habe.‹ So klagte meine Mutter, nicht ahnend, welche Gedanken sie damit in mir wachrief.

Wie ein Blitz war die Idee in mir aufgetaucht, daß durchaus nicht alles aus zu sein brauche, daß wir uns, da der Tote uns nimmer helfen konnte, selber helfen könnten.

Wer brauchte es zu wissen, daß der alte Herr tot sei? Kleiber wollte ja auf keinen Fall mehr zurückkehren, und nur er war zu fürchten. Sonst betrat ja kein Fremder das Haus. Und – hatte ich meine Mutter täuschen können, so konnte ich noch weit leichter Vorübergehende täuschen. Ein bißchen Schminke, seine Mütze, seinen Schlafrock – und der alte Herr konnte sich immer noch hier und da am Fenster sehen lassen.

Langsam, ganz langsam brachte ich meiner Mutter den Plan bei, den ich mit glühendem Hirn ersonnen hatte.

Wie ich sie gewann, das zu beschreiben, Herr Doktor, erlassen Sie mir wohl. Was täte eine Mutter nicht für ihr Kind? Die meine opferte ihr reines Gewissen, ihre Seelenruhe für mich, der ich ohne die ersonnene Hilfe samt den Meinigen zugrunde gehen mußte. Es hatte immerhin viele Worte gekostet, um die arme, kränkliche und daher nicht eben willensstarke Frau meinem Plane gefügig zu machen; als sie sich jedoch entschlossen hatte, mit mir zu tun, was ich damals für unser einziges Heil ansah, brauchte es kaum mehr einiger Worte, um uns über die Art der Ausführung unseres Vorhabens zu einigen.

Im Hintergrund des Gartens gibt es ein von Fichten gebildetes Rondeau, dessen Grund von nirgendsher überblickt werden kann. Dort begruben wir den alten Herrn.

Am frühen Morgen begab ich mich noch einmal zu Doktor Caserti. Ich mußte doch wissen, warum er nicht gekommen war oder ob er etwa erst kommen wolle.

Dem war nicht so. Auf der Treppe kam mir eine Magd entgegen, dasselbe Mädchen, dem ich gestern die Adresse gab. Sie stutzte, als sie mich sah, dann steckte sie abwehrend die Hände nach mir aus.

›Mein Gott, gehen Sie nicht hinauf. Herr, machen Sie mich nicht unglücklich‹, flüsterte sie mir, bleich vor Angst, zu und griff in die Tasche ihres Kleides.

Ich wußte augenblicklich, was geschehen oder vielmehr was nicht geschehen war. ›Sie haben die Adresse, die ich Ihnen gegeben hatte, wohl gar nicht Ihrem Herrn übermittelt?‹ fragte ich mit stockendem Atem. Sie gab zu, daß es so sei. Ihr Liebster hatte sie am Tor erwartet. Das war ihre Entschuldigung.

Ich ließ mir den Zettel wieder zurückgeben. Er war noch ebenso gefaltet, wie ich ihn gefaltet hatte. Offenbar hatte noch niemand die Adresse, die ich darauf geschrieben hatte, gelesen, sonst hätten sich beim nachherigen, achtlosen Zusammenfalten wohl neue Brüche ergeben. Dennoch machte ich noch eine Probe.

›So senden Sie uns wenigstens jetzt Ihren Herrn‹, sagte ich scheinbar erzürnt, in Wahrheit aber voll Spannung, was sie darauf erwidern würde. Sie langte nach dem Zettel.

Sie kannte also unsere Adresse nicht! Ich tat, als hätte ich mich anders besonnen, steckte den Zettel zu mir und hieß sie, in ihrem Interesse, über die ganze Sache schweigen. Dann ging ich – heim.

Es wurde uns der Winkelmannsche Besitz wirklich zur Heimat, aber eine unheimlichere hat noch niemand gehabt. Wir mußten da ein Grab bewachen, und in jedem Winkel erblickten wir den alten Herrn.

Ich war damals auch auswärts noch Schauspieler, aber seit ich nebenbei auch die Rolle des alten Herrn gab, war mir mein früher so sehr geliebter Beruf völlig verleidet. Auch peinigte es mich, meiner Mutter fernbleiben zu müssen, sie allein zu wissen in dem entsetzlich stillen und doch so entsetzlich belebten Hause.

Daher besuchte ich sie, sooft dies anging. Bei solch einem Besuch, währenddessen ich, wie immer, eine Unmasse schwerer Arbeit für meine Mutter getan hatte, verkühlte ich mich und kam fiebernd bei meiner Frau an. Helene (meine arme Frau heißt so) hielt mich seit Winkelmanns Tod für dessen Erben. Dieses Märchen zerfiel für sie in den Tagen meines damaligen Krankseins. Meine Fieberreden verrieten ihr den wahren Sachverhalt.

Sie wurde zur Mitschuldigen, das heißt, sie fand nicht den Mut, uns zu verraten, uns verurteilt zu sehen und damit auch unser kränkliches Kind, meine plötzlich schier alt gewordene Mutter zu Bettlern zu machen.

Sie entschloß sich, meiner Mutter wegen, in das schreckliche Haus zu ziehen.

Dort lebt sie, gleich uns, alles nur irgendwie Entbehrliche entbehrend, uns tröstend und das Grab des alten Herrn schmückend, das traurige Leben eines edlen Weibes, das ihren Teuren zuliebe auf alles verzichtet, was ein Menschendasein freundlich macht, das sogar auf die Selbstachtung verzichtet.

Ach, sie hat wahrlich das bißchen Schuld, das auf sie fällt, längst gebüßt.«

Erschöpft aufschluchzend hielt Müller inne. Der Untersuchungsrichter betrachtete ihn mit unverhohlener Teilnahme.

»Ihre Frau ist derzeit schwer krank?« fragte Doktor Striegler.

Müller nickte.

»Sie verlor ihren Mut und damit auch ihre Kraft, als Gottfried, unser Sohn, den wir aus leicht erklärlichen Gründen seit seinem siebenten Jahr vom Hause fernhielten, für diese Weihnachten seine Heimkunft ankündigte. Die Angst vor dem, was nun doch wohl kommen mußte, warf sie nieder. Sie wurde täglich schwächer, weigerte sich aber hartnäckig, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Seit gestern aber, nun, seit gestern ist der Winkelmannsche Besitz jedem offen, der seine Schwelle überschreiten mag.«

»Und wie war das damals mit Doktor Kleiber? Schrieben Sie ihm?«

»Gewiß. Er hätte sich wohl ohne Briefe nicht zufriedengegeben. Ich ließ das Wunder eintreten, das er angedeutet. Schrieb auch, daß Doktor Caserti doch verhindert gewesen sei zu kommen und daß ich einen anderen Arzt geholt habe. Doktor Kleiber war beruhigt und wohl auch von all dem Traurigen, das auf ihn selbst einstürmte, bald so abgelenkt von diesem Fall, daß unser Briefwechsel bald einschlief.«

Noch redete Müller, als es an der Tür pochte.

»Herein«, rief der Doktor, und sein Gesicht drückte einige Verwunderung aus, als John ein bißchen rasch und sichtlich an- oder aufgeregt in das Zimmer trat.

»Sie sind noch immer hier, lieber Doktor?« fragte er, sich erhebend.

»Ich bin inzwischen in meiner Kanzlei gewesen«, antwortete John und setzte mit einem merkwürdigen Blick auf Müller hinzu: »Und da habe ich meine Eingänge gemustert. Dieser dürfte Sie und noch einige Leute interessieren.«

Lebhaft so redend, reichte er dem Untersuchungsrichter ein Telegramm hin. Es war ein sehr umfangreiches Telegramm.

»Ah!« rief Doktor Striegler, nachdem er einen Blick auf die Unterschrift geworfen hatte, und dann las er die Drahtnachricht. Er hatte sich, gleich John, dem er einen Stuhl geboten, gesetzt. Jetzt aber stand er wieder und fuhr sich, als wollte er seine Gedanken meistern, über die breite, wuchtige Stirn.

Dann trat er auf Müller zu, sah ihm mit eigentümlich blitzendem Blick in die Augen und sagte, ihm die Hand auf die Schulter legend: »Kommen wir zu Ende. Sie sind freiwillig hier erschienen, um auszusagen, daß Sie vor zwanzig Jahren heimlich einen Menschen begraben haben und daß Sie seither dessen Hinterlassenschaft gleich Ihrem Eigentum behandelten. Daß die Verschweigung von Winkelmanns Tod sowie dessen heimliche Einscharrung längst verjährt sind, wissen Sie; hoffentlich werden Sie beweisen können, daß Sie damals Caserti rufen wollten, und hoffentlich wird Ihnen niemand beweisen können, daß Winkelmann, dessen Reste man natürlich exhumieren wird, eines unnatürlichen Todes starb. Ist das so, dann wäre die eine Seite dieses Falles erledigt.«

»Des fortgesetzten, des bis heute fortgeführten Betruges jedoch, der Aneignung fremden Eigentums, bin ich noch heute schuldig, und schon deshalb allein müssen Sie mich festnehmen lassen, Herr Doktor«, fuhr Müller schier gelassen fort und setzte seinen trüben Worten noch hinzu: »Aber nicht wahr, diesem Herrn, der sich so unsäglich gut gegen uns gezeigt hat, diesem Herrn ist es doch wohl gestattet, es mir zu sagen, wie es um meine Frau, wie es um meine Mutter und um meinen Sohn steht?«

Müllers trübe Augen sahen flehend in die des wackeren John, der allerdings in diesem Moment der Rührung fast aufgeräumt aussah, was so gar nicht zur Szene passen wollte. Hatte er diesen rasch gefundenen Freund schon wieder verloren? Traute ihm keiner mehr? Verachtete ihn dieser so tief, daß das Mitleid in ihm erstorben war? Müller wurde darob irre an ihm, und in wachsender Unruhe sagte er: »Mein Gott! Wie schwer mußte ich diese Sünde schon büßen, und wie schwer werde ich sie noch büßen müssen!«

»So ist es«, bestätigte ihm trocken der Richter. »Sie haben eine Schuld auf sich geladen, die natürlich ihre Sühne verlangt, jene Sühne, welche das aufgepeitschte Gewissen freiwillig leistet; es ist auch möglich, daß Sie andere Strafe noch werden dulden müssen, aber wenn dieses Papier recht hat, dann haben Sie eigentlich schon zu harte Sühne geleistet, indem Sie und die Ihrigen zwanzig Jahre freiwilliger Haft auf sich nahmen. Jetzt aber ist noch gar nichts entschieden, und Sie haben sich als Untersuchungshäftling zu betrachten. Unterschreiben Sie Ihr Geständnis, und dann folgen Sie diesem Herrn.« Auf einen Tastendruck hin war ein Beamter in das Zimmer des Untersuchungsrichters getreten, mit welchem dieser einige Worte wechselte und dem der ganz verwirrte Müller alsdann in den Flur hinaus folgte.

Wenige Minuten später saß er in einem kahlen Zimmer an einem Tisch und schaute um sich. Soweit also hatte er es gebracht! Ein Häftling war er.

Brennende Röte stieg in seinen Wangen auf, brennende Tränen schossen in seine Augen. Aufschluchzend barg er sein Gesicht in den Händen.

Im Zimmer des Doktor Striegler gingen indessen dieser und Doktor John in lebhaftem Gespräch auf und ab.

»Seltsam! Schier unglaublich! So hätte er sich eigentlich selber bestohlen. Und derlei bestraft ja die Behörde nicht!«

Mit diesen Worten endete das Gespräch der beiden.

John setzte nur noch hinzu: »Übermorgen komme ich also auch zur Exhumierung.«

Dann war Doktor Striegler allein.

Er nahm noch einmal das Telegramm zur Hand. Es war in Trient aufgegeben worden und an Doktor John adressiert. Es lautete:

 

»Arnold Winkelmann am 14. November 1881 abends vom Schlage gerührt. Hielt ihn für sterbend. Soll sich erholt haben. Josefa und Johann Müller waren mir damals treue Helfer. Doktor Caserti wurde erwartet, als ich ging, doch kam ein anderer Arzt. Winkelmann legte mir an jenem Abend ein eigenhändig geschriebenes Testament zur Zeugenunterschrift vor. Seine Erben sind Josefa und Johann Müller. Erkrankt und alt, bin ich reiseunfähig, hier aber zu jeder Einvernahme bereit.

Doktor Richard Kleiber«

 

Dies der Inhalt des Telegramms, welcher die Antwort auf ein anderes war, welches Doktor John gestern gleich nach seinem Verlassen des Winkelmannschen Hauses nach Trient an Kleibers Adresse aufgegeben hatte.

Stimmte sein Inhalt – und warum hätte er nicht der Wahrheit entsprechen sollen? –, so hatten Müllers seit jenem 14. November in ihrem Eigentum gelebt.

Es verhielt sich tatsächlich so.

Die Exhumierung der sterblichen Überreste Winkelmanns bestätigte Kleibers telegrafische Aussage bezüglich des Testaments. Man fand das Schriftstück noch ziemlich gut erhalten und völlig leserlich zwischen den Resten der fast ganz vermoderten Kleider; diese hatten dem Verfall weniger gut widerstehen können als die Lederbrieftasche, welche Winkelmann damals bei sich getragen. Sie enthielt verschiedene Papiere, darunter auch das Testament. Alles Geschriebene, das sie umschloß, zeigte dieselbe wunderliche, altväterliche Schrift, welche auch das Testament des alten Herrn aufwies.

Es war unzweifelhaft ein gesetzlich unantastbarer Letzter Wille, den da das Grab herausgab, auf daß endlich des Leides ein Ende werde, das so lange in dem stillen Besitze geherrscht.

Johann Müller ließ man bald frei, denn nun lag ja nichts mehr gegen ihn vor, das eine Ursache geboten hätte, ihn der Freiheit zu berauben.

Doktor Kleibers vor Gericht abgegebene Aussagen stimmten so vollständig mit denen Johann Müllers überein, daß letztere nicht mehr zu bezweifeln waren.

Auch hatte sich, nach einer Woche etwa, der Aufenthaltsort jener Magd ausforschen lassen, welche in der kritischen Zeit bei Doktor Caserti bedienstet gewesen, und sie erinnerte sich unschwer an jenen kleinen Vorfall.

An jenem Abend hatte ihr Liebhaber ihr den Laufpaß gegeben, daher ihre Verwirrung, ihre Zerstreutheit, ob deren sie ihre sonst treulich geübte Pflicht so schwer verletzt hatte.

Mit ihrer Aussage fiel der letzte Schein von Verdacht, der noch auf Johann Müller gelastet hatte.

Josefa und Hans Müller, von jedem Verdachte und Heimlichkeit befreit, vor jeder Verantwortung und Strafe sicher, hätten nun, so sollte man meinen, ein ruhiges, sorgenloses Leben beginnen können.

Und doch konnten sie dies nicht tun.

Trug man nicht so recht zur Unzeit einen schmalen, ach, gar so schmalen Sarg aus dem Hause? Er war kaum umfangreicher als der, den man für Arnold Winkelmanns paar Knochen gebraucht, die nun auch in geweihter Erde ruhten. Dieser zweite Sarg umschloß Frau Helenes zierliche Gestalt, verwahrte die erbarmenswerte Frau, welche fast zwanzig Jahre lang an dem Sündenpack anderer hatte mitschleppen müssen, die, von der Liebe gestärkt, die üble Last mutig getragen hatte, bis ihr Kind kam – dieser Sohn –, für welchen auch sie gesündigt hatte und in dessen klaren Augen sie die Verachtung nicht lesen mochte.

Wegen Gottfrieds Kommen war sie zusammengebrochen, um sich niemals mehr zu erheben.

In tiefem Leid war sie aus der Welt gegangen. Wußte sie doch, so recht tief innerlich waren ihr Mann und ihr Sohn ja doch für immer voneinander getrennt.

Gottfried blieb wohl ein guter Sohn – aber etwas, das er recht wohl hätte benennen können, das er jedoch niemals nannte, stand zwischen ihm und seinem Vater.

Er war froh, daß sein Studienort so fern von dessen Domizil lag. Nur wenige Male im Jahre kam er heim.

Mit von trüber Sehnsucht beflügeltem Schritt eilte er dann zuallererst an das Grab der Mutter, dann erst ging er langsam, viel langsamer dem Hause zu, welches man noch immer den Winkelmannschen Besitz nannte.

Dort öffnete ihm jetzt eine nette Magd oder ein wohlgeschulter Hausdiener, und meist auf der Treppe schon kamen ihm der Vater und die Großmutter entgegen.

Wenn er ihnen dann in die Augen sah, fand er stets dieselbe Scheu, dieselbe Traurigkeit in ihnen, die ihn seit jeher aus diesen Augen angeblickt hatten.

Er redete dann sanft und liebreich auf sie ein oder brachte ihnen wohl auch öfter den einzigen und schon deshalb auch besten Freund des Hauses, Doktor John, mit – und da gelang es beiden im Vereine, zuweilen eine flüchtige Heiterkeit der alten Frau und ihrem früh alt gewordenen Sohn zu erwecken.

Doch all das war nur vorübergehend; bleibend aber war die düstere Seelenstimmung, in die sich die beiden seit jener unheimlichen Novembernacht hineingelebt hatten und welche die gerechte Strafe für ihre Tat war.

»Alt« nannten wir Hans Müller, und es ist richtig, er war, noch in rüstigen Mannesjahren, alt, ja fast zum Greise geworden, der auch jetzt im wissentlich rechtlichen Besitz so vieler Habe diese kaum genießen kann.

Und auch das ist nur gerecht.

Hans Müller liebt außer seinem Sohn nur noch eines, die Ruhe, die Beschaulichkeit.

Man konnte ihn oft stundenlang unbeweglich an demselben Fenster sitzen sehen, an welchem dereinst in Wahrheit der alte Herr und dann sein Trugbild gesessen hatte.

Und wenn die jüngere Generation an seinem Haus vorüberging, erinnerte sie sich wohl zuweilen, wenn auch ein bißchen unklar an das, was die ältere sich von diesem Hause und dessen Eigner erzählt hatte, und fragt ein in der Gasse Fremder einmal einen anderen, der in ihr heimisch ist, wie der weißhaarige, stille Mann heiße, der so gern im Sonnenschein am Fenster sitzt, so antwortet dieser andere wohl: »Man nennt ihn nur den alten Herrn.«


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