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Der seltsame Schatten

Das Wochenblatt der Kreisstadt O. brachte folgende Notiz:

 

»Rätselhafter Mord. Sonntag, am Morgen des 10. Oktober, also vorgestern, wurde der pensionierte Polizeikommissar, Herr Anton Werner, ermordet in seinem Bett aufgefunden. Ein sicher geführter Stoß mit irgendeinem dolchartigen Instrument hat ihn getötet.

Bis zur Ausgabe dieser Nummer, also bis heute mittag, ist es noch nicht gelungen, auch nur die geringste Spur des Mörders aufzufinden; ja, es ist noch nicht einmal gelungen, zu entdecken, was den Mord veranlaßte. Ein Raub liegt nicht vor. Feinde besaß das hochachtbare, menschenfreundliche Opfer dieses Verbrechens nicht. Somit ist letzteres bis jetzt unerklärt. Hat vielleicht Irrsinn die Tat begangen?

Und noch ein Rätsel! Es konnte bis jetzt trotz allen Scharfsinns unserer so überaus gut geschulten Sicherheitsorgane, nicht einmal festgestellt werden, welchen Weg der Mörder gekommen, welchen er gegangen ist.

Jeder Bewohner der Stadt pilgerte bereits nach der Mariengasse, dem Schauplatz der schrecklichen Tat. Jeder fragt und forscht und hat sicherlich schon erfahren, was zu erfahren ist; somit bringen wir diese Notiz eigentlich nur für unsere auswärtigen Leser, wünschend, daß wir bald in der Lage sein möchten, des feigen Mörders Gefangennahme anzeigen zu können.«

 

So das Wochenblatt von O.

Es fand trotz der Kärglichkeit und trotz des Bekanntseins obiger Meldung reißenden Absatz, sowie die Mariengasse tatsächlich das Ziel einer wahren Völkerwanderung geworden war und noch immer reichlichen Besuch erhielt; denn der Mord an dem allgemein bekannten und von allen verehrten einstigen Polizeikommissar Werner hatte weitgehend Teilnahme und Entrüstung hervorgerufen.

Eines Abends, es war ein unfreundlicher, stürmischer Abend, standen wieder mehrere Gruppen in der Nähe des Hauses, darin der Mord verübt worden war. Unter vielen anderen konnte man einen Mann von auffallendem Wesen gewahren. Es war ein alter Mann mit grauen Haaren und einem strengen, ja mürrischen Gesicht, mit fest zusammengekniffenen Lippen und lauerndem Blick; ein Mann, der schon seiner Größe halber auffallen mußte und der seiner Stärke wegen von verschiedenen gefürchtet wurde.

Dieser Mann hieß Peter Klaus und war Gefängnis-Oberaufseher im Strafhause zu O.; er war daselbst eine wenn auch nicht beliebte, so doch sehr geschätzte Persönlichkeit, denn Peter Klaus war vom Scheitel bis zur Sohle Pflichtbewußtsein, das hatte seine fast vierzigjährige Dienstzeit bewiesen.

Selbige Persönlichkeit war, das läßt sich denken, hier eng umringt von den Neugierigen. Denn jeder wollte eine der spärlichen, aber meist zutreffenden Bemerkungen hören, die der alte, in Verbrechergeschichten wohlerfahrene Gefängnisbeamte zuweilen zum besten gab.

»Man sagt doch, der Ermordete habe keine Feinde gehabt, und ebenso, daß auch nicht eine Stecknadel entwendet worden sei«, bemerkte ein kleiner, lebhafter Herr, der sich an Klaus förmlich herangedrängt hatte und der, nach seinen früheren Bemerkungen zu schließen, irgendeiner auswärtigen Zeitung anzugehören schien.

Klaus sah ihn sehr von oben her an. Er mochte lebhafte Leute nicht recht leiden, vielleicht weil er selber so schweigsam und zugeknöpft war.

»Was wissen denn die Herren, die das schrieben«, entgegnete er wegwerfend. »Denken Sie doch nach. Gibt es auch nur einen Polizeibeamten, der keine Feinde hätte?«

Peter Klaus sah bei diesen Worten nicht auf den, zu welchem er sprach, er schaute zerstreut, so schien es, vor sich hin. Es war so seine Art. Plötzlich aber wurden seine Miene, seine Blicke nachdenklich, dann gespannt, und seine Wangen sichtlich ein wenig blasser. Er war in Lauschen versunken.

Das dauerte jedoch nur eine Viertelminute – dann teilte er mit starken Armen rücksichtslos den Kreis der ihn Umstehenden und ging, ja eilte einer fernstehenden Gruppe zu, die, ihm entgegenkommend, eben ihren Platz dicht vor dem Hause des Mordes verließ.

»Verdammt!« murmelte Herr Klaus. »Wohin ist er gekommen?«

Der, welchen er einige Augenblicke lang gesehen, deutlich gesehen, der schlanke Mann, dessen scheues, hageres, dunkles Antlitz ihm zugewendet gewesen, dessen glimmendes Auge dem seinigen begegnet – der war verschwunden.

Peter Klaus trat an das Gitterpförtchen heran, das den dichtbepflanzten Vorgarten des Wernerschen Hauses gegen die Straße hin verwahrte – es war verschlossen; er sah nach rechts und links – es war nirgends eine Nische, ein Versteck, dahinter sich der so plötzlich Verschwundene verbergen konnte. Hier, an ihrem stadtfernen Ende, schloß die Mariengasse mit hocheingezäunten Gärten ab – sie bildete eine schnurgerade Linie, die noch eine ziemlich lange Strecke fortlief, jedenfalls so weit, daß sie ein Flüchtender im Zeitraum von wenigen Sekunden nicht hätte zurücklegen können, um die verbergende Ecke zu gewinnen.

Peter Klaus schüttelte den Kopf, und nachher tat er noch etwas: Er machte kehrt und ging, sich um niemanden und nichts mehr kümmernd, gegen den Mittelpunkt der Stadt zu.

Er durchschritt einige öde Gassen. Plötzlich blieb er stehen und schlug sich vor die Stirn. Es war, als ob er sich wieder zurückwenden wollte – aber er tat es nicht, er schritt nur noch rascher vorwärts; endlich stand er vor dem Polizeigebäude.

Es war so recht ein Haus, das zu Peter Klaus oder vielmehr zu welchem er paßte. Groß, massig, düster, mit einem gewissen mürrischen Ausdruck. In dieses Haus trat er. Doch nicht dessen Hintergründe, seinen eigentlichen Amtsort, suchte er auf. Er warf nur einen scharfen Blick dahin, als er durch die schon fast dunkle Einfahrt ging, und dann erstieg er rasch die breite Treppe, die zu den Zimmern der amtierenden Kommissare führte.

In eines derselben trat er, nachdem er geklopft hatte, ein.

Ein dicker alter Herr, der mehr einem Lebemann als einem Hüter der Gerechtigkeit glich, schaute von dem Buch, darin er gelesen, auf. Er legte das Buch vor sich hin, als er den Eintretenden erkannte. Das Buch war ein Leihbibliotheksband. Es mußte dem gemütlichen Herrn über die Zeit hinweghelfen. Zu tun gab es ja um diese Stunde wenig oder nichts.

Deshalb war es dem Kommissar eben recht, daß Klaus gekommen war, denn der kam nur, wenn er wirklich Hörenswertes zu vermelden hatte.

»Guten Tag, Herr Kommissar!« sagte er mit seiner harten, lauten Stimme.

»Guten Abend, lieber Klaus«, gab dieser zurück. »Was führt Sie zu mir? Der Dienst?«

Der alte Gefängniswärter dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er unsicher: »Ich weiß nicht, ob ich sagen darf, daß ich dienstlich komme – aber eines weiß ich, Herr von Lautern, ich werde alt.«

Herr von Lautern schaute überrascht auf; so kläglich, so tragisch hatte das geklungen.

Es war auch nur eine private Mitteilung, das zeigte des dienststrengen Gefängnisaufsehers Anrede.

Der freundliche Mann war fast gerührt. Er deutete auf den nächsten Stuhl, darauf sich Klaus ehrerbietig niederließ, indessen Herr von Lautern seufzend sagte: »Mein lieber Klaus, wir alle werden alt, und jeder von uns spürt es. Nur gut, wenn der Dienst nicht darunter leidet, und – der Ihrige leidet ja nicht unter Ihrem Altwerden.«

Das war ein wohlverdientes Kompliment, aber Klaus achtete nicht darauf.

»Sie waren im Jahre achtzehnhundertsechzig noch nicht hier«, sagte er wieder in seiner scheinbaren Zerstreutheit, die nur Nachdenklichkeit war.

Herr von Lautern ergriff einen Bleistift und klopfte damit auf seinen linken Handteller. Er war so lebhaft; er konnte nur zuhören, wenn er mit irgend etwas mechanisch beschäftigt war.

»Nein, damals amtierte ich in L.«, sagte er, und Klaus fuhr fort: »Aber Herr Werner war hier und ich und noch einer, den ich heute wiedergesehen habe.«

Herr von Lautern spielte noch immer mit seinem Bleistift.

»Die Zeitung sagt und die Leute glauben, daß der gute Herr Werner keine Feinde gehabt, und doch – mindestens einen hatte er. Werners Tüchtigkeit war es geglückt, einem gefährlichen Einbrecher auf die Spur zu kommen, er selber, er allein hatte ihn dingfest gemacht und mit Hilfe einiger zufällig hinzugekommener Menschen hierhergebracht. Der Mann, er heißt Josef Holzer, wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und schwor, ich allein hab's gehört, schreckliche Rache an Werner zu nehmen. – Das war vor zehn Jahren und drei Monaten. Josef Holzer ist wieder frei, und heute – habe ich ihn vor dem Hause Werners gesehen.«

Herr von Lautern hatte seinen Bleistift auf den Tisch gelegt.

»Und Sie haben ihn nicht anhalten können?« fragte er langsam, ruhig, freundlich. Er wußte ja, daß er einen pflichttreuen Beamten vor sich hatte.

»Nein, ich habe ihn nicht anhalten können; ich sagte es ja, ich werde alt. – Kaum hatte ich ihn erblickt, eilte ich auf ihn zu. Er stand nicht allein. Ein Dutzend anderer Neugieriger deckte ihn, und plötzlich war er verschwunden, wie von der Erde verschlungen. Nirgends war ein Versteck, ein Ausweg. Der Wernersche Vorgarten war verschlossen. Ich eilte hierher. Auf halbem Wege fiel mir erst ein, daß Holzer ganz gut in den offenen Garten hatte flüchten können, daß er selbst vielleicht erst die Gittertür verschlossen und verriegelt hat. Natürlich hätte ein Umkehren nichts mehr genützt – da habe ich denn meinen Weg fortgesetzt und habe nun gemeldet, was zu melden war.«

Peter Klaus ließ den Kopf sinken. Er schämte sich – das zeigte nicht nur sein ganzes Wesen, das zeigte auch das dunkle Rot, welches während seines Bekenntnisses in sein altes Gesicht gestiegen war.

Der Kommissar war aufgestanden und hatte die feine, weiße Hand auf Klaus' Schulter gelegt.

»Machen Sie sich nichts daraus«, sagte er gütig, »derlei passiert jedem einmal. Und hoffentlich wird dieser Holzer zu finden sein. Was Sie mir sagten, bleibt Amtsgeheimnis. Ich will sofort zu unserem Chef gehen. Heute noch wird alles mögliche veranlaßt werden, um den vielleicht Schuldigen aufzugreifen.«

Nach diesen Worten griff Herr von Lautern zu seiner Dienstmütze, und beide verließen den inzwischen fast dunkel gewordenen Raum.

»Den vielleicht Schuldigen!« murmelte Peter Klaus höhnisch, als er dem Gefängnis zuschritt. Er hatte es im Umgang mit seinen Pfleglingen verlernt, gut von den Menschen zu denken – einem Häftling aber traute er überhaupt nur das Allerschlimmste zu.

Das Haus des Ermordeten lag, wie schon erwähnt, an einem der beiden Stadtenden. Die Mariengasse wurde meist von wohlhabenden, ruheliebenden Leuten bewohnt. Jedes ihrer Häuser besaß einen Garten. Vor dem des pensionierten Polizeibeamten Werner lag noch ein dicht und sorgfältig bepflanzter Vorgarten. Der einstöckige freundliche Bau war überhaupt nach allen Seiten hin frei, denn auch rechts und links davon zog sich der Garten hin, welcher, ohne bedeutende Tiefe, an einer düsteren, wenig benutzten Promenade endete.

Ein hohes Eisengitter faßte ihn dort ein, ein ebensolches – aber mit einem Türchen versehen – schloß Haus und Garten nach der Mariengasse zu ab. Links grenzte an den Wernerschen Besitz ein großes, eingezäuntes Grundstück, darauf nichts als ein von einer Strauchwildnis umgebener Schuppen stand, ein Rest der Ländlichkeit, die noch vor kaum einem Jahrzehnt überall hierherum geherrscht hatte.

Das Haus, darin der Mord geschehen, war in Hufeisenform erbaut, an eine achtfenstrige Front schlossen sich nach dem Garten zu zwei kleine Seitenflügel.

Als Herr Werner sich vom Amt zurückgezogen und das Haus gekauft hatte, lief um dessen Innenseite ein anmutiger offener Gang, den er teils aufmauern, teils verglasen ließ und der sich nun als ein eleganter, erkerähnlicher Anbau präsentierte, in welchem der kunstsinnige Hagestolz die größeren Stücke seiner Kunst- und Altertümersammlung untergebracht hatte.

Eine Stiege führte zu dem Gang empor, auf welchen Frau Thereses, der Wirtschafterin, Zimmer mündete.

An dieses Gelaß schloß sich ein Zimmer an, darin Rudolf Werner, der Neffe des Ermordeten, schlief. An dieses Schlafgemach reihte sich ein anderes Zimmer, das dem Neffen als Wohnraum diente. Dann folgten noch drei Zimmer, denen sich zwei im entgegengesetzten Flügel anschlossen. In diesen letzteren arbeitete und wohnte der ruheliebende Pensionär.

Im Erdgeschoß lagen die Küche und die sonstigen Wirtschaftsräume sowie das Zimmer, welches der Gärtner bewohnte.

Der Gärtner, Niklas Palm, war ein braver, aber etwas stupider Mensch, der den Fehler hatte, fast taub zu sein.

Wenn wir noch Frau Thereses Ami, den zierlichen Rattler, erwähnen, dann haben wir aller Lebewesen gedacht, für welche die Großmut und Gemütlichkeit des nunmehr auf so schreckliche Weise aus dem Leben geschiedenen Mannes sorgten.

Rudolf Werner, welcher in einem der Ämter der Stadt praktizierte, war ein gemütvoller, kluger junger Mann, der seinen Onkel, welcher für ihn, den seit frühester Kindheit Verwaisten, gleich einem Vater gesorgt hatte, fast abgöttisch liebte. Ein wenig schwärmerisch und weich veranlagt, lebte der kaum Zwanzigjährige nur seiner Geige und den Idealen, die er sich selbst geschaffen, und als er, durch die gräßliche, geheimnisvolle Tat, die da geschehen, schier urplötzlich an die häßlichsten Seiten des Lebens erinnert wurde, war er dem Wahnsinn nahe.

Therese hatte den Nichtstuenden an jenem Sonntag gegen neun Uhr morgens berichtet, daß der Herr, ganz gegen seine Gewohnheit, noch nicht aufgestanden sei.

»Wollen Sie nicht hinübergehen, Herr Rudolf? Mir ist so bange. Der Herr war gestern ein wenig unwohl, hatte Atembeschwerden, und da ließ es mir schon die Nacht über keine Ruhe. Ich horchte an der Tür. Aber freilich – aus dem Schlafzimmer dringt ja doch kein Laut heraus.«

So hatte sie zu dem jungen Mann gesagt. Da war auch Rudolf unruhig geworden, hatte die Geige hingelegt und war ihr voran nach des Onkels Zimmer gegangen.

»Ich will hoffen, daß Ihre Furcht grundlos ist«, sagte er dabei, aber seine Stimme war unsicher und sein Auge ängstlich, und er hätte ganz gut sagen können »unsere Furcht«.

Nur seines Onkels Arbeitszimmer hatte eine Tür nach dem Gang hin, das Schlafzimmer mündete in den Arbeitsraum. An dessen Tür, sie war des Nachts stets gesperrt, pochte nun Rudolf, pochte mehrere Male, immer rascher, immer lauter, und sein Herz, sein gutes, fast noch kindlich weiches Herz, es pochte schier zum Zerspringen mit.

»Onkel«, rief er, »Onkel!«

Was ihm antwortete, war nichts als angsterzeugende Stille. Therese, die heitere, kräftige Frau, lehnte sich blaß und zitternd an die Wand, ihre Knie zitterten.

»Mein Gott! Mein Gott!« murmelte sie ein über das andere Mal. Und nun wendete sich Rudolf zu ihr.

»Eine Hacke«, sagte er ruhig – aber er war bleich dabei, erbarmungswürdig bleich.

Und da sie ihn ansah, zitterte sie plötzlich nicht mehr, sie flog den Gang entlang, die Treppe hinunter, um zu holen, was er begehrte.

Aber wie sehr sie auch eilte, ihm schien es eine Ewigkeit, bis sie wiederkam.

Mit der Kraft eines Verzweifelnden schüttelte, er an der Tür, sie gab nicht nach ... Endlich, endlich kam Therese und reichte ihm die Hacke. Im nächsten Augenblick krachte die Tür, flogen die Splitter – traten die beiden ein.

Das Arbeitszimmer hatte nur ein Fenster, dessen Laden halb geschlossen war; dennoch fiel genug Licht ein, daß die Eindringenden sehen konnten.

Zu gleicher Zeit eilten sie nach dem Schlafzimmer. Es war dunkel, denn es drang nur so viel Licht herein, als durch die offene Tür fiel.

Rudolf stieß einen der Fensterladen zurück. Da tönte ein dumpfer Angstlaut von der Tür her. Rudolf hörte auch, daß Frau Therese auf die Knie sank. Auch die seinen zitterten. Langsam, wie widerwillig drehte er sich dem Bett zu, auf dem, er fühlte es in jedem Nerv, etwas Entsetzliches zu sehen war. Und nun fielen seine Blicke auf das Bett: auf einen Toten – auf einen Ermordeten, dessen Blut das weiße Bettzeug grausig färbte.

»Onkel!« schrie qualvoll der junge Mensch auf und flog auf das Bett zu. »Onkel!« seufzte er noch einmal und sank dann halb ohnmächtig neben dem Lager nieder.

Therese, die sonst couragierte Frau, die ja Schreckliches erwartete, der aber das weit Entsetzlichere, das sie gefunden, fast den Geist verwirrte – schauerte zusammen, dann raffte sie sich auf und floh aus dem Zimmer.

Unsägliches Grauen hatte sie ergriffen; aber ihre Verwirrung war nur von kurzer Dauer. Nein, sie wollte nicht fortgehen, wollte den armen jungen Herrn nicht verlassen; aber Hilfe wollte sie holen, und allein wollte sie nicht bleiben. Sie eilte zum einzigen Fenster der Arbeitsstube, ließ es auf und rief Palm, der eben die Rosenbäume mit Stroh verband. So gellend, so angstvoll rief sie ihn an, daß selbst er, der fast taube Mann, sofort aufblickte. In der nächsten Minute wußte er schon, was geschehen, und auch er erstarrte fast vor grausiger Überraschung.

Eine Stunde später war schon die Gerichtskommission da. Der Arzt konstatierte, daß ein von fremder Hand geführter, überaus kräftiger Stoß mit einem dolchartigen Instrument das Ableben Werners verursacht habe und daß der Tod schon vor Stunden erfolgt sein müsse. Sonst wurde eigentlich nichts konstatiert.

Rätselhaft blieb es, auf welchem Weg der Mörder gekommen sei und auf welchem er das Haus verlassen habe. Den Gang hatte Therese auch an jenem Sonnabend, wie allabendlich, von innen abgesperrt und ihn ebenso am Morgen vorgefunden. Überdies steckte ja der Schlüssel, mit welchem sich der Ermordete gegen seine Hausgenossen abzusperren pflegte (eine alte Gewohnheit, die mit Argwohn nichts zu tun hatte), noch von innen in dem Schloß der zertrümmerten Tür.

Die beiden Fenster der Schlafstube sowie das des Arbeitszimmers waren wohlverschlossen gewesen, als man den Toten auffand. Woher also war der Täter gekommen? Auf welchem Weg war er geflüchtet? Und warum hatte er gemordet? Es fehlte nichts von den Effekten des Toten, und Feinde hatte er nicht gehabt!

Man stand vor einem Rätsel.

Rudolf war in Gefahr, diesem Rätsel zum Opfer zu fallen. Ein Nervenfieber hatte ihn an den Rand des Grabes gebracht. Er war so recht der junge Mann der Jetztzeit: Er war sensibel wie eine Dame. Das anstrengende Studium, der harte Bürodienst, die aufregenden Musikübungen hatten ihn so gemacht. Seit Tagen war er erst auf dem Wege der Besserung. Das Haus in der Mariengasse war nun noch stiller als sonst. Nur der Arzt ging dort aus und ein.

Eines Abends läutete es am Gittertor. Es dunkelte schon. Therese ging zu Palm hinunter und hieß ihn nachsehen, wer Einlaß wolle. Sie war schreckhaft geworden, die geängstigte Frau, schreckhaft und vorsichtig.

Palm kam mit einem dicken kleinen Herrn an das Haus heran. Der Herr grüßte artig. Dabei kam sein blondes Haupthaar zum Vorschein. Seine Augen konnte man nicht deutlich sehen, denn er trug eine rauchgraue Brille, aber diese Augen schienen dunkel, ja schwarz zu sein; so glaubte Frau Therese zu sehen, welche dem Fremden mit ihrer Laterne ins Gesicht leuchtete.

»Was wünschen Sie?« fragte sie.

»Kann ich Herrn Rudolf Werner sprechen?« fragte er zurück.

»Er ist krank.«

»Ich weiß es, aber er ist, das weiß ich auch, nun bei klarem Bewußtsein und genügend kräftig, um über etwas, das er selbst herbeiwünschen muß, sprechen zu können.«

»Das wäre?« fragte erstaunt die Wirtschafterin.

»Ich möchte es ihm selber sagen.«

»Auf alle Falle kann ich Sie nicht zu dem Kranken lassen«, entgegnete Therese bestimmt, und das leuchtete dem fremden Herrn ein.

»Kann ich Sie allein sprechen?« meinte er, mit einem Blick auf den daneben stehenden Gärtner.

Die Frau wurde ungeduldig. »Er ist taub, Sie können reden«, sagte sie rasch.

»Es handelt sich um die Auffindung des Mörders«, flüsterte er ihr dennoch leise zu. Er hatte sie dabei scharf beobachtet. Hatte er etwa einen Verdacht gegen sie? Hatte er erwartet, daß sie erschrecken werde? Sie sah ihn nur überrascht an.

»Kommen Sie!« sagte sie dann nach kurzer Überlegung und ging ihm voran, die Stiege hinauf. Auf der dritten Stufe aber wendete sie sich Palm zu und winkte ihm, ihr zu folgen. Es mochte ihr doch unheimlich sein, allein mit dem Fremden hinaufzugehen. Ein unmerkliches Lächeln zuckte um die Lippen des blonden Mannes. Seine Augen huschten blitzschnell, aber auch mit Falkenschärfe über jeden Gegenstand, an welchem er vorüberkam und welchen das matte Licht der Laterne traf, er nahm schon auf der Treppe den Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar – oder drückte er es vielleicht nieder? Wollte er sich vielleicht nur überzeugen, ob es auf der rechten Stelle war?

»Warten Sie hier«, bat Therese und wies dem Fremden einen Stuhl im Gang an. Palm machte sich in seiner Nähe an einem Blumentischchen zu schaffen. Er pflückte welke Blätter ab, die nicht da waren, und richtete Stiele auf, die ohnehin vollsaftig nach oben wuchsen. Auch das bemerkte der blonde Herr und lächelte bitter. Wer ihn beobachtet hätte, hätte es ganz deutlich sehen können und hätte noch anderes gewahren müssen. Wie früher auf der Stiege, so untersuchten auch jetzt in dem hell erleuchteten Gang seine scharfen Augen jeden Winkel, jedes Gerät, jede Zierform.

Nach etwa zehn Minuten kam die Wirtschafterin zurück.

»Treten Sie ein«, sagte sie, und er trat ein. Er blieb etwa eine halbe Stunde allein bei dem Kranken, bei dem kaum erst Genesenden, dann wurde geklingelt, und Frau Therese, die unterdessen, voll von unterdrückter Aufregung, im Gang auf und ab gegangen war, betrat das Zimmer, in dem Herr Rudolf lag.

Der dicke blonde Herr saß im vollen Schein der Lampe am Fußende des Bettes in dem Sessel, den sie ihm dort hingestellt. Er sah völlig ruhig aus. Nicht so Rudolf, dessen abgezehrtes Gesicht von einer Röte überhaucht war.

»Liebe Therese, führen Sie diesen Herrn überall dorthin, wohin er begehrt. Beantworten Sie ohne Scheu jede seiner Fragen. Er will sich unserer Sache annehmen. Er ist Geheimpolizist, Schmid mit Namen. Unsere Polizei hat nichts entdecken können, vielleicht gelingt es ihm, unseren lieben Toten zu rächen. Dazu bedarf es aber vor allem der tiefsten Verschwiegenheit. Niemand darf ahnen, daß Herr Schmid die Untersuchung aufgenommen hat.«

Erschöpft schwieg der junge Mann. Herr Schmid erhob sich, nahm langsam einige Papiere an sich, welche vor Rudolf auf der Decke lagen und die vermutlich seine Person legitimierten, legte sie sorgfältig in seine Brieftasche und sagte: »So kann ich also gleich beginnen?«

»Ich bitte Sie darum«, erwiderte der Kranke und reichte ihm die Hand. Schmid ergriff sie, zögernd, wie Therese zu gewahren meinte, verneigte sich und ging aus dem Zimmer. Die Frau folgte ihm nicht sogleich. Sie machte sich an den Kissen des Bettes zu schaffen und flüsterte Rudolf zu: »Darf man dem Menschen auch trauen?«

»Sicherlich. Er nimmt diese Untersuchung aus Gründen des Ehrgeizes auf.«

»Warum aber kommt er so bei Nacht und Nebel?«

»Weil unsere Polizei es gewiß nicht gern sehen würde, daß ein anderer etwas entdeckt, was ihr verborgen blieb, obwohl sie an Ort und Stelle war, als das Verbrechen verübt wurde.«

»Sie meinen also nun, daß man ihn nicht unterstützen würde?«

»Man würde ihn eher hindern. Jetzt aber tun Sie, was ich Ihnen sagte. Wir beide werden ja doch erst Ruhe finden, wenn das Verbrechen gesühnt ist.«

Sie ging. Im Gang draußen stand Herr Schmid und besah aufmerksam die alten Uhren, welche, merkwürdige Erzeugnisse vergangener Jahrhunderte, die Borde zierten.

»Ich hole eine Lampe«, sagte die Frau, an ihm vorübergehend, und verschwand an der Biegung des Ganges. Sie hatte Palm ein Zeichen gegeben, und auch er ging. Man hörte ihn geräuschvoll die Stiege hinuntergehen, dann den Sand der Gartenwege unter seinen Tritten knirschen, eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Der blonde Herr tat einen tiefen Atemzug, und seine Augen glühten düster, als er leise murmelte: »Wenn es mir nur gelänge!«

Einige Augenblicke später kam Therese mit einer angezündeten Lampe und einem Schlüssel zurück. Ein zierliches Hündchen folgte ihr, es sprang mit lautem Gekläffe an dem Fremden hinauf.

Er beachtete den Hund nicht.

Schweigend folgte er seiner Führerin an das andere Ende des Ganges. Vor einer weißlackierten, frischglänzenden Tür blieb sie stehen.

»Bitte sperren Sie auf«, sagte sie nach kurzem Zögern.

Es mochte ihr recht unangenehm sein, jetzt, in dieser lautlosen Abendstunde die Räume zu betreten, in denen so Schreckliches geschehen war.

»Das ist eine neue Tür«, sagte Herr Schmid.

»Ja – die alte hat Herr Rudolf, als er sie mit Gewalt öffnete, zersprengt, und offen konnten wir natürlich diese Zimmer nicht lassen.«

»Sie haben beide die Tür versperrt gefunden, wie ich hörte?«

»So ist's.«

»Mit einem Riegel verschlossen?«

»Nein, der Schlüssel war zugedreht. Die Tür hatte keinen Riegel.«

Schmid sperrte auf, er öffnete die Tür. Sie traten ein. Frau Therese stellte die Lampe auf eine alte Kommode. Der ganze, kleine Raum war hell erleuchtet.

»Dies war Herrn Werners Arbeitszimmer?«

Herr Schmid hätte gar nicht so zu fragen brauchen, denn es zeigten sich ja, wohin man sah, die Spuren davon, daß in diesem Zimmer die kleinen Liebhaberarbeiten des Pensionärs verrichtet worden waren. Eine kleine Drehbank, ein mit allerlei Handwerkszeug gefülltes Kästchen standen an der einen Wand. Lacktöpfchen und Pinsel ließen darauf schließen, daß er selber allerlei Reparaturen im Hause besorgte, und ein großer, mit Linealen, Maßen, Zirkeln, Papieren, Metallbestandteilen und Lupen beladener Tisch, der dicht neben dem Fenster stand und über welchem eine Lampe hing, bewies, daß der Gemordete sicherlich hier reichlich beschäftigt gewesen.

»Herr Werner liebte Altertümer!« bemerkte der blonde Herr, indessen er seine alles sehenden Augen über die beiden großen Glasschränke gleiten ließ, in welchen die verschiedensten Erzeugnisse vergangener Kulturepochen friedlich nebeneinander aufgestellt waren.

»Ja, das ganze Haus ist voll von solch altem Kram.«

Frau Therese hatte ihres Gebieters Liebhabereien niemals verstanden, das zeigte der mitleidig verächtliche Ton ihrer Antwort.

»Und ganz besonders bevorzugte er die Uhren«, setzte Herr Schmid seine lauten Betrachtungen fort, indessen er die eine Wand überblickte, an welcher die verschiedensten Zeitmesser hingen und auf Postamenten aufgestellt waren.

Die Frau nickte nur. Herr Schmid war an das Fenster getreten. Man mußte sich förmlich durch den engen Raum zwängen, welchen der große Arbeitstisch dort frei ließ.

»Und dieses Fenster war, wie alle anderen, auch verschlossen?« fragte er, das breite, hohe Fenster genau betrachtend

»Fest verschlossen. Ich selber habe es erst geöffnet, als ich Palm heraufrief, weil ich mich fürchtete, mit dem Toten und dem Ohnmächtigen allein zu bleiben.«

»Wußten Sie denn, daß Palm – das ist ja wohl der Mann, den ich vorhin gesehen habe – unten sei?«

»Gewiß, ich hatte ihn ja bei den Rosen gesehen, als ich aus der Küche unten die Hacke holte.«

»Die Hacke?«

»Mit welcher Herr Rudolf die Tür sprengte.«

»Ah so. Und Palm hörte Ihren Ruf? Er ist doch taub?« »Nur, schwerhörig.«

Die Frau beachtete es nicht, daß er so rasch, so scharf gefragt hatte – sie mußte wohl völlig unschuldig an dem Verbrechen, also auch völlig harmlos sein.

»Also, das Fenster war geschlossen«, kam Herr Schmid wieder auf den eigentlichen Gegenstand zurück, »Sie erinnern sich dessen genau.«

»Genau – das heißt, das äußere Fenster war geschlossen, das innere nur angelehnt und ebenso auch der Laden nur angelehnt.«

»So! Nun, im Grunde ist das eins. Hinausgekommen ist der Mörder also hier nicht.«

»Ganz unmöglich.«

Herr Schmid ging auf den großen Kachelofen zu, der die Ecke zwischen den beiden Türen einnahm.

Es war keine Kaminöffnung im Zimmer.

Die Frau verstand, woran er dachte.

»Oh – auch dieser Weg war ihm genommen; weder hier noch dort drinnen ist ein Kamin.«

»Gehen wir in das andere Zimmer«, verlangte nun der Detektiv. Therese nahm die Lampe und ging voran. Er folgte ihr.

»In diesem Zimmer habe ich, nachdem die Kommission hier gewesen war und man mir die Erlaubnis dazu gegeben hatte, aufräumen lassen«, sagte die Frau leise schaudernd.

»Das versteht sich. Aber Sie können mir wohl beschreiben, wie Sie alles vorgefunden haben?«

Sie schilderte ihm, wie sie eingetreten waren und wie der erste Lichtstrahl, der durch die erst von Rudolf geöffneten Fensterladen fiel, ihnen den ermordeten Herrn gezeigt habe. Bis in die geringsten Einzelheiten ging sie, man hörte es ihrer schmerzlichen Rede an, daß sie sich nur mit tiefstem Widerwillen diese Erinnerungen zurückrief, daß sie es aber dennoch tat, weil sie hoffte, daß dadurch ihr Zuhörer vielleicht eine Spur des Mörders finden könne und ihr armer Herr so gerächt werden würde.

Scharf aufmerkend, hörte ihr Herr Schmid zu, betrachtete genau das Zimmer und alles, was es enthielt, und ließ sich alsdann wieder in die andere Stube hinausführen.

Dort stellte er zwei Stühle zurecht und lud Frau Therese ein, sich ihm gegenüberzusetzen.

Erstaunt folgte sie seiner Aufforderung.

»Und jetzt sagen Sie mir alles, was Sie über Ihren einstigen Herrn wissen«, bat er freundlich.

Beklommen kam sie auch dieser Aufforderung nach, erzählte, daß sie nun über zehn Jahre Werners Wirtschaft führe, so lange eben, als er in Pension gegangen sei und sich hier angekauft habe; sie schilderte seine Freude an der Renovierung des Hauses, und seine Güte gegen alle Welt, besonders aber gegen seinen Neffen und seine Hausgenossen, seine Freigebigkeit gegenüber den Armen und seine Gemütlichkeit im Umgang mit allen, die in sein Haus gekommen seien oder mit denen er auswärts verkehrt habe.

»Hatte er großen Verkehr?« unterbrach Schmid die etwas weitläufigen Schilderungen der Frau.

»Nicht viel, ganz besonders in letzter Zeit nicht. Er war kränklich und damit menschenscheu geworden. Er reiste nicht einmal mehr gern, was doch früher auch zu seinen Passionen gehörte.«

»Machte er große Reisen?«

»Das nicht. Er besuchte meist nur ein- oder zweimal im Jahr die Residenz, um dort Nachschau zu halten, ob es nicht etwas Interessantes zu erwerben gäbe.«

»Einen Zuwachs für seine Sammlungen, meinen Sie?«

»Ja, und wenn er etwas besonders Altes gekauft hatte, dann kam er immer fröhlich heim und lud seine Intimen ein, die es mit ihm bewundern mußten, und war es eine alte Uhr oder irgendeine andere mechanische Spielerei, dann setzte er mit Mühe und unter hundert Versuchen die natürlich längst ruinierten Dinger wieder instand und verbrachte täglich mehrere Stunden an diesem Tisch, leise pfeifend oder singend, denn er war nicht weniger musikalisch als der junge Herr. Und einmal, als er mit solch einer Arbeit gar nicht zurecht kommen konnte, nahm er sogar für ein paar Wochen einen Uhrmachergehilfen aus unserer Stadt auf, der ihm helfen mußte.«

»Soso!« machte gleichmütig Herr Schmid, »und in jüngster Zeit verkehrte er also nur mit wenigen Menschen?«

»Mit fast gar niemanden mehr. Er war, wie gesagt, kränklich und daher gern allein, nicht einmal wir sahen ihn öfter als bei den Mahlzeiten. Freilich, für seine Altertümer fand er weder bei Herrn Rudolf noch bei mir Verständnis, und wenn alte Leute nicht von ihrer Liebhaberei reden können, reden sie lieber gar nicht. Aber da fällt mir's eben ein, daß nach seinem Tode ein Herr hier war, der dringend mit Herrn Rudolf zu reden begehrte. Es handelt sich um einen Kauf oder Rückkauf oder dergleichen; ich habe es mir nicht gemerkt, denn es war eben zur Zeit, als der junge Herr im Delirium lag und meine Sorgen und Gedanken bei ihm waren.«

»Den Namen des Herrn wissen Sie nicht?«

»Ich weiß nur, daß er ein Raritätenhändler ist.«

»Aus der Residenz?«

»Es wird schon so sein. Der Tote soll ein guter Kunde von ihm gewesen sein.«

»Mit den Geschäftsleuten, die beim Umbau des Hauses hier waren, oder mit sonst irgend jemandem hat es nie einen Konflikt gegeben? Ein Zerwürfnis meine ich, das einen solchen Racheakt wahrscheinlich macht?«

»Niemals! Der Herr war ein Engel an Güte.«

»Und geraubt wurde auch nichts?«

»Nichts. Nicht eine Stecknadel.«

»Wie hieß der Uhrmachergehilfe, der hier arbeitete?« fragte der Detektiv, nach einem kleinen Gegenstand langend, der, in ein Papier eingewickelt, auf dem Werktisch lag. Es war eine Drahtspule. Ihre Umhüllung mochte Herrn Schmid auf die gestellte Frage gebracht haben, es war ein Reklamezettel, wie sie an den Straßenecken ausgegeben werden, und eine Uhr sowie der Name einer Firma hoben sich in fettem schwarzem Druck von dem gelben Papier ab. Zwischen diesem Papier und der Spule war jedoch noch ein anderes, ein weißes.

»Steiner oder Steiniger, glaube ich. Ich weiß es aber nicht bestimmt, ich habe seinen Namen nur wenige Male gehört, und es ist schon länger als zwei Jahre her, daß er hier arbeitete.«

»Hier im Hause und wohl auch hier in der Stadt?«

»Ja, beim Mechaniker Kerbler.«

»Ein Uhrmacher – bei einem Mechaniker?«

»Es war doch so, der Mensch war zu allem geschickt.«

»Wie sah der fremde Herr aus, welcher während Herrn Rudolfs Krankheit hier war?«

»Es war ein alter Mann mit fast weißem Bart. Auch kann ich mich erinnern, daß er eine Narbe auf der rechten Wange hatte. Er war groß und hager.«

Herr Schmid notierte sich einiges, dann sah er die Frau mit durchdringenden Blicken an und fragte: »Ich bitte Sie nur noch nachzudenken, ob Ihnen in der Mordnacht nichts, gar nichts aufgefallen ist. Hat sich zum Beispiel Ihr Hündchen denn gar nicht gerührt?«

»Nein, Herr ...«, sie stockte verlegen.

»Schmid«, ergänzte er ihre Ansprache.

»Schmid«, wiederholte sie, »nein, Ami lag die ganze Nacht ruhig. Er ging nicht einmal mit mir, als ich aufstand, um an des Herrn Tür zu horchen.«

»Das haben Sie getan?«

»Ich habe es immer so getan, wenn ich wußte, daß der Herr sich nicht wohl fühlte.«

»So war es an jenem, seinem Tode vorhergehenden Samstag?«

»Ja, und des Nachts erwachte ich auf einmal – ich hatte einen bösen Traum gehabt und war deshalb besorgt und unruhig. Ich nahm ein Licht und ging herüber, ich rief leise des Herrn Namen – aber er antwortete mir nicht, und so nahm ich an, daß er nicht wach, nicht leidend sei.«

»Und da gingen Sie wieder zurück?«

»Nein, das tat ich noch nicht«, sagte die Frau zögernd und wie in ein tiefes Sinnen verfallend.

Es war einen Augenblick lang still in dem Arbeitszimmer des Ermordeten.

»Was taten Sie denn?« fragte dann der Detektiv aufmerksam. Die Frau atmete tief auf.

»Warum habe ich bis heute nicht daran gedacht? Warum habe ich das den Herrn vom Gericht nicht gesagt?« fragte sie mit unverkennbar echter Verwunderung mehr sich als ihren Zuhörer.

»Was hätten Sie denn noch zu sagen gehabt?« fragte dieser, und sie fuhr fort: »Nein, ich ging nicht. Ich drückte auf die Türklinke, meine Unruhe war ja noch nicht ganz behoben durch das Unbeantwortetbleiben meines Rufes. Ich wußte, daß der Herr sich stets abschloß, dennoch drückte ich auf die Klinke, und das tat ich mit dem Gefühl, daß man mich höre. Es war mir, als wache noch einer außer mir im Hause. Aber – die Tür öffnete sich nicht, und nichts war zu hören als der Wind, der in den Bäumen sauste, und da zwang mich irgend etwas, durch das Schlüsselloch zu schauen.«

»Der Schlüssel steckte drinnen.«

»Ja, aber er war so gedreht, daß der Bart die Öffnung nicht verdeckte, und da sah ich –«

»Nun, was sahen Sie?«

Der blonde Herr hatte sich ihr erwartungsvoll entgegengebeugt.

»Ich sah – aber lachen Sie mich nicht aus – ich sah einen Schatten über das Bild meines Herrn gleiten, und der Schatten verschwand; da schaute sein Antlitz so blaß aus und schien wehevoll verzerrt zu sein – es war wohl, weil der Mond es bestrahlte –, und dann kam der Schatten wieder, und noch einmal wurde das Bild hell, und wieder verdunkelte es sich. Da packte mich die Furcht, und ich eilte nach meinem Zimmer und sperrte mich ein.«

»Zu welcher Stunde mochten Sie wohl aufgestanden sein?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und schliefen Sie wieder ein?«

»Ja – nach langem Wachen. Es werden wohl Wolken gewesen sein«, sagte Therese sinnend, ihr stilles Denken laut fortsetzend. »Nein, es waren keine Wolken«, berichtigte Herr Schmid ihre Ansicht.

»Wieso wissen Sie das?« fragte die Frau erstaunt.

»Weil ich jene Nacht im Freien zubrachte«, erwiderte er, und seine Stimme klang seltsam gepreßt dabei. Hatte er damals ein Leid erfahren, das heute noch in ihm nachwirkte? »Nein, es waren keine Wolken«, wiederholte er, und dann stand er lebhaft auf und ging wieder nach dem Fenster. Die Lampe und das Bild, das schräg hinter ihr an der Wand hing, betrachtend, sagte er plötzlich: »Liebe Frau, gehen Sie hinaus, und sehen Sie, wie damals, durch das Schlüsselloch.«

Sie tat, wie er gesagt.

Und da sah sie wieder einen Schatten über die Wand gleiten, einen harten, schwarzen Schatten, aber er verschleierte niemals das Bild in derselben Weise, wie es in jener Nacht von – jenem weichen Schatten verschleiert worden war.

»Treten Sie wieder ein«, bat sie Herr Schmid nach einer Weile.

Sie trat ein.

»War es so?« fragte er.

»Nein. Nicht einmal ähnlich«, entgegnete sie kopfschüttelnd.

Der blonde Herr lächelte ruhig.

»Übermorgen, also am sechsten November, werde ich um diese Zeit wiederkommen. Seien Sie bereit, einen Teil der Nacht zu durchwachen. Ich bin auf einer Spur. Jedenfalls werden Sie über alles schweigen, wenn Sie wollen, daß der Mörder entdeckt werde. So – und jetzt lassen Sie mich eine Weile allein.«

Sie verneigte sich und ging hinaus.

Der Mann war ja legitimiert; wie hätte sie ihm nicht vertrauen sollen?

Dennoch vertraute sie ihm nicht ganz.

Sie hieß Ami mit dem Befehl »Hüte!« sich vor Herrn Rudolfs Tür legen, wissend, daß der Hund keinen als die Hausgenossen über die Schwelle treten lassen würde, ohne mit seiner durchdringenden Stimme Hilfe herbeizurufen; dann ging sie leise die Stiege hinunter, öffnete die Tür, welche sie abschloß, und trat in den Garten hinaus.

Da konnte sie denn auch sofort Absonderliches gewahren. Auf dem Fensterbrett stand Herr Schmid und untersuchte den oberen Teil des Fensters. Sein Gesicht war hell vom Kerzenschein beleuchtet. Es drückte Überraschung aus. Er untersuchte noch eine Weile die Fensterriegel und das Windrad, welches sich in einer der obersten Scheiben befand, dann stieg er behend nieder, weit flinker, als es sein Embonpoint hätte erwarten lassen.

Frau Therese kehrte rasch in das Haus zurück. Sie kam eben dazu, wie er das Arbeitszimmer ihres Herrn verließ.

»Es hat mich doch niemand als Sie beobachtet?« sagte er gleichmütig.

Sie errötete. Er hatte sie also unten stehen sehen!

»Ich wollte nur ... Ich meinte ...«, stammelte sie.

Er aber unterbrach sie freundlich: »Sie sind eine treue Dienerin, und Sie haben mir nicht völlig vertraut; deshalb brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Und nun sagen Sie mir noch eins. Wann war Ihr Herr zum letztenmal in Wien?«

»Mitte September.«

»Hat er da irgendwelche Seltenheiten mitgebracht?«

»Das weiß ich nicht. Und auch Herr Rudolf hat wohl nichts gesehen, sonst wäre doch, wie sonst immer, davon gesprochen worden. Der Herr hat es uns übrigens auch nicht immer gesagt, wenn er Einkäufe machte, vielleicht genierte es ihn, es zuzugeben, daß er für seine Liebhabereien so viel Geld opferte.«

Herr Schmid nickte verständnisvoll und meinte: »Das kommt wohl vor.«

»O ja«, sagte sie lebhaft. »Zuweilen fanden wir irgendwo im Hause plötzlich früher noch nicht dagewesene Gegenstände, einen Helm, eine Uhr, eine Dose, die er heimlich in seine Sammlung eingereiht hatte.«

»So – und was liebte er am meisten?«

»Uhren oder mechanische Spielereien. Er dachte immer daran, etwas zu erfinden.«

Herr Schmid sann eine Weile nach, dann griff er nach seinem Hut und sagte: »Übermorgen komme ich wieder, nicht vor halb zehn Uhr nachts.«

»Weiß Herr Rudolf davon?«

»Sie werden es ihm sagen. Er wird nichts dagegen haben, denn er hat mir ja das Haus zur Verfügung gestellt. Jetzt habe ich ihm doch nichts Wichtiges zu sagen; auch scheint er mir noch sehr krank, daher will ich ihn heute nicht mehr stören.«

Herr Schmid verbeugte sich kurz und verließ rasch das Haus. Therese vermochte ihm kaum zu folgen.

Sie bemerkte, daß er, ehe er auf die Straße hinaustrat, scharf hinaushorchte und den Weg hinauf und hinunter schaute, ehe er das Vorgärtchen verließ.

Er wollte offenbar nicht gesehen werden.

»Nein, es ist niemand da!« murmelte er endlich, dann trat er rasch hinaus.

In der nächsten Sekunde schon war er verschwunden. Es war, um mit dem wackeren Peter Klaus zu reden, als ob ihn der Erdboden verschlungen hätte.

Er hatte nichts als ein Stückchen Papier aus dem Wernerschen Hause mitgenommen, dasselbe weiße Stückchen Papier, in das die Drahtspule gewickelt gewesen.

Es war das letzte Blatt eines Briefes.

Seine eine Seite zeigte sich leer, auf der anderen standen nur wenige Schlußzeilen:

 

»... größte Seltenheit. Also sehen Sie sich die Dinger an.

Hochachtungsvoll

R. Ackermann
Wien, am 9. 9. ...«

 

Das stand auf dem zerknitterten Zettel, den Herr Schmid, ehe er das Zimmer verließ, sorgfaltig in sein Notizbuch legte.

»Am neunten September«, murmelte er und setzte gedankenvoll hinzu: »Und am zehnten Oktober hat man Herrn Werner ermordet gefunden.«

Das »Übermorgen« war zum »Heute« geworden.

Man hatte im Hause des Ermordeten bis dahin nichts von dem blonden, dicken Herrn gesehen, der so behend vom Fenster geglitten war und dessen dunkle Augenbrauen so seltsam von seinem hellen Kopfhaar abstachen.

Herr Rudolf befand sich in wachsender Aufregung.

Therese fand, seit der Fremde dagewesen, nirgends Rast noch Ruhe. Palm, der nichts gehört und nichts verstanden, arbeitete ruhig weiter, nur einmal fand ihn Frau Therese sinnend über den Rechen gelehnt, mit dem er das welke Laub zusammenscharrte.

»Woran denken Sie?« rief sie ihm ins Ohr.

Er fuhr auf. »Wird's denn niemals entdeckt werden?« sagte er dann schier ungeduldig. Sie wußte wohl, was er meinte. Lag es doch auch ihr wie ein Druck auf der Seele, daß der Mörder noch immer nicht entdeckt war. Die Polizei forschte freilich noch immer gewissenhaft nach dem Täter, aber sie hatte bisher nichts gefunden, und inzwischen flüsterten sich die lieben Nachbarn allerlei Gerüchte zu von gierigen Erben und untreuen Dienern und häuslichen Verbrechen.

Es war nur gut, daß der überspannte junge Mensch nichts davon wußte. Palm und sie, so dachte Frau Therese in ihrer ehernen Rechtschaffenheit, konnten den ebenso fürchterlichen wie albernen Klatsch ertragen.

Sie hatte nun Palm leider nicht mit Herrn Schmid trösten können – sie aber setzte in diesen das vollste Vertrauen. Sein Ehrgeiz trieb ihn, in dieses Geheimnis einzudringen – gut, es war ja gleichgültig, was ihn trieb, wenn er nur Erfolg hatte; dann wurde es wieder licht in diesem Hause, so licht wenigstens, als es in Räumen wieder werden kann, in denen so Gräßliches vorgegangen ist.

Palm war bereits zur Ruhe gegangen. An Rudolfs Lager stand die treue Alte.

Beide lauschten in die Nacht hinaus. Da schlug es laut zehn Uhr.

In demselben Augenblick klingelte es unten.

»Er kommt«, sagte der junge Mann.

»Er kommt«, sagte auch die alte Frau, und beide erbebten.

Eine Minute später führte sie Herrn Schmid an Rudolfs Lager. Herr Schmid sah heiter aus, aber auch müde, sehr müde.

»Haben Sie letzthin etwas entdecken können?« fragte Rudolf.

»So wenig, daß es nicht der Mühe wert war, es zu berichten. Auch wollte ich Sie nicht stören. Sie sahen so leidend aus, als ich ging. Nun habe ich aber eine Frage. Besaß Ihr Herr Onkel in allerletzter Zeit eine kleine Standuhr, das Gehäuse aus Messing und Elfenbein gefertigt?«

»Ich kann mich nicht entsinnen, eine solche Uhr jemals gesehen zu haben«, erwiderte kopfschüttelnd der junge Mann.

»Die Uhr hat die Form einer Kapelle.«

»Haben Sie eine derartige Uhr jemals im Besitz meines Onkels gesehen?« wendete sich Rudolf an die aufmerksam hinhorchende Wirtschafterin.

»Nein«, sagte sie fest.

»Wie gesagt, die Uhr könnte erst seit – nun, sagen wir, seit dem zwölften September im Besitz des Verstorbenen gewesen sein«, wiederholte Herr Schmid.

»Immerhin möglich. Er war uns ja über seine Einkäufe keine Rechenschaft schuldig«, meinte Rudolf. Ähnliches hatte auch die alte Frau schon gesagt. Das fiel Herrn Schmid auf, aber er begriff des alten Mannes Schwäche und fand durchaus nichts Verwunderliches daran. Nun wendete sich Rudolf an Therese.

»Wenn Herr Schmid es für nötig findet, sperren Sie ihm jeden der Kästen auf.«

»Ich finde es für nötig.«

»Sie glauben ...«

»Ich glaube nicht mehr – ich ... doch gleichviel, es handelt sich doch um Beweise. Bitte, werte Frau, kommen Sie.«

Der Kranke sah ihnen ungeduldig nach. Es tat ihm bitter weh, daß er so tatenlos hier liegen mußte.

»Palm schläft?« fragte Herr Schmid, als sie draußen standen.

»Er schläft.«

»Gibt es im Garten unten eine Leiter?«

»Ja.«

»Bitte, zeigen Sie sie mir.«

Sie gingen in den Garten.

Sie brauchten keine Laterne mitzunehmen, denn der Mond war bereits über die Baumwipfel gestiegen und beleuchtete die schmalen Wege.

»Hier ist sie«, sagte Therese, als man vor der Leiter stand.

Sie hing waagerecht auf zwei Haken, welche in den Zaun geschlagen waren, der den Wernerschen Garten von dem nachbarlichen Besitz trennte.

»Haben Sie nur diese eine Leiter?« fragte Herr Schmid.

»Im Schuppen drüben ist noch eine, eine kürzere.«

»Helfen Sie mir, einstweilen diese zum Hause zu bringen«, sagte er, nachdem er sie mit den Blicken gemessen.

Sie staunte nicht mehr. Sie tat schweigend, was er begehrte.

»Ah«, machte er, als sie die Leiter abhoben, »die ist aber leicht!«

Ja, sie war leicht, viel leichter, als sie aussah, es konnte sie recht gut ein einzelner Mensch tragen.

Er trug sie auch allein, nachdem er seiner Führerin gedankt, bis an das Haus. Er hatte wohl früher, ehe er die Leiter von ihrem Aufbewahrungsort genommen, sie selber und alles, was sich in ihrer Nähe befand, genau betrachtet – aber er hatte nichts entdecken können, was darauf schließen ließ, daß sie in jener Mordnacht benutzt worden sei.

Das war nichts weniger als verwunderlich, war doch ein Monat seither verstrichen, und Regen und Stürme – wie solche seither stattgefunden –, die verwischen jede Spur.

Schmid machte sich darüber keine Gedanken, ihm schien es genug zu sein, daß die Leiter wie eigens dazu angepaßt bis über das erste Stockwerk reichte und daß sie fest und sicher anzulegen war, weil ihre unteren, spitzigen, eisenbeschlagenen Enden sich zwischen die Fugen des Trottoirs, welches das ganze Haus umgab, zwängten.

Dicht neben dem Fenster des Arbeitszimmers legte er die Leiter an. Sie endete ein wenig oberhalb des Windrades, welches in der obersten rechten Scheibe angebracht war.

»Stimmt«, sagte Herr Schmid ruhig und setzte hinzu: »Und nun die andere Leiter.«

Man holte die andere Leiter. Sie reichte nur knapp bis unter das Fenster. Auch sie fand mit ihren eisenbeschlagenen Spitzen sofort einen festen Standpunkt.

»Stimmt!«, sagte abermals Herr Schmid, und dann wendete er sich zu der nun doch ein wenig verwundert dreinschauenden Therese.

»Pflegte Ihr Herr die inneren Fenster offenzulassen?« fragte er, und die Frau antwortete lebhaft: »Ja, denn nur im äußeren befindet sich das Windrad, und er bedurfte stets ein wenig frischer Luft sowie ein wenig Licht; deshalb wurden die inneren Fenster sowie der Holzladen stets nur zur Hälfte angelehnt.«

»Sie sind auch heute nur zugelehnt?« fragte Herr Schmid, nachdem er vergeblich hinter die im Mondlicht blitzenden Scheiben zu schauen versucht.

»Sie sind so, wie Sie, mein Herr, dieselben gelassen haben. Ich betrat das Zimmer seither nicht mehr.«

»Gut. Jetzt aber müssen Sie mir den Gefallen tun, es zu betreten, und zwar ohne Licht.«

Die Frau zögerte.

»Sie fürchten sich?« fragte er mit leichtem Spott und setzte dann freundlich fort: »Es gilt, einen Nachweis zu liefern, der uns viel, sehr viel verraten kann.«

»Ich gehe«, entgegnete die Frau, und – sie ging.

Um in das Arbeitszimmer ihres Herrn gelangen zu können, mußte sie aus ihrem eigenen die Schlüssel zu jenem holen. Sie tat es, dann ging sie zögernd über den Gang. Er war voll bläulichen Lichts, das durch seine vielen Fenster fiel, und voll schwarzer Schatten, welche die Mauerpfeiler warfen, und dazu glitzerten die Schuppen an den Rüstungen und die Glasaugen in den Köpfen der ausgestopften Vögel.

Es wurde Frau Therese recht schauerlich zumute, aber im Grunde war sie doch eine mutige Frau – sie drängte also das unheimliche Gefühl, das sie beschlich, zurück, ging rasch um die Gangecke, trat auf die Tür zu und steckte den Schlüssel in das Schloß, und dann – dann stand sie zitternd und lauschend still. Im Zimmer drinnen ging einer.

»Nun, kommen Sie doch!« sagte nach einer Weile Herrn Schmids Stimme, und da faßte sie sich. Natürlich! Der Detektiv war es, der mittels der Leitern in das Zimmer gestiegen. Aber, sie hatte keine Scheibe klirren hören. Wie war er durch das geschlossene Fenster gekommen?

Das fuhr ihr blitzschnell durch den Sinn; da sagte Schmid noch einmal: »Kommen Sie herein«, und nun kam sie.

Er stand jetzt mitten im Zimmer, und er sah zufrieden, recht zufrieden und sonderbar – er sah ganz anders aus als früher. Das mußten die Augen machen, die leuchtenden nachtschwarzen Augen, die so fremd in seinem hellen Gesicht standen und deren Feuer wohl zu seiner Lebhaftigkeit, nicht aber zu seinem Äußeren paßten. Die Brille trug er in der Hand; sie war zerbrochen.

»Wie sind Sie denn durch das unzerbrochene, geschlossene Fenster gekommen?« fragte sie, ihn scheu betrachtend

»Genau so – wie der Mörder«, sagte er, »mehr kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.«

»Er ist also durch dieses Fenster gekommen?«

»Gekommen und gegangen.«

Die Frau sah schaudernd auf das Fenster; dann trat sie auf den Geheimpolizisten zu und ergriff seine Hand; es war eine hagere, blasse, feine Hand; auch sie paßte nicht zu dem ältlichen dicken Herrn.

»Sie sind ein anderer, als Sie scheinen wollen, aber Sie haben sich ja ausgewiesen, und wir vertrauen Ihnen – denn Sie werden Licht in dieses Dunkel bringen. Nun aber frage ich Sie, der Sie schon so vieles wissen – was sollte der Mord, dieser unbegreifliche Mord, an unserem guten alten Herrn?«

»Es war ein Raubmord!« sagte Herr Schmid ernst und sehr ruhig.

»Ein Raubmord!« schrie sie. »Ein Raubmord?« setzte sie ungläubig hinzu. »Aber es fehlt ja nichts!«

»So glaubt man!« entgegnete ebenso ruhig als vorher Herr Schmid.

Er schob der zitternden Frau einen Stuhl hin.

Sie boten ein seltsames Bild, die alte Frau und der Mann, wie sie hier, vom grellen Mondlicht beleuchtet, nebeneinander weilten.

»Darf ich Sie noch um eines bitten?« fragte er, nachdem er wahrgenommen, daß sie sich gefaßt hatte.

»Um was Sie wollen«, entgegnete sie, sich vom Stuhl erhebend.

»Gehen Sie nun vor die Tür, und wenn Sie mich rufen hören, schauen Sie durch das Schlüsselloch ...«

»Wie damals!« meinte sie zögernd.

»Wie damals!« Er lächelte und setzte hinzu: »Ich werde gleich bei ihnen sein.«

Sie ging hinaus; sie wartete auf seinen Ruf. »Jetzt, jetzt!« rief er; da legte sie ihr Auge gehorsam an das Schlüsselloch und sah – von einer unheimlichen Empfindung beschlichen – denselben Schatten, den sie in jener Nacht gesehen, über das Bildnis ihres toten Herrn gleiten.

Wie damals schaute es blaß und wehevoll herunter, wenn der Schatten schwand, und war wie weggelöscht, wenn der seltsame, gleichmäßig kommende und gehende Schatten es verhüllte.

Die Frau zitterte, aber sie wagte nicht, ihren Lauscherposten zu verlassen, ehe ihr der Befehl dazu gegeben wurde.

Und immer, immer wieder tauchte der Schatten drinnen auf! Da legte sich eine Hand auf Thereses Schulter. Sie zuckte zusammen. Ein leiser Schrei entfuhr ihren Lippen.

»Woran denken Sie denn?« fragte ruhig Herrn Schmids Stimme. Da strich sie sich, als ob sie erwachte, über das verwirrte Gesicht.

»Sie – Sie sind es!« flüsterte sie mit einem schwachen Lächeln. Auch er lächelte. Wer sonst? will er fragen, aber er verschluckt den Spott und sagt nur: »Und nun treten wir ein.«

Sie treten ein. Das Fenster ist verschlossen, ist unbeschädigt, der halbe innere Fensterflügel ist zugelehnt, der zusammenlegbare Holzladen verhüllt zur Hälfte das Fenster. Die Lampe aber, welche dicht daneben von der Decke niederhängt, pendelt noch immer langsam hin und her, und das Gesicht des Gemordeten lächelt auf dem Bilde einmal verzerrt im blassen Mondlicht, um dann zu verschwinden und wieder zu erscheinen. Herr Schmid aber, der noch vorhin im Zimmer gewesen und es durch die Tür nicht verlassen hatte, trat eben durch die Tür ein.

»Ganz so haben wir das Fenster gefunden«, murmelte die alte Frau, »und der Schatten, der Schatten – er kam also von der Lampe?«

»So ist's. Als der Mörder durch das Fenster floh, bewegte er den Holzladen ungeschickt und stieß an die Lampe; daher der regelmäßig kommende und verschwindende Schatten, von dem Sie mir erzählten. Damals schon wußte ich, daß dies der Weg war, den der Verbrecher gewählt, mit großem Geschick gewählt.«

»Aber wie – wie nur war es ihm möglich, das Fenster wieder zu schließen?« verwunderte sich Therese.

»Das will ich Ihnen gelegentlich einmal zeigen«, entgegnete Herr Schmid, »einstweilen sollen Sie wissen, daß der Mord um halb elf Uhr geschehen ist.«

»Wer sagt Ihnen das?«

»Der Mond und die Richtung des Schattens, den die von ihm beleuchtete Lampe wirft. Vor einer Viertelstunde und nach einer Viertelstunde hätte ihr Schatten nicht das Bild getroffen, das ist ...«

Herr Schmid sprach nicht weiter. Er lauschte und war plötzlich sehr betreten, er schaute sogar einen Augenblick lang mit verlangenden, ja schier verzweifelten Blicken nach dem Fenster, vor dem er noch die Leitern wußte – dann sagte er halblaut, wie zu sich, wie zu seinem innersten Innern: »Es ist zu spät.«

Frau Therese schaute ihn betroffen an – und dann wendete sie sich blitzschnell zur Tür, durch die der Strahl einer Laterne fiel, einer jener Laternen, wie sie die nächtlichen Einbrecher und – ihre Feinde – die Polizisten tragen. »Herr Gott!« schrie Therese auf und taumelte zurück – zurück vor dem Mann, der zugleich vom friedlichen Mondlicht und vom schreckenerzeugenden Strahl der Laterne getroffen wurde und der mit seltsamem Lächeln und mit unnatürlicher Ruhe den ansah, der jetzt rasch auf ihn zutrat und mit lauter, klarer Stimme sagte: »Josef Holzer, im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie.«

Es war der Polizeikommissar von Lautern, der so sprach – und neben ihm stand Peter Klaus mit triumphierender Miene, und hinter ihnen zeigten sich zwei wohlbewaffnete Polizisten.

Frau Therese hatte sich schon ein wenig gefaßt. Ihr gutes Herz drängte sie, dem Bedrohten zu helfen.

»Er ist ja Geheimpolizist«, sagte sie erklärend.

Herr von Lautern wendete sich zu dem, der sich bis jetzt Herr Schmid genannt hatte.

»Sind Sie das?« fragte er ihn.

»Nein!«

»Wie kam die Frau auf die Idee, daß Sie es seien?«

»Ich habe mich dafür ausgegeben.«

»Daraufhin läßt man doch einen Fremden nicht in sein Haus.«

»Ich habe mich als solcher legitimiert. Mit einem von mir gefälschten Brief des Gefängnisdirektors von M.«

»M. ist das Zuchthaus, darin Sie gesessen?«

»Ja, und die mir bekannte, sehr charakteristische Schrift des Direktors hat mich hier eingeführt. Der Neffe des Ermordeten kannte ja die Schrift von seines Onkels Freund.«

»Für Sie ist doch keine Tür verschlossen«, sagte unmutig Herr von Lautern, und der falsche Detektiv lächelte eigentümlich.

»Keine«, sagte er mit unverkennbarem Stolz.

»Warum verhaften Sie mich?« fragte alsdann ruhig der, welcher nun Josef Holzer hieß.

Da flammte ehrlicher Zorn aus den Augen des Kommissars.

»Warum? Weil wir Sie, den entlassenen Sträfling, den Mann, der bei seiner Verurteilung dem nun Ermordeten mit Rache gedroht hat, hier in dem Hause Ihres Opfers finden – in diesem Hause, das Sie seit dem Tage der Tat umschlichen haben. Und weil ... Doch genug! Folgen Sie mir!«

Herr Schmid – oder Josef Holzer – ließ das Haupt sinken. Ein unentwirrbarer Zug von Angst und Leid – von Sicherheit und Bitternis zeigte sich in seinem Gesicht, und über all diese Wirrnis breitete sich ein unbegreifliches Lächeln. Er griff nach seinem Kopf – ein Ruck, und die Perücke, die er getragen, lag auf dem Boden: eine rasche Bewegung, und der wattierte Überrock, der ihm das falsche Fett gegeben, folgte dem falschen Haar.

Und der jetzt dastand, war ein noch junger, schlanker Mann, dessen hageres, fahles Antlitz sich nun langsam dem Kommissar zuwendete.

»Gehen wir?« fragte er ihn ruhig, sanft lächelnd. Herr von Lautern nickte. Sie gingen.

Therese folgte ihnen mit zitternden Knien. Sie vermochte kaum die Pforte hinter ihnen zu schließen. Als sie es endlich doch zustande gebracht, eilte sie, von Entsetzen gejagt, in das Haus zurück. Auf der ersten Stufe sank sie ohnmächtig nieder. So fand sie Palm, der – aus irgendwelchen Gründen wach – den scharfen Laternenschein der Polizisten wahrgenommen und der deshalb sein Bett, sein Zimmer verlassen hatte.

Er brachte die Erschöpfte in ihre Stube und wachte den Rest der Nacht hindurch wie ein treuer Hund auf der Schwelle des unheimlichen Hauses.

»Ich hab's ja gewußt, daß dieser Halunke noch einmal mein Kostgänger werden wird«, sagte auf dem Wege zum Polizeigebäude Peter Klaus zu dem vor ihm gehenden Polizisten.

Josef Holzer mußte seine bissigen Worte gehört haben. Er wendete sich nach Klaus zurück, er wollte ihm etwas darauf erwidern, aber er gewann es über sich zu schweigen.

Er seufzte nur ungeduldig, dann sah er nicht mehr nach rechts noch links. Die funkelnden Gewehrläufe neben ihm mochten ihm eine zu häßliche Aussicht sein.

Eine Viertelstunde später stand er in einem kahlen Zimmer, vor dessen Tür sich die Polizisten postierten und dessen Fenster vergittert waren. Eine halbmannshohe Holzbarriere teilte es in zwei Hälften. Hinter der Barriere saß ein alter Herr.

Sein Haar war eisengrau, seine Züge waren streng, und der Vollbart drängte sich ihm schier bis unter die Augen hinauf. Der alte Herr war ein Oberpolizeikommissar, der seit dreißig Jahren in O. saß und jedes Vergehen, jedes Verbrechen, das dort seit seinem Dienstantritt entdeckt oder begangen worden war – treulich in sein Gedächtnis eingetragen hatte. Er kannte auch Josef Holzer und seine Geschichte, er wußte auch von seinem Verhalten im Zuchthaus von M.

Herr von Lautern war auf ihn zugetreten und hatte seine dienstliche Meldung rasch erstattet.

»So hat der alte Klaus doch recht behalten«, sagte nachdenklich der alte Herr, erhob sich und trat an die Barriere heran, um den Eingebrachten zu mustern.

Josef Holzers Augen begegneten ruhig den seinen.

»Warst so brav im Gefängnis«, redete der Oberpolizeikommissar ihn an, »hast dich dort so gut aufgeführt, daß es uns wohl überraschen kann, wie schnell du wieder gesunken bist.«

»Bin ich's? Herr! Haben Sie Beweise?« fuhr der ehemalige Sträfling auf.

»Die, welche wir noch brauchen, die werden sich finden. Einstweilen genügt es uns, daß du das Haus Werners seit der Tat umschlichen hast – daß du heute verkleidet dort festgenommen wurdest.«

»Sonst können Sie nichts anführen, Herr Oberpolizeikommissar«, sagte ruhig der Gefangene.

Man fing an, ihn für frech zu halten.

Peter Klaus wenigstens tat es, der an der Tür lehnte. Er warf dem Mann, an dessen Hiersein er den größten Anteil hatte, stechende Blicke zu.

»Halunke!« murmelte er ein um das andere Mal.

Es war das Verächtlichste, das er zu sagen wußte.

»Noch kann ich nichts anderes anführen«, entgegnete der alte Herr auf die letzte Bemerkung Josef Holzers, »aber ich fürchte für dich, daß sich Glied zu Glied finden wird und daß du diesmal schlecht, recht schlecht davonkommst, wenn sich das Wahrscheinliche als wahr herausstellt, das weißt du, und darum erinnere ich dich in deinem Interesse daran, daß du besser tust, uns keine Schwierigkeiten zu machen. Leugnen erbittert!«

»Ich will ja nur die Wahrheit sagen«, bemerkte Holzer lächelnd.

Lächelnd, ja – so war es. Man sah ihn kopfschüttelnd an.

Der Oberpolizeikommissar, ein Mann aus der alten Schule und, was mehr ist. ein Mann von starker Individualität, behandelte die Sträflinge vor allem als Menschen – als verirrte Menschen, aber doch als seinesgleichen – denn er dachte noch immer, trotz seiner grauen Haare oder vielleicht ebendeshalb, weil er alt und weise geworden war, daß einer, der gestern noch »seinesgleichen« gewesen, heute nicht deshalb etwas anderes geworden sei, weil die Versuchung über ihn zufällig Herr geworden, während sie an ihn – mit seiner Bildung, seinem sicheren Einkommen, seiner exponierten Stellung – nicht einmal herangetreten war.

Man nannte den alten Herrn mit dem strengen Gesicht und der freidenkenden Seele einen Idealisten – aber er war nichts als ein kluger, guter Mann.

»Wir brauchen einen Schreiber«, sagte er zu Klaus. Doch ehe dieser noch einen Schritt getan, um den Kanzlisten zu holen, welcher im Nebenzimmer dienstbereit saß, vermutlich aber schlief, bot sich Herr von Lautern an, das Protokoll zu führen.

Der Oberpolizeikommissar nahm sein Anerbieten an, er sah ja, daß sich Lautern für den Fall interessierte.

Die Personalien des Verhafteten waren aufgenommen, seine verschiedenen Strafen waren notiert, was der Oberpolizeirat aus den Akten zitierte, die er sich, seit man den entlassenen Sträfling beobachtete, aus dem Zuchthaus von M. hatte schicken lassen.

Aus diesen Akten ersah man, daß Josef Holzer sich während der zehn Jahre seiner Strafzeit tadellos aufgeführt hatte und daß er mit einer erarbeiteten Summe von 240 Gulden vor vier Monaten dort entlassen worden war.

Natürlich befand er sich unter Polizeiaufsicht.

Die Polizei wußte aber seit dem 10. Oktober nicht mehr, was er getrieben, wo er sich aufgehalten habe.

Und in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober war Werner ermordet worden.

»Am vierten August wurdest du entlassen, am siebzehnten August tratest du beim Schlossermeister Hertig in L. ein, am zweiten September entließ er dich Warum?«

»Seine Frau hatte herausgebracht, daß ich ein Zuchthäusler war, und wollte mich nicht mehr im Hause dulden. Ich mußte innerhalb einer Stunde zum Aufbruch bereit sein.«

Der alte Herr strich langsam mit der blassen Hand über seinen struppigen Bart; er schaute ein paar Minuten hindurch gedankenvoll vor sich hin, dann las er im Polizeibericht weiter.

»Am fünften September tratest du abermals bei einem Schlosser ein, diesmal beim Meister Gottfried Artner in R., der behielt dich nur zwei Tage. Warum?«

»Es reute ihn, daß er einen Menschen, welcher unter polizeilicher Aufsicht stand, hatte bei sich eintreten lassen. Er zahlte mir, wie der andere, Lohn und Verköstigung für vierzehn Tage aus und hieß mich gehen.«

Josef Holzer lächelte bitter, und in den Gesichtern der beiden Herren spiegelte sich dieses Lächeln; nur Peter Klaus lächelte nicht mit, der sah nur noch verbissener aus, seit er bemerkte, daß man mit dem Meuchelmörder so viele Geschichten machte, daß man fast freundlich gegen ihn sei.

»Und so fandest und verlorst du während der vier Monate deiner Freiheit sieben Plätze«, sagte der alte Herr.

»Sieben Plätze«, wiederholte Josef Holzer traurig.

»Und dann warst du verschollen. Verschollen seit dem neunten Oktober sieben Uhr abends.«

»Ja – damals warf mich der Schmiedemeister Hormayer in G., der letzte Herr, bei dem ich in Dienst gestanden, unter dem Gejohle sämtlicher Hausleute zum Laden hinaus. Es war ihm ein Silberlöffel abhanden gekommen.«

»Und du hattest ihn nicht?«

Josef Holzer wollte auffahren. Er besann sich indessen noch zu rechter Zeit.

»Ich habe diesen Löffel niemals gesehen; ich kam niemals in die Wohnung meines Meisters – er war ja so argwöhnisch.« Der Oberpolizeikommissar lächelte.

»Du müßtest nicht der Holzer sein, wenn du nicht doch hineingekommen wärest, sobald du wolltest – das ist also der Grund nicht, dessenthalben jener Silberlöffel dir ferngeblieben ist.«

Josef Holzer mußte bei diesen Worten, die so viel zugaben, fast stolz lächeln. Ei ja – vor ihm war so leicht ein Raum nicht zu verschließen! Er antwortete aber auf diese Anspielung nichts, er sagte nur mit frohem Aufatmen: »Sie glauben mir also, daß ich nicht der Dieb war?«

»Ich glaube dir's. Für so wenig konntest du die Strafe, die dich dafür treffen mußte, nicht riskieren.«

»Ich hatte noch einen anderen Grund, ehrlich zu bleiben.«

»Welchen?«

»Ich wollte eben ehrlich bleiben.«

»Und dann kam die Nacht vom neunten auf den zehnten Oktober«, sagte rasch und den Eingelieferten ernst anblickend der alte Herr.

Was er vielleicht auf diesen unvorbereiteten Angriff hin erwartete, geschah nicht. Josef Holzer zuckte nicht zusammen, er schlug die Augen nicht nieder. Nein, er sah ihm ruhig und mit einem kaum unterdrückten Lächeln in die forschenden Augen und antwortete ebenso rasch: »Ja, dann kam diese Nacht, diese stürmische und doch mondklare Nacht, die ich, wie manche andere, davongejagt von meinen ehrlichen Mitmenschen, unter freiem Himmel verlebte. Ich wanderte damals hierher. Es schlug zehn Uhr, als ich mich im Mühlgraben vor der Stadt zur Ruhe legte.«

»Irrst du dich nicht? Um zehn Uhr lebte wohl der arme Werner noch.«

»Ja, da lebte er noch. Er wurde genau um halb elf Uhr ermordet.«

»Von einem, der ihm genau vor zehneinviertel Jahren grausame Rache schwor. Ja, das glauben wir zu wissen«, sagte der alte Herr und setzte gemütlich hinzu: »So hast du also im Mühlgraben höchstens eine Viertelstunde lang geruht – denn von dort bis zum Wernerschen Hause braucht man etwa fünf Minuten, und zur Tat – wie lange braucht man zu solch einer Tat?«

»Hab's noch nicht probiert, Herr Oberpolizeikommissar, da müssen Sie den andern fragen.«

»Immer ist's ein anderer! Aber – lieber Holzer – du hast uns doch versprochen, daß du uns keine Schwierigkeiten machen würdest.«

»Ganz im Gegenteil – ich will nur sagen, wie der ›andere‹ ins Haus und wieder herauskam.«

»Also sprich.«

Und Josef Holzer lehnte seine Arme zutraulich auf die Barriere und erzählte langsam und ebenfalls gemütlich, während Herr von Lauterns Feder in stenografischen Zeichen Wort für Wort das Gehörte in das Protokoll eintrug.

»Ich schlief, bis mich die Morgenkälte weckte«, fing der ehemalige Sträfling an und beachtete das dreifache »So!« nicht, das als ein seltsames Echo seiner Einleitung nachtönte, dann fuhr er ebenso unbefangen fort: »Dennoch weiß ich seit heute genau – so genau, als ob ich dabeigewesen wäre, wann und wie der Mörder in das Haus eindrang.

Er schleicht sich, vom Mondschein nicht wenig belästigt, vorsichtig in den Garten, vermutlich kam er von der alten Promenade her, von den wüsten Gründen, welche links zwischen dem Wernerschen Hause und den Feldern liegen. Er holt die ihm bekannten Leitern sacht aus dem Garten und dem Schuppen, er stellt die höhere neben die kürzere unter dem Fenster des Arbeitszimmers auf und horcht dann, ob sich außer ihm nichts rege. Das matt herübertönende Geigenspiel des Neffen, das laute Schnarchen Palms – sie genieren ihn nicht. Der Musiknarr, der Taube – sie werden ihn nicht stören.

Ami und Therese liegen ebenfalls am anderen Ende des Hauses in tiefem Schlaf; auch sie sind ihm nicht gefährlich. Er ersteigt die höhere Leiter, er nimmt einen starken Draht, so wie dieser einer ist ...«, Holzer zieht bei diesen Worten ein Stück Eisen aus dem Beinkleid, mit einer Schlinge versehen, fest und elastisch, »und fährt durch eine der Öffnungen des Windrades, das am Fenster angebracht ist. Nach kurzen Versuchen – der Mann hat sich ja eingeübt – gelingt es ihm, die Riegel emporzuschieben«, fährt Holzer in seiner Rede fort. »Das Fenster ist offen. Das innere und der Holzladen sind es immer – der alte Herr, der im Zimmer nebenan liegt, will ja ein wenig Luft und Licht. So gelangt der Mörder in das Zimmer. Sein Opfer ist in seiner Gewalt«

»Ja – der Elende kann seinen Racheschwur erfüllen«, tönt es grimmig aus der Ecke, in welcher Peter Klaus lehnt Josef Holzer schüttelt den Kopf.

»Es handelt sich da nicht um Rache ...«

»Sondern?«

Beide Herren fragen auf einmal.

»Jenes Verbrechen war ein Raubmord«, sagt Josef Holzer. Er sagt es so wie einer, der seiner Sache völlig sicher ist.

»Es fehlt ja nichts«, entgegnet unwillkürlich Herr von Lautern.

»Es war ein Raubmord«, beharrt der Sträfling auf seiner Aussage, »und hätte nicht die Wirtschafterin den Räuber durch ihr Kommen vertrieben, so hätte er sich mit dem wenigen, das er genommen, vermutlich nicht begnügt. So sah er sich gezwungen, den Rückzug rascher als geplant anzutreten – er ging, wie er gekommen –, das Fenster war ebenso leicht wieder zu schließen, als es leicht zu öffnen gewesen, die Leitern wurden beseitigt, die etwaigen Spuren verwischt und ...«

»Und heute steht Josef Holzer vor Gericht und erzählt das alles so klar und genau, als ob er dabeigewesen wäre«, setzt der alte Herr die begonnene Rede fort

»Ich habe noch mehr zu erzählen.«

»Nur zu.«

Josef Holzer erzählt weiter.

Dieses Verhör war jetzt kein Verhör mehr. Wohl flog Herrn von Lauterns Feder noch immer über die Protokollseiten, wohl standen draußen, vor der geschlossenen Tür, noch immer die Wachleute mit aufgepflanzten Gewehren, aber der verhörende Beamte hatte die kalte, strenge Miene nun gänzlich abgelegt und stand jetzt dicht an der Barriere, gegen welche sich auf der anderen Seite der Sträfling lehnte, und ihr Atem und ihre Hände berührten sich. So nahe stand der Vertreter des Gesetzes vor dem Verdächtigen, der mit ruhiger Stimme, unaufgehalten, denn Fragen und Einwürfen waren verstummt, weiterredete – so klar und lebendig schildernd, wie man eben nur Selbsterlebtes zu schildern versteht. Er erzählte gut und erzählte Fesselndes – Starrmachendes konnte man fast sagen –, wenigstens wirkte es so auf Peter Klaus, der jetzt mitten im Zimmer – weiter vorzugehen hatte er sich doch nicht gewagt – unbeweglich wie Loths Weib nach jenem Verderben bringenden Blick zurück dastand.

Und als es von der nahen Domkirche zwölf Uhr schlug, war Josef Holzer mit seinem Bericht zu Ende, nahm den Hut, welcher auf der Barriere vor ihm lag, verbeugte sich und sagte: »So, Herr Oberpolizeikommissar, ich habe nichts mehr zu sagen. Lassen Sie mich abführen.« Herr von Lautern erhob sich. Er dehnte und streckte die Finger, die fast einen Schreibkrampf hatten, aber er achtete des Schmerzes nicht, er sah – nun seine Augen nicht mehr an das Protokoll gefesselt waren – mit unverhohlener Verwunderung in das hagere, fahle Gesicht des Eingelieferten.

Der Oberpolizeikommissar nickte diesem freundlich-ernst zu, dann winkte er Klaus, der, wie aus einem Traum erwachend, zusammenfuhr.

»Führen Sie den Gefangenen ab«, sagte er ruhig.

Josef Holzer wurde abgeführt.

Kopfschüttelnd sah ihm der alte Herr nach.

Auch Herr von Lautern schüttelte den Kopf.

Josef Holzer ging, mit einem seltsamen Lächeln auf den schmalen Lippen, zwischen den Soldaten.

Klaus war vorangegangen. Er hatte, als der Gefangene ankam, die Tür der Zelle, dahinein die Untersuchungshäftlinge gebracht wurden, schon aufgesperrt.

Josef Holzer, der schon wiederholt abgestrafte Verbrecher, zögerte über die Schwelle zu treten; es mochten unangenehme Erinnerungen in ihm aufsteigen.

Da – während seines Zögerns geschah etwas Seltsames, etwas Groteskes. Peter Klaus, der Menschenverächter, der Tyrann des Gefangenenhauses, trat mit liebenswürdiger Miene und einer einladenden Gebärde vor – es war gerade, als ob er irgendeine hohe Persönlichkeit zum Eintritt einladen würde –, und als Holzer, ihn kaum beachtend, in den kahlen Raum getreten war, verbeugte sich Peter Klaus und zog sich mit einem Kratzfuß zurück.

Dann kreischte der Schlüssel im Schloß.

Der Mörder Werners war der Gerechtigkeit übergeben. So sagten die strengen Mienen der Polizisten, ihre Augen aber, die sagten etwas anderes, die fragten, ob Peter Klaus, der harte, grobe Peter Klaus, welcher da vor einem Sträfling wie vor einer Hofdame geknixt hatte, verrückt geworden sei.

Bald herrschte wieder die gewohnte, tiefe Ruhe in den langen Gängen des Polizeigebäudes.

In einem der Amtszimmer aber klapperte der Telegraf, und im Hof unten wurde ein Wagen gerichtet. Er sollte Herrn von Lautern zum Bahnhof bringen. Man konnte doch nicht nur Telegramme nach der Residenz senden.

Der nächste Zug nach Wien ging erst in etwa zwei Stunden ab. Herr von Lautern war es, der mitten in der Nacht aus O. abfuhr.

Wir aber wollen, während jener die nächtliche Reise macht, hören, was Josef Holzer den Herren vom Gericht erzählte, wollen hören, was er seit seinem ersten Besuch bei Herrn Rudolf erlebt und getan hatte.

*

Kaum hatte Therese damals, als er nach jenem ersten Besuch fortging, das Gartentor hinter ihm geschlossen, als er auch schon ihren Blicken entschwunden war. Er mußte mit unbegreiflicher Schnelligkeit fortgeeilt sein.

So war es auch.

Mit einigen Sprüngen war er im tiefen Schatten der gegenüberliegenden Häuser untergetaucht.

Von dort aus überschaute er noch einmal die lange, schnurgerade Gasse. Sie lag totenstill da. Josef Holzer, wir wissen nun, daß er so heißt, griff unwillkürlich nach seiner Uhr, aber er nahm sie nicht heraus. Er hätte ja nicht sehen können, auf welche Zeit ihre Zeiger wiesen, weil er noch immer im tiefen Schatten stand.

Jetzt aber – jetzt steht er nicht mehr, mit leisen Schritten flüchtet er unter ein Portal.

Es kommt jemand die Straße herauf – vom Stadtende her nähern sich die Schritte. Es sind die Schritte zweier Männer.

Auf dem Turm einer nahen Kirche schlägt es halb zehn.

Holzer wird ungeduldig, er preßt die Hände ineinander, aber er wagt es nicht, sich zu regen, und jetzt, jetzt schreckt er zusammen. Die Männer sind ganz nahe herangekommen. Auch sie scheinen Ursache zu haben, den Schatten dem Licht vorzuziehen, denn sie kommen jetzt dicht an Holzer vorüber.

Der blickt scheu aus seinem Versteck hervor, und wieder schreckt er zusammen.

Er hat sich vorhin nicht getäuscht. Der eine der Männer ist Peter Klaus, sein Feind, der ihm, seit er ihn damals vor dem Haus unter den Gaffern entdeckt, auflauert.

Klaus hält, dicht vor Holzer angekommen, seinen Begleiter am Arm zurück.

»Hören Sie nichts? Es ist, als ob da drüben noch Türen gingen.«

Auch der andere lauschte. »Ja, dort wacht man noch.«

»Es ist jedenfalls gut, sich hier auf die Lauer zu legen«, entgegnete Klaus, »wer weiß, ob der Mörder sich nicht noch einmal hier blicken läßt.«

»Sind Sie denn wirklich so fest überzeugt, daß es der Holzer tat?«

»Fest überzeugt.«

»Ich meine, da hätte er sich später nicht mehr hier blicken lassen.«

»Unsinn. Eben sein Gewissen trieb ihn her.«

»Na, jedenfalls müßte er ein hieb- und stichfestes Alibi nachweisen können – oder ein anderer müßte als Mörder entdeckt werden, sonst ginge es diesmal mit ihm an den Galgen.«

»So ist's«, vollendete trocken der Gefängnisaufseher, der, seit er Holzer wiedergesehen, seine dienstfreien Stunden in der Nähe des Wernerschen Hauses zubrachte.

Holzer atmete auf, als die beiden weitergingen. Er sah sie über die Straße gehen, hörte, daß einer von ihnen eine Tür aufsperrte, die in den Nachbargarten Werners führte, und gleich danach war die Straße leer.

»Verdammt. Wenn sie nur nicht in das Gärtnerhaus kommen!« murmelte Holzer, wartete noch ein wenig und schlich dann, immer im Schatten bleibend, gegen die Felder hin.

Als er vor der Stadt angekommen war, eilte er in gerader Linie über Felder und Wiesen, über Gräben und Hecken vorwärts. Es schien keine Hindernisse für ihn zu geben.

»Um mein Leben!« sagte er einmal, als er über einen Dornbusch sprang. »Um meine Freiheit!« murmelte er ein anderes Mal, als er nach einem großen Anlauf über einen Bach setzte.

Keuchend, in Schweiß gebadet, kam er eben an sein Ziel, das Bahnhofsgebäude, als der Kurierzug einfuhr.

In größter Hast löste er eine Karte, sprang in ein Abteil und ließ sich, fast erschöpft, auf den nächsten Sitz niedersinken.

Mein Gott, wie sonderbar, wie verdächtig sieht dieser Mensch aus, dachte die einzige Dame, die außer ihm noch im Abteil anwesend war, und zog sich so weit als möglich in die fernste Ecke zurück.

Die Furcht hatte ihr den Schlaf geraubt. Fortwährend sah sie nach dem dicken blonden Herrn, der wie ein Flüchtender in den Wagen gestürzt war, und erwartete mit Bangen jetzt einen Angriff.

Aber – es geschah nichts. Der Herr schlief ganz ruhig, bis man nach Wien kam. Freilich, als der Zug hielt, als der obligate Ankunftslärm sich erhob, da erwachte er jählings und fuhr empor.

»Meine Freiheit – mein Leben!« stammelte er, noch schlafbefangen – die Dame hatte es ganz deutlich vernommen –, und dann mußte er völlig munter geworden sein, denn mit einem Satz stand er auf dem Perron und war in dem Gewühl der Leute verschwunden.

»Warum bist du so verstört?« fragte der Gemahl der Dame, der sie erwartete, und sie antwortete mit Schaudern: »Ich bin entweder mit einem Narren oder mit einem Verbrecher gereist.«

Der, den seine Abteilgenossin so nannte, fuhr indessen in einem Fiaker in die Stadt.

Er hatte seinem Kutscher ein Kaffeehaus genannt, vor dem der Wagen bald hielt Holzer reichte dem Kutscher den Fuhrlohn und trat in das Lokal. Es war ein feines Kaffeehaus. Holzer paßte gar nicht zu den roten Samtsofas, die sich an die Wände schmiegten.

Dennoch tat er sehr unbefangen, bestellte ein Frühstück und ein Adreßbuch.

Und während er mit bestem Appetit aß, blätterte er in dem Verzeichnis.

Er hatte es bei dem Buchstaben A aufgeschlagen.

»Ackermann« – es waren ihrer eine Menge verzeichnet

»Karl, Kilian, Konrad, Kuno« – das hatte Holzer seinerzeit mit feinem Bleistift auf das Stückchen Papier notiert, in das die Spule gewickelt gewesen.

Es fand sich nur ein »Karl Ackermann« vor – aber der konnte unmöglich im Besitz von Seltenheiten sein, denn er war Selcher. Holzer sah sich jene »Ackermann« an, deren Vornamen mit C begannen.

Karl, aha, da ist ein Karl mit C, und der ist ein Antiquitätenhändler – das ist mein Mann, dachte Holzer, aß den Rest seines Kipfels, schrieb sich die Adresse des C. Ackermann heraus, zahlte und ging.

Wien mußte ihm bekannt sein, denn ohne irgendwelchen Umweg und ohne zu fragen erreichte er die Straße, darin C. Ackermann seinen Laden hatte.

Dieser war eben geöffnet worden. Ein junger Bursche und ein alter Herr befanden sich allein darin.

Der Bursche zerlegte eine Rüstung, vermutlich, um sie vom Rost zu befreien. Der Herr las, nahe der Tür stehend, eine Zeitung.

Als Holzer eintrat, legte er das Blatt artig aus der Hand.

Er war ein alter, großer, hagerer Mann. Sein Bart war fast weiß, auf der rechten Wange hatte er eine Narbe.

Holzer wußte, daß dieser Mann es war, den Therese ihm beschrieben.

»Womit kann ich dienen?« fragte der Antiquitätenhändler, höflich den Gruß des Eintretenden erwidernd.

»Vorläufig mit einer Auskunft.«

»Bitte!«

»Sie waren unlängst in O.«

»Ah – Sie kommen von dort?«

»Als Abgesandter des Herrn Rudolf Werner, bei dem Sie nicht vorgelassen werden konnten, weil er schwer krank war.«

»Ich weiß es.«

»Sie wußten es schon damals?«

»Ja.«

»Und kamen doch?«

»Ich war eben in der Nähe von O., und da wollte ich versuchen, wieder zu einem Stück zu gelangen, das ich ihm verkaufte.«

»Und das wohl einen großen Wert besitzt?«

»Einen Liebhaberwert – ja. Ich glaubte, der Erbe könne schon darüber verfügen, und da wollte ich die Gelegenheit nicht versäumen.«

»Leicht begreiflich. Welches Stück aus des Verstorbenen Sammlung meinen Sie?«

»Es ist eine der ältesten Uhren von Meister Peter Hele. Eine echte Nürnbergerin.«

»Ein sogenanntes Nürnberger Ei?«

»Nein, ein größeres Werk. Eine kleine Standuhr, die auch den Lauf der Gestirne und den Tierkreis anzeigt. Sie stammt aus den ersten Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts, stellt eine Kapelle dar und besitzt ein ganz absonderliches Werk.«

»Aus welchem Material ist sie gefertigt?«

»Aus Messing mit Elfenbeineinlagen.«

»Gut, ich werde den jungen Herrn Werner von Ihrem Wunsch in Kenntnis setzen, sobald ich meine Geschäfte hier abgetan habe und nach O. zurückkehre.«

»Sie sind von dort? Da kennen Sie also die Details dieses schrecklichen, unbegreiflichen Mordes.«

»Unbegreiflich! Sie haben recht!« sagte der blonde Herr nachdenklich und setzte ganz unvermittelt hinzu: »Vielleicht nennen Sie mir den Preis, den Sie für die bewußte Uhr geben würden, falls der junge Werner sie Ihnen wieder abgibt.«

Herr Ackermann sperrte eine Lade auf, entnahm ihr ein Buch, blätterte darin, und als er gefunden, was er gesucht, reichte er es seinem Besucher.

»Für so viel verkaufte ich die Uhr, für dreihundert Gulden. Dasselbe möchte ich gern wieder für sie geben«, sagte er einfach.

»Ah! Sie lassen sich von Ihren Kunden den Verkauf bestätigen?«

»Diese Gewohnheit hat mich schon manches Mal vor Unannehmlichkeiten bewahrt. Sie können sich ja denken, daß ich gern weiß, wo ich die Sachen, die ich verkaufe, allenfalls wieder finden kann wenn die Polizei oder private Kunden, für die sie vielleicht einen unbezahlbaren inneren Wert besitzen, danach fragen.«

Sie können aber niemanden zwingen, hier seinen Namen und seine Adresse anzugeben.«

»Zwingen? Nein. Aber ich habe meist solche Kunden, die beides nicht zu verbergen brauchen.«

»Und so hat sich auch Herr Werner hier eingetragen.«

»Ja.«

»Am zwölften September also war er hier?« sagte Holzer mehr zu sich als zu dem anderen und setzte hinzu: »Da ist er ja sehr rasch Ihrem Ruf gefolgt«

»Wissen Sie denn, daß ich ihn einlud, sich die Uhr anzusehen?« fragte der Antiquitätenhändler verwundert.

»Freilich w ...« Der blonde Herr hält plötzlich inne. Hastig langt er nach dem Buch, das bis jetzt vor ihm auf dem Verkaufspult gelegen hat, und mit dem Buch tritt er bis zur Ladentür und starrt auf die Seite, auf welcher nicht nur ein Kaufgegenstand beschrieben und nicht nur ein Käufer sich eingetragen hat.

Dicht unter Werner hat sich noch ein Käufer eingetragen.

Da steht: Eine Genfer Taschenuhr (Signatur Facio) gekauft 25 Gulden bezahlt. Am 12.9 ... Ludwig Staining, Wien, X-gasse 7.

Holzer hatte sich rasch wieder gefaßt Ganz ruhig kehrte er zu dem sehr verwunderten Ladenbesitzer zurück.

Auch der junge Bursche hatte in seiner Arbeit eingehalten und schaute auf den Fremden.

»Was hat Sie denn so überrascht?« fragte lächelnd der alte Mann.

»Ich habe hier ganz unvermutet den Namen eines Jugendfreundes gefunden«, log Holzer erstaunlich gut und setzte lebhaft, als ginge ihm sein Herz bei den frohen Erinnerungen über, hinzu: »Gehört denn auch Ludwig Staining zu Ihren Kunden?«

»So – der war ein Freund von Ihnen?« meinte ein wenig kühl der Alte.

»Sie erlauben doch, daß ich mir seine Adresse notiere.«

»Oh – bitte!« lautete die steife Erwiderung, da blickte Holzer, scheinbar erstaunt und verletzt, auf.

»Was haben Sie gegen Ludwig?« fragte er.

»Alles und nichts. Ich weiß nur, daß er in seiner krankhaften Überspanntheit und in seiner grenzenlosen Ehrsucht sehr wenig zu Ihrer Gemütlichkeit paßt. Sie haben ihn wohl schon lange aus den Augen verloren?«

»Ich habe ihn seit unseren Knabenjahren nicht mehr gesehen«, fabulierte Holzer mit ruhiger Unverschämtheit.

»War er damals noch gesund?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, jetzt ist er Epileptiker. Ein Mensch, von dem sich seine engelhaft geduldige Frau hat trennen müssen, weil sie ihres Lebens nicht mehr bei ihm sicher war. Und was ihn neben seinem körperlichen Leiden zugrunde richtet, das ist seine schier krankhafte Sammelwut und die fixe Idee, daß in ihm ein Erfinder stecke. Dieser Idee opfert er all sein Geld und den Rest seiner Gesundheit. Er ist das Entsetzen aller Mechaniker und aller Antiquitätenhändler Wiens. Vor ihm bleibt nichts verborgen. Er zerlegt auch gleich alles, was nur halbwegs zerlegbar ist, und kauft mit den schwersten Opfern den unsinnigsten Tand zusammen.«

Der alte Mann hatte sich fast zornig geredet. Nun hielt er ein. Er schämte sich.

»Es war nicht eben edel, daß ich Ihnen den Jugendfreund so häßlich schilderte, aber nun wissen Sie wenigstens, wie er ist und daß Sie schonend mit ihm umgehen müssen; denn eins steht fest, er ist noch viel unglücklicher, als er schlecht ist. Das sagte auch Herr Werner.«

»So! Sie sprachen also mit ihm von – von Ludwig.«

»Ja. Herr Staining begleitete ihn zuweilen. Ich glaube, Herr Werner ließ ihm aus Mitleid manches Mal Arbeit zukommen, er hat ihn ja vor Jahren sogar für einige Zeit in seinem Hause beschäftigt.«

»Ich weiß es. Aber damals war ich nicht in O.«, sagte Holzer unter sonderbarem Lächeln.

»Da hat denn«, fuhr der gesprächige Alte fort, »Staining eine große Anhänglichkeit für Herrn Werner gefaßt, und erfuhr er, daß Werner bei mir Nachschau halten wollte, so schloß er sich ihm öfter an.«

»Und Ludwig war auch das letzte Mal mit Herrn Werner hier?«

»So ist's. Er konnte das Werk nicht genug bewundern und mußte trotz aller Selbstüberschätzung zugeben, daß ihm der Mechanismus im Grunde ein Geheimnis blieb.«

»Soso!« entgegnete, offenbar zerstreut, Holzer, dankte dann dem alten Herrn für alle Auskunft, kam noch einmal auf das schwebende Geschäft zurück und empfahl sich.

Erst als er schon weit, sehr weit weg vom Laden war, wagte er es, tief aufzuatmen, und dabei drückte er die Hände ineinander, wie es zuweilen froherregte Menschen tun, die niemanden haben, gegenüber dem sie sich aussprechen können, und die ihr Glück fast nicht ertragen können.

Es war keine halbe Stunde verflossen, seit er den Antiquitätenladen verlassen hatte, als er vor einem kleinen Uhrmachergewölbe stehenblieb.

Es war ein armseliger kleiner Laden. Die schmale Auslage enthielt nur wenige wertlose Gegenstände: einige Tomback- und einige vergilbte Silberuhren, zwei oder drei unechte Ketten und eine flache Pappschachtel voll Uhrenschlüssel, mit falschen Steinen besetzt und von Rost angegriffen. Freilich sah man nicht viel davon, denn die Fenster waren fast erblindet Der Laden machte einen jämmerlichen Eindruck.

Nicht seine Ärmlichkeit stieß ab, seine Verwahrlosung war es, die, wenn sich ihm je ein Käufer nahte, diesen sicherlich wieder von der schmutzstarrenden Schwelle trieb.

Nun, Herr Ackermann hatte ja gesagt, daß keine Frau mehr hier walte und daß Ludwig Staining sein bißchen Geld für seine krankhaften Ideen verbrauche. Er hatte also vermutlich niemanden, der ihm den Laden in Ordnung hielt. Josef Holzer wollte schon in das Gewölbe treten, da fiel es ihm ein, daß er gut daran täte, sich noch einige Auskünfte in der Nachbarschaft zu holen.

Mit gleichgültiger Miene trat er zurück und ging noch einmal langsam durch die schmale, verwinkelte Gasse.

Es war eine Gasse, wie sie nur an der Peripherie Wiens noch vorkommt: eine Gasse mit einstöckigen Häusern, in denen sich winzige Fenster und bescheidene Geschäftsläden befanden, eine Gasse, der man es ansah, daß ihre Bewohner wie eine große Familie miteinander lebten.

Ganz in der Nähe des Stainingschen Uhrmacherladens befand sich ein kleines Gasthaus. In dieses trat Holzer.

Er blieb, wie früh es auch noch am Tage war, nicht der einzige Gast.

Ein ältlicher Mann in einem blauen Barchentspenzer, eine weiße Schürze vorgebunden, trat bald nach ihm ein und begehrte einen »Pfiff G'spritz'n«. Ein achtel Liter Wein mit Sodawasser.

Er wurde ihm gebracht. Zugleich stellte der Kellner vor Holzer ein Glas Bier hin.

Dieser hatte die neugierigen Äuglein des hinzugekommenen Gastes wohl bemerkt und erhoffte sich von ihm allerlei.

»Ach, sieht der Wein gut aus«, sagte Holzer, halb zum Kellner, halb zu dem eben das Glas an den Mund setzenden Alten.

»Ist auch gut, Herr! Den müssen S' probieren. Sind wohl fremd hier. Hab' Sie wenigstens in der ›Birn'‹ noch nie gesehen.« »Zur Birne«, so hieß das bescheidene Gasthaus.

Holzer war froh, daß sich ein Gespräch so rasch Bahn gebrochen hatte, und nun ging er, seinem nun endlich einmal aufgehenden guten Stern vertrauend, sofort auf sein Ziel los.

»Freilich bin ich fremd hier und in ganz Wien fremd; aber ich will hierherziehen, und zwar gefällt mir eben diese stille Gasse sehr gut, und da möchte ich Sie beide gleich fragen, was das für eine Wohnung ist, die hier nebenan zu vermieten ist.«

»Ja, in unserer Gasse sind mehrere Wohnungen angeschlagen«, meinte freundlich der Kellner, der in dem wohlgenährten Herrn schon einen künftigen Gast und Trinkgeldspender sah.

»Die meine ich, in dem Hause mit dem Uhrmacherladen.«

»Ach, das ist unser Haus!« rief der Mann mit der Schürze, der auch lebendig wurde. »Ja, das ist eine hübsche Wohnung, und billig ist die auch. Zwei Zimmer und Küche ...«

»Und wieviel Miete?« unterbrach ihn Holzer.

»Das weiß ich nicht genau.«

»Ah, ich dachte, Sie seien der Hausherr.«

Der Alte spreizte sich; es tat ihm sichtlich wohl, daß er einmal, wenn auch nur vorübergehend, für einen Hausbesitzer gehalten worden war.

»Nein«, sagte er, »nein, der Besitzer bin ich nicht, ich bin nur der Zimmerherr von der Hausmeisterin.«

»Könnte ich die Wohnung sehen?«

»O freilich. Ich werd' mir gleich selber die Ehr' geb'n.«

Damit erhob er sich voll Eifer, aber Holzer meinte, daß er keine so gar große Eile habe, er möchte überhaupt, ehe er in ein Haus ziehe, wissen, was für Leute die da schon wohnenden Parteien seien.

»Na, da werden Sie zufrieden sein«, entgegnete der Alte. »Es wohnt jetzt niemand da als der Hausherr, der Uhrmacher und die Hausmeisterin mit ihrer Tochter. Sie wären außerm Herrn Staining die einzige Partei.«

»Und wie ist dieser Herr Staining?«

»Na, ein zuwiderer Mensch ist er schon, aber er läßt sich ja fast niemals außerhalb seiner Wohnung und seines Ladens blicken.«

»Nur zu uns kommt er täglich einmal. Zu Mittag oder abends, aber auch nur auf eine Viertelstunde«, fügte der Kellner hinzu.

»Staining – Staining, der Name kommt mir so bekannt vor«, warf jetzt Holzer, anscheinend grübelnd, hin. »Ist er nicht aus O. gebürtig?«

»Schon möglich. Seine Frau hat einmal so etwas dergleichen geredet.«

»Und mir scheint, ich hab ihn im Oktober erst in O. gesehen. Er ist ein großer, kränklich aussehender Mensch.«

»Das ist er. Und es ist schon möglich, daß er damals in O. war. Am neunten Oktober, an meinem Namenstag, ist er zu Mittag weggereist. Er ist aber am nächsten Tag um zehn Uhr vormittags schon wieder zu Hause gewesen.«

»Wieso wissen Sie denn das so genau?« fragte Holzer äußerlich lächelnd, innerlich aufs höchste gespannt.

»Weil ich ihm gleich ein Heftpflaster habe holen müssen, und da ist eben die Kathi von der Hausmeisterin aus der Segenmesse gekommen.«

»Er ist also am neunten Oktober zu Mittag fortgefahren und ist am zehnten Oktober gegen Mittag wieder hier eingetroffen. – Hat er Gepäck bei sich gehabt?«

»Eine kleine Reisetasche.«

»Wo war er denn verletzt?«

»An der rechten Hand.«

»War die Wunde groß?«

»O nein, es hat ausgesehen, als ob ihn einer gekratzt hätte.«

Die harmlose Unterredung der Männer war unmerklich zum Verhör geworden. Holzer leitete sie, ehe das noch auffällig wurde, wieder in ihre früheren Grenzen zurück.

»Der Herr Staining ist also gerade kein angenehmer Nachbar.«

»Nein. Aber er tut auch niemandem etwas.«

Josef Holzer hatte darüber andere Ansichten, aber er widersprach nicht.

»Leidet er denn noch immer an Krämpfen?«

»Sie wissen das?«

»Ich setze voraus, daß es derselbe Staining ist, den ich flüchtig von O. her kenne.«

»Ja«, meinte nun der ältliche Mann, »er ist durch und durch krank, das macht ihn wohl auch so menschenscheu.«

»Kann er denn da allein leben? Braucht er denn keine Pflege?«

»Er will niemanden um sich haben, seit sich seine Frau von ihm getrennt hat.«

»Was tut er denn den ganzen Tag?«

Der Alte fuhr sich durch die Haare, er wußte offenbar nicht, was Staining den ganzen Tag tat.

»Er studiert und erfindet etwas«, sagte er endlich.

»Was erfindet er denn?«

»Ich glaube, er studiert darüber, eine Uhr zu machen, die alles zeigt.« Weiteres war aus dem braven Mann nicht herauszubringen; er war sich nicht ganz klar darüber, was Stainings zu erfindende Uhr alles zeigen sollte.

Josef Holzer wußte nun auch genug. Er bezahlte für sich und für den Alten und gab dem Kellner überdies ein reichliches Trinkgeld. Dann erhob er sich und fragte: »Ist Herr Staining zu Hause?«

Der Alte bejahte, Holzer ging. Er sprach noch einige Worte zu dem Alten. Eine Minute später stand er in dem Laden des Uhrmachers. Ein dünnstimmiges Glöcklein kündigte sein Kommen an, der Laden war leer, fast im buchstäblichen Sinne des Wortes leer; denn in dem kleinen Auslagekasten, welcher hinter dem Verkaufstisch stand, befanden sich, wie draußen, nur wenige Uhren.

Ein kleiner Werktisch, mit ungebrauchten Instrumenten und mit Staub bedeckt, ein Sessel, ein verwetzter Spiegel, das war alles, was man hier sehen konnte. Und jetzt, jetzt ließ sich ein schlurfender Tritt hören. Die Tür zur Wohnung des Uhrmachers öffnete sich. Ludwig Staining stand auf der Schwelle.

Er war ein langer, magerer Mensch von etwa dreißig Jahren. Er sah gelb und welk aus, und nichts von Jugend oder Jugendlichkeit zeigte sich in seinen müden Bewegungen, in seinem fahlen, fortwährend zuckenden Antlitz. Das Häßlichste, nervöse Leute hätten gesagt: »das Entsetzlichste« in seinem trotz aller Unruhe starren Gesicht waren die Augen; diese Augen mit dem blaugrauen Schein, mit dem gläsernen Blick eines Toten.

»Seine Frau hat es nicht mehr ausgehalten neben ihm.« So etwa hatte Herr Ackermann gesagt. Holzer begriff das nach dem ersten Blick, den er auf Staining geworfen. Holzer hatte einmal von Vampiren gelesen; er meinte jetzt, solch einen vor sich zu haben.

»Was wollen Sie?« fragte Staining kurz, fast grob. Er hatte eine kleine Feile in der Hand – er war offenbar in einer Arbeit gestört worden. Er trug die Feile in der rechten Hand, deren Rücken zufällig hell beleuchtet war.

Holzer sah vier blaßrote Linien auf diesem gelblichen, sehnigen Handrücken. Es konnten die Spuren von Fingernägeln sein, die in wilder Abwehr diese Hand gestreift hatten.

»Ich habe gehört, daß Sie sich sehr gut darauf verständen, Uhren zu reparieren«, begann Holzer.

Staining sah verdrießlich aus.

»Es ist eine uralte Spindeluhr, französische Arbeit, ein Erbstück, das ich instand gesetzt haben möchte«, beeilte sich Holzer hinzuzusetzen, und da wurde Staining aufmerksam.

»Haben Sie die Uhr hier?«

Wie seine Augen zu glimmen begannen! Wie lebhaft er nun plötzlich war!

»Nein. Ich müßte sie Ihnen erst bringen. Aber wer garantiert mir dafür, daß Sie das seltene Werk auch richtig behandeln werden. Haben Sie denn derlei schon unter den Händen gehabt?«

Staining lächelte hochmütig.

»Kommen Sie!« sagte er kurz und trat in das Zimmer zurück. Holzer folgte ihm. Er folgte ihm sogar sehr rasch und konnte eben noch sehen, daß Staining plötzlich zögerte, um dann rasch einige Schritte nach einer alten Kommode hin zu tun, auf welcher allerlei Gerümpel stand und lag.

Einen Augenblick lang blitzte es unter all dem, was darauf zu sehen war, vor Holzers Augen auf: wie Gold? Wie Messing? – Eines war sicher, ein längliches Ding mit allerlei Türmchen und Spitzen war es, darauf jetzt ein buntes Sacktuch lag, das Staining darübergeworfen.

Holzers Herz klopfte stürmisch. Dieses freundliche Hinterzimmer barg, er war jetzt schon fest davon überzeugt, die geheimnisvolle Ursache des Mordes zu O.

»Sehen Sie nun, daß ich wohl fähig bin, jedes Uhrwerk zu erkennen, also auch zu reparieren«, sagte Staining. Holzer nickte und besichtigte mit gutgespieltem Interesse den Inhalt der schmalen, flachen Lade, welche Staining ein wenig hastig aus einem Schränkchen gezogen hatte. Es waren an zwanzig Taschenuhren von den verschiedensten Größen und Formen, aber alle altertümlich, und jede von ihnen mußte eine Geschichte haben, denn unter jeder lag ein Zettel, darauf mit enger, winziger Schrift vieles verzeichnet war.

»Das ist eine wertvolle Sammlung«, beteuerte mit stolzem, ja glücklichem Lächeln ihr Besitzer, »und ich habe sie wahrlich nicht allein deshalb mit schweren Opfern erworben, um sie zu besitzen, sondern um an jedem dieser Stücke zu studieren. Sie können mir Ihre Uhr ohne Sorge anvertrauen.«

»Das werde ich auch«, entgegnete Holzer, sich zu dem Tisch wendend, den Staining sicherlich eben vorher erst verlassen, denn er hatte auf ihm die Feile niedergelegt, als sie hereingekommen waren. »Sie sind ja schier ein Gelehrter!« sagte Holzer in bewunderungsvollem Tone. »Sind das lauter Werke über die Uhrmacherkunst?«

Er zeigte bei diesen Worten auf die Stöße Bücher, welche auf und neben dem Tisch lagen.

Staining fühlte sich geschmeichelt und fing über seine Kunst zu reden an, schwülstig, erregt, unklar – kurz, wie einer, der über einer Liebhaberei, die zur alles verzehrenden Leidenschaft geworden, ein wenig überschnappte.

Und während er deklamierte und von Erfindungen, die er zu machen gedachte, faselte – beugte sich Holzer, scheinbar ihm zuhörend, in Wahrheit keines seiner Worte beachtend, über einen alten Folianten, welcher aufgeschlagen auf dem Tisch lag und auf welchem, um die Seiten niederzuhalten, eine kleine, schwere Platte lag.

Die eine der aufgeschlagenen Seiten des Buches zeigte eine gewaltige große Überschrift und ein Porträt, das einen alten Mann in der Tracht einer vergangenen Zeit vorstellte, und darunter stand in verschnörkelter Schrift: Peter Hele.

Mehr las Holzer nicht, seine Augen hingen wie gebannt auf der runden Messingplatte, welche als Beschwerer auf dem Buch lag.

Es war eine Art Zifferblatt, und an ihrem Rande befanden sich die zwölf Gestalten des Tierkreises; sie waren in Elfenbein ausgelegt.

Alles Blut drang Holzer zu Kopf. Er erhob sich und strich mit der Hand über sein glühendes Gesicht.

»Sie sehen, ich darf mich gar nicht bücken«, sagte er ärgerlich lächelnd zu dem Uhrmacher.

Und da lächelte auch dieser.

»Ja, bei solcher Fülle!« sagte er.

Holzer griff nach seinem Hut.

»Sie bringen mir doch die Uhr? Sie kommen doch wieder?« fragte Staining fast gierig.

»Gewiß komme ich wieder«, ward ihm erwidert, und dann ging Holzer.

Er ging direkt zur Bahn. Der Mittagszug mußte bald abgehen. Im Bahnhof angekommen, sah Holzer im Verzeichnis der Züge nach. Es zeigte sich, daß Staining damals nur einen der zwei Nachtzüge benutzt haben konnte, die zwischen O. und Wien verkehrten. Den Kurierzug, welcher gegen zehn Uhr nachts O. passierte, oder den Postzug, welcher um zwei Uhr nachts von O. abging.

»Jetzt handelt es sich nur noch um die Stunde, in welcher der Mord begangen wurde«, sagte Holzer zu sich.

Das dritte Läuten erscholl. Der ehemalige Sträfling stieg mit großer Ruhe ein. Zwei Stunden später verließ er den Zug in der letzten Station vor O., aß daselbst mit großem Appetit und schlenderte dann gemächlich seinem Ziel zu. Er betrat O. erst knapp vor zehn Uhr nachts.

Er war trotzdem lange nicht mehr so vorsichtig wie bei seinem ersten Besuch des Wernerschen Hauses, sonst hätte er den Vertrauensmann des Gefangenhaus-Aufsehers gewahren müssen, der schon seit Eintritt der Dunkelheit sich in demselben Hausportal verborgen hielt, hinter welchem er am Abend zuvor Deckung gefunden.

Kaum war Holzer in den Wernerschen Garten eingelassen worden, und kaum war er mit Frau Therese im Hause verschwunden, so eilte der Lauscher beflügelten Schrittes der Stadt zu.

Und bald drauf, wir wissen es ja schon, wurde Herr Schmid – als Josef Holzer – gefangengenommen.

*

Zwölf Stunden später trat Peter Klaus in die Zelle, darin schon mancher Untersuchungsgefangene seiner Vernehmung mit Angst entgegengesehen hatte.

Wie gestern grüßte er Holzer voll Respekt.

»Nun?« fragte dieser.

Er lag, halb ausgekleidet, sichtlich eben erst erwacht, auf der Pritsche.

»Ich soll Sie zum Herrn Oberkommissar führen.«

Holzer erhob sich und begann seine Toilette.

Peter Klaus machte sich, beinahe mit der Dienstwilligkeit eines Kammerdieners, um ihn zu schaffen.

Er war sehr verlegen und – sehr neugierig.

»Wie – wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?« platzte er endlich heraus.

»Auf welche Idee?«

»Geheimpolizistendienst zu tun.«

»Ich wollte nicht an den Galgen kommen.«

»Sie sind ja unschuldig!«

»Ja. Aber wer hätte es mir geglaubt! Sie nicht und kein anderer.«

»Ihr Alibi ...«

»Ich schlief in jener Nacht friedlich im Mühlgraben; aber ich habe keinen Zeugen dafür.«

»Ja freilich, und Ihr Racheschwur ...«

»Den Sie ausplauderten ...«

»Es ist schrecklich, wie leicht einer in die Tinte ...«

»... und an den Galgen kommen kann.«

»Sind Sie sehr böse auf mich?«

»Gar nicht. Sie haben Ihre Pflicht getan. Aber weniger schlecht sollten Sie doch von den Menschen denken.«

»Von den Menschen – ja, aber ...«

»Auch Sträflinge sind Menschen, Menschen, die sich zuweilen mit aller Gewalt bessern wollen, aber man stößt sie mit aller Gewalt zum Verbrechen zurück.«

»Bei Gott! Es ist so. Und ich – ich habe viel dazu beigetragen, so manchen von denen, die ich unter mir hatte, noch mehr zu verbittern, zu verhärten.«

»Tut's Ihnen leid?«

»Es tut mir leid.«

»Dann ist's ja recht, denn Sie sind kein Mann der Worte, Sie sind ein Mann der Tat.«

»Es denken eben fast alle so wie ich«, meinte zu seiner Entschuldigung Peter Klaus.

Holzer lächelte bitter: »Fast alle? – Oh, sagen Sie frischweg: alle. In drei Wochen habe ich sieben Herren gehabt. Jeder hat mich fortgeschickt. Nicht, weil ich schlechter oder weniger arbeitete als die anderen. O nein! Es hat mir keiner etwas anderes nachsagen können, als daß ich ein entlassener Sträfling sei. Und der letzte, der hat mich gar mit den Hunden aus dem Hause gehetzt. Das war in jener Nacht. Damals hat wohl nicht viel gefehlt, und ich hätte den Nächstbesten getötet – denn alle, alle waren ja meine Feinde. Denn keiner wollte es mir möglich machen, ein ehrlicher Mensch zu bleiben.«

»Jetzt aber – ah –, das will Ihnen der Herr Oberpolizeikommissar sagen.« Der Alte schien verlegen.

Holzer sah Peter Klaus, den er heute zum erstenmal als gemütlichen Menschen kennenlernte, nicht sehr verwundert an; er lächelte nur froh und atmete tief auf; er konnte sich's ja beiläufig denken, was ihm der Oberpolizeikommissar zu sagen hatte.

»Kommen Sie. Ich bin fertig«, sagte er.

Sie gingen. Ihm freundlich zuwinkend, erwiderte der streng aussehende alte Herr Josef Holzers tiefe Verbeugung.

Klaus zog sich zurück.

Die beiden waren allein.

»Alle Ihre Angaben haben sich als wahr erwiesen, und daher tut es mir leid, daß Sie diese paar Stunden noch Gefangener waren.«

»Oh – bitte!«

»Setzen Sie sich doch, lieber Holzer«, fuhr der alte Herr fort. In diesem Augenblick färbte sich des einstigen Sträflings Gesicht dunkelrot.

Ein unsägliches Glücksgefühl überkam ihn – es war ihm, als sei eine Bergeslast von seiner Seele genommen, als seien erst jetzt die Ketten, die er dereinst getragen, gesprengt worden.

»Vor allem anderen habe ich Ihnen zu sagen, daß ich ermächtigt, ja aufgefordert bin, Sie als Geheimpolizisten für unsere Residenzstadt aufzunehmen. Sind Sie damit zufrieden?«

»Es ist ja ...« Holzer wollte sagen: Es ist ja der einzige Lebensweg, der mir bleibt, aber er vollendete den begonnenen Satz anders: »Es ist ja das größte Glück für mich«, sagte er freudig.

»Und dann hätte ich eine private Frage an Sie«, fuhr zögernd und angelegentlich in seinen Akten blätternd der alte Herr fort. »Was hat Sie zuerst auf die Vermutung gebracht, daß der Mörder durch das Fenster des Arbeitszimmers gekommen ist?«

»Der Schatten, den die Frau durchs Schlüsselloch gesehen, welcher Umstand ihr erst einfiel, als ich sie ausfragte. Ich wußte da sofort, daß die Lampe ihn geworfen haben mußte, die der Täter bewegte, als er bei seiner Flucht den Fensterladen unvorsichtig zuzog.«

Der Oberpolizeikommissar nickte gedankenvoll, und nach einer Weile stellte er noch eine Frage.

»Wo – wo haben Sie sich denn eigentlich vom zehnten Oktober bis gestern aufgehalten?«

Der alte, gewiegte Polizeibeamte errötete bei dieser Frage.

Und Holzer? Nun, Holzer konnte diesmal ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken.

»Ich habe in dem verlassenen Gärtnerhaus gewohnt, welches sich neben dem Wernerschen Besitz in einem Garten befindet«, sagte er achtungsvoll.

»Derselbe Garten hat dazu gedient, Sie zu beobachten«, meinte verlegen der alte Herr.

»Ich weiß es, Klaus und andere haben viele Stunden darin verbracht.«

»Und wo verproviantierten Sie sich?«

»Ich ... Herr Polizeikommissar, Sie verzeihen schon, ich aß zu Mittag und Abend neben Ihnen – im ›Goldenen Lamm‹«.

Der alte Herr war aufgesprungen.

»Sie – Sie waren der fremde, große Herr, der sich für einen Pensionisten ausgab, welcher sich hier ankaufen wolle?« rief er und wich vor Staunen einen Schritt zurück.

Auch Holzer hatte sich erhoben.

»Der war ich. Ich mußte doch womöglich jedes Wort auffangen, das mir zu einer Spur des Mörders verhelfen konnte. Es handelte sich um mein Leben, um meine Freiheit.«

»Ihnen also, den man in der ganzen Stadt, in der ganzen Umgebung suchte, habe ich täglich die Hand gedrückt!«

Der Oberpolizeikommissar war noch immer fassungslos.

»Ja, mir haben Sie die Hand gedrückt«, Holzer lächelte, »aber ...« Er stockte.

»Aber von mir haben Sie keine Spur erhalten«, sagte, sich selbst ironisierend, der wackere Mann. Dann setzte er hinzu: »Jetzt drücke ich Ihnen freiwillig und bewußt die Hand.«

*

Ludwig Staining gab zwei Stunden vor Holzers definitiver Freilassung vor dem Richter bekannt, daß er das Uhrwerk gestohlen, um daran studieren zu können, daß der alte Werner ihn dabei ertappt habe und daß er deshalb aus dem Diebe aus Leidenschaft ein Raubmörder geworden war.

Das seltsame, aufgeregte Gebaren des Unglücklichen ließ schon bei seiner ersten Vernehmung die Vermutung auftauchen, daß man es möglicherweise mit einem Geistesgestörten zu tun habe.

Ob es so war, konnte jedoch niemals ergründet werden, denn noch am selben Tage fand man Ludwig Staining an der Klinke der Gefängnistür erhängt.

Rudolf Werner hatte, nachdem er seines Oheims Erbschaft angetreten, Holzer reichlich beschenkt, und Frau Therese, die eine unbegrenzte Achtung vor seinem Intellekt und seinem Gemüt hatte, blieb ihm innig zugetan.

Er besucht sie des öfteren, er weiß ja, daß er, der in der Welt Alleinstehende, an ihnen treue Freunde gewonnen hat, und er liebt das Haus, darin er sein Glück gemacht, sein Glück, das mit einem seltsamen Schatten begann. Aber er hat auch noch andere Freunde, zum wenigsten viele Bekannte, die ihn seiner ungewöhnlichen Tüchtigkeit wegen schätzen, und er selbst – nun, er selbst ist, wie paradox es auch klingen mag, der gefürchtetste Feind und der treueste Freund aller Verbrecher.

»Eine Akquisition« nennen ihn seine Vorgesetzten, und er ist stolz darauf – aber noch weit stolzer ist er ob des Bewußtseins, daß er jetzt wieder ein ehrlicher Mensch ist. Holzer ist tatsächlich einer der fähigsten Detektive der Hauptstadt. Nur wissen die wenigsten Menschen, welches denn seine eigentliche Gestalt ist: ob er blond oder dunkelhaarig, ob er dick oder hager ist – ja selbst seine Größe ist niemandem genau bekannt.


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