Balduin Groller
Sportgeschichten
Balduin Groller

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Der Marathonlauf.

Die Olympischen Spiele 1906 standen in Sicht. In Athen wurden gewaltige Zurüstungen getroffen. Der Kronprinz von Griechenland, Herzog von Sparta, hatte den Vorsitz im großen Komitee übernommen, und durch Vermittlung der griechischen Gesandtschaften hatten sich auch im Ausland in den wichtigsten Kulturzentren aller Weltteile Spezialkomitees gebildet, um für eine würdige internationale Beschickung der bevorstehenden großen athletischen Wettkämpfe zu sorgen.

Natürlich auch in Wien. Da stellte sich ein Erzherzog an die Spitze, der von jeher ein lebhaftes Interesse und tiefe Sachkenntnis nicht nur in Fragen der Wissenschaft und Kunst, sondern auch für die geistige und körperliche Erziehung der Jugend bekundet hatte. Der Kaiserlichen Hoheit stellten sich notable Kavaliere des Reiches zur Verfügung, und um diese repräsentativen Spitzen scharte sich eine Gruppe von fachkundigen Sportsmännern, welchen die öffentliche Meinung die Zuständigkeit zur Erledigung derartiger Angelegenheiten willig zuerkannte.

Nach einer der Sitzungen dieses Komitees begaben sich einige engere Freunde auf Anstiften und unter Führung des angesehenen Hof- und Gerichtsadvokaten 4 und Präsidenten des Klubs der »Spartiaten«, Doktor Felix Werenz, in eine mollige Weinstube, um dort bei einem von ihm in Sonderheit gerühmten kühlen Rüdesheimer noch eine gemütvolle Nachsitzung zu halten. Und so geschah es.

Man besprach die getroffenen Vorbereitungen und fand, daß alles gut sei. Es war die Abhaltung eines großen Ausscheidungsmeetings beschlossen worden. Es sollten nur die allerbesten auf den einzelnen Sportgebieten entsendet werden. Das versprach sehr interessant zu werden. Denn es hatten gar viele den Ehrgeiz mitzugehen, und es war vorauszusehen, daß alle Bewerber sich auf das äußerste anstrengen würden, um zu der ersehnten Reise nach Griechenland zugelassen zu werden, die ja nicht einmal auf ihre eigenen Kosten erfolgen sollte.

»Nur eines begreife ich nicht, Herr Präsident,« apostrophierte ein Herr aus der Runde, es war ein Vertreter des Regattavereins, den Doktor Werenz, »daß Sie gerade beim Marathonlauf sich auf die Hinterbeine gestellt haben und in die Opposition gegangen sind.«

»Ich bin durchaus nicht in der Opposition, viel eher vielleicht Sie, geehrter Freund. Denn mein Vorschlag ist schließlich mit großer Mehrheit, wenn ich nicht irre, sogar einstimmig angenommen worden. Anders wäre es wirklich nicht gegangen.«

»Ich habe ja auch für Sie gestimmt, Herr Präsident, weil ich mir dachte, schließlich verstehen Sie es doch besser, aber überzeugt bin ich doch noch nicht. Es 5 war ursprünglich vorgeschlagen worden, den Vorkampf zum Marathonlauf durch ein Stundenrennen austragen zu lassen. Warum haben Sie sich so sehr dagegen gesträubt?«

»Weil es nicht unsere Aufgabe ist, den zu ermitteln, der am meisten Terrain in einer Stunde hinter sich bringt, sondern den, der am besten über die Marathonstrecke wegkommt. Das ist ein Unterschied, und zwar ein gewaltiger!«

»Das kann ich nicht finden. Wer einen forcierten Lauf durch eine volle Stunde durchsteht, der hat damit seinen Befähigungsnachweis als Langstreckenläufer erbracht, und wer sich da als der Beste erwiesen hat, der wird wohl auch der Beste sein in einem Lauf von zwei Stunden.«

»Für den Marathonlauf können Sie ruhig noch eine dritte Stunde zugeben.«

»Um so schlimmer! Drei Stunden! das ist – Sie verzeihen schon, Herr Präsident – das ist einfach unvernünftig.«

»Darüber streite ich nicht mit Ihnen, Herr Kollege. Vielleicht ist es wirklich unvernünftig – ich halte es nicht dafür. Wenn man es für unvernünftig hält, dann soll man sich eben nicht darauf einlassen. Läßt man sich aber ein, dann soll man sich klar darüber sein, daß es kein Kinderspiel ist, um das es sich da handelt. Sie wissen, daß der erste Marathonläufer, der Siegesbote des Miltiades – es war am 12. September des Jahres 490 vor Christi Geburt – tot niederfiel, kaum daß er seine Botschaft in Athen ausgerichtet hatte. Ein 6 schöner Tod. Daß es aber sein Tod war, das sagt alles.«

»Ich glaube, Sie sprechen gegen sich selbst, Herr Präsident. Also – wie Sie zugeben – eine furchtbare Anstrengung, und die soll den Leuten unnötigerweise auferlegt werden!«

»Unnötigerweise? Wir müssen doch den Besten ermitteln!«

»Dazu würde der Einstundenlauf ausreichen. Für die Probe hätte das genügt, und den Ernstkampf hätten dann die Besten auf griechischem Boden unter sich ausmachen sollen. Wozu die Leute vorher noch quälen, die Kandidaten und die Zuschauer. Jawohl, auch die Zuschauer. Denn die halten uns ja doch nicht stand und gehen fluchtartig durch, wenn eine Nummer des überreichen Programms gleich drei Stunden dauert!«

»Vor allen Dingen, Herr Kollege – die Zuschauer gehen uns nichts an. Wir geben keine Theater- und keine Zirkusvorstellung, und es ist vollkommen nebensächlich, ob das liebe Publikum sich dabei unterhält oder nicht. Im übrigen aber – Herr Kollege, was haben Sie für sportliche Ansichten! Es ist allerdings schon lange her, daß wir zwei zusammen in einem Rennboote gesessen haben, aber es scheint, daß Sie sich die sportlichen Traditionen nicht herübergerettet haben ins Philisterium.«

»O, da muß ich doch sehr bitten, Herr Präsident!«

»Wo Holz gemacht wird, fliegen Späne! Wer sich auf den Sport einläßt, muß wissen, daß er es mit ernsten Gefahren zu tun kriegen wird. Das ist zu 7 nehmen oder zu lassen. Da haben Sie auch die scharfe Grenze zwischen Sport und Turnen. Das Turnen bringt nur Nutzen und kann, bar accident und Unvernunft ausgeschlossen, niemals schaden. Der Sport kann nützen, kann aber ebenso auch schaden. Wenn aber trotzdem die Jugend sich vielfach mehr für den Sport begeistert, so suchen Sie die Erklärung dafür in der Psychologie der Jugend. Turnen ist ein nützlicher Unterrichtsgegenstand, Sport ist Kampf. Turnen bezweckt vernünftige allseitige harmonische Durchbildung der Körperkräfte, der Sport ist einseitig und nicht immer vernünftig. Er ist Kampf, nichts anderes als Kampf. Kampf gegen Mitbewerber, gegen Zeit, gegen Raum, gegen Rekord, immer nur Kampf und als solcher entflammt er und reißt hin.«

»Er soll aber immer innerhalb der Grenzen der Vernunft bleiben.«

»Das kann er nicht. Wer in einem Kampfe klügelt und sich mit der Erörterung von Vernunftgründen abgibt, der wird beim Finish, beim Endkampf, auf den alles ankommt, nichts mehr dreinzureden haben. Darum ist auch Ihre Ansicht eine falsche, daß ein einstündiger Lauf wesentlich ungefährlicher sein müsse, als ein dreistündiger. Man kann sich auch noch in viel kürzerer Frist ruinieren und auch einen noch längeren Kampf heil überstehen. Reif sein ist alles, sagt Shakespeare. Auch sportlich reif, ›fit‹ sein ist alles, also trainiert muß ein Kandidat sein. Dann geht alles, sonst geht's gar nicht. Wer sich ungenügend oder gar nicht trainiert auf einen sportlichen Wettkampf einläßt, der ist ein 8 Esel und der wird sich außer seiner sichern Niederlage auch noch alles übrige Unheil, das ihm noch widerfahren kann, nur selber zuzuschreiben haben. Beachten Sie eins, Herr Kollege: ob der Lauf nun über fünf Kilometer geht oder über zweiundvierzig, wie bei der klassischen Strecke des Marathonlaufes, der Kandidat muß immer damit rechnen, daß er alles aus sich herauszunehmen und alles herzugeben habe, was er in sich hat. Mehr als er in sich hat, kann er nicht hergeben, und darum kann er auch nach zweiundvierzig Kilometern nicht mehr fertig sein, als nach fünf Kilometern, wenn er treu gekämpft hat und gezwungen worden ist, alles herzugeben.«

Wir hörten dem Redner mit Vergnügen zu. Er sprach gut und überzeugend. Daß er als berühmter Rechtsanwalt seine Worte zu setzen wußte, das nahm schließlich nicht wunder, eher noch seine große Vertrautheit mit allen, selbst den geringfügigsten einschlägigen sportlichen Fragen. Einer aus der Gesellschaft machte eine dahinzielende bewundernde Bemerkung.

»Ja, meine Freunde,« erwiderte Doktor Werenz, »ihr wißt nicht, daß ich selber ein alter Marathonläufer bin!«

Sensation. Das hatte in der Tat niemand gewußt. Nun begann das Drängen; er sollte erzählen.

»Gut denn!« erwiderte er, und dabei lächelte er mit dem ganzen, lebhaft gefärbten, von einem angegrauten Rundbart umrahmten Gesicht, und die blitzenden Glanzlichter in seinen Augen hinter den Gläsern der Goldbrille lächelten mit. Er selbst füllte seiner Zuhörerschaft 9 die Gläser mit dem feinen Rüdesheimer nach und dann begann er: »Es ist eigentlich die Novelle meines Lebens, die ich euch erzähle. Meine Jugendzeit steigt vor mir auf und ich werde förmlich lyrisch. Ein Menschenalter ist vergangen, seit ich meinen Marathonlauf bestritt, eigentlich genau dreißig Jahre und wir können also gleich ein Jubiläum feiern. Schanerl – bei Todesstrafe – sorge dafür, daß uns der Rüdesheimer nicht ausgeht. Also hört zu. Das war so: Ich hatte glücklich ausstudiert und mein Jahr Gerichtspraxis hinter mir. Da ich mit irdischen Glücksgütern durchaus nicht reich gesegnet war, hatte ich die adjutumlose Existenz recht gründlich satt bekommen. Ich begreife auch heute noch nicht, wie der Staat dazu kommt, sich von jungen Leuten, die es ja persönlich durchaus nicht so dick haben, jahrelang unentgeltliche Dienste leisten zu lassen. Ich trachtete also, bei einem Advokaten als Konzipient unterzukommen.

Bei meinem Versuch in dieser Richtung fing ich von oben an. Ich durfte das. Ich hatte sub auspiciis promoviertIn Österreich besteht die Einrichtung der Promotio sub auspiciis Imperatoris. Ganz besonders qualifizierte Doktorkandidaten erhalten dabei unter großer Feierlichkeit einen vom Kaiser gespendeten Ring. und konnte darauf rechnen, daß der Ring des Kaisers doch eine gewisse Wirkung haben werde. Ich ging also zum Doktor Fellner, dessen Kanzlei damals als eine der ersten, wenn nicht als die erste galt. Ich hatte Glück; ich wurde angenommen. Die Umstände, unter welchen das geschah, waren allerdings 10 etwas ungewöhnlich. Einem juristischen Examen wurde ich nicht unterzogen, dagegen befühlte Doktor Fellner meine Arme und hieß mich den Biceps anspannen. Das Resultat seiner Untersuchung befriedigte ihn höchlich. Er erkundigte sich, welcher Sport es sei, den ich triebe. Ich gestand, daß ich allerdings für den Rudersport eine kleine Schwäche hätte, es sei aber kaum der Rede wert.

Schon gut, erwiderte er. Ich liebe solche Schwächen und weiß sie zu schätzen. Ich engagiere Sie mit Vergnügen.

Bald ward mir auch der Zusammenhang klar. Doktor Fellner hatte selbst seine sportlichen Schwächen, allerdings jetzt schon mehr in der Theorie als in der Praxis. Er verfocht die Meinung, daß in unserm tintenklecksenden Säkulum, in der Zeit der Überbürdung der Jugend in der Schule es eine würdige Aufgabe der öffentlichen Erziehung sei, für die körperliche Stählung der Jugend und so im weitern Verlauf des Volkes überhaupt zu sorgen. Für diese Meinung kämpfte er in Wort und Schrift und Tat. Durch die Tat insofern, daß er den Athletiksportklub ›Die Spartiaten‹ begründete, dessen ständiger Präsident er nun schon seit einer Reihe von Jahren war.

Natürlich gedieh der Klub unter seiner sachverständigen und opferwilligen Leitung zu ganz ungewöhnlicher Blüte. Nun traf es sich, daß der Klub schon seit geraumer Zeit keinen ordentlichen Schriftführer hatte, und dieser Übelstand bildete eine dauernde Verlegenheit für den vielbeschäftigten Präsidenten. Die Dinge gingen nicht, wie sie gehen sollten. Der 11 Schriftführer, der ihm zur Verfügung stand, wohnte am andern Ende der Stadt. Er war nicht zu haben, wenn man ihn brauchte, zudem befriedigten seine Leistungen den sachkundigen Präsidenten nicht, so daß dieser schließlich sich alles selber machen mußte, die Abfassung der Propositionen für die Wettkämpfe, die Ausarbeitung der Kampfregeln, die Ausfertigung der schiedsrichterlichen Urteile, die Eingaben an die Behörden und tausend andere Dinge. So passioniert Doktor Fellner nun war, so hatte er aber doch auch noch ein ›Nebengeschäft‹, seine große Kanzlei, die er nicht vernachlässigen durfte.

Unter solchen Umständen war ich ihm also sehr zu paß gekommen. Ich mußte in den Klub eintreten und die Schriftführerstelle übernehmen. Nun war ihm geholfen. Seinen Konzipienten hatte er ja immer bei der Hand, und nun ging alles wie geschmiert. Ich machte rasch große Fortschritte in meiner sportlichen Bildung, wohingegen meine juristische Entwicklung sich in weit langsamerer Pace vollzog.

Ich fühlte mich recht wohl in den neuen Verhältnissen. Habe ich schon erwähnt, daß Doktor Fellner auch ein Töchterlein hatte?«

»Nein!« ertönte es im Chorus zurück. »Wir wünschen aber, von dem Töchterlein etwas zu hören.«

»Es wird nötig sein. Es war ein zwanzigjähriges Töchterlein –«

»Aha!«

»Die Galerie wird ersucht, sich ruhig zu verhalten. Also ein zwanzigjähriges Töchterlein, in das ich mich 12 – ich bitte um Entschuldigung – Knall und Fall verliebt hatte. Als Schriftführer kam ich öfter in dringlicher Angelegenheit von der Kanzlei in die Wohnung hinüber. Ich gestehe, daß sich unter meiner Schriftführerschaft die dringlichen Angelegenheiten ein wenig häuften, und daß ich in vielen Fällen das Pech hatte zu kommen, wenn der Herr Präsident gerade um die Wege war. Das Töchterlein war allerdings gewöhnlich zu Hause.«

»Wir wissen schon!«

»Nichts wißt ihr! Wenn man Pech hat, dann hat man eben Pech. Auch das Töchterlein war kolossal sportlich gesinnt – der ganze Papa. Nur hatte Fräulein Nelly doch manches vor ihrem Papa voraus. Ich möchte dem Andenken des verehrten ersten Präsidenten der ›Spartiaten‹ nicht nahe treten, aber sie war wesentlich hübscher.

Einmal als ich wieder in natürlich sehr dringlicher Angelegenheit und – leider wieder ohne den Herrn Präsidenten anzutreffen eintrat, fand ich Fräulein Nelly mit einer pompösen Handarbeit beschäftigt, die sie vor mir zu verstecken trachtete. Das ging aber nicht gut: das Ding war zu groß. Es war ein prachtvolles, sehr breites und langes schweres rotes Seidenband, und darauf blitzte es schon von leuchtender Goldstickerei.

Ich habe nichts gesehen! beteuerte ich, als ich ihre Bemühungen wahrnahm, die Arbeit zu verstecken.

Nun ist's zu spät, erwiderte sie. Auch Sie hätten es nicht sehen sollen, aber jetzt müssen Sie mir wenigstens versprechen, nichts auszuplaudern.

13 Ich legte die Hand aufs Herz und leistete einen feierlichen Eid.

Was ist es also? frage ich.

Sie breitete die Arbeit vor mir aus, die beinahe schon ganz fertig war. Auf das Band war ein mächtiger Palmenzweig gestickt und dann in stattlichen Versalien das Wort ΝΕΝΙΚΗΚΑΜΕΝ.

Was ist das, Fräulein Nelly? frage ich wieder. Für einen Grabkranz ist die Sache doch ein bißchen zu fröhlich.

Aber, Herr Doktor – ein Grabkranz! So lesen Sie doch!

Habe bereits. ΝΕΝΙΚΗΚΑΜΕΝ. Was heißt das?

Das sollten Sie doch wissen!

Allerdings, aber das Griechische vergißt sich so furchtbar leicht. Lassen Sie mich nur nachdenken. Das ist irgend so ein gottvergessener Aorist oder ein Perfektum. Natürlich! Jetzt habe ich es. Es heißt: Wir haben gesiegt!

So sagte auch Papa. Nun – und?

Was – und, mein Fräulein?

Sie ahnen noch immer nichts?

Ich ahne nicht das mindeste.

Wer hat das Wort gesprochen?

Wie soll gerade ich das wissen?

Das sollten Sie wissen, Herr Doktor, als Schriftführer der ›Spartiaten‹. Haben Sie etwas von Marathon gehört?

Ach, was Marathon betrifft – da kann ich dienen. Perserkrieg – Miltiades – vierhundertundneunzig vor Christi Geburt –

14 Mein Gott, wie die Zeit vergeht! meinte Fräulein Nelly träumerisch.

Und in Erinnerung an jenes erfreuliche Ereignis müssen Sie heute eine Handarbeit machen, Fräulein Nelly?

Sie verstehen noch immer nicht?

Sie müssen schon verzeihen, Fräulein Nelly; ich bin ein langsamer Denker.

Also hören Sie. Miltiades sandte einen Boten mit der Siegesnachricht nach Athen. Der Bote lief, was er konnte, kam nach Athen, sprach noch das schwere Wort aus und dann starb er.

Genehmigen Sie mein aufrichtiges Beileid, Fräulein Nelly.

Ich danke. Ahnen Sie also noch immer nichts?

Ich weiß absolut nicht, was ich ahnen soll.

Papa will auch einen Marathonlauf veranstalten, und der Sieger soll diese Schärpe erhalten.

Sie sehen mich ein wenig enttäuscht, Fräulein Nelly. Als Sie so beflissen waren, diese Pracht vor mir zu verstecken, da dachte ich schon, es handle sich um eine sinnige Überraschung für mich.

Es soll eine Überraschung für den Klub werden.

Das rührt mich weit weniger, Fräulein Nelly. Ach, wenn es für mich gewesen wäre! Ich leide nämlich bittern Mangel an rotseidenen Schärpen mit Goldstickerei darauf.

Sie könnte ja auch für Sie sein, Herr Doktor!

Wieso?

Sie brauchen nur den Sieg zu erringen.

15 Ach so?

Jawohl.

Und Sie werden persönlich dem Sieger die Schärpe umhängen, Fräulein Nelly?

Ja.

Gemacht. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, Fräulein Nelly.

Es war richtig so. Bei der nächsten Vollversammlung der ›Spartiaten‹ rückte der Präsident mit der sensationellen Überraschung heraus. Er hatte schon alles fertig und beisammen, die Ausschreibung und die Preise. Es war ihm gelungen, eine hübsche Bronzestatuette des historischen Marathonläufers mit geflammtem Porphyrsockel aufzutreiben. Die sollte der Sieger erhalten und dazu die prachtvolle goldgestickte Schärpe.

Er brachte seinen Antrag in einer zündenden hochsportlichen Rede vor, die ich mir in ihren Hauptzügen bis auf den heutigen Tag gemerkt habe: Wir wollen einen Wettkampf veranstalten, der berufen sein soll, die gute Sache der leichten Athletik auf ein hohes und würdiges Niveau zu erheben. Der erste Marathonläufer hat sich mit unsterblichem Ruhme bedeckt; nach Jahrtausenden noch wird seiner in Ehren gedacht. Auch wir wollen dem Vaterlande Männer stellen, die bereit und befähigt sind, ihm in der Stunde der Gefahr solche Dienste zu leisten. Und wir wollen noch ein übriges tun. Beachten Sie wohl: der erste Marathonläufer stürzte tot zusammen, als er seine Botschaft überbracht hatte. Wir wollen beweisen, daß unsere Athleten auch solche ungeheure Anstrengungen 16 überstehen können, ohne niederzubrechen, ja daß sie, wenn es der Dienst des Vaterlandes erfordern sollte, es sogar auf sich nehmen könnten, unverweilt auch noch die Antwort zurückzubringen. Dem Vaterlande ist unzweifelhaft besser gedient, wenn seine Söhne bei solchen Gelegenheiten am Leben bleiben, und der Ruhm kann deshalb kein geringerer sein, wenn man eine solche Leistung vollführt und dann hinterher doch noch frisch und munter ist.

Diese oratorischen Wendungen waren von kolossaler Wirkung auf die versammelten ›Spartiaten‹, die nun ihrem geliebten Führer in heller Begeisterung zujubelten. Dieser aber, getragen von der allgemeinen Begeisterung, geriet selber in immer höhere Ekstase. Er entfaltete die leuchtende Schärpe und fuhr gehobenen Tones fort: Wir haben keine Orden zu vergeben, aber ich meine, dieses Ehrenzeichen wird so gut sein, wie irgendein Orden. Meine Tochter hat es angefertigt und sie hat all ihre Liebe mit hineingestickt für unsre gute Sache. Sie wird es dem Sieger anheften, und wie mir mein Kind der teuerste Besitz auf Erden ist, so erscheint mir dieses ihr Werk als die höchste Ehre, die ich zu vergeben habe. Mir ist es ernst um unsre gute und große Sache, und glauben Sie mir, ich wüßte mein teuerstes Kleinod besser geborgen in der Hand eines Marathonsiegers, als in der irgendeines Stubenhockers. Denn um da zu bestehen, reicht die Arbeit der Beine nicht aus, da gehört auch Verstand und Herz dazu!

Unnötig zu sagen, daß der Präsident nach dieser Rede von den begeisterten ›Spartiaten‹ auf die 17 Schultern gehoben und im Triumph im Saale herumgetragen wurde.

Sofort wurden zahlreiche Nennungen abgegeben, und auch ich erlegte meine fünf Gulden. Der Präsident sah mich erstaunt lächelnd an, als ich das tat, ich aber erklärte, es geschähe nur pour l'honneur du drapeau, damit die Nennungsliste sich stattlicher ausnähme. Im Innern war ich aber fest entschlossen, mein Glück zu versuchen und mitzutun. Halb und halb war ich's ja schon gewesen nach meiner Unterredung mit Fräulein Nelly, aber dem Faß den Boden durchgeschlagen hatte erst der Schluß der Rede meines Präsidenten.

Am nächsten Morgen suchte ich meinen Freund Doktor Max Arnoldi, einen jungen Mediziner auf, dem es seine Mittel erlaubten, mit Gemütsruhe auf das Zuströmen der Patienten zu warten. Er solle mich auf Herz und Lunge untersuchen.

Wozu? Willst du heiraten? Dazu bist du ununtersucht gut genug.

Ich danke für die gute Meinung, aber ich habe Wichtigeres vor. Ich will bei einem Marathonlauf mittun.

Das ist eine ganz vernünftige Idee, meinte Max, der selber Sportsmann war, wenn er auch mit Vorliebe dem bequemern Fahrsport huldigte. Er hatte ein paar gute Traber im Stalle.

Er untersuchte mich und fand mich tauglich.

Weißt du aber auch, worein du dich einläßt? fragte er. Man steigt da nicht hinein, wenn man nicht den 18 ernsten Willen hat. Ludere qui nescit, campestribus abstinet armis!

Ich habe den festen Willen, und was ich noch nicht kann, will ich eben lernen.

Gut. Lernen – da steckt's. Das heißt – trainieren! Ich will dein Training übernehmen, aber das sage ich dir gleich, da heißt es, Order parieren und dem Trainer aufs Wort folgen. Ich werde mit eiserner Strenge vorgehen.

Das war mir ganz recht. Ich mußte zu ihm übersiedeln, damit er mich immer unter den Augen haben konnte. Außerdem mußte ich verschiedene große Ehrenwörter geben.

Wir fingen es also an. Wir waren in der ersten Hälfte des Juli und das Meeting sollte Mitte September abgehalten werden. Max meinte, daß keine Zeit zu verlieren sei. Denn während sonst für die leichte Athletik auch ein Training von vier Wochen ausreichend sein könne, müsse man hier einen doppelt so langen Zeitraum ins Auge fassen.

Wir standen täglich um halb fünf Uhr früh auf und fuhren im leichten Gig bis über Schwechat hinaus, wo dann auf der Preßburger Landstraße das Training begann. Max fuhr neben mir her und kontrollierte mit der Stopuhr in der Hand von Kilometerstein zu Kilometerstein meine Zeiten. Er verschärfte das Tempo oder mäßigte es je nach Bedarf und kritisierte und korrigierte meine Aktion mit aller Schärfe und Unerbittlichkeit.

19 Wenn das jeweilige Pensum erfüllt war, mußte ich trotz der Sommerhitze in meinen Sweater schliefen. Dann fuhren wir wieder nach Hause, wo ich ein Bad nahm und von Max massiert wurde. Um halb zehn Uhr vormittags war ich zur gewohnten Zeit in der Kanzlei, und um halb zehn Uhr abends wurde ich unweigerlich ins Bett gesteckt. Ich weigerte mich auch nicht; ich fiel hinein wie ein Sack. Zu der Zeit war ich immer müde wie ein Hund, hungrig wie ein Wolf und schlief wie ein Gott.

Max hatte gewünscht, daß unser Training heimlich betrieben werde, und das entsprach ganz meiner Auffassung der Dinge. Wir wollten erst einmal sehen, ob ich beim Training etwas aufstecke. Denn ohne Aussicht auf Erfolg mitzugehen, wäre erst recht Torheit gewesen. Ging's nicht, dann war immer noch beizeiten ein Rückzug ohne Aufsehen und ohne weitere Blamage möglich.

Aber es ging, ging gar nicht schlecht. In den ersten Tagen war ich allerdings furchtbar verzagt, obschon natürlich die Leistungen nur schön langsam gesteigert wurden, und meinte, daß diese unvernünftige Schinderei überhaupt kein Mensch aushalten könne. Max, der sich da geradezu als ein Tyrann zeigte, ließ aber nicht locker, und bald fühlte ich, daß ich härter wurde, und dann kam auch die Passion, die große Passion.

Eigentlich ernst wurde die Sache erst im Monat August. Da hatte ich meinen vierwöchentlichen Urlaub und konnte mich nun ganz meinem Vorhaben widmen. Jetzt erst ließ mich Max die volle Strecke ablaufen, 20 und mehr als das, er gab mir sogar Galopps von fünfzig Kilometern.

Es ist eigentlich sportlich nicht ganz richtig, meinte er, über eine längere Strecke zu trainieren als die vorgeschriebene, in unserm Falle kann es aber von Nutzen sein. Du sollst noch mehr in dir haben, als deine zweiundvierzig Kilometer, damit sie dich im Endkampf, wenn es zu einem solchen kommt, nicht totmachen können. Wenn du imstande bist, fünfzig durchzustehen, werden dich zweiundvierzig nicht umbringen, und wenn du fünfzig im Leibe hast, wirst du bei vierzig doch mehr einzusetzen haben und ganz anders kämpfen können, als einer, der dort schon am Ende seines Lateins ist.

Ich sah das ein und fügte mich. Überhaupt habe ich von meinem Freunde in sportlicher Hinsicht manches gelernt. Er nahm das Training sehr ernst und hatte eine ganze Wissenschaft daraus gemacht. Während der gemeinsamen Fahrt im Gig zum und vom Training hielt er mir förmliche Vorträge. Er wies unter anderm nach, daß schon die Griechen und Römer einen vollkommen klaren Begriff von dem Wert eines rationellen Trainings gehabt hätten. Er bewies das zunächst mit den berühmten Versen in der Epistel des Horaz an die Pisonen:

Qui studet optatam cursu contingere metam,
Multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit,
Abstinuit Venere et vino . . .

Das wußten also die Römer schon, erläuterte er. Wenn du nun berücksichtigst, daß Horaz selten einen 21 originalen Gedanken gehabt hat, sondern so gut wie alles griechischen Dichtern und Denkern nachempfunden hat, so wirst du leicht einsehen, daß auch diese seine Weisheit von den Griechen stammt. Übrigens sind die Ursprünge nicht schwer zurückzuverfolgen, insbesondere liegt der Hinweis auf Hesiod sehr nahe. Du siehst also, daß ich sehr recht hatte, dir vor allen Dingen Wein, Weib und Gesang zu untersagen.

Du wirst mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich sofort bereit war, mir den Gesang abzugewöhnen.

Mit alten Witzen aus den ›Fliegenden‹ wirst du bei mir kein Glück haben. Ich halte strenges Regiment und ziehe meine Hand sofort von dir ab, sowie du nicht in allen Stücken parierst!

Er hielt in der Tat strenges Regiment, aber das Werk gedieh dabei sichtlich. Ich war mager geworden wie ein Windhund und trug nicht ein Lot überflüssigen Fettes mehr, aber ich war auch hart und fest geworden, wie ich es nie zuvor gewesen war.

Als nun die Leistungsfähigkeit festgestellt war, wurde die wichtige Frage der Taktik in Betracht gezogen.

Es hätte keinen rechten Sinn, dozierte Max, wenn wir uns jetzt auf eine bestimmte Taktik einpauken wollten. Denn die wird ja schließlich doch von den Gegnern diktiert. Wenn die von Haus aus dreinteufeln – es wäre in Anbetracht der langen Reise allerdings recht unvernünftig – so muß man eben mithalten. Aus den Schlingen lassen darf man sie auf keinen Fall. Denn verlorenes Terrain aufzuholen 22 ist sehr schwer, und zudem gibt es eine starke moralische Depression, wenn man so mutterseelenallein hinterher zotteln soll.

Unvernünftig wäre es auch – fuhr der Präsident fort – wenn die andern auf Warten reiten, den Versuch zu machen, sie abzuschütteln und ihnen davonzugehen. Das rächt sich dann sicher im spätern Verlauf, und so sicher sind wir unserer Überlegenheit denn doch nicht.

Wir werden uns den Umständen anpassen. Wir kennen unsere gefährlichsten Gegner. An die werden wir uns halten und sie unter keiner Bedingung loslassen. Das wird unsere ganze Politik sein. Kommt es dann so wirklich zu einem Endkampf, dann wird der allerdings sehr bitter sein, aber darauf muß man es ankommen lassen. Dann wird eben das bessere Training und der stärkere Wille den Ausschlag geben. Es wird der beste Mann das Rennen gewinnen.

Mir war das alles ganz recht.

Eins mußt du mir in die Hand geloben, Felix, fuhr Max fort. Aufgegeben wird nicht. Unter keiner Bedingung. Was wir angefangen haben, führen wir durch, gehe es, wie es wolle. Es wird an Momenten der Schwächeanwandlung nicht fehlen, mein Freund. Die müssen überwunden werden. Lasse dich nicht unterkriegen von momentaner Verzagtheit. Das gibt sich alles wieder. Denke daran, daß selbst der beste deiner Gegner doch auch nur einer Mutter Sohn ist, daß er höchstwahrscheinlich genau denselben Zuständen unterworfen ist wie du, daß du aber seine Kräfte verdoppelst 23 und ihn dann ganz unbesiegbar machst, wenn du ihn deine Schwäche bemerken läßt.

Auch das alles sah ich ein. Max hatte aber noch einiges auf dem Herzen: Genau erwogen sind unsere Aussichten gar nicht schlecht. Ich habe dir schon, ohne daß du darum wußtest oder dir es klar gemacht hättest, einige kleine Vorteile gesichert, die doch nicht ganz ohne Belang sind. Deine Gegner trainieren ausnahmslos auf der glatten Rennbahn. Dich habe ich sofort auf die Landstraße gebracht. Das Rennen wird auf der Landstraße abgehalten werden. Für dich wird also die schlechtere Bodenbeschaffenheit keine ungewohnte Unannehmlichkeit bedeuten. Und noch eins. Deine Gegner trainieren in leichten Laufschuhen und werden auch mit diesen das Rennen bestreiten. Dir habe ich deine gewöhnlichen Schuhe mit den festen Sohlen belassen – sie sind etwas schwerer, aber – wenn ich unsere Straßen ins Auge fasse – ich glaube doch, daß ich wohl daran getan habe.

Vier Tage vor dem Termin gebot Max Halt. Da durfte ich mit ihm ausfahren und spazieren gehen, aber keinen Schritt laufen.

Du bist jetzt fit und auf dem tiptop, sagte Max, und die Dummheit werde ich nicht machen, daß ich dich übertrainiert zum Start schicke. Was in dir steckt, haben wir herausgebracht, das übrige müssen wir dem Schicksal überlassen. Ich kann ruhig sagen, du bist jetzt in großer Form. Ich verlasse mich auf die letzten zehn Kilometer, das waren immer die schnellsten, die ich dir gegeben habe. Auch das wußtest du nicht. Ich werde neben 24 dir herfahren und an Erfrischungen alles bereit halten, was dein Herz nur begehren mag. Ich werde dich auch genau so managen, wie beim Training. Also Mut! Noch eins will ich sagen zu guter Letzt. Meine treue Stopuhr – sie ist ein kleines Wunderwerk – gehört dir, wenn du als Sieger durchs Ziel gehst.

Das freute mich sehr. Denn so eine feine Stopuhr hatte ich mir schon längst gewünscht, aber ganz eigentlich hatte ich auf dem Grunde meines Herzens noch ganz andere Wünsche, die mit dem Rennen zusammenhingen. Doch davon redete ich nichts.

Es war ein wundervoller kühler Septembermorgen, als wir uns im ganzen zwölf Mann dem Starter stellten. Sieben Uhr früh. Ein leichter Nebel braute über der Landschaft, gerade dicht genug, um noch im Glanz der Sonne zu schimmern, ihr aber doch für einige Stunden Widerstand leisten zu können. Start und Ziel waren an der Triester Reichsstraße bei dem Finanzwächterhause an der Grenze von Groß-Wien. Der Lauf sollte bis ins Gemeindegebiet der Stadt Baden gehen, dort Wendung und dann wieder zurück zum Ausgangspunkt, im ganzen genau zweiundvierzig Kilometer. Für gute Straßenbesetzung und Kontrolle am Wendepunkt war gesorgt. Am Start war der Präsident mit seinem Töchterlein anwesend und außerdem ein sehr zahlreiches sportlustiges und kundiges Publikum.

Die Konkurrenten werden in zwei Reihen aufgestellt. Mein Platz ist in der zweiten. Der Starter hinter uns hebt die Pistole hoch, der Vizestarter zwanzig 25 Schritte vor uns seine weiße Fahne. Die Zeitnehmer halten sämtlich ihre Uhren in Bereitschaft.

Sind die Herren bereit?

Ja.

Ein Schuß. Die weiße Fahne senkt sich. Der Marathonlauf hat begonnen.

Der erste Kilometer brachte mir eine grausame Überraschung. Die ganze Gesellschaft war mir auf und davon gegangen, und als nach etwa zwölfhundert Metern sich Max mit seinem Gig zu mir gesellte – der erste Kilometer mußte, um keine Störung am Start aufkommen zu lassen, ohne Begleitung absolviert werden – da fand er mich als gut letzten. Die andern zogen gut geschlossen immer weiter davon.

Was ist denn geschehen? fragte Max erstaunt.

Ich weiß es nicht, erwiderte ich keuchend. Sie haben mich überrumpelt. Ich fürchte, ich bin jetzt schon aussichtslos geschlagen.

Ach Unsinn! Die kriegen wir alle noch, sagte Max und zog die Uhr aus der Tasche, um den weitern Verlauf vernünftig zu regulieren.

Meine Besorgnis war durchaus keine unbegründete. Die ersten Minuten hatten mich hart mitgenommen. Ich fühlte mich übler daran, als sonst wenn ich beim Training schon eine Stunde oder zwei hinter mir hatte. Ich hatte mit dem Atem Schwierigkeiten, mein Gesicht glühte, ich begann zu schwitzen – kurz das Jammerbild eines Anfängers.

Es wird das Lampenfieber sein, sagte Max neben mir herfahrend.

26 Gewiß war es auch das. Sicher ist aber, daß mich auch der Anblick des Töchterleins unsers Präsidenten tiefer bewegt hatte, als mir für den vorliegenden Fall wohltat. Zu der seelischen Aufregung kam dann noch die unsinnige Pace, in der der Lauf begonnen worden war. Die Leute hatten nur vor dem versammelten Publikum Effekt machen wollen.

Mache dir nichts daraus, mein Sohn, sagte Max, nachdem er mich längere Zeit prüfend angesehen hatte. Er war jetzt, im Gegensatz zu mir, ganz kaltblütig, so kaltblütig wie nur irgendein englischer Sportsmann. – Der Anfang war nicht gut. Wir müssen nun trachten, daß das Ende ein besseres werde. Nur den Mut nicht verloren. Wir haben noch viel vor uns, und da kann sich noch manches ereignen.

Er ließ mich das Tempo sofort mäßigen, unbekümmert darum, daß die geschlossene Schar mit den Reitern, die sie begleiteten, bald ganz unsern Blicken entschwand.

Er tröstete: Das ist das Bahntraining. Ich kenne das. Sie gehen es scharf an vom Start weg und ebenso schließen sie dann mit einem glänzenden Endspurt. Das ist für die Galerie. In der Mitte werden sie es billiger geben. Du mußt vor allen Dingen jetzt erst ruhiger werden und zu dir kommen. Also nur ganz gemächlich! Wir machen jetzt eine kleine Erholungstour.

Ich folgte seinen Weisungen und fiel in einen bequemen Trott, der von ganz wunderbarer Wirkung war. Nach wenigen Minuten schon hatte das 27 Herzklopfen aufgehört, ich spürte nicht mehr die Pulsschläge in den Halsadern, das Gefühl der Hitze verzog sich, die Aufregung schwand, ich war wieder vollständig ruhig und kühl. Nun trat doch die Wirkung des Trainings zutage. Ich erklärte mich bereit, nun das Rennen ernsthaft aufzunehmen.

Max war sehr erfreut über die rasche Wandlung, die mit mir vorgegangen war, aber dennoch mahnte er zur Vorsicht und warnte vor Übereilung.

Siehst du, mein Junge, wie recht ich hatte in Sachen der Taktik. Was hätten wir nun davon gehabt, wenn wir uns eine schöne Taktik ausstudiert hätten? Jetzt haben wir eine gegebene Situation und jetzt können wir unsere Taktik auf sie einrichten. Wir werden jetzt also, ohne gerade zu hasten, in gutem Zug fünf Kilometer machen. Die werden hoffentlich genügen, die Schar wenigstens wieder zu Gesichte zu kriegen. Weitere zehn Kilometer werden wir daran wenden, um an die Schar heranzukommen, oder wenn das Feld schon gestreckt sein sollte, was ich stark vermute, in die Mitte desselben zu gelangen. Das Weitere werden wir dann später beschließen je nach der Lage der Umstände und nach der Kondition, in der sich deine Herren Gegner und du selbst befinden werden. Kümmere du dich jetzt um nichts als um dein gleichmäßiges Tempo. Ich habe die Uhr vor mir und kontrolliere jeden Kilometer. Das ist das einzige, worauf wir uns verlassen können. Geht die Uhr recht, das will sagen, stimmen die Kilometerzeiten mit unsern Berechnungen, dann gibt es keine Sorge und keine Unruhe.

28 Ich war nun wirklich gut im Zuge, tat mich leicht und lief mit Passion. Was mich besonders freute, war das Gefühl, daß die mir von Max diktierte Pace noch immer unter meinem Können war. Er hätte ruhig mir mehr abfordern können. Wir brauchten auch bei weitem keine fünf Kilometer, um der von den Läufern und den Reitern aufgewirbelten Staubwolke wieder ansichtig zu werden.

Es geht gut, Max! rief ich ihm zu, ermutigt durch den Anblick.

Ob es gut geht! Ich beobachte ja deine Aktion, und ich kann dir sagen, mein Junge, du bist in großer Form.

Schneller! mahnte ich. Ich wollte den Knäuel so bald als möglich einholen.

Ich werde mich hüten! So, wie wir jetzt arbeiten, kriegen wir sie sicher. Wir dürfen aber keine Dummheiten machen. Es kann ja sein, daß sie jetzt auf Warten laufen, und wenn du dann ausgepumpt hinkommst, und sie dir dann ausgeruht, wie sie vielleicht sind, wieder davonziehen, dann bist du definitiv erschossen. Das ist dann der psychologische Moment, der dich zugrunde richtet. Dieser Moment verdoppelt ihre Kräfte, wenigstens die der drei besten, mit welchen wir in erster Linie zu rechnen haben, und die deinigen zehrt er vollständig auf. Ich kenne das. Aus einer solchen physischen und moralischen Depression rappelt sich keiner mehr auf. Wir müssen also selber vollkommen frisch sein, wenn wir bei den Herrschaften anlangen. Darum: lasse dir Zeit!

29 Es war mir angenehm, daß Max so fortplauderte. Das regte mich an und machte mir Mut, der übrigens noch gehoben wurde, als uns bald darauf zwei der Konkurrenten begegneten, die langsamen Schrittes wieder dem Start zustrebten. Sie hatten aufgegeben.

Hast du bemerkt, wie sie ausgesehen haben? fragte Max, als sie vorbei waren. Übel genug. Fertig, vollständig fertig! Und der eine davon war sogar Liesegg, einer von den dreien, die wir als die Besten für Sieg und Platz in Kombination gezogen hatten. Hallo, mein Junge, deine Aktien steigen! Das haben sie nun davon, daß sie so brillant vom Start gegangen sind. Wie fühlst du dich, mein Alter?

Max, ich fühle eine Armee in der Faust, und ich glaube, ich werde die Statue und die Schärpe aus dem Boden stampfen.

Das ist schon die richtige Stimmung. Fühlst du dich frisch?

Vollkommen.

Möchtest was essen oder trinken?

Nein. Ich möchte so fortlaufen, wie jetzt. Wenn das Tempo nicht zu langsam ist, halte ich's bis übermorgen aus.

Verlasse dich auf mich; es ist nicht zu langsam.

Dann ist's famos.

So kam ich denn bald an die Nachhut, und ging mit Leichtigkeit über die Nachzügler hinweg.

Sie gingen in Nöten, berichtete mir Max, als wir sie abgeschüttelt hatten. Sie hatten kaum noch versucht, Widerstand zu leisten oder auch nur sich 30 anzuhängen. Deine Aktien steigen immer mehr, obschon das natürlich nicht die Klasse war, die wir zu fürchten hatten. Noch sind Weiser und Lang vor uns, und nur wer die zwei schlägt, gewinnt den Marathonlauf!

Das Feld hatte sich tatsächlich weit gestreckt, und von den zwei gefährlichsten Gegnern war noch gar nichts zu sehen.

Schneller! schrie ich ungeduldig. Ich wollte möglichst bald an diese beiden heran.

Keine Idee! erklärte Max sehr ruhig, aber auch sehr bestimmt. Nach meiner Zeittabelle müssen wir sie auch mit unserm jetzigen Tempo holen. Es gibt nämlich auch im Sport keine Wunder. Ich werde froh sein, wenn du nur dieses Tempo durchstehst.

Ich stehe es bestimmt durch!

Es gibt im Sport auch keine toten Gewißheiten. Drängle nicht und folge meinem Kommando. Wir kommen nun bald an den Wendepunkt. Können wir bis dahin die Führenden nicht erreichen, so werden wir doch, da sie uns entgegenkommen werden, ganz genau den Vorsprung berechnen können, den sie vor uns voraus haben. Danach werden wir das Weitere beschließen.

Bis zum Wendepunkt hatte ich richtig alles aufgeholt bis auf Weiser und Lang, die einander dichtauf mir, wie Max berechnete, um ungefähr dreihundert Meter voraus waren. Das war allerdings nun eine andere Klasse, als die andern, die ich bisher abtun konnte. Max verschärfte den Zug, ohne mir etwas zu sagen, um den Abstand womöglich zu verringern. Ich 31 trieb längst nicht mehr an, und war schon froh, daß der Abstand sich nicht vergrößerte. Ich begann zu zweifeln, ob es mir möglich sein werde, auch diese Vordermänner zu schlagen. Ich wurde recht verzagt und hatte meine bittere Schwächeanwandlung.

Da griff Max wieder ein, der nun seit geraumer Zeit selbst recht schweigsam geworden war.

Hopp auf, Felix! schrie er. Lang fällt zurück, er klappt zusammen!

Das elektrisierte mich und gab mir frische Kraft. Ich selbst konnte nun sehen, wie sich Tageslicht zwischen die zwei Gestalten schob und wie sie sich immer weiter voneinander lösten. Jetzt hörte ich nicht mehr auf Max, ich stürmte davon, bis ich den Absterbenden glücklich genommen hatte und zu dem Führenden bis auf etwa zwanzig Schritte aufgekommen war. Am liebsten hätte ich, da ich einmal im Zuge war, mich auch gleich mit diesem in einen Kampf eingelassen, aber es ging nicht mehr. Ich mußte verschnaufen.

Max war wütend und schimpfte wie ein Rohrspatz über meine Eigenmächtigkeit.

Bist du toll geworden?! schrie er mich im Flüstertone an. Angeschrien sollte ich nämlich verdientermaßen werden, aber mein Vordermann sollte es doch nicht hören. – Du wirst mit deiner Dummheit noch alles verderben!

Er hatte recht, leider sehr recht. Der Rückschlag blieb nicht aus. Die Verzagtheit und die Schwächeanwandlung kamen wieder.

Kann ich etwas zu trinken kriegen? bat ich.

32 Milch oder Tee?

Bitte Tee!

Ich bekam eine Saugflasche, wie sie die Wickelkinder kriegen, aber der Tee tat mir wunderbar gut.

Ruhe dich nur aus, mahnte Max, wir sind noch weit vom Ziel. Willst du nicht auch etwas essen?

Ich wollte. Ich bekam eine Kaviarsemmel, die mir großartig mundete, und dann ein halbes Huhn, das ich mit Händen und Zähnen zerriß. Das war erst recht großartig. So etwas Gutes hatte ich überhaupt in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen!

Hat es geschmeckt, mein Junge?

Phänomenal!

Das ist gescheit! Und die Kondition?

Ich bin schon wieder auf dem Damme!

Aber jetzt keine Dummheiten mehr!

Die Dummheit und das Festmahl hatten mich ziemlich viel gekostet. Bis auf zwanzig Schritte war ich dem Führenden schon nahe gekommen, und nun lag doch vielleicht schon wieder zehnmal so viel zwischen uns. Das drückte mich aber nicht mehr nieder. Ich sah meinen Gegner vor mir und ich spürte es in den Beinen, daß ich ihn in der Hand hatte. Max hatte die Wendung zum Bessern bei mir sofort wieder bemerkt. Meine Aktion befriedigte ihn und nun ward er wieder zuversichtlich und redselig.

Wir müssen jetzt doch wieder trachten aufzukommen, redete er mir zu. Durch unsern Rückfall hat Weiser sicher wieder frischen Mut gewonnen. Diesen Vorteil müssen wir ihm so bald als möglich wieder nehmen. 33 Warte noch ein bißchen, mein braver Felix; lasse mich erst ausreden. Denn wenn wir ihm an den Fersen hängen, werde ich dir natürlich keine weisen Lehren erteilen, die vielleicht dann wirkungslos bleiben, wenn er sie auch hört. Also passe gut auf, was ich jetzt sage. Wir rüsten zur Entscheidungsschlacht.

Gott sei Dank!

Es wird etwas Atem kosten, bis wir ihn wieder haben. Bei alledem müssen wir aber so herankommen, daß wir noch eine starke Reserve in uns haben. Wir müssen auf alles gefaßt sein. Mir will es scheinen, daß er sein Tempo gemäßigt hat. Das kann zwei Gründe haben: entweder er kann es wirklich nicht mehr besser, oder er will jetzt ausruhen, um dann, wenn du die mühselige Arbeit des Aufholens hinter dir hast, im Rush fortzubrechen. Gelingt ihm das, dann, mein Sohn, sind wir verloren und können höchstens nur noch um den zweiten Platz kämpfen.

Das wäre nicht gerade mein Ideal.

Ich glaub's! Darum müssen wir also so ankommen, daß wir noch immer in der Lage sind, den Kampf aufzunehmen. Du darfst ihn dann unter keiner Bedingung mehr loslassen. Merke wohl auf: unter keiner Bedingung! Welche Pace er auch vorlegen sollte, du mußt sie halten. Das ist das eine, und das andere, was vielleicht noch wichtiger ist: du darfst deinen Angriff nicht machen und versuchen wollen, ihm vorzugehen, bevor ich dir das Zeichen dazu gebe. Ich wiederhole dir, da liegt die Entscheidung. Du wirst dich also anhängen und dich von ihm führen lassen. 34 Da er führt, hast du hinter ihm die bessere Position. Der Führende ist immer schlechter daran als der Geführte, er muß auch früher fertig werden. Bleibe also ruhig auf dem zweiten Platze liegen, du liegst da auf der Lauer.

Ich werde schon aufpassen!

Das ist gar nicht nötig, das werde ich schon besorgen. Ich werde eure beiderseitige Aktion scharf beobachten und mich danach einrichten. Finde ich deinen Gegner noch frisch, so lasse ich dich nicht heraus aus der Rolle des Geführten, selbst bis auf hundert Meter vor dem Ziele nicht. Dann allerdings, aber nicht früher, werde ich das Zeichen geben, und dann macht das Ende unter euch aus.

Ich glaube, es wäre doch besser, den Endkampf früher zu beginnen!

Das wird von den Umständen abhängen. Sollte seine Kondition nicht schlechter als die deinige sein, dann müssen wir den Vorteil der Führung so lange als möglich ausnützen. Die Führung wird ihn schwächen und dich stärken, indem sie dich in einen wohltuenden Halbschlaf versetzt. Sollte ich aber merken, daß es um ihn schlechter steht als um dich, dann gebe ich dir schon das Zeichen zum Losschlagen, dann mache ihn nieder!

Max war doch ein wundervoller Manager. Während er so mit mir plauschte, hatte er, für mich fast unmerklich, den Zug so verschärft, daß ich, als ich aufblickte, wahrnahm, daß wir schon die Hälfte des verlornen Terrains wieder eingebracht hatten.

35 Nur so fort, mahnte er, und ja nicht schneller werden! Jetzt bitte ich dich, mit möglichster Gemütsruhe weiter zu arbeiten und vom Boden nicht aufzublicken, bis ich dich anrufe.

Ich befolgte den Rat, arbeitete ruhig weiter, sah auf den Weg und niemals nach meinem Gegner vor mir, und ich hatte dann eine kolossale Freude, als mich Max nach verhältnismäßig kurzer Zeit leise anrief und ich den Läufer und den Reiter, der ihn begleitete, knapp vor mir sah. Ich war nun zu jeder Anstrengung bereit, aber mein Vordermann forderte mir nichts ab. Ich hielt mir die mir erteilten Instruktionen vor Augen und ließ mich ruhig führen. Dabei kam ich wirklich ganz famos zu Kräften. Ich wurde sogar übermütig. Schneller! rief ich Max an.

Wir haben Zeit, erwiderte er gemächlich.

Er machte ein vergnügtes Gesicht. Er sah mir an, daß ich keine Unbotmäßigkeit im Sinne hatte und daß ich nur zum Fenster hinausgeredet hatte – meinem Herrn Gegner zu Gehör.

Wieder ging es eine Weile ruhig fort, und wieder fragte ich dann recht harmlos, aber mit lauter Stimme: Warum bummeln wir denn eigentlich gar so sehr?

Die Wirkung blieb nicht aus. Mein Gegner wurde sichtlich nervös. Er setzte mehrmals zu Spurts ein, die nichts ausgaben, retardierte dann wieder, alles recht planlos. Es war klar, daß bei ihm nun Stil und Aktion sich verschlechterten. Er ging in Nöten.

36 Ich blickte erwartungsvoll zu Max auf. Er hatte das auch bemerkt und verstand mich. Er gab ein Zeichen, daß ich mich bereit halten solle. Dann noch ein fragender Blick, den ich mit einem zuversichtlichen Nicken beantwortete, und dann brüllte er mit Stentorstimme heraus: Los!

Er gab seinem Pferd einen Peitschenhieb, der Gig rasselte, und ich wie aus der Pistole geschossen davon! Mein Gegner wehrte sich verzweifelt, um den Angriff abzuschlagen, aber er wehrte sich kraftlos. Nach wenigen Sekunden lagen Längen zwischen uns. Ich zog unangefochten davon und nach wenigen Minuten war, als ich den Kopf wandte, von dem Gegner überhaupt nichts mehr zu sehen.

Da ließ mich Max wieder verschnaufen. Er war ganz außer sich vor Vergnügen.

Lixl, du warst besser als je im Training!

Das macht, weil's der Ernstfall war.

Jetzt nur wieder piano! Jetzt haben wir nämlich gar nichts mehr zu fürchten. Das holt kein Sterblicher mehr auf. Lasse dir nur Zeit, so viel du willst. Ich halte schon auf meinem Gig die Hochwacht. Auf fünfhundert Meter zurück habe ich bequem Ausblick, kann also beizeiten warnen, aber es ist jede Gefahr geschwunden. Die letzten paar Kilometer geht es bergauf; da ist es ganz unmöglich, noch solche Strecken einzubringen, und wenn du nur noch spazieren gehen wolltest. Denke nun zurück, mein Lieber. Was jetzt bergauf geht, ging nach dem Start bergab. Da waren sie die großen Herren! Wo sind sie jetzt? Lasse dir nur Zeit!

37 Die letzte Episode hatte mich allerdings sehr hergenommen, aber es war wunderbar, wie rasch sich die Erholung einstellte. Das Bewußtsein des Erfolges gibt eine ganz erstaunliche Kraft. Ich wurde bei jedem Schritt ruhiger und frischer.

Von weitem schon sahen wir auf der Höhe das Ziel und die bunte Menge des dort versammelten Publikums. Ein Hornsignal, das von Etappe zu Etappe weitergegeben wurde, verkündete das Nahen der Entscheidung, und ich konnte schon die Bewegung wahrnehmen, die das Signal in der Menge hervorrief. Es wimmelte dort wie in einem in Aufregung geratenen Ameisenhaufen.

Max reichte mir die Stopuhr herüber.

Stecke sie ein, mein Freund, sagte er mit einiger Rührung. Du hast sie wohl verdient, und ich habe die Beruhigung, daß sie in der Hand eines tüchtigen Mannes sein wird.

Habe vielen Dank, erwiderte ich nun ebenfalls gerührt. Eigentlich müßte ich dich königlich beschenken, Max. Denn das Ganze ist doch dein Werk; ohne dich hätte ich den Sieg nie und nimmer erringen können.

Wir haben eben zusammen gearbeitet, Lixl. Anders geht es überhaupt nicht. Wie fühlst du dich?

Das kannst du dir doch denken – ganz brillant!

Dann überlasse ich es ganz deinem Ermessen, wie du das Ende abmachen willst. Willst du die Leute noch mit einem letzten Hundert-Meter-Spurt verblüffen, so tue es. Es ist Usus und gehört zum guten Stil, 38 daß die letzten hundert Meter die schnellsten seien. Ich halte es aber für überflüssig, daß du dich noch einmal um den Atem bringst. Auf Rekordzeit sind wir überhaupt nicht ausgegangen – vernünftigerweise – und jetzt wäre es auch zu spät dazu. Ich meine also – keine zwecklose Anstrengung mehr!

Gut. Ich werde also damit protzen, daß ich bei voller Frische keine Eile zeige, weil ich's nicht brauche.

Und so geschah es. Ich lief in schlankem Trab, aber ohne Hast durchs Ziel und war dabei tatsächlich vollkommen frisch und strohtrocken. Und dabei hatte ich das klare Bewußtsein, daß ich im Zustande äußerster Erschöpfung angelangt wäre, wenn es mir nicht beschieden gewesen wäre, als Sieger zu landen.

Meine Zeit war 2 Stunden 59 Minuten und ⅕ Sekunde, und damit hatte ich noch jener Minderheit der Wettenden zu einem Erfolge verholfen, die die Wetten darauf gehalten hatten, daß die Zeit des Siegers sich unter drei Stunden halten werde. An mich freilich als Sieger hatte niemand gedacht. Ich war als blutiger Outsider zum Start gegangen. Meine Zeit war um 9 Minuten 17⅖ Sekunden besser, als die des Zweiten. Das war natürlich Weiser; 11 Minuten 45⅘ Sekunden hinter ihm Lang Dritter.

Noch am selben Abend gab es eine wunderschöne und feierliche Preisverteilung. Fräulein Nelly hängte mir die Schärpe um, und dabei gestand sie mir errötend, daß sie glücklich sei, daß gerade ich sie gewonnen habe. Sie hätte sich das immer gewünscht.

39 Natürlich habe ich dann bald ein vernünftiges Wort mit ihr geredet, und wir kamen überein, daß ich das vernünftige Wort mit Papa reden solle.

Schön. Das mußte besorgt werden – natürlich! Ich hatte aber Angst. Lieber hätte ich fast noch einmal das Training für einen Marathonlauf begonnen – und auch davor hatte ich einen heillosen Respekt!

Ich wollte mir also zunächst Zeit lassen und die Taktik des Wartens in Anwendung bringen. Aber auch das hielt ich nicht aus.

Ich faßte mir also ein Herz, legte meinen Bratenrock an, trat vor den Papa hin und machte meinen Vorstoß. Ich kam nicht sehr gut an. Er sah mich groß und sehr erstaunt an. Der Spurt kam ihm sehr überraschend. Er hatte keine Ahnung, was vorging.

So sind die Väter. Er machte ein sehr ungnädiges Gesicht und sagte recht unwirsch, ob ich denn wirklich glaube, daß er so ein Narr sein werde, sein Kind einem Manne anzuvertrauen, der sich in so verrückte Sachen wie in einen Marathonlauf einlasse!

Ich stand da wie vor den Kopf geschlagen und fand zunächst keine Antwort. Dann aber stieg mir eine riesige Wut auf. Ich wurde grob und schrie wie besessen: Ja, Herr, glauben denn Sie, daß ich so ein Narr gewesen wäre, mich in solche Sachen einzulassen, wenn Sie damals nicht Ihre verrückte Rede gehalten hätten?!

40 Ja, wenn Sie mir so kommen! antwortete er einigermaßen verwirrt. Sie werden mir aber doch erlauben, daß ich mir die Geschichte erst einmal überschlafe. Ich erlaubte das.

Papa wird als richtiger Advokat in diesem Prozeß erst seine Informationen auch bei der andern Prozeßpartei eingeholt haben, und es scheint, daß Fräulein Nelly keine schlechte Information abgegeben hat. Denn Fräulein Nelly wurde meine Frau.

Darüber ist schon viel Wasser die Donau hinuntergeronnen, und heute trainieren bereits unsere Buben!« 41

 


 


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