Balduin Groller
Eine Panik und andre humoristische Erzählungen
Balduin Groller

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Eine Ferienarbeit.

Friedrich Stengel hatte seine Frau zum Bahnhof gebracht, für sie und die Zofe, die ihre Begleitung bildete, die Fahrkarten gelöst, das umfängliche Gepäck aufgegeben, sich selbst aus dem Automaten eine Perronkarte geholt, einem Träger die nötigen Weisungen gegeben, daß er das Handgepäck ins Coupé bringe, dann hatte er herzlich Abschied genommen und als der Zug sich in Bewegung setzte, sein Taschentuch flattern lassen, so lange es noch gesehen werden konnte, und nun stand er wieder vor seinem Wagen, der ihn in die Stadt bringen sollte.

Bevor er einstieg, nahm er sein Merkbüchlein aus der Tasche, um in die lange Liste der Befehle, die ihm seine Gattin hinterlassen hatte, ein System zu bringen.

Die Abreise war ziemlich rasch erfolgt. Die Gattin hatte sich in der letzten Zeit gar nicht recht wohl gefühlt. Der berühmte Professor, der zu Rate gezogen worden war, konnte nicht gut einen Landaufenthalt empfehlen, denn Stengels wohnten ja ohnedies im Sommer und Winter auf dem Lande. Er hatte eine Fabrik chemischer Produkte bei Purkersdorf mitten im Wiener Wald. Die Fabrik lag zwischen bewaldeten Bergen eingebettet. Etwa auf Büchsenschußweite von ihr ragten die Türmchen der herrschaftlichen Villa empor, die Stengel für sich und seine Familie hatte aufführen lassen, 19 nahe genug, um den Verkehr mit der Fabrik nicht zu einem unbequemen zu machen, und doch wieder weit genug, um eine Belästigung durch die Fabrik und ihr Getriebe zu verhindern.

Man war da, obschon kaum zwei Meilen von Wien entfernt, doch in der allerschönsten Landeinsamkeit, nicht weit vom Schienenstrang – schon von wegen der Fabrik, die sogar ihr eignes Zufahrtsgeleise hatte – so im stillen Winkel und unbehelligt von den Menschen und vom Weltverkehr, als wäre man eine Tagreise von der Großstadt entfernt.

Der Professor empfahl also sechswöchentliches oder zweimonatliches Franzensbad, anzutreten je eher, je lieber. Die Vorbereitungen waren bald getroffen. Was noch zu erledigen war – eine abreisende Frau hat immer viel auf dem Herzen – wurde dem gehorsamen Gemahl ins Notizbuch diktiert, und dann konnte es losgehen. Stengel hatte der Einfachheit halber den großen Landauer einspannen lassen, in dem er Gattin, Zofe, das Gepäck und sich selbst unterbringen konnte. Das war immer noch einfacher, als wenn sie mit der Eisenbahn nach Wien gefahren wären. Da hätte es Umsteigerei und Umladerei gegeben, und in der Stadt hätten sie doch wieder einen Wagen nehmen müssen, um vom Westbahnhof auf den Franz Josefs-Bahnhof zu gelangen, was an sich schon eine Reise ist.

Nun stand er vor seinem Wagen und studierte die Aufträge. Es war nicht wenig, und er mußte nachdenken. Dabei strich er sich den angegrauten, kurzgestutzten Vollbart und rückte gelegentlich an seinen goldgeränderten Augengläsern. Selbstverständlich ist alles wichtig, was einem von der Gattin anbefohlen wird, aber der Vorrang gebührte jenem Auftrage, der auch die Christel, das einzige Töchterlein, betraf. Also der zuerst – und überhaupt – gerade dafür gab es noch einen besonderen Grund, sich besonders zu beeilen. Das war nämlich so: die Familie Stengel bestand nur aus Papa, Mama und der Tochter. Mama war 20 abgedampft. Papa hatte doch seine geschäftlichen Arbeiten und Sorgen und wäre auch sonst keine ausreichende Gesellschaft für eine achtzehnjährige Tochter gewesen, die mit der Hausführung nicht allzuviel zu tun hatte, da diese einer Wirtschafterin anvertraut war. Da man jedoch die Tochter in der Einsamkeit nicht völlig verkümmern lassen konnte, mußte also eine Gesellschafterin ins Haus. Eine solche zu beschaffen, das war nun eine Sorge, die Frau Stengel sich nicht hätte abnehmen lassen, wenn sie erstens selbst gewußt hätte, wie sie sich diese in aller Geschwindigkeit vom Halse schaffen solle, und wenn zweitens Herr Stengel nicht auf eine Idee verfallen wäre, die immerhin einige Beruhigung bot. Er hatte sich nämlich seines alten Freundes Gottfried Beheim erinnert, der Direktor einer städtischen Mädchenschule war. Der würde schon Rat wissen.

Nun war aber die Sache in der Tat sehr eilig geworden. Man schrieb den 15. Juli. Das ist der große Tag des allgemeinen Schulschlusses. Wenn Stengel noch lang überlegte und zögerte, konnte es geschehen, daß der Direktor selber seinen Urlaub angetreten hatte, bevor er bei ihm vorgekommen war. Er gab also seinem livrierten Kutscher Auftrag, in die Eßlinggasse zu fahren. Die Nummer des Hauses wußte er nicht genau, er würde schon das Zeichen zum Halten geben.

Er traf den Direktor glücklich an. Schulschluß, der große Kehraus, war gerade vorbei, und Beheim hatte nur noch den Abschiedsbesuch des Lehrkörpers zu überstehen. Er war in freudiggehobener Stimmung. Die Vorfreude ist ja doch die schönste Freude, und der alte Schulmann hatte nicht verlernt, sich auf den Urlaub zu freuen. So etwas verlernt sich wohl überhaupt niemals. Gottfried Beheim war ein weißbärtiger alter Herr mit glänzenden, schwarzen Augen und von jener Würde und Milde im Gehaben, wie sie gerade dem Direktor einer Mädchenschule so wohl ansteht.

Also eine Gesellschafterin? Da wird sich schon etwas 21 machen lassen. Wir müssen uns die Sache nur erst ein wenig zurechtlegen. Deine Frau ist nach Franzensbad gefahren, also nur für die Tochter?«

»Natürlich nur für Christel!«

»Gut, gehen wir weiter. Was ist der Hauptzweck?«

»Die Gesellschaft.«

»Ja doch, aber man muß doch wissen, worauf Wert gelegt wird. Wird auf eine Nachhilfe in Sprachen, Klavier oder sonstigen Schulsachen gerechnet?«

»Christel ist achtzehn Jahre alt und eine fertige Dame. Mit Schulsachen dürfen wir ihr nicht mehr kommen.«

»Ich dachte nur; – vielleicht Konversation im Französischen oder Englischen?«

»Ganz unnötig; sie ist fest genug darin.«

»Desto besser. Nun handelt es sich noch darum, ob ein Drache zur Bewachung der Prinzessin gewünscht wird oder –«

»Nein, kein Drache!«

»Also nicht die schärfere Tonart; keine von der bissigen Sorte – ich könnte auch damit dienen. Soll es eine ältere Person sein oder eine junge? Soll es eine Tugendwächterin sein oder wird auf Repräsentation gesehen?«

»Du fragst zu viel, alter Freund. Schicke mir eine Person, die alle Vorzüge in sich vereinigt, und die Geschichte hat sich gehoben!«

»Schön gesprochen, Menschenkenner! Solche Leute wachsen natürlich so wild, und man braucht nur zuzugreifen. Ich hätte übrigens etwas – es fällt mir gerade ein – aber sie hat einen großen Fehler: sie ist zu hübsch.«

»Diesen Fehler wollen wir ihr gnädigst nachsehen.«

»Es ist auch wahr; erwachsene Söhne hast du ja nicht, überhaupt keinen Sohn, sonst allerdings wäre die Geschichte bedenklich. Du selbst bist ungefährlich; so wie ich. Wir zählen nicht mehr mit.«

»Ich danke für das ehrende Zeugnis!«

22 »Ja, so ein alter Schultyrann wie ich muß an alles denken. Was für ein Honorar wird denn bewilligt?«

»Das zu bestimmen, überlasse ich dir. Du weißt, daß ich es immer für eine schlechte Politik gehalten habe, an den Lehrkräften sparen zu wollen, und wenn es sich hier auch nicht um Unterricht handelt, so soll die Gesellschafterin doch eine Lehrerin sein. Das war eine ganz gute Idee von mir und bietet gewisse Bürgschaft. Du brauchst also nicht zu ängstlich zu sein. Es geschieht für meine Tochter, und da ist mir nicht leicht etwas zu teuer. Nur nicht zu viel Schulfuchserei und Pedanterie! Wir wollen nicht eine Gesellschafterin aufnehmen, damit das Mädel sich mit ihr langweile. Das könnte sie schließlich allein auch noch zusammenbringen.«

»Wir werden schon machen!«

Stengel blieb beim Direktor, als diesem der Lehrkörper seine Aufwartung machte, um sich zu verabschieden. Die Herren interessierten ihn nicht weiter, dafür wandte er den Damen seine besondere Aufmerksamkeit zu. Er wußte, daß der Direktor eine von ihnen wählen werde, und er war neugierig, welche das wohl sei. Er wollte im stillen und lediglich nach dem ersten flüchtigen Eindruck selbst auf gut Glück eine Wahl treffen. Natürlich nur theoretisch, denn er kannte die einzelnen persönlichen Verhältnisse gar nicht, und die Entscheidung lag ja doch beim Direktor.

Er beobachtete also während Rede und Wechselrede, so gut er konnte, und dabei lenkte sich sein Blick immer und immer wieder auf ein junges Persönchen, das ihm sehr wohlgefiel. Der angenehme Eindruck befestigte sich, je öfter er sie ansah. Jung, die jüngste von allen, sichtlich kaum noch über die zwanzig, eine zierliche Gestalt, ein gewinnendes Gesicht, das auch in der Ruhe immer zu lächeln schien. Das machten die großen, braunen Augen, die so fröhlich in die Welt blickten und deren lebhafter Ausdruck sich förmlich aufzulehnen schien gegen den strengen Ernst der prärafaelitischen 23 Haartracht. Das junge Mädchen trug nämlich das reiche, schimmernde, braune Haar locker hereingescheitelt bis zu den Wangen. Gegen diesen Ernst schien auch das Stumpfnäschen zu protestieren, das so gar keine feierliche Tendenz hatte, und nicht minder der frische rote Mund, der augenscheinlich nicht reden konnte, ohne zu lächeln, und nicht lächeln, ohne das Wunder der tadellos regelmäßigen Zähne zu enthüllen. Es war alles so hübsch und lustig an diesem fröhlichen Menschenkind, und Stengel dachte bei sich, daß es vom Direktor sehr schön wäre, wenn er gerade diese Dame auswählen wollte.

Als der Lehrkörper sich endgültig empfohlen hatte und nun im Begriff war, sich zurückzuziehen, ließ der Direktor sich vernehmen: »Fräulein Siebert, darf ich Sie bitten, noch einen Augenblick zu verweilen!«

Stengel bemerkte mit Vergnügen, daß die Angerufene gerade die war, die er sich ausgedacht hatte. Direktor Beheim war also doch ein Ehrenmann!

Das Fräulein blickte erstaunt auf und blieb, während die andern abzogen: »Fräulein Siebert – Fräulein Kamilla Siebert, Herr Friedrich Stengel,« fügte der Direktor seiner Anrede vorstellend hinzu.

»Sehr angenehm!« tönte es unter wechselseitigen Verbeugungen von beiden Seiten zurück.

»Fräulein Siebert, wir hätten eine Ferienarbeit für Sie.«

»Mir ist jede Arbeit angenehm,« erwiderte sie, und, zu Stengel gewandt, fuhr sie lächelnd fort: »Mit seinem Direktor muß man nämlich so sprechen!«

»Es soll keine schwere Arbeit sein – und nur wenn Sie's gern tun! Was wollten Sie in den Ferien unternehmen, Fräulein?«

»Nichts, Herr Direktor. Faulenzen wollte ich, mit Begeisterung faulenzen!«

»Das ist auch die einzig vernünftige Art, seine Ferien zu verwenden, aber – vielleicht läßt es sich doch machen. Sie 24 erinnern sich ja, was Horaz sagt: Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci.«

»Natürlich erinnere ich mich, ganz selbstverständlich!« versicherte sie ernsthaft; zu Stengel aber sagte sie, daß sie sonst im allgemeinen nicht so unverschämt zu lügen pflege, aber mit seinem Direktor müsse man doch eine Ausnahme machen.

Beheim lachte dazu und setzte ihr auseinander, daß er gemeint habe, es sei immer ratsam, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. »Denn schon Hesiod habe gesagt,« aber er hielt noch rechtzeitig inne, um nicht auch noch griechisch zu zitieren. Nun legte sich Stengel selbst ins Mittel. Er war von der jungen Lehrerin entzückt, und es lag ihm daran, sie zu gewinnen. Er klärte den Sachverhalt auf und versicherte, daß er glücklich sein würde, wenn das Fräulein seine Bitte erfüllen wollte.

Kamilla überlegte. Schließlich – es waren doch ihre Ferien, und auf das Faulenzen hatte sie sich so gefreut. Ihr Beruf war kein leichter, und wenn man das Jahr über hart gearbeitet hat, dann lernt man die paar Ferienwochen als einen Schatz würdigen, der wohl verdient, gehütet zu werden. Stengel verlegte sich aufs Bitten. Er war überzeugt, daß er keine bessere Wahl treffen und für seine Tochter nichts Passenderes finden könnte, so viel er auch suchte. Er versicherte, daß eine Arbeit überhaupt nicht verlangt würde; sie solle vielmehr Gast im Hause sein, nicht einmal das – sie solle sich wie zu Hause fühlen.

Kamilla überlegte noch einen Augenblick, dann blickte sie Stengel ins Gesicht und sagte freimütig: »Herr Stengel, Sie gefallen mir. Ich will's versuchen.«

»Das ist ausgezeichnet! Also – abgemacht?«

»Nein, Herr Stengel, noch nicht abgemacht. Ich sagte, ich wolle es versuchen. Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich Ihrer Tochter auch recht sein werde. Und das ist doch die Hauptsache!«

25 Ein kluges Frauenzimmer! dachte sich Stengel. Gemeint hatte sie natürlich, ob ihr die Tochter recht sein wird!

Darüber gab er sich nun keiner Sorge hin, aber ihre Äußerung hatte doch eine ganze Gedankenkette in seinem Haupte losgelöst. Natürlich mußte sie der Tochter und die Tochter ihr passen. Wie man doch in solchen Dingen vorsichtig sein muß! Die Verlegenheit, wenn man sich vorschnell bindet und hinterher draufkommt, daß man einen dummen Streich gemacht habe! Hier war allerdings nichts zu befürchten. Die zwei Frauenzimmer mußten einander gefallen; darauf konnte er sich schon verlassen. Gut war es aber doch, daß seine Gattin bei der Wahl der Gesellschafterin nicht mit dabei war. Sie hatte so eine sonderbare Art, an allen Damen, die ihm besonders wohlgefielen, allerlei auszusetzen, und hier hätte sie sicherlich viel auszusetzen gehabt. Denn Kamilla gefiel ihm ganz ausnehmend wohl. So konnte es denn geschehen, daß ihm »ganz in der Still' und in der G'hoam« der Stoßseufzer durch die Seele fuhr: »Gott sei Dank, daß die Alte nicht dabei ist!«

So sind die Männer.

Es wurde beschlossen, mit all der gebotenen Vorsicht zu Werke zu gehen. Er wollte sie gleich in seinem Wagen mitnehmen, aber ganz so einfach ging das nicht. Erst mußte er mit ihr nach Hause fahren, damit sie doch die Mutter und die Schwester verständigen und dann doch auch die Habseligkeiten zusammenrichten konnte. Und dann wollte sie auch nicht gleich offiziell als Gesellschafterin eingeführt werden, zunächst nur als Besuch. Man wolle doch erst sehen.

»Das ist eine ausgezeichnete Idee!« versicherte Stengel. »Ich werde Sie als die Nichte meines Freundes vorstellen und sagen, Sie seien nur zu Besuch gekommen. Wenn Sie sich dann anfreunden können, dann bleiben Sie einfach da.«

»Wenn Sie's sagen wollen, Herr Stengel, ich habe nichts dagegen. Was mich betrifft, so wissen Sie, daß ich nur meinen Direktor anzulügen pflege.«

26 So wurde es also gemacht.

Stengel hielt seiner Tochter eine schöne Rede, als sie in der Villa angekommen waren. Sie möchte alles aufbieten, sich der jungen Dame, die er mitgebracht habe, so angenehm wie möglich zu machen. Denn das sei keine gewöhnliche, sondern eine ganz ausgezeichnete junge Dame. Er sagte noch eine ganze Menge, was aber weiter gar nicht angehört wurde. Denn die beiden Mädel hatten es auf den ersten Blick herausgehabt, daß sie wie geschaffen füreinander seien und daß es zwischen ihnen keiner Vermittlung bedürfe. Jugend findet sich zu Jugend. Sie hatten sich gleich an den Händen, dann umarmten sie sich und dann küßten sie sich. Der Freundschaftsbund war geschlossen.

Christel nahm die neue Freundin unter den Arm und führte sie fort. Sie hatten ja gräßlich viel zu tun. Vor allen Dingen mußte Mi – Christel hatte nämlich gleich herausgefunden, daß »Kamilla« als Name ja ganz schön, aber entschieden zu lang sei. Zu Hause werde sie sicherlich nicht so gerufen. Na also! Dann wolle sie auch Mi sagen, wenn es erlaubt sei. Natürlich sei das erlaubt; denn man wolle ja auch Christel sagen und nicht Christiane, wozu man immer mindestens einen halben Tag brauchen würde – vor allen Dingen also mußte Mi in Christels Zimmer – »Ich habe nämlich mein eignes Zimmer!« fügte sie gewichtig hinzu – den Reisestaub wegbringen und sich, obschon es natürlich gar nicht nötig war, ein bißchen schön machen.

Christels Zimmerchen war wunderschön eingerichtet. Mi konnte sich daran gar nicht satt sehen. Der Architekt hatte, um die Einteilung sonst recht symmetrisch und rechtwinklig gestalten zu können, alle Unregelmäßigkeiten, die nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen waren, in diesen Winkel zusammengedrängt. So war ein siebeneckiges Zimmer zustande gekommen. Was unter Umständen ein Übelstand gewesen wäre, wurde hier zum Vorzug. Die kleinen, zierlichen Möbelstücke ließen sich trotzdem nicht nur schicklich unterbringen, 27 sie machten sich vielmehr in der scheinbaren Regellosigkeit erst recht gut. Die rosafarbenen Seidentapeten, an jeder Wand anders beleuchtet, sprühten ein mildes, wohltuendes Licht aus, das seine sanften Reflexe über das Spitzenkunstwerk des Zeltaufbaues über Christels Bett breitete und über all die hundert Nippsachen huschte, die mit mädchenhafter Sorgfalt und Wichtigkeit überall, wo es nur möglich war, aufgestellt waren. Die kleinkalibrigen Polstermöbel waren mit schimmernder dunkelblauer Seide überzogen, und das Holzwerk daran war vergoldet. Den Hauptreiz lieh aber dem Zimmer der Erker mit seiner erhöhten Balustrade. Das war ein liebes, lauschiges Plätzchen, das eine köstliche Aussicht ins Grüne, auf prangende Wiesen, auf Berg und Tal bot.

Mi wirtschaftete auf dem Waschtischchen mit der goldtönigen Onyxplatte herum, um sich schön zu machen. »Man muß sich schön machen für eine solche Umgebung!« meinte sie.

»Ach, Mi, Sie sind so schön!« rief Christel begeistert aus.

»Nein, Christel, Sie sind viel schöner.«

Dann lachten sie beide über den Unsinn und umarmten sich.

Eine junge Dame wird nicht lange zusehen, wie eine andre sich schön macht, ohne daran zu denken, für sich auch etwas zu tun. Christel empfand also das Bedürfnis, eine andre Bluse anzuziehen. Sie bestritt ganz entschieden, daß dazu gar kein Anlaß vorläge. Man steht zwar in dieser Waldeinsamkeit nie einen Menschen, wird also auch nicht gesehen, aber wenn man einen so lieben Gast habe, dann müsse diesem zu Ehren etwas geschehen. Da nun etwas geschehen mußte, machte sie ihren Kleiderschrank auf und kramte ihre schönen Sachen heraus, die von Mi mit ungeteiltem Interesse und vollem Verständnis einer eingehenden Besichtigung unterzogen wurden. Bei zwei neuen Seidenblusen wurde Halt gemacht. Die waren überhaupt noch nicht eingeweiht. Mama hatte sie vor ihrer Abreise noch rasch für Christel angeschafft, damit diese in ihrer Abwesenheit etwas zum Anziehen habe. Eine Bluse war cremefarbig 28 und hatte einen feinen Spitzenkragen und Spitzenaufschläge bei den Handgelenken, die andre geblümt, ein Millefleurs-Muster in japanesischem Geschmack.

Man ging ans Probieren. Die cremefarbige erwies sich als zu eng für Christel, aber die andre, die ihr überhaupt lieber war, saß brillant! Nun sollte Mi die cremefarbige probieren. »Wozu denn?«

»Nur so.« Es sei doch eine ganz hübsche Unterhaltung.

Mi probierte, und die Bluse saß großartig. Christel war entzückt und behauptete, so etwas noch nicht gesehen zu haben.

»Ja, wenn ich so eine Gestalt hätte!« seufzte sie in neidloser Bewunderung.

»Sie sind ein Kind, Fräulein Christel! Ihre Gestalt ist viel schöner!«

»Nein, Mi. Sehen Sie doch nur, wie ich meine Bluse ausfülle! So sieht man jetzt gar nicht aus! Jetzt muß man schlank sein. Das Modernste sind recht schmale Hüften. Ach, wenn ich doch nur so recht, recht sezessionistisch aussehen könnte!«

Sie vertieften sich ganz ernsthaft in das Problem der neuesten Mode und einigten sich dahin, daß man jetzt anstandshalber allerdings eine entsprechende Magerkeit aufzuweisen habe. Dann wurde unter lebhaftem Bedauern und gegenseitigen Tröstungen festgestellt, daß sie eigentlich und genau genommen beide nicht recht in der Lage seien, die neue Mode mitzumachen.

Christel wollte nicht dulden, daß Mi die cremefarbige Bluse wieder ablege. Ihr passe sie ja so nicht, und dann werde sie sich ja doch nicht entschließen, »Creme« zu tragen. Das würde ihre Gesichtsfarbe gelb erscheinen lassen, während Mi in der Bluse geradezu blühend aussehe. Nun hub der edle Wettstreit an.

Die Bluse sei ja allerdings sehr schön, meinte Mi, aber sie könne sich doch nicht gleich so mir nichts dir nichts Blusen schenken lassen!

29 Warum denn nun nicht, wenn sie schon so gut sitze!

Weil, weil – das sei doch ganz klar!

Dann sollte ihr Mi eine von ihren Blusen geben!

Das ginge nicht. Erstlich würde sie nicht passen, und dann hätte sie überhaupt nicht so schöne Sachen!

Nun erst begann Christel zu überlegen. Wenn Mi nicht so schöne Sachen hatte, dann war sie vielleicht arm, und da war es für Christel eine doppelte Freude, ihr etwas Schönes zu schenken. Das sollte Mi erst recht nicht merken. Es wurde also gebeten, gestritten, geschmollt, und schließlich einigte man sich unter zahlreichen Versöhnungsküssen dahin, daß Christel ein dünnes Goldkettchen, woran ein kleines, in Mariazell geweihtes silbernes Kreuz hing, als Gegengeschenk für die Bluse annehmen mußte. Sie hatte sich lange gesträubt und behauptet, daß Mi von ihr nun bewuchert sei, aber schließlich hatte sie doch eine riesige Freude mit dem Kettchen und dem Kreuzchen.

Sie gingen als Duzfreundinnen, die sich ewige Liebe und Treue geschworen hatten, ins Speisezimmer hinüber, wo Herr Stengel schon mit einiger Ungeduld ihrer harrte, denn die gewöhnliche Essensstunde war schon längst vorbei, und außerdem hatte der lange und ereignisreiche Vormittag seinen Appetit ganz erheblich geschärft. Er gab also unverzüglich das Signal zum Beginn. Man setzte sich zu Tisch und langte allerseits tapfer zu.

Erst als der schwarze Kaffee aufgetragen wurde, kam das Gespräch recht in Fluß. Stengel lehnte sich behaglich zurück, während die jungen Damen schön gerade sitzen blieben. Er zündete sich eine Zigarre an und fragte galant, ob nicht auch Fräulein Kamilla eine Zigarette nehmen wolle, und als sie dankend zugriff, freute er sich und beeilte sich, ihr Feuer zu reichen. Nun meldete sich aber Christel zum Wort: »Papa, ich bitte, auch mich zu fragen, ob ich nicht eine Zigarette haben möchte!«

30 »O, ich bitte tausendmal – mein Fräulein, dürfte ich mir die ganz ergebene Anfrage erlauben, ob Sie wohl die Gewogenheit –«

»'s ist gut, mein Herr, reichen Sie mir gefälligst die Schachtel herüber.«

»Ich mache darauf aufmerksam,« wandte sich Stengel nun an Kamilla, »wie sehr das Beispiel wirkt.«

»Ja – böse Beispiele!«

»Es wirkt auch das gute. Ihr Beispiel wirkt. Ich muß nämlich bemerken, daß dieses gnädige Fräulein – regelmäßig einen Korb gegeben hat, wenn ihr der Dr. Dielitz eine Zigarette anbot. Ja so – Sie wissen noch gar nichts von Dr. Dielitz! Wir sind nämlich durch die Abreise meiner Frau und durch meine sonstigen Geschäfte ein wenig aus der Ordnung. Sonst essen wir viel früher, und Dr. Dielitz ist immer mit bei Tisch, sehr häufig kommt auch Direktor Kübler, unser Fabrikdirektor, herüber. Wir haben es also nicht immer gar so still und einsam wie heute. Ich hoffe also, Fräulein Kamilla, daß Sie sich auf die Dauer nicht gar zu sehr bei uns langweilen werden.«

Christel horchte hoch auf. Das war ja das erste Wort, daß sie darüber hörte, daß Mi längere Zeit bleiben sollte. Das machte sie ganz glücklich, und sie erhob sich sofort und ohne ein Wort zu sagen, um das Zimmer neben dem ihrigen zurecht zu machen und wohnlich herzurichten.

Stengel benützte ihre Abwesenheit, um sich mit Kamilla vertraulich auszusprechen: »Nun, Fräulein, was haben Sie für einen Eindruck von ihr gewonnen? Wird es sich machen lassen? Sie müssen nicht gleich antworten. Vielleicht wollen Sie erst noch einige Tage beobachten und überlegen.«

»Das ist nicht mehr nötig, Herr Stengel. Wir haben bereits Freundschaft geschlossen, und wenn Sie mich behalten wollen – ich bleibe mit Vergnügen!«

»Das freut mich, freut mich wirklich. Christel ist ja ein guter Kerl, und Sie werden sicher mit ihr auskommen.«

31 »Und zu lernen brauchen wir wirklich gar nichts?«

»Nicht das mindeste. Sie sollen sich unterhalten, je mehr – desto besser!«

»Dann kann ich mir ja schönere Ferien gar nicht wünschen! Aber haben Sie wirklich keinen Auftrag für mich, Herr Stengel? Etwas soll der Mensch doch zu tun haben.«

»Sie bringen mich da auf eine Idee, Fräulein Kamilla. Etwas hätte ich schon auf dem Herzen. Es wäre ein Auftrag, ein sehr delikater Auftrag, und wenn jemand das Zeug hätte, ihn auszuführen, dann wären Sie es, Fräulein.«

»Ich wäre sehr froh, wenn ich mich nützlich machen könnte, Herr Stengel.«

»Sehen Sie mal, Fräulein, – aber die Sache ist furchtbar diskret –«

»Ich bin keine Plaudertasche, Herr Stengel.«

»Ich denke mir, Sie haben Christel liebgewonnen, oder daß Sie sie sicher noch liebgewinnen werden –«

»Ist bereits geschehen!«

»Nun denn – und daß Sie dann vielleicht gern mithelfen werden, ihr Glück zu begründen.«

»Mit tausend Freuden, wenn ich etwas dazu tun könnte.«

»Vielleicht können Sie es. Ich habe vorhin von einem Dr. Dielitz gesprochen. Er ist unser täglicher Gast bei Tisch. Es geht kaum anders; denn es wäre schwer für ihn, sich da in der Nähe anderweitig anständig zu beköstigen.«

»Ist er Arzt?«

»Ach nein. Er ist ein ganz junger Mann von vierundzwanzig Jahren, Doktor der Philosophie, von Beruf Chemiker, und er arbeitet als Volontär an der Seite des Direktors in meiner Fabrik. Seine Eltern sind sehr wohlhabend, sehr! Ich stehe mit seinem Vater seit vielen Jahren in reger Geschäftsverbindung. Sie haben nämlich auch eine chemische Fabrik in Kötzschenbroda, und sie ist viel größer als die meinige. Der junge Mann ist nun bei uns, um sich praktisch auszubilden. Ich habe mich mit meiner Frau besprochen, 32 habe auch mit seinen Eltern verständigt – es würde von beiden Seiten als eine sehr passende und wünschenswerte Verbindung angesehen werden.«

»Ich beginne zu begreifen.«

»Die Gelegenheit wäre ja so günstig wie nur möglich. Er ist auf unser Haus angewiesen, und die beiden jungen Leute haben keinerlei Ablenkung, und doch –«

»Und doch?«

»Und es rührt sich doch nichts! Sie verkehren in aller Harmlosigkeit miteinander, als wenn das so fortgehen sollte bis an ihr seliges Ende. Auf beiden Seiten eine rührende Ahnungslosigkeit! Sie kommen einfach nicht vom Fleck, und das dauert nun schon an die drei Monate!«

»Was läßt sich da aber tun?«

»Wir konnten natürlich unsrer Christel nichts sagen, und ebenso hat man ihm zu Hause nichts gesagt. Wir dachten eben, sie sollten sich selber finden. Das wäre doch wohl das Richtige. Man möchte doch sein Kind nicht zwingen – nicht einmal zureden! Die ganze Sache taugt nichts, wenn nicht beide mit aller Sehnsucht demselben Ziele zustreben.«

»Wie könnte ich aber nun da etwas dazutun, Herr Stengel?«

»Es wäre nicht unmöglich, Fräulein Kamilla. Eine vertraute Freundin kann manches, was Mama und Papa nicht können. Die beiden jungen Leute sind die reinen Toren, sie sind so dumm, daß man ihnen ein wenig die Augen öffnen muß. Sie könnten das tun, Fräulein – sie so ein bißchen zusammenhetzen!«

»Ja, wie macht man das nur?«

»Ich stelle mir das gar nicht so schwierig vor. Sehen Sie sich erst einmal den jungen Mann an – Sie werden ihn ja heute abend noch sehen – ich glaube, Sie werden finden, daß er eine ganz passende Partie für Christel wäre. Nun dann – dann singen Sie bei passender Gelegenheit 33 ihr sein Lob und ihm das ihrige. Es kommt ja alles nur auf den richtigen Moment an.«

»Das ist ja ein ganzer Roman, dessen Fäden ich mit meinen Händen leiten soll!«

»Die ganze Kunst besteht darin, die beiden Leutchen aufeinander aufmerksam zu machen. Ich glaube nämlich, sie haben sich noch gar nicht bemerkt. Nun, darf ich auf Sie zählen, Fräulein Kamilla?«

»Ich möchte Christel gern etwas Liebes erweisen.«

»Ich glaube, daß Sie ihr damit Liebes erweisen werden. Sie können sich doch denken, liebstes Fräulein, daß ich als Vater nicht weniger um Christels Glück besorgt bin als Sie.«

Das mußte einleuchten, und Kamilla versprach gern, Vorsehung spielen zu wollen, so gut sie nur könnte.

Als Christel wiederkam, war das Komplott fertig geschmiedet.

Christel war noch ganz erfüllt von der Freude über die Aussicht, die sich ihr eröffnet hatte. Sie hatte schon alles mögliche vorgekehrt, um ihrer neuen Freundin den Aufenthalt so angenehm wie nur möglich zu gestalten, und ihre Wangen glühten noch von dem Arbeitseifer, den sie soeben im Hinblick darauf entfaltet hatte. Nun wollte sie mit Kamilla Tennis spielen. Dazu mußte erst Toilette gemacht werden. Die beiden Mädchen zogen sich zurück und machten sich ans Werk.

Kamilla hatte sich aufs Tennisspielen nicht eingerichtet und war daher gar nicht dazu ausgerüstet. Das habe gar nichts zu bedeuten, erklärte Christel; sie selbst sei zur Genüge ausgerüstet, auch für zwei. Rackets waren zur Auswahl in hinlänglicher Anzahl vorhanden und verschieden im Gewicht, so daß jede Neigung und Gewohnheit befriedigt werden konnte. Rock und Bluse aus weißem Flanell, die Christel aus ihrem Garderobekasten herbeigeschleppt hatte, paßten zu ihrer Freude ganz vortrefflich und nur die Tennisschuhe, die sie ihrer Freundin persönlich anzog, erwiesen sich als ein 34 wenig zu groß. Das war gerade kein Unglück, höchstens ein Schönheitsfehler. Darauf kam es beim Lawn-Tennis nicht so sehr an, wenn sie nur bequem waren! Und das waren sie.

»Christel, du bedienst mich ja, als wenn du meine Zofe wärest!« sagte Kamilla und suchte der Eifrigen zu wehren. Diese ließ sich aber nicht abhalten und setzte ihre Bemühungen nur umso emsiger fort.

»Dann lasse wenigstens auch mich dir helfen!«

Das wollte Christel jedoch nicht leiden. Das sei sie gar nicht gewohnt, und es ginge am geschwindesten, wenn sie alles allein mache. Kamilla fühlte sich ordentlich bedrückt durch Christels Dienstfertigkeit. Es schien ihr das Verhältnis förmlich auf den Kopf gestellt.

»Weißt du, Christel,« begann sie, »du sollst mich nicht so bedienen. Das geht nicht. Ich bin kein gewöhnlicher Gast!«

»Ich weiß es – ein ungewöhnlicher Gast, ein außergewöhnlich lieber Gast!«

»Gar kein Gast! Ich bin aufgenommen und werde bezahlt, um dir zu Diensten zu stehen!«

»Das hast du mit Papa auszumachen. Geht mich nichts an. Was mich betrifft, ich möchte von dir viel mehr haben, als wofür man dich bezahlen kann.«

»Und das wäre?«

»Du sollst mich ein bißchen lieb haben!«

Darauf umarmten sie sich und küßten sich wieder und begaben sich nach dem Tennisgrunde, wo es sich sehr bald herausstellte, daß Kamilla die überlegene Spielerin war.

Auf das Spiel folgte ein längerer Waldspaziergang, von dem sie dann sehr angeregt heimkehrten. Sie hatten ja auch ihr Abenteuer gehabt. Sie hatten ein ganzes Rudel Rehe gesehen. Das war zu reizend gewesen.

Sie hatten einen Wolfshunger mitgebracht, und Christel teufelte im Hause herum, weil das Abendessen noch nicht 35 aufgetragen war. Es sei ja schon fertig, wurde ihr erwidert, aber der Herr Doktor, der doch heute kommen soll, sei noch nicht da.

Ja richtig – der Herr Doktor! Kamilla hatte gar nicht mehr an ihn gedacht, und nun fiel auch gleich die ihr übertragene Mission ein. Sie hatte Christel wirklich liebgewonnen, und da wollte sie sich den sächsischen Doktor doch erst einmal recht genau ansehen, ob auch sie mit gutem Gewissen ihren Segen dazu geben könne. Sie sah gar nicht ein, warum sie da mithelfen solle, wenn es gegen ihre bessere Überzeugung ging. Eine innigere Verbindung der beiden Fabriken hatte kein sonderliches Interesse für sie, wohl aber ging es sie sehr viel an, daß dafür nicht etwa Christels Lebensglück geopfert werden solle.

Alle Bedenken und Zweifel hatten übrigens sehr bald ein Ende, als Dr. Wolfgang Dielitz pünktlich zum Abendessen eintrat. Beim ersten Anblick war sie sich darüber im klaren, daß das ein junger Mann sei, wie man ihn nur der besten Freundin wünschen könne. Da war es freilich leicht, den Wünschen Herrn Stengels Folge zu leisten, und sie nahm sich vor, mit wahrer Begeisterung alles zu tun, um seine Pläne zu fördern. Sie begriff Christel gar nicht, daß sie sich, zumal da weit und breit kein andrer Bewerber in Sicht war, nicht sofort in den Mann verliebt habe. Da konnte man schon etwas tun, um ihr die Augen zu öffnen. Er war doch ein hübscher Mensch – ein sehr hübscher Mensch – von hoher, sehniger Gestalt, trug sein Blondhaar kurz geschoren, so auch den Schnurrbart und den kleinen Kavaliersbart bei den Ohrläppchen; sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, der Hals, soweit er bei dem modischen hohen Hemdkragen sichtbar war, ebenfalls durch die Einwirkung der Sonnenstrahlen gerötet, seine wohlgepflegten Hände doch breit und ausgearbeitet. Man sah es ihm an, daß er seine athletischen Liebhabereien haben mußte.

Das war also immerhin ein Mann, den man sich gefallen 36 lassen konnte. Kamilla wollte aber nicht vorschnell urteilen. Sie wollte weiter beobachten, wie seine Art zu sprechen, sein ganzes Gehaben sei. Sie beobachtete also, und dabei gewann Dr. Dielitz nur immer mehr. Sie begriff Christel einfach nicht, die sich nun mit voller Hingebung und Ausschließlichkeit der Stillung ihres wohlerworbenen und gesunden Appetits widmete. Der wollte sie schon die Augen öffnen!

Der Doktor war – alles was wahr ist! – allerdings ein wenig wortkarg und dabei sichtlich von ausnehmender Schüchternheit. Es war, als käme er jedesmal in Verlegenheit, wenn man das Wort an ihn richtete, aber dann drückten seine Mienen doch jedesmal so viel Freundlichkeit und Zuvorkommenheit aus, daß man nicht nur Sympathie für ihn gewinnen mußte, sondern auch geradezu Vertrauen. Es war wirklich unbegreiflich, daß Christel noch so gar nicht seine Vorzüge erkannt hatte. Er schien ja etwas zurückhaltend und gemessen, aber das war offenbar auf Rechnung seiner Schüchternheit zu setzen. Zurückhaltung wohl, aber keine Hinterhältigkeit. Man las ihm ja, wenn er sprach, die Ergebenheit vom Gesicht herunter, und seine außerordentliche Höflichkeit wirkte in ihrer ergebenen Aufrichtigkeit immer wie eine Huldigung.

Nach dem Abendessen zogen sich die beiden Mädchen zurück, um vor dem Schlafengehen noch miteinander zu plaudern. Kamilla glaubte, gleich ans Werk gehen zu sollen, und begann: »Du, Christel, das ist ja ein Prachtmensch, dein Dr. Wolf!« So ward nämlich Dr. Wolfgang Dielitz im Hause genannt.

»Mein Dr. Wolf?« erwiderte Christel. »Ich schenk' ihn dir, er sei dein eigen!«

»Nein, ohne Scherz, er ist ein Prachtmensch.«

»Wenn er dir nur gefällt, dann ist's ja gut.«

»Das ist Nebensache. Ich glaube, er könnte dir auch sehr wohl gefallen.«

»Nun, so so!«

37 »Er scheint doch ein sehr tüchtiger, wissenschaftlich gebildeter Mensch zu sein?«

»Ob der wissenschaftlich gebildet ist! Lasse dich nur mal ein mit ihm und du wirst was erleben! Wenn der einmal anfängt von seinen Säuren und Salzen, dann soll Gott behüten, dann kommst du überhaupt nicht mehr los!«

»Kann er denn so gesprächig sein?«

»Riesig, aber nur über Sachen, die ihn interessieren.«

»Das begreife ich schon.«

»Ja, aber nicht über Sachen, die mich interessieren.«

»Das möchte ich doch sehen! Schließlich hat man es doch ein wenig in der Hand, das Gespräch zu lenken, wie man es selber möchte.«

»Mit ihm?! Probier's! Er ist aus seinem Bau nicht herauszulocken. Was ich mich mit dem schon gelangweilt habe, das geht in ein Haus nicht hinein! Verlaß dich auf mich – er ist sehr langweilig.«

»Er hat aber doch ganz angenehm geplaudert!«

»Wem's gefällt!«

»Ich muß sagen, ich habe ihn sehr geistreich gefunden.«

»Das auch noch!«

»Für sehr geistreich.«

»Ich kenne ihn besser. Wenn er geistreich ist, verstellt er sich.«

»Du bist ein Kind, Christel! Ich weiß nicht, welche Anforderungen du an einen Mann stellst!«

»Gar keine, nur langweilen soll er mich nicht.«

»Langweilen! Sage selber: war er heute langweilig?«

»Ja – heute! Das war etwas andres. Da warst du da!«

»Du wirst doch nicht glauben, daß er mir zuliebe –«

»Ich glaube nicht, Mi, ich weiß. So lebhaft war er sonst nie!«

»Wir haben doch auch nicht nur von Salzen und Säuren gesprochen!«

38 »Du weißt ihn eben zu nehmen. Er war wie ausgewechselt.«

»Du siehst also, daß er doch aus dem Baue herauszulocken ist.«

»Ja, Mi, wenn man sich die Mühe nehmen will! Mir macht das keinen Spaß. Mich langweilt er. Aah!«

Christel gähnte mit hübsch koloriertem Tonfall; sie war sehr schläfrig. Sie geleitete Kamilla in ihr Zimmer, um sie zu Bett zu bringen.

»Eine verkehrte Welt!« rief Kamilla, aber Christel ließ es sich nicht nehmen, ihr beim Auskleiden behilflich zu sein, und ging nicht eher von ihr, bis sie die neue Freundin in ihrem Bett untergebracht und sorglich zugedeckt hatte. Dann trug sie ihr noch auf, nur ja etwas Schönes zu träumen, denn der erste Traum in neuen Verhältnissen gehe bestimmt in Erfüllung. Dann küßten sie sich und sagten sich gute Nacht!

Kamilla erinnerte sich am nächsten Tage nicht daran, etwas geträumt zu haben, aber die Gedanken, die ihr vor dem Einschlafen durch den Kopf gegangen waren, beschäftigten sie nun auch beim hellichten Tage. Es war klar, daß Herrn Stengels Idee sehr vernünftig war, und daß sie mit gutem Gewissen ihre kleine Intrige ins Werk setzen konnte. Weiter war ihr noch etwas klar: dumm war in diesem Falle nicht der Dr. Wolf, sondern die kleine Christel, die das nicht würdigte, was ihr das Schicksal über den Weg geschickt hatte. Worauf die nur noch wartet! Einen Bessern wird sie in ihrem ganzen Leben nicht finden. Eine jede andre müßte sich glücklich preisen. Wie doch die verwöhnten reichen Mädchen unklug sein können! Sie wird doch nicht auf einen Märchenprinzen warten wollen! Sie wird ihr schon den Kopf zurechtsetzen, und das Werk wird gelingen. Davon war sie überzeugt. Aber recht traurig ist es doch bestellt auf dieser Welt. Die reichen Mädchen, die ohnedies alles haben, denen wird alles auch noch auf goldenen und silbernen Schüsseln 39 nachgetragen, und man muß sie auch noch förmlich zu ihrem Glücke zwingen. Um die armen Mädel kümmert sich kein Mensch, und gerade denen täte doch eine kleine Nachhilfe zur Erlangung des Glückes so wohl! Sie dürfen sich in aller Stille ihre Gedanken machen, sich sehnen und abhärmen und, ohne mit der Wimper zu zucken, das Glück an sich vorbeiziehen lassen. – –

Am nächsten Tage traf man bei Tisch wieder mit dem Doktor zusammen. Er hatte beiden Damen je eine schöne Rose mitgebracht. Papa Stengel freute sich sehr darüber und fand es im stillen für einen hübschen Zug, daß der junge Mann bei dieser Galanterie auch die Gesellschafterin bedacht habe. So gehört es sich, man weiß deshalb doch die richtige Absicht zu erkennen. Christel ihrerseits fand es beachtenswert, daß er früher niemals auf so eine Idee verfallen sei.

Die Unterhaltung bei Tisch war recht lebhaft. Kamilla war aber die einzige, die sich über diese Unterhaltung keine besonderen Gedanken machte, während die andern drei bei sich die Tatsache feststellten, daß es früher niemals so lebhaft zugegangen sei, und daß man an der neuen Gesellschafterin wirklich ein belebendes Element gewonnen habe. Gegen früher war das doch etwas ganz andres!

Es war eingeführt – nach Ansicht Kamillas keine besonders glückliche Einführung – daß unmittelbar nach dem Mittagessen Stengel und der Doktor beim schwarzen Kaffee und der Zigarre eine Stunde Schach spielten. Genau eine Stunde, denn der Doktor mußte ja dann noch in die Fabrik hinüber. Sie fanden mit der Stunde ihr genügendes Auskommen. Im Gegensatz zu der Bummelei auf den Schachturnieren, wo eine Partie manchmal gleich mehrere Tage in Anspruch nimmt, befleißigten sich diese zwei Spieler mit Vorliebe eines Rennfahrertempos, das es ihnen ermöglichte, den gloriosen Rekord von zehn Partien für die Stunde aufzustellen. Daß sich darob gewisse große Schachmatadore noch 40 im Grabe herumdrehen könnten, das störte diese zwei Spieler nicht im mindesten in ihrer Gemütsruhe.

Christel brachte das Schachbrett herbei und deckte den beiden Herren auf, dann setzte sie sich zu Kamilla in eine Fensternische.

»Machen die das immer so?« fragte Kamilla flüsternd.

»Immer!«

»Das ist aber gar nicht schön, insbesondere vom Herrn Doktor! Er sollte sich lieber mit dir unterhalten!«

»Ich unterhalte mich so besser,«

»Beim Zuschauen?«

»Beim Zuschauen!«

»Verstehst denn du etwas vom Schach?«

»Ich spiele es nicht schlecht.«

»Spielt es der Doktor auch gut?«

»Er spielt gräßlich.«

»Und Papa?«

»Noch gräßlicher!«

»Wo bleibt da die Unterhaltung?«

»Paß nur auf, Mi, es geht gleich los. Ich sage dir – das reine Theater! Du wirst glauben, du bist in einem Tollhaus!«

»Aber Theater und Tollhaus sind doch nicht dasselbe?«

»Du wirst schon sehen und – hören! Das sind doch zwei sehr gescheite und gesetzte Männer, aber so wie sie sich zum Schachbrett setzen, dann ist's, als wären sie beide irrsinnig.«

»Ich verstehe dich nicht, Christel.«

»Paß nur auf!«

Es ging los, und sie paßten auf. Das waren in der Tat zwei höchst vernünftige, bis zu einem gewissen Grade recht pedantische Menschen, wenn sie aber zu spielen begannen und alle Gedanken auf die Figuren vor sich konzentrierten, dann wurden alle Neckgeister in ihnen frei und in der Freude, 41 unbewacht zu sein, stellten sie allen möglichen koboldmäßigen Unfug an.

»Also ziehen Sie sich an, junger Mann!« begann Stengel; er meinte, der Doktor solle anziehen.

»Zieh, Schimmel, zieh!« ermunterte dieser sich selbst.

»Und hier, meine Antwort postwendend. Was jetzt?«

»Jetzt kommt der Bauer!«

»Der Bauer! Habe nie so gelacht!«

»Der Bauer ist kein Spielzeug nicht, erlaube ich mir zu bemerken.«

»Sehr richtig bemerkt! Ha, Bube! Du kommst mir mit einem Kiesericky-Gambit?!«

»Kiesericky war ein großer Mann!«

»Ein sehr großer Mann. Aber nicht so langsam! Jetzt nehmen Sie gefälligst beide Hände, so und so und so, daß wir über die Präliminarien wegkommen.«

»Ich bin schon weg. Was sagen Sie nun aber zu diesem Rößlein?«

»Was ich sage?« Und nun begann Stengel zu singen: »Rößlein, Rößlein rosenrot, Rößlein auf der He–e–eide!«

»Jetzt kommt der Dolchstoß!«

Nun sang aber Stengel im schönsten Bariton: »Ferraras Fürst erbebet nicht, er –«

»– bebet nicht!« fiel der Doktor, in die Terz fallend, ein.

»Erbebet nicht!« donnerte Stengel. »Übrigens – Herr – wenn Sie etwas singen wollen, dann fangen Sie sich's auch selber an!«

»Ich singe, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet.«

»Er singt, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnt! Herr, das ist eine Gemeinheit!«

»Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht.«

»Das sag' ich auch, ganz meine Ansicht. Jetzt – heraus mit Eurem Flederwisch, Herr Doktor, ich pariere!«

42 »Jetzt kommt er mir doch in die Laube! Ihr geehrter Turm ist hin!«

»Ist hin! Gersprenz ist hin, der züchtige Ort – veritrunken! Aber Rache ist süß! Rache, Rache, Rache!«

Stengel sang eine Rachearie, worauf der Doktor, da nun sein schwarzer Läufer bedroht war, mit voller Bruststimme die Gnadenarie anhub. Das ganze Haus hallte wider von dem dröhnenden Gesang der beiden Kämpfer.

Da kam ein kritischer Moment. Stengel hatte seine Dame eingestellt und war nun in Gefahr, sie zu verlieren.

»Das war nur ein Versehen!« rief er. »Euer Hochwohlgeboren werden schon erlauben!« Er nahm also die Dame und stellte sie auf ihren früheren Platz zurück. Dann mußte er natürlich auch den letzten Zug des Gegners rückgängig machen. Damit war es aber auch noch nicht abgetan, denn seine Lage war noch immer eine recht prekäre. Er stellte also in aller Raschheit noch fünf, sechs Figuren um, unter der Versicherung, daß alles so gewesen sei, und daß das ja weiter gar nichts zu bedeuten habe. Als er sich so nach und nach eine ganz angenehme Situation geschaffen hatte, gewann er wieder Mut und sang wieder mit vollem Brustton: »Ferraras Fürst, erbebet nicht!«

Der Doktor trommelte dazu mit den Händen auf der Tischplatte den Takt und gab sich anerkennenswerte Mühe, erst die Posaune und dann die großen Tschinellen zu imitieren. Dabei geschah es ihm, daß nun er die Dame einstellte.

»Verzeihung, das war nur ein Irrtum!« rief er und griff nach der gefährdeten Figur.

Stengel fiel ihm in den Arm.

»So haben wir nicht gewettet, mein Sohn! Versehen ist verspielt!«

»Versungen und vertan!«

»Merken Sie sich das, junger Mann: ein Schachspieler, der nur halbwegs etwas auf sich hält, wird niemals einen Zug zurücknehmen. Wir sind ja schließlich keine Kinder. 43 Gezogen ist gezogen! Ich habe es niemals zugegeben, daß ein Zug zurückgenommen werde. Natürlich würde ich auch selber niemals so etwas beanspruchen.«

Nun hatte Stengel die gegnerische Dame erobert und freudig stimmte er wieder seine Arie an: »Ferraras Fürst, erbebet nicht!«

»So, so? Belieben Ferraras Fürst zu sein?«

»Jawohl – Ferraras Fürst –! Ich bin's, den alle Häscher suchen, bin's, dem alle Mütter fluchen – und Sie, was sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Ich? Ein Schütz bin ich in des Rege–enten Sold!«

»Ferraras Fürst!«

»Ein Schütz bin ich!«

Crescendo bis zum fortissimo: »Ferraras Fürst!«

»Ein Schütz bin ich!«

Das Getöse wuchs ins kolossale und fand mit einem großen Krach seinen Abschluß. Stengel war trotz der ergatterten gegnerischen Dame in eine Sackgasse geraten und wurde regelrecht mattgesetzt.

»Eine frische!« schrie Stengel rachgierig, aber – an jenem Tage spielten sie nicht weiter. Die beiden Damen setzten sich zu ihnen und begannen allerlei zu plaudern. Das war Herrn Stengel nicht gerade angenehm, denn es lag ihm viel daran, seinen Revanchekrieg glorreich zu Ende zu führen, aber anderseits – er hatte ein Einsehen. Es war früher doch nicht vorgekommen, daß Christel das Bestreben gezeigt hätte, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Seinetwegen konnte dies nun nicht sein, das verstand sich von selbst. Wenn sie also das Bedürfnis fühlte, den Doktor in ein Gespräch zu verwickeln, so wollte er nicht hinderlich sein. Er mußte vernünftig sein und als Vater nicht nur ein Einsehen haben, sondern auch ein Opfer bringen können, er durfte daher einer ehrbaren Annäherung nicht im Wege stehen, wenn er sie schon nicht fördern konnte, wenigstens nicht gar zu auffällig.

44 Von Kamilla war er einfach entzückt. Er hatte schon im geheimen und so im Vorbeigehen mit vielsagenden Mienen und halben Worten bei ihr angefragt, wie es um die berühmte Mission stünde, ob sie entschlossen sei, sie durchzuführen und ob sie glaube, daß sie Erfolg haben werde. Er hatte darauf die kurze, aber erfreuliche Auskunft erhalten, daß das Werk im Zuge sei, und daß sie hoffe, es zu einem guten Ende zu führen.

Nun konnte er sich selbst überzeugen, wie geschickt sie ihre Sache machte. Es war ordentlich ein Vergnügen zuzuhören, wie sie den jungen Mann auf die denkbar anmutigste und unverfänglichste Art herumkriegte.

»Sie sind ein begeisterter Schachspieler, Herr Doktor?« fragte sie lächelnd.

»Begeistert – ist vielleicht ein wenig zu viel gesagt; ich spiele es ganz gern. Können Sie es auch, Fräulein Kamilla?«

»O ja, ich spiele es ziemlich häufig.«

»Ah, dann müssen wir unsre Kräfte einmal messen, Fräulein Kamilla!«

»Sehr gern, aber ich glaube, Sie werden der Stärkere sein, Herr Doktor.«

»Das glaube ich nun nicht, aber es wird sich ja herausstellen. Übrigens gebe ich zu, daß Schach eigentlich wirklich nicht ein Spiel für Damen ist.«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Natürlich, unser Verstand reicht dafür nicht aus!«

»O, ich meinte es nicht so, Fräulein Kamilla, aber denken Sie nur, man muß eine ganze Stunde still sitzen und darf nicht ein Sterbenswörtchen reden!«

»Ja, das werden die Weiber nie zustande bringen!« stimmte Herr Stengel mit geräuschvollem, ein wenig krächzendem Lachen zu. Denn während des Doktors Stimme nur einigermaßen umflort war, hatte er eine ganz gehörige Heiserkeit davongetragen. Na ja – wenn man eine halbe Stunde so gebrüllt hat!

45 Kamilla blickte erstaunt auf. Der Doktor hatte ganz ehrlich gesprochen. Die beiden hatten keine Ahnung von dem Konzert, das sie aufgeführt hatten.

»Das ist mir ja das Angenehme an dem Schachspiel, daß man dabei nicht eine Silbe zu reden braucht. Man macht seinen Zug, und nun muß sich der Gegner den Kopf zerbrechen, wie er zu antworten hat – ebenfalls ohne einen Ton von sich zu geben. Das ist so recht das Feld, wo Schreien nichts hilft und nur Tatsachen beweisen!«

»Ich glaube selbst, daß beim Schach Schreien nicht viel hilft,« gab Kamilla willig zu. »Aber eigentlich, Herr Doktor, gilt das für jedes Spiel, zum Beispiel für das Tennis auch.«

Herr Stengel war sehr vergnügt. Kamilla hatte da eine Angelegenheit aufs Tapet gebracht, die auch ihm schon immer auf dem Herzen gelegen hatte. Wenn der Doktor nur dazu gebracht werden konnte, daß er seine regelmäßige Tennispartie mit Christel hatte, so war davon schon eine gegenseitige Annäherung zu erhoffen. Der Mensch mußte ja immer geschoben werden, das war klar. Er konnte Tennis spielen, und anfangs hatte er auch einigemale mit Christel gespielt, aber dann war die Geschichte wieder eingeschlafen, offenbar weil der junge Herr zu bequem war. Nun war also Kamilla an der Arbeit, die Partie wieder zustande zu bringen, und das war jedenfalls sehr löblich.

In Wahrheit war aber der Doktor gar nicht zu bequem gewesen. Christel hatte Kamilla über die Sache schon aufgeklärt. Er hatte nur einfach den Tennis-Hochmut, wie Christel versicherte. Er spielte es viel besser als sie, und da machte es ihm keinen Spaß, sich mit ihr abzugeben. Sie freute sich aber schon darauf, daß Kamilla ihm etwas aufzulösen geben werde. Das würde seinen Hochmut schon etwas dämpfen, und das wird dann auch eine Revanche für sie sein!

Nach längerer, von Kamilla mit besonderer Feinheit geführter diplomatischer Unterhaltung wurde also beschlossen, 46 von nun an zu »tenisseln«, und zwar zu »singeln«. Die Damen sollten abwechseln; es werde ihm nicht zu viel werden, beiden standzuhalten. Kamilla erklärte zwar, daß sie viel lieber zusehe, als selbst spiele, ihr war es darum zu tun, Christel in den Vordergrund zu schieben, aber da kam sie bei beiden schlecht an. Das fehlte noch! Wird einfach nicht bewilligt; sie muß mitspielen.

Nun gab es eine förmliche Umwälzung in der Tagesordnung. Es ging nicht anders, als die Morgenstunde dem Spiele zu widmen. Und welche Morgenstunden! Von halb sieben bis halb neun! Das hieß für die Damen um halb sechs aufstehen, und das ist doch eine große Sache!

Wenn drei junge Leute, zwei Damen und ein Herr, so täglich zwei Stunden ungestört beisammen sind, dann rückt man sich natürlich näher. Man wird so ganz allmählich und ohne daß man es selbst recht merkt, vertrauter und vertraulicher miteinander; die steife Förmlichkeit weicht und es bürgert sich ganz unversehens ein mehr kameradschaftlicher Ton ein. Man spricht doch nicht ewig nur vom Spiel, sondern gelegentlich auch von etwas andrem, und dann kommt man vom Hundertsten ins Tausendste. Man lernt sich besser kennen, teilt sich seine großen und kleinen Leiden und Freuden mit, holt sich Rats, verteidigt seine »Ansichten« und ist bestrebt, für sie Propaganda zu machen.

Es war ein ganz schöner Dreibund, gegründet auf die gegenseitige Freundschaft; das alles war ganz in Ordnung, aber – Herr Stengel war doch ein ganz gediegener Seelenforscher und Menschenkenner! – so junge Leute verkehren nicht so lange und so vertraulich miteinander, ohne daß die Liebe sich da eine kleine Brandstiftung zuschulden kommen ließe.

Herr Stengel beglückwünschte sich mehr als je zu seinen guten Ideen. Ohne die glückliche Wahl, die er hinsichtlich der Gesellschafterin getroffen, wäre es nie so weit gekommen. Er beobachtete gut, er war überhaupt ein scharfer Beobachter, 47 und er sah es mit eignen Augen und hörte es mit eignen Ohren, wie Kamilla immer diskret dafür sorgte, daß der Doktor sich mit Christel beschäftigen mußte, und wie sie nicht müde wurde, scheinbar ganz absichtslos seine trefflichen Eigenschaften ins hellste Licht zu rücken.

Also das mit der Gesellschafterin war einmal eine der glücklichen Ideen. Die andre war die, daß er so nachdrücklich mitgeholfen hatte, die tägliche Partie zusammenzubringen. Seine geschätzte Frau Gemahlin – die wird schauen bei ihrer Heimkehr aus Franzensbad. Immer hatte sie an seiner diplomatischen Kunst etwas auszusetzen; immer hatte sie sich in der kühnen Behauptung gefallen, daß man bei seiner Mitwirkung in heiklen Angelegenheiten in beständiger Angst leben müsse, da er doch immer mehr verderbe als nütze. Und nicht nur er, sondern die Männer üherhaupt! Er war sehr neugierig, was sie nun sagen werde. Denn – das war klar – das hätte sie in ihrem Leben nicht zusammengebracht.

Nicht zwei Worte hatten sie miteinander früher vertraulich geredet, der Doktor und die Christel, und nun verging kein Tag, ohne daß er sie heimlich miteinander reden gesehen hätte. War das ein Tuscheln und eine Freude und ein heimliches Händedrücken! Er tat nur so, als ob er es nicht bemerkte, aber er bemerkte es sehr wohl und freute sich darüber.

Herr Stengel hatte richtig gesehen. Der Doktor und die Christel hatten jetzt im Gegensatz zu früher in der Tat eine ganze Masse von Heimlichkeiten miteinander. Das war so gekommen: Kamilla hatte, nicht nur weil es ihr aufgetragen worden war, sondern auch ihrer eignen Überzeugung folgend, bei Christel Tag für Tag eine geradezu hinreißende Beredsamkeit zugunsten des Doktors entwickelt. Ihr war jeder Anlaß erwünscht, sein Lob zu verkünden, und dieses Gesprächsthema war ihr immer ein willkommenes. Nicht so aber auch für Christel, wenigstens im Anfange nicht. Sie langweilte sich bei diesen ewigen Hymnen, und eine Zeitlang 48 setzte sie den endlosen Lobeserhebungen ihre eigne, bei weitem weniger enthusiastische Meinung entgegen. Dann gab sie auch das, als offenbar nutzlos, nach und nach auf und hörte nur geduldig zu.

Dann aber kam ihr eines Tages eine Erleuchtung, die sie glücklich machte. Als Kamilla wieder einmal so redete, ward Christel plötzlich stutzig. Sie sah sie groß an, dann umarmte sie sie stürmisch und küßte sie. Sie sagte aber nichts, und Kamilla fragte nicht. Sie freute sich ebenfalls, und als Christel vor Freude zu weinen begann, weinte sie mit Vergnügen ein wenig mit.

Kamilla fragte nicht, weil sie dachte, daß Christel nun endlich doch auf das Richtige gekommen sei. Christel aber sagte nichts, weil sie fühlte, daß es so zarte und beglückende Dinge gäbe, an die man gar nicht rühren dürfe. Es war ihr plötzlich so durch den Kopf geschossen und sofort ward auch jeglicher Zweifel gebannt: Kamilla liebt den Doktor! Sie liebt ihn, und sie weiß es selbst noch nicht!

Das war nun ein gräßlich interessanter Fall für Christel. Jetzt sollte Kamilla kennen lernen, was eine wahre Freundin sei! Vor allen Dingen durfte ihr die Unbefangenheit nicht geraubt werden, damit sie ihre unabsichtlichen Bekenntnisse nicht einstelle, die nun natürlich für Christel durchaus nicht mehr langweilig, sondern geradezu riesig wichtig waren. Christel nahm sich vor, gar nichts zu reden – aber zu handeln! Das war die Gelegenheit, sich als Freundin zu zeigen. Jetzt mußte nur noch der Doktor mit der entsprechenden diplomatischen Feinheit in Behandlung genommen werden.

Sie nahm sich ihn also bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit in aller Heimlichkeit vor – noch immer nicht heimlich genug, um nicht von dem scharf aufpassenden Papa bemerkt zu werden – und ging daran, ihm eine Mitteilung von ganz ungewöhnlicher Wichtigkeit zu machen.

Ob er denn noch gar nichts bemerkt habe? Er wüßte nicht, was er bemerkt haben sollte. – Nun ja, das konnte 49 man sich denken. Die Männer bemerkten überhaupt nichts. Sie meine es aber gut mit ihm und wolle ihm gern zu Hilfe kommen.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Fräulein Christel.«

»Eine Eroberung haben Sie gemacht, Herr Doktor.«

»Ach, das ist doch wohl nicht möglich!«

»Es ist doch so. Wenn ich etwas sage – verlassen Sie sich nur auf mich!«

Nun wurde doch auch er sehr neugierig, aber sie wollte mit der Sprache nicht gleich heraus.

»Wo sollte ich nur die große Eroberung gemacht haben?«

»Das ist mein Geheimnis.«

»Aber Sie werden mir's sagen?«

»Ja, wenn Sie schweigen können.«

»Aber, Fräulein Christel! Ich bin ein bekannt großer Schweiger!«

»Also, Sie versprechen?«

»Ich verspreche.«

»Sie müssen mir die rechte Hand darauf geben!«

»Hier, meine rechte Hand!«

Und nun ging's los. Christel verriet, daß er die Eroberung bei Kamilla gemacht hätte. Das sei ganz entschieden nicht möglich, behauptete er. Sie habe Beweise, versicherte sie, Beweise! Die wollte er kennen lernen.

»Bitte! Wenn ich etwas sage, dann ist es wahr; dann beweise ich es auch!« Und sie berichtete ihm haarklein, was Kamilla alles über ihn gesagt habe.

Er hörte zu, und es klang ihm wie himmlische Musik.

»Ist das alles wahr?« fragte er mit stockendem Atem.

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!«

»Wirklich, Ihr Ehrenwort? Geben Sie mir auch die rechte Hand darauf?«

Sie gab ihm die rechte Hand, und freudig bewegt drückte er sie und küßte sie – die rechte Hand, es fehlte nicht viel, so hätte er, in seinem Glück, Christel umarmt.

50 Herr Stengel sah das alles sehr wohl aus der Ferne und hatte eine große Freude daran.

»Wissen Sie, Fräulein Christel,« sagte der Doktor dann, »daß Fräulein Kamilla das beste Herz von der Welt hat! In derselben Weise äußert sie sich täglich zu mir über Sie! Sie haben an ihr eine wahre Freundin; sie hat sie ganz ins Herz geschlossen!«

»Sie ist eine gute Seele! Aber merken Sie denn den Unterschied nicht, Sie neunmal weiser Herr Doktor Wolf?« Und dann fuhr sie auf seine Versicherung, daß er in der Tat nichts bemerke, mit großer Wichtigkeit und dem Ausdruck überlegener Einsicht fort: »Wenn sie von mir Gutes spricht, so ist das Freundschaft, wenn man aber von einem gewissen Herrn Dr. Wolf so schwärmt, so ist das –«

Sie vollendete nicht und sah ihm nur lachend in die Augen, und er war so glücklich, daß er jetzt allerdings sehr nahe, außerordentlich nahe daran war, sie wirklich zu umarmen, und nicht nur die rechte Hand, sondern die ganze Christel, wie sie ging und stand.

Herr Stengel, der alles sah, ohne aber etwas zu hören, hielt es nun an der Zeit, sich sachte davonzustehlen. Wenn es schließlich doch dazu kommen sollte, so wollte er nicht etwa ein störendes Element bilden.

Diese geheimen Konventikel wiederholten sich nun täglich. Immer hatte Christel etwas Neues zu berichten; denn immer hatte Kamilla »schon wieder« etwas gesagt. In der Tat ward von Kamilla nicht ein Wort in den Wind gesprochen; jedes fand seinen guten Ort und wurde treu und sicher hinterbracht.

Das ist nun so eine Sache. Wenn einem jungen Manne täglich vorphantasiert wird, wie sehr eine junge Dame von ihm schwärme, und diese junge Dame ist zufällig keine Nachteule, dann wird das im allgemeinen auf die Dauer auf den jungen Mann nicht ganz ohne Eindruck bleiben. – 51 Diese treffende Bemerkung aus dem Schatze tiefer Lebensweisheit auch nur so im allgemeinen. Im besonderen aber wäre hier das gar nicht erst nötig gewesen, da der junge Mann schon von der ersten Begegnung her tief durchdrungen war von der felsenfesten Überzeugung, daß die betreffende junge Dame auf dem ganzen Erdenrund überhaupt ihresgleichen nicht habe.

So war denn alles im Hause Stengel ungemein befriedigt. Vom Doktor brauchte man überhaupt nichts zu sagen, höchstens daß der Ausdruck »befriedigt«, auf seine Gemütsverfassung angewandt, als ein lächerlich bescheidener zu bezeichnen wäre. Herr Stengel rieb sich im stillen die Hände, und das ist immer und nicht ohne Berechtigung als ein Zeichen hoher innerer Befriedigung betrachtet worden. Christel fühlte sich sehr wohl in dem Bewußtsein, die Geschicke zweier Menschen zu lenken und damit Gutes zu tun. Kamilla endlich war auch nicht unzufrieden. Es gefiel ihr alles, alles so gut in dem Hause; sie hätte es gar nicht besser wünschen können. Und eigentlich erfreulich war es doch auch, daß es mit der ihr übertragenen Mission so schön vorwärts ging. Sie hatte doch schon Erfolg aufzuweisen, und mit Genugtuung berichtete sie täglich darüber an Herrn Stengel, der wieder seinerseits mit Genugtuung zuhörte. Früher – wenn sie zu Christel vom Doktor sprach, machte diese allerlei Einwendungen oder war zerstreut und hörte gar nicht recht zu. Das war jetzt ganz, ganz anders. Jetzt ging kein Wort mehr verloren; jetzt hörte sie mit größter Aufmerksamkeit zu; sie konnte gar nicht genug hören. Sie wich auch dem vormals so wenig beliebten Gesprächsthema nicht mehr aus, sondern ermunterte förmlich Kamilla, immer nur bei demselben Thema zu bleiben. Und überhaupt war Christel wie ausgewechselt; es mußte etwas ganz Besonderes in ihr vorgehen. Sie hüllte Kamilla förmlich ein in ihre Liebe. Ohne irgendeine äußere Veranlassung schloß sie sie zehnmal im Tage in die Arme und küßte sie, wie eine Mutter ihr Kind küßt. Es war klar, es glühte 52 ein großes Glück in ihr, und welches Glück sollte das sein, wenn es nicht die Liebe war?!

Mehrmals in der Woche wurde die Unterhaltung am Mittagstische durch die Anwesenheit des Fabrikdirektors Kübler belebt. Das war ein hochgewachsener, robuster Mann in den Dreißigern, mit einem blonden Vollbart. Herr Stengel hatte das so eingerichtet. Er tat sich zwar fleißig um in der Fabrik, aber es kam bei seinen vielen sonstigen Obliegenheiten und andren Geschäften häufig genug vor, daß er gerade nicht zur Stelle und auch sonst nicht leicht aufzufinden war, wenn der Direktor ihm irgendeine geschäftliche Mitteilung zu machen oder von ihm einen Rat oder einen Auftrag einzuholen hatte. Für solche Fälle hatte Stengel angeordnet, daß Direktor Kübler ohne weitere Anmeldung zum Mittagessen herüberkommen sollte. Dadurch wurden Umständlichkeiten vermieden und Zeit gespart. Überdies war in der Einsamkeit Gesellschaft immer willkommen, und Kübler, der Junggeselle war, brauchte kein besonderes Opfer zu bringen, wenn er zur Tafel erschien.

Kübler war immer guter Dinge. Er hatte ein lebhaftes, vielleicht ein wenig zu geräuschvolles Temperament und bildete selbst für solche Witze noch ein sehr dankbares Publikum, mit welchen Herr Stengel anderweitig nur recht wenig Glück gehabt hätte. Neben seiner geschäftlichen Tüchtigkeit sicherte ihm auch dieser Umstand die Sympathie und die Wertschätzung Herrn Stengels. Kübler war in diesen Tagen auch angeregter und besser im Zuge als je zuvor. Das machte die Gegenwart Kamillas. Das junge Mädchen gefiel ihm ausnehmend wohl, obschon sie ihn so ein bißchen von oben herunter behandelte. Sie war nämlich nicht von demselben Gefühle der Bewunderung erfüllt wie er. Er wandte sich mit Vorliebe an sie, aber ihr erschien er, wo er zutunlich sein wollte, nur derb, und das behagte ihr nicht. Da pflegte sie manchmal das Näschen zu heben und einen Hochmut zu markieren, der, weit entfernt, ihn zu verletzten, seine 53 Bewunderung nur noch erhöhte. Dann ging er darauf aus, sie noch mehr zu reizen, obschon er im voraus wußte, dadurch nur noch neue Niederlagen zu erleiden. Denn Kamilla führte eine feine, wohl polierte und geschmeidige Klinge, der er durchaus nicht gewachsen war, aber es behagte ihm, ihre Überlegenheit und Schlagfertigkeit am eignen Leibe zu spüren. Er freute sich und lachte dazu.

Etwa drei Wochen nach der Abreise der Gnädigen nach Franzensbad schrieb Herr Stengel seiner Gattin folgenden Brief:

»Mein süßes Herz!

Dich im richtigen Besitz meines Ergebenen vom 5. 8. a. c. schätzend, habe ich Dir auch heute keine besonderen Neuigkeiten zu melden. Es geht alles seinen geregelten Gang, und ich sehne mich sehr nach Dir. Das Haus Kolbenheyer hat also wirklich umgeschmissen. Du hattest schon immer gesagt, daß die Frau einen zu großen Aufwand macht. Ich habe aber mit meiner berühmt feinen Nase beizeiten den Braten gerochen und mich salviert, so daß wir nur mit einem blauen Auge davonkommen. Wir hängen im ganzen nur noch mit K 3000 – (dreitausend), wovon im Ausgleichswege doch 40–50 Prozent hereinzubringen sein werden. Alles übrige geht vortrefflich. Du wirst mich loben, wie fein ich alles arrangiert habe. Fräulein Siebert ist mit anerkennenswerter Umsicht auf meine Intentionen eingegangen. Eine kleine Nachhülfe war nötig, aber nun zeigt sie auch schon ihre Wirkung. Christel, die großartig aussieht und jetzt förmlich aufblüht, und der schüchterne Sachse haben täglich ihre Heimlichkeiten, die ich sehr wohl sehe, während die Kinder glauben, daß ich gar keine Ahnung hätte. Natürlich hole ich auch immer Kübler soviel wie möglich aus, um mich über Dr. Dielitz zu informieren. Er sagt, Dielitz sei ein durchaus gediegener Mann von bedeutendem Fachwissen, nebenbei sei er der liebenswürdigste und sanfteste Mensch, der ihm jemals untergekommen wäre. Das höre ich sehr 54 gern, und es wird auch Dir nicht unlieb sein. Einem solchen Manne kann man doch mit Beruhigung – aber keine Zukunftsmusik! Lassen wir die Ereignisse an uns herankommen. Ich meine nur, daß es angenehm ist, sich über Christels Zukunft einigermaßen beruhigt fühlen zu können.

Es scheint übrigens, als wenn unsre Villa sich zu einem kleinen Heiratsnest entwickeln sollte. Meinem Beobachterblick – bekanntlich meine Stärke! – ist nämlich etwas nicht entgangen, was die Betreffenden selbst noch gar nicht zu ahnen scheinen, daß sich nämlich zarte Fäden zu spinnen beginnen zwischen dem Direktor Kübler und unsrer Gesellschafterin. Mir kann es recht sein. Mir ist ein verheirateter Direktor lieber, und Fräulein Siebert ist eine leidlich hübsche und verständige Person, der ich das Glück wohl gönne.

Kassa geht noch heute nach Wunsch an Dich ab. Ich will nur hoffen, daß Dir die Kur recht gut anschlägt. Pflaumen, Nüsse, Pfirsiche und Weintrauben reifen wunderschön. Christel wird selber schreiben, und somit verbleibe ich ohne Mehranlaß für heute mit tausend Grüßen und Küssen

Dein getreuer Gatte

Friedrich.«

Herr Stengel war ein Seelenforscher und Menschenkenner. Er sah die Entwicklung der Dinge im vorhinein und freute sich darauf. Er hatte seiner Frau gegenüber nicht zu viel Aufhebens mit seinen Beobachtungen gemacht, aber er wußte, daß sie ihn loben werde! Das wird sie besonders freuen, daß der Doktor nicht nur so ein tüchtiger, sondern auch ein so ausnehmend liebenswürdiger und sanfter Mensch sei. Das waren doch Charaktereigenschaften, die wohl der Beachtung wert waren. Und nicht etwa ein befangener und verliebter Backfisch war es, der sie ihm nachsagte, sondern ein ernster, nüchterner Fach- und Geschäftsmann!

Sehr fein hatte er auch das gegeben, was er über Kamilla geschrieben hatte. »Fräulein Siebert« und »eine leidlich hübsche Person!« Das klang so wohl temperiert, obschon 55 eigentlich auch er ganz begeistert von Kamilla war. Aber als großer Psychologe wußte er selbst wohl, daß man niemals rechtes Glück damit hat, wenn man einer Frau, und nun gar der eignen Frau, die Schönheit und den Geist einer andern gar zu begeistert anpreist. Das klingt immer etwas verdächtig und weckt leicht Opposition.

Eines Tages, als Kübler wieder zum Essen herübergekommen war, begab sich im Vorzimmer der Stengelschen Villa etwas Absonderliches, wenn auch im allgemeinen in Vorzimmern nicht allzu Ungewöhnliches.

Man war nach Tisch. Kübler war ins Vorzimmer hinausgegangen, um für die Zigarre, die ihm Herr Stengel angeboten hatte, in irgendeiner Tasche seines Überrockes die Zigarrenspitze zu suchen. Da kam mit dem schwarzen Kaffee und dem dazu nötigen Geschirr in den Händen Kamilla von der Küche ins Vorzimmer.

Es geschah zum erstenmal, daß sich der Direktor für einen Augenblick allein mit Kamilla sah. Das brachte ihn ganz aus dem Häuschen. Er ging auf sie zu und legte seinen mächtigen rechten Arm um ihre zarten Schultern.

»Jetzt, Fräulein, sind Sie meine Gefangene!« flüsterte er ihr zu.

»Was fällt Ihnen denn ein, Herr Direktor? Lassen Sie mich augenblicklich los!«

»Nicht ohne Lösegeld!«

Und damit faßte er sie mit der Linken am Kinn, daß sie sich nun wie in einem Schraubstock befand, und drückte der Wehrlosen einen Kuß auf die roten Lippen.

Absonderlich! Ob aber auch gar so ungeheuer ungewöhnlich im Vorzimmer? Es ist schwer zu sagen. Jedenfalls steht die Tatsache aufrecht, daß ernste Forscher schon zahlreiche derartige Fälle festgestellt haben.

Kamilla war wütend, war außer sich, so sehr, daß sie ihre sonstige Geistesgegenwart gänzlich im Stich ließ; sie wußte sich nicht anders Luft zu machen, als durch eine 56 kräftige Verbalinjurie. Sie sagte dem Direktor unumwunden, daß er ein hervorragender Flegel sei.

Kübler suchte seine Zigarrenspitze weiter, sie aber trug mit funkelnden Augen das Kaffeebrett ins Zimmer, stellte es dort nieder und zog sich in ihr Zimmer zurück.

Als Christel nach einer Weile kam, um nach ihr zu sehen, fand sie sie in Tränen aufgelöst. Das gab nun erst eine große Bestürzung, dann ein Umarmen und Küssen, Fragen und Drängen, aber Mi schüttelte nur immer mit dem Kopfe und wollte nichts sagen. Christel war trostlos und selber ganz unglücklich, Mi so unglücklich zu sehen. Nach und nach dämmerte ihr ein beruhigender Schein auf. Es war klar, in Kamillas Seele wühlten große Schmerzen, und welche Schmerzen konnten es sein, wenn es nicht die der Liebe waren?

Dafür mußte es Heilmittel auf der Welt geben, und sie war glücklich, für diesen Fall über einige pharmazeutische Kenntnisse zu verfügen. Mehr, als daß sie Kopfschmerzen habe, war aus Kamilla nicht herauszubringen. Christel machte ihr also fürsorglich auf dem Sofa ein Lager zurecht, bettete sie recht bequem und betreute sie auch sonst wahrhaft mütterlich. Sie solle nur ein wenig ruhen, dann werde es schon besser werden. Sie ließ noch die Rouletten herab, um dem rücksichtslosen Lichte zu wehren, und dann setzte sie sich still zu der Leidenden, wie eine barmherzige Schwester, die in der Krankenstube Wache hält.

Die Ruhe tat Kamilla wirklich wohl. Sie schlief bald ein und schlief ruhig, wenn auch wie bei einem Kinde, das über sein Weinen eingeschlummert war, das Schluchzen noch im Schlafe nachwirkte. Mit einer tiefen Regung zärtlicher Rührung beobachtete Christel die Schlafende, dann erhob sie sich nach einer Weile und schlich auf den Fußspitzen davon. Sie mußte sich doch um die Apotheke kümmern.

Der Doktor war glücklicherweise noch nicht fort. Sie 57 winkte ihn heimlich beiseite, was Herr Stengel recht stillvergnügt bemerkte.

»Was ist's mit Fräulein Kamilla?« fragte er hastig im Flüsterton.

»Ich weiß es nicht, Herr Doktor. Ich fand sie in ihrem Zimmer in Tränen zerflossen!«

»Um Gottes willen – was ist denn geschehen?« Er war ganz bleich geworden.

»Ich weiß es nicht, sie will nichts sagen. Ich weiß nur, daß sie unglücklich ist.«

»Was kann es aber nur sein?«

»Habe keine Ahnung. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, Herr Doktor?«

Dr. Dielitz konnte sich Kamillas Zustand durchaus nicht erklären. Er war überhaupt unfähig, einen Gedanken zu fassen, und höchstwahrscheinlich nun nicht minder unglücklich als Fräulein Kamilla. Er ergriff – zur hohen Befriedigung des spionierenden Herrn Stengel – beide Hände Christels und beschwor sie, so eindringlich er konnte, es doch nur ja herauszukriegen, was Kamilla habe, und ihm jedenfalls noch vor dem Abend darüber zu berichten. Wenn's nicht anders ging, durch eine Zeile in die Fabrik. Er würde in der Nacht kein Auge zutun können, wenn er nicht vorher eine beruhigende Aufklärung erhielte.

»Haben Sie wirklich keine Ahnung, Dr. Wolf?« fragte Christel noch einmal und sah ihm dabei voll in die Augen.

Er war zu unglücklich, um irgend etwas begreifen zu können. Sie mußte noch deutlicher werden.

»Wenn Sie nur gehört hätten, was sie heute wieder gesagt hat!«

Er ließ nicht nach zu bitten, Christel möchte doch mitteilen, was Kamilla heute wieder gesagt habe.

Christel sträubte sich. Es sei doch eigentlich unrecht und Verrat, daß sie so alles ausplaudere. Er hörte nicht auf zu bitten.

58 »Sie sagte, daß ich sicher noch vom Schicksal bestraft werden würde, weil ich Sie so gar nicht Ihrem Werte nach zu würdigen wüßte.«

»Hat sie das gesagt? Wirklich, Fräulein Christel?«

»O, sie hat noch viel mehr gesagt!«

»Ach, bitte, verraten Sie weiter!«

»Verrat ist Schande!«

»O, wählen Sie die Schande, mein Fräulein!«

»Nein, jetzt sage ich nichts mehr. Sie werden mir sonst zu eitel und grüßen mich am Ende gar nicht mehr.«

»Ich werde Sie nicht nur grüßen, sondern segnen bis an mein Lebensende als meine Wohltäterin und meine gütige Fee!«

Daraufhin gab sie viele Äußerungen Kamillas wieder, schließlich wurde sie so deutlich, daß sogar Dr. Dielitz alles begreifen mußte. Es war sicher nichts andres, als daß Kamilla an einer unglücklichen Liebe litt, und wenn er auch jetzt noch nicht daraufgekommen sei, um welchen Unglücksmenschen es sich da handle, dann sei ihm überhaupt nicht zu raten und zu helfen.

Der Doktor wollte in namenloser Ungeduld sofort zu Kamilla eilen, aber Christel gab das nicht zu. Sie wird nicht durchgehen. Jetzt muß man ihr vor allen Dingen Zeit lassen, sich zu beruhigen. Morgen ist auch noch ein Tag!

»Wenn es nun aber doch etwas andres ist?« fragte darauf der Doktor, in dem sich nun wieder die Zweifel zu regen begannen. Man glaubt nicht so rasch und so leicht an sein Glück!

»Um so besser ist es dann, abzuwarten,« erwiderte weise Christel. »Bekomme ich es heute noch heraus, dann schicke ich Ihnen sofort Nachricht hinüber.«

Der Doktor ging, und ein Sturm tobte in seiner Brust. Das Glück, das Christel ihn hatte ahnen lassen, war unsicher; sicher aber schien es, daß Kamilla unglücklich war, 59 und das genügte, seine Seele mit der schwärzesten Melancholie zu erfüllen. Was ist diese Welt, was ist das ganze Leben wert, wenn ein solches Wesen unglücklich sein kann!

Kamilla war nach einem gesunden, halbstündigen Schlaf einigermaßen beruhigt aufgewacht. Ihre erste Regung war gewesen, nicht eine Stunde länger in einem Hause zu bleiben, wo ihr solches widerfahren konnte. Wenn sie sich nur mit irgend jemand hätte beraten können. So verlassen und schutzlos war doch gar niemand auf der Welt wie sie! Wem hätte sie sich anvertrauen, wer hätte sie beschützen sollen? Es war nicht nur der Zorn und die Empörung, die ihr die Tränen erpreßt hatten, ein wenig war es auch das Mitleid mit sich selbst, weil sie sich so preisgegeben sah, und weil weit und breit niemand da war, der sich ihrer angenommen hätte. Ihr war eine Schmach angetan worden, sie wollte fort, mußte fort.

Aber dann kam die bessere Erwägung. Wenn sie so Knall und Fall ging, dann mußte sie doch eine Erklärung geben. Was sollte sie Herrn Stengel, was der Christel sagen? Welche Auskunft sollte sie ihrem Schuldirektor geben, wenn er eine Frage über ihr auffälliges Verhalten an sie richtete? Kamilla war ein verständiges Mädchen. Sie verhehlte sich nicht, daß es geratener sei, die Wahrheit zu verschweigen, als sie laut auszurufen – in diesem Falle wenigstens. Die Schande, die ihr widerfahren, sollte nicht auch noch Flügel bekommen. Noch wußte niemand von der Sache, und es machte ihr nur Sorge, wie sie sich über ihre Tränen vor Christel ausreden solle. Dieser Sorge sah sie sich aber glücklicherweise bald enthoben.

Christel war wirklich eine gute Seele. Sie war wieder ganz Güte und Aufopferung – aber sie fragte nicht. Das war nun jedenfalls die denkbar beste Lösung. Hinter dieser Christel steckt doch mehr, als man vermuten sollte. Der Takt und das Zartgefühl! Da konnte man suchen, bis man wieder so ein Mädchen fand.

60 Jetzt war es nur der Zorn, der in Kamilla arbeitete. Der brutale Attentäter mußte gestraft werden. Der sollte sie kennen lernen, wenn sie schon gezwungen war, noch fernerhin seine Gesellschaft zu dulden!

Sie sollte nicht lange zu warten haben, um ihr Mütchen an ihm zu kühlen. Sie und Christel waren in den Park gegangen und hatten sich dort in einer Laube mit einer Handarbeit häuslich eingerichtet. Da sahen sie auf dem Kieswege nicht weit von der Laube den Direktor lustwandeln. Als er die Damen bemerkte, da guckte er plötzlich in die Luft und tat, als sähe er gar nichts. Dann machte er scheinbar harmlos und ganz unauffällig kehrt und gedachte so zu entwischen. Das böse Gewissen drückte ihn doch. Kamilla war aber durchaus nicht geneigt, ihn ungestraft entwischen zu lassen. Sie wandte sich zu Christel und flüsterte ihr hastig zu: »Rufe ihn her!«

»Herr Direktor, Herr Direktor!« ließ Christel ihre helle Stimme ertönen.

Da gab es keine Rettung. Er kehrte wieder um und kam mit nicht allzu raschen Schritten heran. Er machte eine sehr höfliche Verbeugung, als er bei der Laube angekommen war, und fragte mit etwas unsicherer Stimme, ob er die Damen nicht etwa störe.

»O, durchaus nicht!« nahm sofort Kamilla ganz unbefangen das Wort. »Sie kommen sogar gerade recht gelegen, um eine Streitfrage zwischen uns zu entscheiden. Wir brauchen einen Schiedsrichter.«

»Einen Schiedsrichter?« fragte er, verständnislos aufblickend.

Christel heftete ihre Blicke aufmerksam auf ihre Handarbeit. Auch sie wußte nicht, was Kamilla da eigentlich vorhabe.

»Ja, Herr Direktor. Wir können uns nicht einigen. Sagen Sie, was ist besser, dümmer zu sein, als man aussieht, oder dümmer auszusehen, als man ist?«

61 »Halt, Fräulein, nicht so schnell! Ich bin ein langsamer Denker. Das muß ich mir erst zusammenreimen. Ob es besser ist –«

»Die Sache ist doch sehr klar. Würden Sie zum Beispiel vorziehen, Herr Direktor, dümmer auszusehen, als Sie sind –«

»Dümmer auszusehen?«

»Jawohl,« fuhr Kamilla, ganz in ihren sachlichen Eifer vertieft, fort, »noch dümmer auszusehen, als Sie so schon sind, oder –«

»Oder? Ganz richtig! Oder noch dümmer zu sein, als – ich verstehe!«

In der Tat begann ihm nun das Verständnis aufzudämmern, daß da mit ihm Gericht gehalten werden sollte.

»Nun, Herr Direktor, wie entscheiden Sie sich? fragte Kamilla mit unschuldiger Naivität weiter. »Wie lautet Ihre Entscheidung? Wir werden uns ohne weiteres vor ihr beugen.«

Christel förderte mit großer Gewissenhaftigkeit ihre Handarbeit, und es war ganz vergeblich, daß der Direktor seinen hilfesuchenden Blick auf sie heftete. Sie schien durchaus keine Neigung zu haben, ihm zu Hilfe zu kommen.

»Das sind Gewissensfragen, mein Fräulein,« erwiderte er endlich nicht ohne Verlegenheit und doch etwas bedrückt von seinem Schuldbewußtsein.

»Gewiß, aber auch Gewissensfragen müssen gelöst werden,« versetzte Kamilla mit kalter Grausamkeit. »Wir sind außerordentlich gespannt auf Ihre Entscheidung!«

»Mein Fräulein, Sie fragen mehr, als – als –«

»Wollten Sie sagen: als ein Weiser beantworten kann?«

»Ich akzeptiere diese elegante Wendung, wenn sie mir auch selber vielleicht nicht eingefallen wäre.«

»Darauf hätte ich nämlich nur zu bemerken gehabt, daß es nicht gerade immer das Merkmal der Weisen ist, eine Frage nicht beantworten zu können.«

62 »Jedenfalls habe ich das Gefühl, daß jetzt ein Gescheiterer als ich hergehörte. Die Damen werden also gestatten, daß ich mich nun wieder zu meinen Geschäften zurückziehe.«

Er verneigte sich und zog ab, geschlagen, begossen. Christel arbeitete ruhig weiter, bis er außer Hörweite war. Dann hob sie den Kopf und blickte sehr vergnügt, aber doch mit fragendem Ausdruck zu Kamilla auf und sagte nur: »Das war eine Hinrichtung!«

Kamilla atmete tief und befriedigt auf und erwiderte: »Das hat wohlgetan!«

Christel wollte durchaus wissen, was es gegeben habe, und Kamilla wollte es durchaus nicht sagen. Aber Christel ließ nicht locker. Sie arbeitete mit jenen den Untersuchungsrichtern verbotenen Suggestivfragen und lockte so lange halbe Antworten heraus, bis sie die ganze Wahrheit wußte. Sie war sehr empört.

»So behandelt man nicht einmal ein Stubenmädchen im Vorzimmer!«

Christel war vielleicht nicht die allererste Autorität in der Frage der Behandlung von Stubenmädchen in Vorzimmern, aber immerhin – ihre Empörung war echt. Sie kamen also gemeinsam zu dem Ergebnis, daß es eine große Niederträchtigkeit sei, die der Direktor da begangen habe.

»Dafür muß er bestraft werden, Mi!« rief Christel aus.

»Das habe ich ja eben versucht.«

»Das ist nicht genug! Er muß alles wieder gutmachen!«

Christel überlegte einen Augenblick; dann schoß ihr eine Idee durch den Kopf, die ihr gar nicht übel dünkte. Sie war nämlich eine große Spitzbübin.

»Er muß dich heiraten!« rief sie mit heiligem Eifer.

»Soll das seine Strafe sein?« fragte Kamilla.

»Ja so! – Einerlei – er muß dich heiraten!«

»Ich danke verbindlichst.«

»Du willst ihn nicht?«

»Nicht um eine Welt!«

63 »O, du große, tragische Heldin, meinst du, daß ich das nicht so gewußt habe?! Ich wollte es nur von dir hören! Man heiratet nicht einen Kübler, wenn man – aber ich will gar nichts gesagt haben.«

»Wenn man – was wenn man??«

»Ich habe nichts gesagt!«

»Christel, ich verstehe dich nicht!«

»Ist auch gar nicht nötig!«

»Es ist aber nötig! Ich könnte dich nicht als meine Freundin betrachten, wenn du nicht aufrichtig mit mir bist.«

»Wenn du mir so kommst, Mi, dann muß ich reden. Ich wollte sagen, man nimmt einen Kühler nicht, wenn man – einen andern im Herzen trägt.«

»Christel, ich trage niemand im Herzen!« Aber feuerrot wurde sie doch.

»Ich könnte dich nicht als meine Freundin betrachten, Mi, wenn du nicht aufrichtig mit mir bist!«

So verlegen und so aufgeregt war Kamilla in ihrem ganzen Leben noch nicht gewesen wie in diesem Augenblick. Sie hatte doch so ehrlich ihre Pflicht getan, wenn sie manchmal auch geglaubt hatte, daß ihr das Herz darüber brechen müsse, doch ehrlich getan – und nun war man ihr doch auf ihr Geheimnis gekommen! Nun war es enthüllt, wovon sie geglaubt hatte, daß es nie jemand erfahren werde.

Sie schämte sich, und wenn ein Mädchen sich schämt, dann weint es – und überhaupt, sie hatte Grund genug, zu weinen, und überhaupt, auch wenn sie keinen Grund gehabt hätte, weinen mußte sie jetzt; es ging nicht anders, und sie weinte herzbrechend.

Christel nahm sie in ihren Arm und bettete ihren Kopf an ihren Busen. Dort sollte sie sich nur ausweinen. Christel wußte noch nicht viel von der Welt, aber das wußte sie, daß solche Tränen kein großes Unglück bedeuten.

»Siehst du nun, Mi, was du für eine Freundin bist!« redete Christel leise auf die Weinende ein, und dabei mußte 64 sie selber Anstrengungen machen, die Tränen zurückzuhalten. Sie konnte aber auch jetzt, wo sie Kamilla umschlungen hielt, nur schwer zu ihrem Taschentuch gelangen. »Glaubst du, ich hätte nicht längst bemerkt, wie es um dich und ihn –«

Kamilla fuhr erschreckt auf.

»Christel, ich bitte dich um Gottes willen – kein Wort von ihm!«

»Kein Wort von ihm? Von wem sonst? Wen meinst du denn eigentlich? Doch natürlich den – Direktor?«

»Ja, ja – den Direktor.«

»O, du Erzlügnerin! Ist das deine berühmte Freundschaft?! Nein, ich spreche von ihm, von Seiner Wohlgeboren Herrn Doktor Wolfgang.«

»Sprich seinen Namen nicht aus!«

»Gut, so will ich seinen Namen nicht eitel nennen, aber beschweren darf ich mich doch? Du trägst ein solches Geheimnis mit dir herum und sagst mir kein Sterbenswörtchen! Man läßt mich nebenher laufen, man sagt mir nichts!«

»Ich habe kein Geheimnis!«

»Du liebst ihn nicht?«

»Nein, nein!!«

»Zweimal nein! Mich hat man gelehrt, daß eine doppelte Verneinung eine Bejahung ist.«

»Nein, nein, nein!!«

»Dreimal nein – das ist schon bedenklich. Du liebst ihn nicht? Das ist aber schade! Der arme Mensch wird sehr unglücklich sein.«

»Christel, rede nicht solche Sachen!«

»Ich muß aber reden, wenn du schweigst. Er wird sehr unglücklich sein. Denn er – er liebt dich sehr.«

»Christel, das glaubst du selber nicht!«

»Warum sollte ich es nicht glauben, da er es mir selber sagt?«

»Das hat er dir gesagt?!!«

»Er sagt es täglich.«

65 Täglich auch noch! Kamilla richtete sich mit einem Ruck auf; ihre Tränen waren plötzlich versiegt. Sie mußte sich erst sammeln. Das war kolossal, das war einfach unglaublich! Sie gibt sich da wochenlang redlich Mühe, für Christel ein wenig die Vorsehung zu spielen, und sie spielt sie so lange, bis sie darauf kommt, daß Christel in aller Stille den Spieß umgekehrt hat.

»Weißt du, Christel,« sagte sie nach einer Weile, »daß mich deine Worte aus eurem Hause vertreiben, und zwar augenblicklich?«

»Natürlich weiß ich das! Da du nun selbst unter die Haube kommen sollst, unter die mich zu bringen, Papa sich mit dir verschworen hat!«

»Du wußtest?!«

»Es war nicht allzuschwer, darauf zu kommen! Ja, ich vertreibe dich, Mi, aber ich tue es in der Hoffnung auf ein baldiges und frohes Wiedersehen.«

Die beiden Mädchen redeten noch lange miteinander fort. Sie hatten so viel zu reden, daß sie eine passende Ausflucht erfanden, um nicht zum gemeinsamen Abendessen erscheinen zu müssen, und trotz der so gewonnenen Zeit wurde es noch sehr spät, bis sie dazu kamen, sich den letzten, und noch viel später, bis sie sich den allerletzten Gutenachtkuß gaben.

Bei alledem hatte Christel eine unbewachte Minute zu erhaschen gewußt, um an den Doktor folgendes Billett abzusenden:

»Habe alles herausgebracht. Der Direktor ist an allem schuld. Er hat sie im Vorzimmer, während sie das Kaffeebrett trug, sich also nicht wehren konnte, auf ganz ordinäre Art überfallen und abgeküßt. Das findet gemein

Ihre ergebene Christel.«

Es war schon ziemlich tief in den Vormittag hinein, als am nächsten Tage die beiden jungen Damen sich im Hause wieder blicken ließen. Sie hatten infolge der langen Konferenzen doch vieles an Schlaf einzubringen gehabt.

66 Christel erfuhr auch gleich durch ihr Stubenmädchen eine große Neuigkeit. Wie ein Lauffeuer hatte sich von der Fabrik in die Villa die Nachricht verbreitet: der Herr Doktor habe den Direktor geohrfeigt.

Christel war von der Nachricht in hohem Maße befriedigt, aber sie fühlte sich doch nicht veranlaßt, sie ihrem Vater brühwarm mitzuteilen, der gerade herankam, um sie liebevoll zu begrüßen. Das sollte er nur vom Doktor selber erfahren, den sie eben von der Veranda aus erspähte, wie er gemessenen Schrittes und augenscheinlich recht nachdenklich die Straße heranrückte.

»Ich habe eine ganze Menge Briefe zu schreiben,« klagte Herr Stengel seiner Tochter, »und erwarte jetzt nur noch den Direktor.«

»Wenn er sich heute nur nicht verspätet!« bemerkte Christel in orakelhaftem Ton.

»Das ist nicht zu befürchten. Aber, liebes Kind, weil wir gerade vom Direktor reden – habe ich dir schon mitgeteilt, wie er sich über den Doktor geäußert hat?« Herr Stengel war der Meinung, daß man jede Gelegenheit benützen solle, sein Eisen zu schmieden.

»Nein, Papa, das hast du mir noch nicht gesagt,« log Christel keck; denn er hatte es ihr mindestens schon sechsmal gesagt.

»Er sagte, der Herr Dr. Dielitz sei der liebenswürdigste und sanfteste junge Mann, der ihm überhaupt jemals untergekommen sei!«

»Hat er das gesagt? Dann wird's ja wohl auch wahr sein!« erwiderte Christel, und dann stürmte sie davon, dem Doktor entgegen, der gerade zur Gartenpforte hereingekommen war. Sie flog ihm nur so entgegen und rief ihm schon von weitem zu: »Herr Doktor, Herr Doktor heut' kriegen Sie von mir einen Kuß!«

Und richtig ließ sie dann der gefährlichen Drohung die Tat folgen.

67 Herr Stengel sah dies und konzipierte im Geiste sofort ein Telegramm an die Gattin: »Sache ist gemacht. Habe soeben die beiden Betreffenden auf Kuß ertappt. Fühle mich ausgezeichnet. Wirst mich loben. Glückwunsch. Friedrich.«

Mit der Adresse allerdings mehr als zwanzig Worte, aber was tat dies bei einem so wichtigen und inhaltsreichen Telegramm! Er zog sich diskret zurück, um den jungen Leuten keine Verlegenheit zu bereiten, beschloß aber nunmehr, für die Folge seine Taktik zu ändern. Sie war bisher glücklich und erfolgreich, aber nun war es doch an der Zeit, auf Änderung bedacht zu sein. Er hatte bisher ein Auge zugedrückt. Die Sache wollte es. Aber nun sollte doch die Epoche der pflichtgemäßen Obsorge anheben. Die Sache will es.

Nach der stürmischen Begrüßung nahm Christel des Doktors Arm, legte zärtlich ihre Hand darauf und erkundigte sich nach seinem Befinden.

Es sei ausgezeichnet, versicherte der Doktor.

»Und die Stimmung? Wie ist Ihnen zumute?«

»Jetzt wieder vortrefflich.«

»Ich weiß alles, Dr. Wolf. Wird der Direktor Sie fordern?«

»Ich glaube nicht. Er meinte nur, einer von uns beiden müsse sofort aus dem Haus.«

»Und Sie wollen gehen?«

»Natürlich!«

»Warum so natürlich?!«

»Er ist hier in Stellung, und ich möchte nicht versuchen, ihn ums Brot zu bringen. Ich bin hier so nur ein Freiexemplar.«

»Sie haben recht. Wollen Sie jetzt zu Papa?«

»Auch.«

»Sie hatten vorher noch einen dringenden Gang?«

»Ja.«

68 »Wissen Sie, Doktor Wolf, daß es vielleicht gar nicht schlecht wäre, wenn ich Sie begleiten würde?«

»Sie würden mir einen großen Gefallen damit erweisen, Fräulein Christel.«

»Sie erlauben, daß ich die Hände über dem Kopfe zusammenschlage. So – jetzt können Sie sich wieder einhängen. Ward jemals solches schon erhört! Er will zu ihr, um ihr seine Liebe zu erklären, und dazu möchte er sich eine Bedeckungsmannschaft mitnehmen!«

»Ich bin so feige, Fräulein Christel!«

»Darauf könnte ich Ihnen eine schöne Geschichte erzählen.«

»Wenn ich bitten dürfte!«

»Jawohl, damit Sie nur Zeit gewinnen! Die Galgenfrist! Wir kennen das. Also hören Sie: Ein Menageriebesitzer kommt nachts ein wenig zu spät aus dem Wirtshaus heim. Seine bessere Hälfte, aufgebracht – mit Recht, wie ich von unsrem Standpunkt aus behaupte – bereitet ihm, mit dem Besenstiel bewaffnet, einen entsprechenden Empfang. Er flüchtet in den Käfig zu den Löwen. Da schreit sie wütend von außen zu ihm hinein: Feigling!«

»Die Geschichte ist sehr hübsch, Fräulein Christel, nur paßt sie nicht auf mich. Ich getraue mich nämlich nicht hinein in den Löwenkäfig.«

»Sie paßt nicht ganz. Die Sache ist ein wenig anders, ein wenig umgekehrt, aber sonst doch genau so. Man ohrfeigt baumstarke Direktoren und fürchtet sich vor schwachen Mädchen.«

»Ja, Fräulein Christel, das ist etwas ganz andres!«

»Das sage ich auch, Doktor Wolf. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Sie gehen jetzt einmal zu ihr hinein. Da hilft Ihnen kein Herrgott. Das muß sein!«

»Natürlich, das muß sein!«

»Und dann nach einer Weile komme ich Ihnen zu Hilfe. Es könnte nötig sein. Denn gar so leicht dürfen Sie sich die Geschichte nicht vorstellen!«

69 »Ich weiß, es ist riesig schwer!«

»Sie hat nämlich – Sie entschuldigen schon Herr Doktor, einen harten Schädel.«

»So.«

»Einen sehr harten Schädel – ich mache Sie darauf aufmerksam!«

»Ich danke!«

»Sie hat sich nämlich in den Kopf gesetzt, daß Sie – mich nehmen sollten. Eine verrückte Idee – was?«

»Eine sehr verrückte Idee.«

»Ich danke!«

»Das heißt – tausendmal um Ent–, aber Fräulein Christel! – habe doch nicht so gemeint!«

»Ich weiß; nicht so, sondern anders. Eine verrückte Idee ist's doch. Es könnte also nötig sein, daß ich zu Hilfe kommen muß.«

»Wenn ich bitten dürfte!«

»Ja, aber wir müssen uns genau besprechen, sonst kommt eine Konfusion heraus. Sie gehen also jetzt zu ihr hinein, nach zwanzig Minuten – ich glaube in zwanzig Minuten kann man die schönste Erklärung machen . . .«

»Zwanzig Minuten – ist sehr viel!«

»Feigling! Also sagen wir fünfzehn Minuten.«

»Sagen wir fünfzehn.«

»Dann komme ich dazu und greife, wenn es nicht anders geht, zu den schärferen Maßregeln.«

»Ich möchte Sie recht sehr gebeten haben, Fräulein Christel.«

»Zeigen Sie mal Ihre Uhr, Herr Doktor. Vergleichen wir sie mit der meinigen.«

»Sie stimmen ganz genau.«

»Desto besser. Ihr großer Zeiger muß also auf dem Fünfer stehen, dann komme ich. Eins wollt' ich noch sagen, Doktor Wolf. Trachten Sie, Ihren Kuß schon zu haben, bevor wir bei dem römischen Fünfer halten.«

70 »Ich werde trachten.«

»Denn wissen Sie, wenn ich mal dabei bin, dann wird sie vielleicht nicht wollen. Sie müssen sich also ein bißchen Mühe geben, ein bißchen energisch sein!«

»Ich werde so frei sein.«

Christel führte ihn zur Tür von Kamillas Zimmer. Sie klopfte an und steckte auf den einladenden Zuruf von innen erst selber den Kopf zur Tür hinein; sie wollte sich nur überzeugen, ob auch alles in Ordnung sei.

»Ist's erlaubt?« fragte sie.

»Komme nur, Christel; frage nicht erst,« tönte es zurück.

»Ich frage nicht für mich, ich habe einen Gast mitgebracht,« damit schob Christel den Doktor zur Tür hinein, die sie hinter ihm wieder schloß. Dann ging sie auf ihr Zimmer, setzte sich auf das Sofa, legte ihre Uhr vor sich hin auf den Tisch und wartete.

Der Doktor hatte nicht gerade seinen redseligen Tag, aber Kamilla sorgte schon dafür, daß das Gespräch trotzdem nicht ins Stocken kam. Sie nahm sich seiner an, wenn er anscheinend nicht recht weiter konnte. Er kam ihr so merkwürdig vor. Er bemühte sich, sehr ruhig zu sprechen, und doch arbeitete sichtlich eine innere Unruhe in ihm. Innerlich ruhig war nun Kamilla gerade auch nicht, aber sie wußte das schon leichter zu verbergen, indem sie mit erhöhter Lebhaftigkeit über alle möglichen Dinge plauderte, die ihr sonst recht gleichgültig waren.

Er begann damit, daß er gekommen sei, um sich zu verabschieden, da er noch heute das Haus Stengel verlassen werde. – Wie das nur so rasch gekommen sei, fragte sie. Er habe Streit gehabt mit dem Direktor. – Ach so! Das sei allerdings begreiflich. Sie könne sich denken, daß es nicht leicht sei, mit dem Direktor auszukommen. Er müsse doch ein recht ungebildeter Mensch sein, und seine Erziehung lasse zu wünschen übrig.

71 Dann lenkte sie sachte ab von diesem Thema, dessen Behandlung ihr Unbehagen verursachte, und brachte den Doktor dazu, über seine Fachfragen zu sprechen. Sie wußte, daß man ihn so am sichersten zum Reden bringen konnte. Er ging sehr willig auf die Anregung ein und erzählte ihr eine Menge Wissenswertes aus der Chemie. Nun sprach er leicht, und es wurde ihm so wohl dabei. Es ließ sich aber auch gut mit Kamilla plaudern, die so gut zuzuhören und mit so gespannter Aufmerksamkeit zu folgen wußte.

Nach einer Weile schien es jedoch, als habe er sich auf etwas besonnen. Er sah auf die Uhr, und dabei entfuhr ihm der erschreckte Ausruf: »Zwölf Minuten!«

»Sie haben etwas vor, Herr Doktor?« fragte Kamilla teilnahmsvoll.

»Nein, Fräulein Kamilla, ich habe nichts vor, das heißt – eigentlich –«

»Was haben Sie nur, Herr Doktor?«

Er sah wieder auf die Uhr.

»Dreizehn!«

Kamilla wurde jetzt ernstlich besorgt.

»Ich halte Sie da auf, und am Ende versäumen Sie etwas?«

»Ich fürchte, ich versäume die Überfuhr, Fräulein Kamilla!«

»Die Überfuhr?!«

»Ich meinte nur so, Fräulein Kamilla. Dreizehn – fünfzig, es ist entsetzlich!«

»Was ist entsetzlich, Herr Doktor?«

»Vierzehn! Fräulein Kamilla – Sie haben keine Ahnung, wie rasch bei Ihnen eine Viertelstunde vergeht. Ich hatte mir das viel länger vorgestellt. Man muß doch erst eine Einleitung machen! Wer konnte auch denken –!«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor!«

»Fünfzehn!«

Die Tür tat sich auf und Christel trat herein.

»Nun, Kinder, seid ihr in Ordnung?«

72 »Christel, was soll das heißen? Herr Doktor, erklären Sie mir –«

»Herr Doktor und erklären Sie – uijeh! – sie sind nicht in Ordnung! Herr Doktor! den Kuß hat sie auch noch nicht?!«

»Aber Fräulein Christel!«

Kamilla war sehr empört.

»Christel, ich muß mir solche Scherze ernstlich verbitten! Hast du nicht noch jemanden? Wenn's nach dir ginge, sollte ich mich wohl von der ganzen Welt küssen lassen!«

»Nein, Schatz, nur von diesem einen. Herr Doktor, Ihre Zeit ist abgelaufen. Holen Sie sich Ihren Kuß. Also: Achtung – los!«

Der Doktor war furchtbar verlegen, und Kamilla begann wütend zu werden, nur Christel war nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Wovon habt ihr Unglücksmenschen eigentlich geredet?« fragte sie.

»Wir sind keine Unglücksmenschen,« erwiderte Kamilla. »Wir haben uns ganz gut unterhalten!«

»Worüber denn?«

»Der Herr Doktor hat mir erklärt, wie die Anilinfarben hergestellt werden. Es war sehr interessant!«

»Herr Doktor!« rief Christel, »lassen Sie sich sagen, Sie sind eine Schlafmütze! Anilinfarben!! Sie verdienen sie gar nicht! Versuchen wir's also anders. Denken Sie sich, ich sei der geistliche Herr. Herr Doktor Theobald Wolfgang Dielitz, sind Sie bereit, der ehrsamen Jungfrau Kamilla Siebert die Hand zum ewigen Bunde zu reichen?«

»Christel!« rief Kamilla empört.

»Wenn ich bitten dürfte!« entgegnete bescheiden der Doktor.

»Das ist keine Antwort,« belehrte ihn Christel. »Man antwortet mit einem deutlichen vernehmlichen Ja!«

»Ja!« sagte der Doktor mit tadelloser Deutlichkeit und Vernehmlichkeit.

73 »Fräulein Kamilla Siebert! Sind Sie bereit und entschlossen, dem ehrenwerten Jüngling Doktor Theobald Wolfgang –«

»Nein!« Auch das war vollkommen deutlich und vernehmlich gesprochen.

»Da haben Sie's!« rief der Doktor verzweifelt.

»Da haben wir's!« bestätigte Christel. »Habe ich nicht recht gehabt? Hab' ich's nicht gleich gesagt, sie hat einen harten Schädel?! Jetzt müssen wir also doch zu den schärferen Maßregeln greifen.«

Sie drückte auf den elektrischen Taster und trug der eintretenden Zofe auf, Herrn Stengel zu bitten, er möchte doch sofort auf einen Augenblick herüberkommen, es sei sehr dringend.

Kamilla war sehr ungehalten darüber.

»Soll dein Papa vielleicht auch Theater spielen? Christel, es ist eine unwürdige Komödie, die du da aufführst. Jeder Spaß muß seine Grenzen haben.«

»Mir ist gar nicht spaßhaft zumute, Mi! Du wirst sehen, ich liefere mich selbst ans Messer, und daran seid ihr schuld, du und der schreckliche Doktor!«

»Was haben Sie aber vor, Fräulein Christel?« mischte sich nun auch der Doktor schüchtern in die Sache.

»Das werden Sie ja gleich sehen, Herr Doktor. Da Sie Ihre Aufgabe nicht zustande gebracht haben und voraussichtlich auch in Ihrem Leben nicht zustande bringen würden, da ferner auch meine Intervention nichts genützt hat, so soll eben Papa bei dieser stolzen Prinzessin für Sie um ihre Hand anhalten.«

»Das kann gut werden!« bemerkte Kamilla mit dem Brustton der Überzeugung. Im übrigen war sie jetzt schon resigniert, komme was da wolle.

Herr Stengel erschien und war nicht wenig neugierig, den Grund zu erfahren, weshalb man ihn herüberzitiert habe. Es mußte doch wohl etwas Wichtiges sein.

74 »Setz' dich, Papa,« begann Christel, »nicht auf den Sessel, ich bitt' dich, in den Lehnstuhl. Es wird besser sein. So. Wenn du dann in Ohnmacht fällst, haben wir weniger Scherereien mit dir. In Ohnmacht wirst du fallen, verlasse dich nur auf deine Tochter!«

»Das sind ja recht angenehme Vorbereitungen! Wäre es nicht vielleicht besser, mich vorher zu chloroformieren?«

»Nur Courage, Papa, es wird auch so gehen. Wollen die Herrschaften nicht auch Platz nehmen? Bleiben Sie nur neben Kamilla, Herr Doktor, Sie werden es dann um so bequemer haben.«

»Diese Christel ist ein schreckliches Kind, ein enfant terrible!« dachte sich Kamilla.

»Christel begann: »Papa, du wirst schon so gut sein müssen, für den Doktor bei Kamilla um die Hand anzuhalten.«

»Wa–as werd' ich müssen?!«

»Es wird nicht anders gehen. Die Sache ist eilig; der Doktor will uns nämlich heute noch verlassen.«

»Wer will uns verlassen?«

»Der Doktor.«

»Aber das ist ja nicht möglich!«

»Es muß sein, Papa. Du begreifst – er hat soeben den Direktor geohrfeigt – da können sie doch unmöglich länger beisammen bleiben.«

»Ja, Kinder, seid ihr denn alle toll geworden?!«

»Nein, Papa, wir sind alle ganz vernünftig. Ich hin nur nicht für die Geheimniskrämerei dir gegenüber. Die zwei da wollen kein Wort reden, aber ich bin der Meinung, daß du alles wissen mußt.«

»Ich möchte in der Tat um eine Aufklärung gebeten haben!«

Christel erzählte, wie sich das mit dem Direktor zugetragen hatte.

»Das sind allerdings sehr bedauerliche Vorfälle,« bemerkte 75 Herr Stengel ernst, »aber – Sie verzeihen schon. Fräulein Kamilla, daraus folgt ja noch nicht, daß nun unbedingt und sofort – der Doktor das Fräulein heiraten müßte!«

»Daraus nicht,« entgegnete Christel. »Die Sache ist viel einfacher. Der Doktor möchte Kamilla heiraten, nur weil er sie liebt; aus keinem andern Grunde.«

Herr Stengel blickte erstaunt zu dem Doktor auf, und er war doch recht betroffen, als dieser ein wenig schuldbewußt, aber doch zustimmend mit dem Kopfe nickte.

»Ist das wahr?« wandte sich Herr Stengel nunmehr an Kamilla, und dabei drückte sein Blick nicht nur Erstaunen sondern auch beträchtliche Strenge aus.

»Ich kann nicht für den Herrn Doktor antworten,« erwiderte Kamilla auf diese Gewissensfrage, »was aber mich betrifft, so habe ich sowohl Christel wie dem Herrn Doktor bereits meine klare und unzweideutige Antwort erteilt, Sie lautete: Nein!«

»Ja, Papa, sie hat nein gesagt so entschieden, wie man entschiedener nicht kann!«

»Nun – und? Und was soll ich nun dabei?« fragte Herr Stengel sehr ungnädig.

»Du sollst ihr den Kopf zurechtsetzen, Papa. Denn sie hat gelogen. Sie liebt ihn doch!«

»Christel!« verwahrte sich Kamilla.

»Sie liebt ihn, Papa, ich weiß es, weiß es bestimmt! Habe es viel früher gewußt als sie selbst. Jetzt schämt sie sich nur und glaubt ein Gott weiß wie großes Unrecht begangen zu haben.«

Kamilla schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

»Siehst du, Papa, sie weint! Sie würde jetzt nicht weinen, wenn sie ihn nicht liebte. Sie weiß sich in ihrer Not nicht mehr zu helfen, Da mußt du ihr zu Hilfe kommen, Papa!«

»Ich wüßte nicht – wie?« erwiderte Herr Stengel ein wenig kühl und trocken. Er war innerlich sehr ungehalten 76 nicht nur über Kamilla, der er einen schmählichen Bruch und Mißbrauch des Vertrauens vorwarf, sondern auch über seine Tochter, die da von ihrer Freiheit, gelegentlich Geniestreiche zu begehen, doch einen zu unbescheidenen Gebrauch gemacht hatte.

»Du tust ihr unrecht, Papa,« nahm Christel, die seinen Gedankengang wohl erraten hatte, wieder das Wort. »Sie ist unschuldig, die einzige Schuldige bin ich!«

»Das macht die Sache nicht besser!«

»Sie braucht auch nicht besser gemacht zu werden; sie ist so, wie sie ist, sehr gut!«

»Wenn sie dir nur gefällt!«

»Sie gefällt mir ausgezeichnet – wenn ich nur schon alles gesagt hätte!«

»Es kommt also noch etwas nach?«

»Das Schwerste noch, das Schrecklichste, Papa!«

»So? Eigentlich hätte ich an den bisherigen Überraschungen schon gerade genug!«

»Ich kann dir nicht helfen, Papa; das Schlimmste kommt erst noch!«

»So schieße doch endlich los und quäle mich nicht länger!«

»Ja, Papa – wenn du jetzt schon grob wirst mit mir, dann getraue ich mich schon gar nicht. Es ist ein großes Geheimnis!«

»Dann ist es vielleicht besser, wenn wir uns zurückziehen.«

»Nein, Papa; du sitzest da so gut in dem Lehnstuhl, und dann habe ich auch mehr Mut, wenn noch jemand dabei ist. Vor den andern wirst du dich doch ein bißchen zurückhalten. Der Doktor weiß übrigens auch schon, nur Kamilla noch nicht.

»Christel – wenn du deinem Vater etwas zu sagen hast!« rief Herr Stengel vorwurfsvoll.

»Gut, dann sollen die beiden in mein Zimmer gehen. Herr Doktor, erzählen Sie ihr noch etwas von den Anilinfarben, aber warten Sie auf uns, verstehen Sie mich? – Bei Todesstrafe!«

77 Als Christel mit ihrem Vater nun allein war und sie Farbe bekennen sollte, da wollte es erst gar nicht gehen. Sie fing mehrmals an, stockte wieder und begann endlich zu weinen. Herr Stengel, der sofort auch weich wurde, faßte sie bei der Hand und sprach ihr Mut zu.

»Weißt du, Papa,« sagte sie dann, alle moralische Kraft zusammenraffend, »die Allerunschuldigste von uns allen ist Kamilla, und die Allerschuldigste bin ich.«

»Also meine Christel ist eine Verbrecherin. Und was hat sie denn nun verbrochen?«

»Du wirst schon sehen, Papa! Du hast dich mit Kamilla verschworen –«

»Ah, sie hat mich verraten – das ist nicht schön von ihr!«

»Nein, Papa, nicht ein Sterbenswörtchen hat sie verraten! Das habe ich selber herausgebracht schon am zweiten Tage. Nur ich habe es ihr nicht verraten, daß ich sie durchschaut habe!«

»Schade! Wir wollten schlauer sein als unsre Christel, und da haben wir kein Glück gehabt!«

»Ich war nun in einem Kreuzfeuer und mußte Deckung suchen.«

»Sag mal, Christel, wäre es denn wirklich so schrecklich gewesen, wenn uns das mit dem Doktor gelungen wäre?«

»Ja, Papa, es wäre schrecklich gewesen; vielleicht nicht einmal so schrecklich, aber es wäre nicht gegangen, ganz bestimmt nicht!«

»Also weiter!«

»Also – euer Plan war ganz gut – an sich natürlich und überhaupt – nur gerade für mich nicht. Ich machte ihn also zu dem meinigen, Kamilla lobte mir den Doktor täglich über den grünen Klee, und ich hinterbrachte ihm alles brühwarm, was sie über ihn gesagt hatte. Da sah ich erst, wie gut eure Methode war. Hier wirkte sie Wunder.«

»Ja, wir können uns schon etwas einbilden auf unsre Methode!«

78 »Der Doktor war wenigstens aufrichtig; Kamilla war's nicht, nicht einmal sich selbst gegenüber. Ich wußte es viel früher als sie selbst, daß sie ihn liebe. Und als sie selbst darauf kam, hielt sie es für ihre heilige Pflicht, mir die Wahrheit vorzuenthalten. Ich war aber sehr glücklich, daß sich das so gut gemacht hatte!«

»Du fühlst dich frei?«

»Ja, wenn ich mich frei gefühlt hätte!!«

»Christel!«

»Das war es eben, Papa! Ich bin aber schon seit einem halben Jahre nicht frei, ich habe mich versprochen.«

»Christel – um Gottes willen!!«

»Siehst du, Papa, jetzt regst du dich doch auf. Du hast mir versprochen, ruhig zu bleiben.«

»Aber, Kind, wenn sich's um dein Lebensglück handelt!!«

»Gerade deshalb sollst du mir helfen. Ach, was habe ich gelitten, wie habe ich mich geängstigt, weniger deinetwegen als wegen Mama!«

»Christel – es ist unser Assistent Dr. Holl?«

»Ja, Papa!«

»Ich konnte mir's denken! Noch ein wahres Glück, daß er jetzt auf Waffenübung ist! Aber der junge Mann hat ja nichts!«

»Er wird schon was haben.«

»Er ist nichts!«

»Er wird schon was sein, beispielsweise kein schlechterer Direktor als Herr Kübler.«

»Und gerade er muß es sein?«

»Gerade er, Papa, sonst keiner auf der ganzen Welt!«

»Dann wird man doch wohl sehen müssen, was sich tun läßt!«

Christel umarmte und küßte ihren Papa stürmisch. Ihm traten die Tränen der Rührung ins Auge, aber heimlich drückte ihn doch das Gewissen bei dem Gedanken an die ferne Gattin.

79 »Was wird aber nun Mama dazu sagen?« fragte er besorgt.

»Ja – Mama!« Christel wußte es selbst nicht recht, aber sie vertröstete ihn damit, daß sie zusammen schon etwas ausstudieren würden, sie günstig zu stimmen.

Nun eilte Christel, die beiden andern herbeizuholen. Sie sahen nicht aus, als ob sie das beste Gewissen hätten.

»Hat sie ihn schon?« flüsterte sie dem Doktor zu.

Er nickte in seiner stillen, verlegenen Art.

Nun wollte auch Herr Stengel bei Kamilla etwas für den Doktor tun. Er fing in wohlgesetzter Rede an, aber Kamilla unterbrach ihn errötend: »Es ist nicht mehr nötig, Herr Stengel.«

Und Christel fiel ihr jubelnd um den Hals. – –

 


 


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