Balduin Groller
In schlechter Form und andere Novellen
Balduin Groller

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Einer, der sich zu helfen weiß.

Auf der Stadtbahn hatten sie sich kennen gelernt, und immer unterhielten sie sich genau neun Minuten. Länger dauert die Fahrt nicht von der Rossauerlände zum Hauptzollamt. Sie war Krawattennäherin und fuhr jeden Samstag zur selben Vormittagsstunde die Strecke, um in einem Stadtgeschäft die Erzeugnisse ihrer Kunstfertigkeit abzugeben und dafür ihr Geld und weitere neue Aufträge und frisches Material entgegenzunehmen. Was er war, das blieb für sie vorläufig in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Sie war nicht schüchtern und plauschte gern, und so stellte sie ihn einmal ganz ohne Scheu mit der direkten Frage: »Was sind Sie denn eigentlich, Herr von Forster?«

»Was Ihnen angenehm ist, schönes Fräulein,« erwiderte er darauf. »Ich bin ein Dichter, ein Geschäftsmann, ein 82 Doktor, wenn Sie wollen, ein Baron – suchen Sie sich etwas aus, was Ihnen das Liebste ist.«

»Mir ist halt alleweil ein ordentlicher Mensch das Liebste.«

»Ja, wenn Sie so einen Geschmack haben –!!«

Max Forster war Kolporteur; Kolporteur von gräßlichen Schauerromanen; der geschickteste Kolporteur der großen Kolportage-Buchhandlung W. Berghaus & Ko. Kolporteure sind sonst nicht so schämig, daß sie sich veranlaßt fühlten, aus ihrem Beruf ein Geheimnis zu machen, aber Forster reiste doch gern inkognito. Er war ein Deklassierter, der bessere Tage gesehen hatte. Er hatte zwar mit leichtem Sinn die Folgen seines Leichtsinns auf sich genommen und war recht resigniert ins Elend hineingestiegen, aber über einen Rest von Erinnerung an frühere Zeiten kam er doch nicht hinaus.

Er war nun dreißig Jahre alt und hatte es so herrlich weit gebracht. Seine früheren Bekannten gingen ihm aus dem Wege oder es wurde zufällig, wenn er ihnen begegnete, immer ihre gespannte Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gelenkt, als nach jener, in der sie ihn sehen mußten. Er war aus gutem Hause und an seiner Wiege war ihm gewiß nichts von dem ›Mädchenmörder‹ vorgesungen worden, den er jetzt so eifrig kolportierte. Sein Vater war Akademieprofessor, ein Künstler von Ruf, der, in Anbetracht seiner ersprießlichen Wirksamkeit, sogar in den Adelstand erhoben worden war. Die Mutter war ihm gestorben, da er noch ein kleiner Junge war. Der Vater tat, was er konnte, dem Knaben eine sogenannte gute Erziehung zu teil werden zu lassen. Ihn selbst erziehen, das konnte er nicht und tat es daher auch nicht, oder er tat es falsch, wo er es versuchte. Es wurde ein großes Haus geführt. Max lernte zeichnen und malen, er lernte Sprachen, spielte mehrere Instrumente, konnte wunderschön singen und deklamieren, und kannte, vor die Berufswahl gestellt, von alldem doch nicht genug, um darauf eine Existenz aufbauen zu können.

83 So entschloß er sich denn, als er das Gymnasium hinter sich hatte, Medizin zu studieren, und er war mit seiner Berufswahl außerordentlich zufrieden. Denn das Universitätsleben behagte ihm ausnehmend gut. Er trat einer Verbindung bei und genoß bald hohen Ruhmes. Seine Trinkfestigkeit war von keiner Mutter Sohn zu überbieten und bei den Mensuren traf ihn fast niemals das bittere Los, abgeführt zu werden. Im Bierschwefel konnte er eine zündende Eloquenz entfalten, und da er im Geldpunkte nichts weniger als knauserig war, erschien er seinen Kommilitonen als ein wahrhaft repräsentativer Mann.

Das alles wäre sehr schön und gut gewesen, wenn es nur die leidigen strengen Prüfungen nicht gegeben hätte. So waren zwölf Semester ins Land gegangen, ohne daß auch nur eines der Hindernisse genommen worden wäre, die ihn von seinem Ziele trennten. Da starb sein Vater. In die Erbschaft hatte er sich mit seinen verheirateten Schwestern zu teilen, und auf ihn entfielen vierzehntausend Gulden. Die kamen ihm gerade sehr gelegen. Er schaffte sich einen unnumerierten Gummiradler und eine ebenfalls unnumerierte Geliebte an, und war nach einem weiteren Semester mit Erbschaft, Gummiradler und Geliebten fertig, und auch das war gut; denn nun konnte er ans Studieren denken. Dazu brauchte er freilich Geld, das er nicht hatte. Die Kameraden halfen aber aus. Sie machten, obgleich er jetzt schon bei der zweiten und dritten Generation von Kommilitonen hielt, eine Kollekte für ihn, und als er auch dieses Geld vertan hatte, sammelten sie noch einmal. Dann war's aber aus, und wenn auch hie und da noch ein kleiner Pump gelang, so sah er sich doch endlich ausgeschaltet.

Das Lernen hatte er verlernt; hatte es eigentlich nie gelernt, und so wollte er sich auch nicht zwecklos weiter damit abrackern. Er begann also ans Erwerben zu denken, und er hatte sich auch sehr schöne Pläne ausgedacht, nur mußte er es, als sie sich nicht verwirklichen lassen wollten, mit 84 seinen Zukunftsphantasien immer billiger geben. Die Existenz als tonangebender Musikkritiker bei einem großen Blatte war ihm ganz annehmbar erschienen. Er wäre geneigt gewesen. Die großen Blätter waren aber alle versorgt und machten überhaupt keine Miene, sich um ihn zu reißen. Er probierte es mit seinen ehrenden Anträgen von oben herunter. Es ging nicht. Nur bei dem einen oder dem anderen der ganz kleinen Wochenblätter wäre es möglich gewesen, aber da hätte er sich nur mit der Ehre begnügen müssen, und mit der ruhmvollen, aber doch recht unsicheren Aussicht, das Blatt durch seine ersprießliche Tätigkeit in die Höhe zu bringen. Es war nicht die Ehre, um die es ihm vorderhand zu tun war; er probierte also weiter, aber es wollte nichts gelingen. Er wollte Stunden geben, überflüssig hatte er deren ja genug, aber niemand wollte sie nehmen. Für die kleinsten Stellen fanden sich immer zahllose Bewerber, die obendrein noch Zeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise von früheren Stellungen her hatten. Da war also auch nichts zu machen, und so mußte er schließlich noch froh sein als Kolporteur unterkommen zu können. Der »Mädchenmörder« fristete ihm nun das Dasein.

Die Sache war gar nicht schlecht. Er war ein verhältnismäßig freier Mann, war nicht an Amtsstunden gebunden, hatte nicht am Schreibtisch zu hocken oder hinter dem Ladenpult zu stehen. Es war ein peripatetischer Beruf. Viel Treppensteigen allerdings, aber schließlich – eine Schattenseite muß jeder Beruf haben, und das war noch nicht das Ärgste. Das Hübsche an seinem Beruf war auch noch das, daß sein Schicksal in seine Hand gegeben war. Er war kein Lohnsklave in festem Sold. Es hing ganz von seinem Fleiß und seinem Genie ab, wenn er seine Einkünfte vermehren wollte, und hatte er einmal Lust, an einem Tage gar nichts zu tun, so ging auch das niemanden etwas an. Was der römische Dichter von der Fama singt – crescit eundo, das galt auch von seinem Verdienst; er wuchs im 85 Gehen. Max Forster mußte viel gehen, um sich die zehn Kronen im Tage zu verdienen, die er als sein Pensum betrachtete. Das war sehr viel, weit mehr als sonst ein Kolporteur verdient, aber es lag bei ihm nicht nur in den Beinen, es kam auch der Spiritus dazu.

Seine Wege führten ihn über die Hintertreppen. Seine Kundschaften waren die Köchinnen und die Stubenmädchen und bildungsbeflissenen Hausknechte. Seine Kunst bestand darin, daß er mit den Leuten reden konnte. Ihm geschah es nicht wie den anderen Hausierern, daß ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde von dem dienstbaren Geist, den er zur Unzeit von der Arbeit weggeläutet hatte. Er trat als Kavalier auf, den man doch zunächst um sein Begehr fragen mußte. Da hatte er schon halbgewonnenes Spiel. Er begann mit einem seiner Tricks. Das Repertoire derselben war nicht groß, aber dafür durchwegs wirksam. Zunächst beging er gewöhnlich einen Irrtum.

»Ich habe doch die Ehre, mit der gnädigen Frau zu sprechen?« fragte er, wenn ihm eine dralle, vom Herdfeuer gerötete Köchin ausmachte.

Das schmeichelte, und auf die hold verschämte Verneinung war er maßlos erstaunt. Wie so etwas nur möglich sei! Eine so fein aussehende und gebildete Dame! Ja, dann brauche er die Frau des Hauses gar nicht mehr. Seine Absicht sei es gewesen, sich an eine Dame zu wenden; dazu habe er nun Gelegenheit. Die weiteren Verhandlungen wurden dann nicht mehr zwischen Tür und Angel gepflogen. Man lud ihn bereitwillig ein, das Vorzimmer zu betreten, wo er unter großartiger Hofmacherei endlich ein Heft, das Probeheft des »Mädchenmörders«, aus seiner eleganten Ledertasche hervorholte. Geld wolle er natürlich nicht. Man solle nur erst lesen und sich selbst überzeugen. Er werde in einigen Tagen wiederkommen und wenn, was er für ausgeschlossen halte, das Heft nicht gefallen haben sollte, dann werde er sich ohne Bemerkung diskret zurückziehen. 86 Denn er brauche wohl nicht zu versichern, daß es ihm nicht in erster Linie um das Geld zu tun sei. Der Betrag sei ja lächerlich klein – fünfzehn Kreuzer die Woche! Darüber redet man gar nicht, zumal bei einem so gediegenen Werke. Nein, für ihn sei die Hauptsache die Zufriedenheit seiner Damen. Sie solle nur anfangen zu lesen, dann werde sie ihn bitten, wiederzukommen. So ging's. Der Dichter hatte in dem ersten Kapitel so stark aufgetragen, daß die Köchin noch nicht erfunden ist, die seiner Wirkung erfolgreichen Widerstand entgegensetzen könnte.

War es ein Hausknecht, dessen er in irgend einem Magazin habhaft wurde, so zog er andere Saiten auf, obschon er auch da zunächst als Gönner auftrat. Er beanspruchte gewöhnlich im Vorbeigehen gegen ein gutes Trinkgeld einen kleinen Dienst. Er ließ sich entweder seinen feinen Überzieher ausbürsten oder die Schuhe putzen, und da sich das im Tag sehr häufig wiederholte, hatte er wohl die bestgeputzten Schuhe in Wien. Dabei kam man ins Reden, und er verließ den Schauplatz der Begebenheit selten, ohne sein Heft an den Mann gebracht zu haben. Das Trinkgeld schmälerte zwar seinen Verdienst, aber es war doch eine nützliche Investition und ein produktives Anlagekapital. Er konnte es verschmerzen, wenn der Mann gemacht war, der ja keine Ahnung davon hatte, daß er nun auf achtzig Lieferungen hineingestiegen sei. –

Das also war der Herr Max Forster, der auf der Stadtbahn sich an Fräulein Toni, die Krawattennäherin, herangeschlängelt hatte. Sie gefiel ihm sehr wohl, und er ließ alle seine Künste spielen, um sie zu bezaubern, was ihm auch vollständig gelang. Er schätzte sie so hoch, daß er ihr noch nicht einmal einen »Mädchenmörder« angehängt hatte, und das will viel sagen! Er hatte es übrigens auch aus Selbstachtung und aus Eigenliebe unterlassen. Wer weiß, ob der Zauber noch vorgehalten hätte und ob nicht Illusionen zerstört worden wären, wenn –. Nein; wenn man 87 schon so viele Stadien der Entehrung durchgemacht hat, dann tut es doppelt wohl, von einer gläubigen Seele bewundert zu werden. Das wollte er nicht verscherzen.

Fräulein Toni hatte glänzende braune Augen und glänzendes kastanienbraunes Haar. Sie hatte rote Wangen, und wenn sie lachte, da zeigten sich feine Grübchen auf ihnen, und es lachte nicht nur der frische Mund, sondern das ganze Gesicht, und namentlich die Augen lachten mit. Es gefiel ihm, sie lachen zu sehen, wie ihm das ganze mollige, gut angezogene Persönchen gefiel, und da sie ein überaus dankbares Publikum selbst für seine ältesten Witze bildete, fühlte er sich angeregt, sich immer mehr hinaufzulizitieren in den sehr ernsthaft hervorgebrachten Äußerungen des höheren Blödsinns.

So verliefen ihnen die neun Minuten des Beisammenseins immer sehr rasch, und wenn sie sich dann trennten, machte sich auch Toni ihre Gedanken über den feinen, angenehmen Herrn. Er hatte so eine elegante Figur, das Kavaliersbärtchen stand ihm so gut – er mußte doch etwas Besonderes sein.

Sie hatten schon ihre Verabredungen, daß sie sich nicht verfehlten. Der Zug war auf die Minute bestimmt, den sie benützen wollten, und der Waggon, den sie zu besteigen hatten. Da konnte es keinen Irrtum geben. Sie waren schon alte Bekannte und hatten sich noch gar nicht oft gesehen. Alle Wochen einmal am Samstag, und auch da immer nur auf neun Minuten. Da Toni nun darauf rechnen konnte, mit ihm zusammenzutreffen, machte sie sich auch immer schön für ihn. Er hatte ein Auge dafür; sehr sogar. Als sie an einem schönen Maitage die Parade aufzog mit einer neuen rotseidenen Bluse, die sich gefällig um ihre jugendlichen Formen schmiegte, da konnte er nicht umhin, ihr zu gestehen, daß sie eigentlich und ganz genau genommen ein ungeheuer netter Besen sei.

Sie machte ein Mäulchen. Der Besen gefiel ihr nicht.

»Das verstehen Sie nicht, Fräulein Toni,« belehrte er 88 sie. »Für studierte Leute gibt es nichts Höheres auf der Welt als einen netten Besen.«

So konnte man sich die Sache schon eher gefallen lassen. Sie wollte also das eine Mal noch Nachsicht mit ihm haben. Also gut; sie solle das Nachsehen haben, meinte er. Übrigens hätte er eine Idee.

»Und wenn sie noch so gut ist,« entgegnete sie, »für heute kommt sie zu spät. Unsere neun Minuten sind um; ich empfehle mich Ihnen, Herr von Forster.«

»Tun Sie mir nur das nicht an!« rief er, indem er ihr auf den Perron nachlief. »Ich kann mir doch eine gute Idee nicht acht Tage lang aufheben. Wissen Sie denn, was das heißt, eine verschlagene Idee?! Lassen Sie sich die Sache erklären.«

Er lief neben ihr her und erklärte. Sie solle nur gut aufpassen. Der Tag sei doch wunderschön, nicht wahr? Das müsse sie doch selbst zugeben. Na also! Für die Arbeit sei ihr der Vormittag doch schon verloren. Sie solle also ihre Ablieferung besorgen, und dann wollen sie einen Ausflug machen. Er schlage vor: Mittagessen auf der Rohrerhütte, dann Spaziergang auf die Sophienalpe. Dort wird Kaffee getrunken und gegen Abend bummelt man durch den Wald entweder nach Hütteldorf zur Stadtbahnstation oder nach Neuwaldegg zur Elektrischen. Das sei doch wirklich eine großartige Idee. Fräulein Toni sah das ein und gab ihre Zustimmung mit leuchtenden Augen.

Ob man sie zu Hause nicht vermissen werde fragte er darauf vorsorglich. Sie schüttelte den Kopf, dann drückte sie ihm freudig erregt die Hand, bat ihn, auf sie zu warten, und trat hastig in das Stadtgeschäft ein, vor dem sie nun angelangt war. Er patrouillierte dort eine Weile auf und ab und machte sich dabei seine Gedanken. Es waren seltsame Gedanken Das Seltsame war nicht, daß er fand, Toni sei ein so herziges Kind, wie es ihm überhaupt noch nicht untergekommen sei, sondern daß dieses Kind auch 89 respektiert werden müsse. Er, der schon so viele ausgewachsene Lumpereien im Leben begangen hatte, er fühlte sich da plötzlich im Banne weiblicher Reinheit und Unschuld. Er hielt es nicht für unmöglich, das Mädchen zu Falle zu bringen. Er durfte sich das schon zutrauen, und sicherlich wäre es ein sehr angenehmes Abenteuer gewesen, das da in Aussicht stand, aber – und eben das war das Seltsame, das, was ihn zum erstenmal in seinem Leben bei solchem Anlaß stutzig machte – er gestand sich's ohne weiteres selbst zu, daß es eine ausnehmende Niederträchtigkeit wäre, ein solches Geschöpf zu verführen. Sein Fall interessierte ihn, und die Neuheit seiner Gedankengänge nahm ihn so gefangen, daß ihm die Zeit des Wartens gar nicht lange wurde. Als Toni dann, ihn glücklich anlachend, wieder vor ihm stand, da war es ihm, als sei er aus einem Traum erwacht.

Nun schritten sie wieder nebeneinander her in der Richtung nach der Aspernbrücke, und wurden es zunächst gar nicht inne, daß sie eigentlich ziellos gingen. Da blickte sie mit einer Miene der Besorgnis zu ihm auf und wies auf die große Pappschachtel hin, die sie trug. Die könnten sie doch nicht auch auf die Landpartie mitnehmen.

Natürlich nicht, und überhaupt – sie solle seine Gedankenlosigkeit verzeihen, daß er sie ihr nicht gleich abgenommen habe. Er könne doch nicht zugeben, daß in seiner Gesellschaft eine Dame sich damit abschleppe.

Toni lachte. Sie sei keine Dame, und viel schlechter würde es sich noch ausnehmen, wenn ein so feiner Herr, wie er, mit einem so großen Kartandel dahermarschierte.

Die Schachtel war allerdings sehr groß, viel zu groß für die paar Stück Seidenstoff, die sie jetzt barg, aber da es dieselbe war, in der Toni die fertigen Krawatten zurückzubringen pflegte, mußte sie so groß sein. Forster löste das Band, mit dem die Schachtel zugebunden war, und öffnete sie. Dabei fand er, daß auch seine Ledertasche noch ganz gut in ihr Platz habe und brachte sie dort unter.

90 »Wenn wir jetzt erst nach Hause fahren sollen,« sagte er, »um unsere Sachen loszukriegen, verlieren wir zuviel Zeit.«

»Was sollen wir aber sonst tun?«

»Lassen Sie mich nachdenken, Fräulein Toni. Ich halte die staatliche Aufsicht doch für die verläßlichste.«

»Was für eine Aufsicht?«

»Die staatliche.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ist in Ihrem Berufe auch nicht notwendig, Fräulein Toni. Sehen Sie dort den Vertreter der staatlichen Gewalt?«

»Sie meinen den Sicherheitswachtmann, Herr von Forster?«

In der Tat stand dort, umbrandet von den tosenden Fluten eines ungeheuren Verkehrs, wie ein Fels oder ein kleiner Leuchtturm im Meer das Organ der Sicherheit.

»Den meine ich allerdings,« erwiderte Forster. »Es ist ein Auge des Gesetzes, und dieses Auge soll wachen über unsere Schätze.«

»Der Mann hat ja aber zu tun!«

»Was hat er denn zu tun?«

»Was? Ich weiß nicht. Er muß acht geben.«

»Worauf muß er denn acht geben, Fräulein Toni?«

»Vor allen Dingen, glaube ich, darauf, daß er nicht überfahren wird?«

»Damit hätte er allerdings genug zu tun. Ich kann ihm aber doch nicht helfen.«

Forster nahm die Schachtel, begab sich mit ihr zu dem Unglücksmenschen, dem der riesenhafte Verkehr nur so um die Ohren sauste, und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein. Er habe die Schachtel soeben auf einer Ringstraßen-Bank gefunden, wo sie jemand vergessen haben mochte.

Schön, meinte das Organ der Staatsgewalt, er solle sie nur auf die Polizei tragen. Forster wandte ein, daß er dazu nicht verpflichtet sei und auch nicht verpflichtet werden könne. Er habe ein gutes Werk tun wollen, aber er denke nicht daran, sich Scherereien aufzuladen. Dazu habe er gar 91 nicht die Zeit. Wenn die ehrlichen Finder bei den staatlichen Organen selbst so wenig Entgegenkommen fänden, dann würde die Ehrlichkeit bald ganz aussterben auf der Welt.

»Ich kann doch nicht mit dem Riesenpack dastehen!« gab der arme in die Enge getriebene Sicherheitswachtmann zu bedenken.

»Gut; dann nehme ich die Schachtel, die ich übrigens gar nicht so ungeheuer groß finde, und trage sie wieder zurück und lege sie hin, wo ich sie gefunden habe. Dort wird sie natürlich gestohlen werden. Ich habe nichts dagegen, geht mich auch nichts an, aber die Verantwortung kommt auf Ihr Haupt Herr Wachtmann! Sie sind berufen, über Leben und Eigentum der Staatsbürger zu wachen, nicht ich!«

Das Auge des Gesetzes zuckte unwillig die Achsel und übernahm die große Schachtel, worauf sich Forster sehr höflich empfahl.

»Sie können unbesorgt sein, Fräulein,« berichtete er, als er sich Toni wieder zugesellt hatte, »unsere Sachen sind in sicherer Hut.«

»Wie werden wir aber wieder dazu kommen?«

»Außerordentlich einfach. Heute abend oder morgen früh begebe ich mich aufs Fundbureau der Polizeidirektion und lasse mir nach genauer Angabe des Inhalts die Schachtel zurückgeben, die ich leider irgendwo vergessen oder verloren habe.«

Toni bewunderte den Mann, der sich immer gleich so zu helfen wußte, und sie bewunderte ihn auf der ganzen Landpartie weiter, wie er sich ihr, der kleinen, unbedeutenden Arbeiterin gegenüber immer so vornehm und so ritterlich benahm. Sie war ja gar nicht verwöhnt, die Kleine. Ihr Vater war Gerichtsdiener in einem steiermärkischen Städtchen gewesen. Nach seinem plötzlichen Tode – er war immer sehr vollblütig gewesen und hatte immer eine kleine Schwäche für den steirischen Schilcher gehabt, der sich so leicht und angenehm trinkt – konnte die Witwe mit der Tochter das 92 Auslangen mit der winzigen Pension nicht finden. Da hatte sich denn Toni nach Wien aufgemacht, um in der Großstadt sich selbst den Lebensunterhalt zu suchen. Brav und anstellig war sie und ein wenig ward sie auch vom Glück begünstigt. Nun schlug sie sich tapfer durch mit ihrem täglichen Verdienst von zwei Kronen. Sie bewohnte ein kleines, freundliches Kabinett in der Vorstadt und wußte so klug zu wirtschaften, daß sie durchkommen, sich nett kleiden und sogar noch monatlich einige Kronen ihrer Mutter schicken konnte.

Max Forster führte die Rolle des rücksichtsvollen Ehrenmannes während der ganzen Partie mit unerschütterlicher Konsequenz durch. Auch nicht mit einem Worte versuchte er es, die Schranken zu durchbrechen, die sich zwischen einem Ehrenmann und einer Dame erheben. Tonis Bewunderung und Dankbarkeit wurde dadurch nicht unwesentlich erhöht. Sie fühlte sich förmlich begnadet vor tausend und tausend Mädchen aus ihrer Sphäre. Auch Forster war gehoben von dem Hochgefühl, ein anständiger Mensch zu sein. Für ihn kam bei diesem Gefühl noch der Reiz der Neuheit hinzu, und er berauschte sich darin. Er feierte geradezu Orgien männlicher Ehrbarkeit und beging Exzesse tugendhafter Zurückhaltung.

So sagte er, als sie sittig durch den Wald dahinschritten, in den der Mai sein Sonnengold hineinstreute: »Wie schön wäre es doch, wenn wir in jeder Woche einmal uns so einen freien Tag machen könnten!«

»Ja, Herr von Forster, schön wäre das!«

»Und doch wird es besser sein, nicht daran zu denken.«

»Warum?«

»Wir sind beide jung!«

»Das ist kein Unglück.«

»Aber eine Gefahr. Glauben Sie denn, Fräulein Toni, daß ich immer wie ein Holzklotz oder wie ein Eiszapfen an Ihrer Seite stehen werde?«

»Aber Sie sind ja auch heute weder ein Holzklotz noch 93 ein Eiszapfen, Herr von Forster. Sie brauchten nur immer so zu sein wie heute, dann wäre ja alles sehr gut.«

»Ja, wenn man einstehen könnte für sich!!«

»Das muß man können, Herr von Forster. Das muß ich ja auch, und das müßte vor allen Dingen meine Sorge sein, und mich beunruhigt es nicht.«

»Ja, Sie! Sie sind eine gelernte Tugend, Fräulein Toni, bei mir ist's aber nur so angeflogen. Für mich kann kein Mensch gutstehen.«

»Ich tät's.«

»Dann würden Sie sich in eine sehr riskante Unternehmung einlassen! Sehen Sie mal, ich finde sie unglaublich reizend –«

»Nicht schmeicheln Herr von Forster!«

»Nein, nein, ich schmeichle nicht – ganz unglaublich lieb und gut und schön. Sie wären vielleicht unklug genug, auch an mir nichts auszusetzen zu haben.«

Toni ließ einen raschen Blick auf ihn schnellen und schwieg.

»Wir würden uns ineinander verlieben –«

Toni verharrte im Schweigen und blickte errötend zu Boden.

»Und sehen Sie, liebes Kind,« fuhr er fort, »da steckt die Gefahr. Denn – heiraten würde ich Sie doch ganz bestimmt niemals.«

Es flimmerte ihr eine Weile schwarz vor den Augen, als er das so brutal heraussagte, aber sie richtete sich dann doch auf und sagte: »Ich habe die Gefahr nicht für so groß gehalten. Wissen Sie denn, ob ich gewollt hätte?«

»Sie würden mich nicht nehmen, Fräulein Toni?«

»Ich würde mich ganz bestimmt nicht um einen Mann reißen, dem ich nicht gut genug bin.«

Max Forster fuhr fort, sich ob seiner Ehrenhaftigkeit zu bewundern, und darum blieb seine Stimmung andauernd eine gute und aufgeräumte, Toni aber plauderte lächelnd weiter 94 mit ihm, während Trostlosigkeit ihr armes Herz erfüllte. Der Maiensonnenschein war ihr mit einem Male erloschen, eine stille Hoffnung war zerstört, eine lichte Welt war untergegangen. Er wird sie ganz und ganz bestimmt niemals heiraten. – – –

Die Hochzeit wurde drei Monate später abgehalten. Forster hatte lange betteln müssen, bis Toni, die, den Vorteil ihrer Position einmal erkennend, ihn auch zu behaupten wußte, nachgab. Forster ward riesig fleißig und es gelang ihm, für beide eine Existenz aufzubauen. Sie selbst sollten die Früchte ihrer Arbeit genießen und nicht die Unternehmer. Für Toni wurde ein kleiner, aber eleganter Krawattenladen eingerichtet. Da konnte ihre Arbeit zehnmal so viel einbringen als vordem. Er selbst wollte seinem Metier, für das er so viel Genie bekundet hatte, treu bleiben, aber auch da wollte er nicht einen anderen bereichern. Er ward selber Unternehmer und blieb dabei sein eigener Kolporteur und sein eigener – Dichter. Nachmittags dichtete er im Hinterstübchen des eleganten Ladens seinen Kolportageroman »Das Verbrechen des Staatsanwalts« – er machte es nicht schlechter als der Verfasser des »Mädchenmörders« – und am Vormittag trug er die ausgedruckten Lieferungen zu seinen Kundschaften.

Beide Geschäfte gehen gut.

 


 


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