Balduin Groller
In schlechter Form und andere Novellen
Balduin Groller

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In schlechter Form.

Mattsee ist ein stiller, züchtiger Ort im Salzburgischen. Die Berge dort sind nicht eben unbescheiden hoch, aber auch das hat sein Gutes: das Wasser im See ist angenehm warm, und es bedarf daher nicht immer erst eines heroischen Entschlusses, sich hineinzustürzen, um ein Bad zu nehmen. Das kleine Nest liegt auch an einem See, eigentlich sogar an drei Seen, ganz eigentlich nur an zweien, aber der dritte gehört mit dazu. Denn er ist durch einen Kanal mit den zwei anderen verbunden, die ihrerseits ebenfalls durch einen Kanal miteinander verbunden sind. Für Wasservergnügungen ist also ausreichend gesorgt. Man kann sich ordentlich ausrudern, und wer seinen Skuller von der Terrasse des Seewirtshauses in Mattsee bis ans Ende des dritten Sees, dessen Abfluß die Mattig bildet, treiben will, der darf sich auf ein tüchtiges Stück Arbeit gefaßt machen, zumal ja auch noch derselbe Weg zurückgemacht werden muß. Denn zu Lande kann man da nicht ans Ziel gelangen. Auch zum Schwimmen hat man Platz genug. Da genügt es selbst für unternehmungslustige Gemüter, einen der Seen zu durchqueren. Das Bravourstück, alle drei Seen in einem Zuge zu durchschwimmen, hat überhaupt noch keiner versucht, was eigentlich trotz der augenscheinlich ungewöhnlichen Schwierigkeit des Unternehmens recht merkwürdig ist. Denn die Gesellschaft in Mattsee – natürlich ist damit die Sommergesellschaft gemeint und nicht das Häuflein der biederen Gewerbsleute und Bauern, die die ständige Bewohnerschaft bilden – ist kolossal sportlich gesinnt.

4 Das kam so. Da wurde gelegentlich einmal auch ein Mann nach Mattsee verschlagen, der die große sportliche Passion hatte. Er sah sich die Dinge an und bemerkte, daß die junge Welt, die männliche wie die weibliche, nichts Rechtes mit sich anzufangen wußte. Da setzte er sich hin und verfaßte die Propositionen für ein Schwimmeeting und ein Wettspringen, sowie für eine große Ruderregatta. Es war vorgesehen für Meisterschaftskämpfe, für Kämpfe der Neulinge und Junioren. Diese Propositionen nagelte er dann an die Pforte des Schwimmbades, die zugleich zur Bootshütte führte, dort, wo die Tafel hing, die immer mit optimistischen Neigungen die Temperatur des Wassers und der Luft verkündete.

Das schlug ein. Es kam Leben in die Bude, und es wurde vier Wochen lang trainiert, daß der ganzen verehrlichen Sommergesellschaft nur so die Knochen im Leibe krachten. Insbesondere war es die Regatta, die die Gemüter erregte. Die jungen Leute, die sich noch keine Blutblasen an den Händen gerudert hatten, hielten sich förmlich für ehrlos. Die Anfangsschmerzen wurden tapfer überstanden, und hinterher freute man sich ihrer; denn man war härter geworden. Es tat einfach alles mit, die Buben und die Mädel, die Jünglinge und die Fräulein und, soweit als es nur irgend anging, auch die Mamas, diese aus mehrfachen Gründen. Erstlich aus mütterlicher Ängstlichkeit. Abzuhalten waren die Buben und die Mädel doch nicht mehr, und da glaubten sie, wenn sie sich selbst im Schwimmen und im Rudern vervollkommneten, auf diese besser acht geben zu können – und dann auch außerdem! Man wollte doch nicht kapitulieren. Wenn andere Mamas mittaten, sich nicht für zu alt hielten für die Damenregatta – nun, älter war man gewiß auch nicht! Aber auch die Nichtkombattanten wurden mit in den Trubel hineingezogen. Es gab ja so viel zu bereden, zu besorgen, so viel zu streiten, daß der Stoff nicht ausging und die Erregung kein Ende fand. Es gab Beratungen über die Beschaffung der Preise, und dann – die Dreßfrage! 5 Für die Regatten der Buben und Mädel, der Frauen und Fräulein waren aus Gründen der Vorsicht und weil man andere Bootstypen nicht in genügender Anzahl zur Verfügung hatte, Kielboote mit drei Paar Rudern und Steuer vorgeschrieben. Es gehörten also in jedes Boot vier »Mann,« und es war selbstverständlich, daß jede Mannschaft unter sich gleiche Anzüge haben mußte und unter derselben Farbe zu kämpfen hatte. Das gab Arbeit und Konferenzen in Fülle. Für jede männliche Besatzung gleichfarbige Rudertrikots und Kappen und weiße Kniehosen; für jede weibliche Matrosenblusen mit gleichfarbigen weiten Kragen und Ärmelaufschlägen und Röcken und dazu die gleichen Baretts. Und das alles mußte zu Hause zusammengeschneidert werden. Denn Mattsee ist kein Weltbad, wo man all das nach Herzenslust kaufen könnte, und dann ging auch ein löblicher Zug der Sparsamkeit durch diese sommerliche Kolonie. Man war ja eigentlich auch unter sich. Es waren fast immer dieselben Leute, die dahin kamen, und die Ergänzung und Erweiterung der Kolonie vollzog sich nur langsam. Das erklärt sich daraus, daß Mattsee ziemlich abseits von den Hauptverkehrsadern liegt; bis zur nächsten Eisenbahnstation hat man gut seine anderthalb Stunden zu fahren. In den Reisehandbüchern wird von dem Orte nicht groß Aufhebens gemacht; er hat auch für verwöhnte Reisende nicht viel zu bieten; es ist keine Werbekraft für ihn tätig, und so kommt es, daß es wenig Wechsel in seinen Besuchern gibt. Die aber, die hinkommen, fühlen sich dort wohl, das ist alles.

Die sportlichen Veranstaltungen gelangen vorzüglich. Daraufhin wurden sie im nächsten Jahr wiederholt und dann alljährlich wieder, und so machte es sich, daß mit der Zeit die Mattseer Sommergesellschaft eine kolossal sportliche wurde von oben bis herunter und von unten bis hinauf. Und in diese Gesellschaft nun wurde an einem schönen Julitag ein Herr hineingeschneit, dessen Erscheinung und Gehaben alles andere eher denn sportlich war. Das machte Aufsehen.

6 Die gesamte Jugend war gerade zum zweiten Frühstück auf der Terrasse des Seewirtes versammelt, als man zuerst seiner ansichtig wurde, wie er den Fußpfad zur Bootshütte heranschritt, die ganz nahe bei der Terrasse, im rechten Winkel zu ihr stand. Die Jugend hatte die Morgenarbeit im Training fürs Rudern hinter sich und gönnte sich nun die ehrlich verdiente Stärkung. Die Versammlung war groß, aber so recht von Herzen konnte der Seewirt deshalb doch nicht froh werden. Die ekelhaften Traininggesetze schlossen den Genuß von Bier und Wein streng aus, und so beschränkte sich der Konsum meist auf ausgiebige, aber billige Butterbrote, und was die profitabeln warmen Speisen betrifft, so verstieg man sich höchstens zu einem weichen Ei, das, wie anerkannt wurde, die Seewirtköchin vorzüglich zu kochen verstand. Das Infamste, immer vom Standpunkt des Seewirtes, war, daß die meisten der »Herren« und »Damen« sich ihr Frühstück gleich selber mitbrachten. So war's denn allerdings leicht, sich einen einträglicheren Posten vorzustellen als den des Seewirtes von Mattsee, aber das war keine Betrachtung, die seine jungen Gäste sonderlich gestört oder beunruhigt hätte. Mein Gott, die Jugend hatte es nicht so. Die Herren Eltern haben gewöhnlich so rückständige Ansichten und pflegen das Taschengeld unbegreiflich knapp zu bemessen. Es hätte vielleicht noch den Ausweg gegeben, überhaupt nicht zum Seewirt zu gehen. Das war jedoch ausgeschlossen. Es gab nämlich keinen schöneren Platz, sich zu versammeln, als seine Terrasse. Von dort aus übersah man den ganzen See, auch das Bad, dessen Baulichkeiten sich dicht an die Bootshütte anschlossen. Es konnte niemand ins Wasser gehen oder aufs Wasser, ohne daß er von dort aus kontrolliert worden wäre. Und es wurde scharf kontrolliert. Für jedes Boot im Training wurden von den Konkurrenten heimlich die Zeiten aufgenommen, und jeder Schwimmer wurde mit der versteckt gehaltenen Uhr abgestoppt.

So hatte sich der Seewirt gottlob stets eines recht regen 7 Besuches zu erfreuen, des regsten freilich immer nach der Trainingszeit, wo stets in lauten Debatten die Resultate der Morgenarbeit und die unsicheren Chancen auf Sieg je nach der wechselnden »Form« der Mannschaften fachmännisch zu erörtern waren. Und dann mußte man doch sich irgendwo ausruhen und die gehörige Zeit abwarten, um gegen Mittag ins Bad zu gehen. Wenn der Seewirt das nicht einsehen wollte, so war es sein Fehler.

Die ganze Jugend war also beisammen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den nahenden Fremdling.

»Was kommt denn da für eine Vogelscheuche angesegelt?« fragte Luitschi Bittmann, ein junger Athlet von etwa siebzehn Jahren, der sich aber schon für einen sehr großen Herrn hielt. Der allgemeine Beifall, den diese Worte erregten, ermutigte die kleine, noch nicht vierzehn Jahre alte Grete Radinger, auch ihrerseits zu fragen, wo sie den nur ausgelassen haben mochten. Cäsarine Wittig, die Tochter des berühmten Wiener Klinikers, Hofrat Professor Doktor Hermann Wittig, und anerkannte Führerin der Mattseer Mädchenschar, verwies die lauten, vielleicht vorlauten Bemerkungen. Der Fremde sei nun nahe genug, um alles hören zu können. Man schwieg also und verlegte sich aufs Beobachten.

Der Fremde paßte nun allerdings ganz und gar nicht in das Mattseer Milieu hinein. Ein langer, hagerer, bleicher Mensch, vom Kopf bis zum Fuß in städtischer Kleidung. So trug man sich in Mattsee nicht; er fiel aus dem Bilde, und seine Erscheinung wirkte stillos. Es gab dreierlei Schichtungen daselbst. Zunächst die Jugend, die den Ton angab. Die jungen Leute gingen im Dreß und prunkten mit ihren Rudertrikots, und die jungen Damen trugen das kleidsame und praktische Dirndlkostüm. Die zweite Schicht sollte die elterliche sein, sie setzte sich aber vorwiegend aus Müttern und Tanten zusammen. Denn die Herren Väter waren nur spärlich vertreten; denen wird es selten so wohl, daß sie wochen- und monatelang Sommerfrische genießen könnten. 8 Das gestattet gewöhnlich Beruf und Erwerb nicht. Die dritte endlich bestand aus pensionierten Hofräten, Rechnungsräten, Generalen, Postbeamten, Lehrern, durchweg Herrschaften, die ihre Ruhe haben wollten, sich exklusiv verhielten und auch nicht mitzählten.

Der Fremdling gehörte den Jahrgängen an, die fast gar nicht vertreten waren. Er mochte nicht mehr als achtundzwanzig Jahre zählen, obschon er mit seiner schlechten Haltung, seinem schlotternden Gang, seiner bleichen Gesichtsfarbe und seinem ungepflegten spärlichen braunen Bart bedeutend älter aussah. Der Anzug, den er trug, war fein und elegant. Aber wie trug er ihn! Der halbe Rockkragen war aufgekrempelt, er wußte es nicht; bei der Weste waren die Knöpfe in die unrichtigen Löcher geraten, und unter ihr baumelte ein weißes Band heraus, das der Mitwelt besser verborgen gehalten worden wäre – er wußte es nicht. Die Krawatte war ihm hinten über den steifen Hemdkragen – wer wird steife Hemdkragen in Mattsee tragen! – hinaufgerutscht, und das genügt bekanntlich, einem Menschen sofort das Ansehen zu geben, als käme er direkt vom Galgen her. Unter der Hose war ihm eine seiner roten Socken hinabgeglitten, und er schleifte ihren oberen Rand nun durch den Staub nach. Auch der steife Filzhut war staubig und an einer Stelle brüchig eingedrückt – sein Besitzer wußte es nicht. Aber die versammelte Jugend beim Seewirt, die wußte es gleich; die hatte es sofort heraus und tauschte flüsternd ihre Beobachtungen aus in der durch die sonstige Ereignislosigkeit im stillen Ort doppelt gehobenen Stimmung der Befriedigung.

Man paßte sehr genau auf. Man sah, wie der Fremde die große Bootshütte betrat, und wie Mariedl, die kleine achtjährige Tochter des wackeren Schwimmeisters Schaffler, ein bildschönes, immer barfüßiges Kind, das da mit der Gelenkigkeit eines Wiesels seine Geschäfte besorgte, ihm das für ihn bestimmte Boot wies, und wie sie die Kette desselben losmachte. Nun schickte sich der Fremde an, in das Boot 9 zu steigen. Es war sofort sichtlich, daß er vielleicht in seinem Leben niemals zuvor ein Boot bestiegen hatte. Sogar die allererste Grundregel schien ihm fremd, daß man mit einem entschlossenen Schritt sich auf die Mitte des Bodens zu stellen habe. Er versuchte es, auf die Bordkante zu steigen, die natürlich nachgab. Alle Boote in der Nachbarschaft gerieten in Unruhe; in Unruhe geriet aber auch die Jugend beim Seewirt.

»Wenn er mir an meinem Pair-oar etwas bricht, dann kriegt er's mit mir zu tun!« murmelte Luitschi Bittmann entschlossen.

»Und wenn mein Sandolin ein Leck fängt, dann wird er mir's bezahlen!« fügte ein anderer Jüngling hinzu.

Der Fremde hatte inzwischen bemerkt, daß er beobachtet werde, und wollte nun der Sache ein rasches Ende machen. Er trat hastig auf die Kante, und als diese unter seinem Fuße wich, schlug er im Fall mit der Stirn gegen die eiserne Rudergabel des nächsten Bootes und fiel dann ins Wasser. Ein explosives Gelächter erscholl von der Terrasse; die Jugend amüsierte sich königlich. Der Fremde hatte sich instinktiv am Bug eines Bootes festgehalten und arbeitete sich mühselig aus dem Wasser. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, stand Cäsarine Wittig vor ihm, und indem sie sah, wie ihm das Blut von der Stirn floß, wurde sie bleich und sagte hastig: »Um Gottes willen, Sie haben sich weh getan?«

»Es ist nichts, Fräulein, ich war nur etwas ungeschickt. Es ist wirklich nichts, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen sehr.«

Und damit ging er triefend davon und gerade so schlotternd, wie er gekommen war. Nun gab es in Mattsee doch wieder etwas zu reden auch über das stehende Thema des Trainings und der Regatta hinaus. Wer der Fremde sei, das hatte man sofort herausbekommen. Eine Anfrage bei dem Bürgermeister, bei dem ja alle Meldezettel zusammenliefen, hatte genügt. Bürgermeister Kummer, zugleich der 10 Eisenhändler und Weißgerber von Mattsee, stand mit seinen Sympathien immer auf der Seite der Jugend. Auch für ihn war die Regatta eine große Sache, und er übernahm bei derselben immer das Amt des Billeteurs; wurde sie doch abgehalten zugunsten seiner freiwilligen Feuerwehr. Von ihm also erfuhr man es, der Fremde sei ein »Dokter« – ein Doktor schlechtweg und κατ' ἐξοχήν ist immer ein Mediziner – er heiße Richard Grund und sei aus Wien; wohnen tue er »ommat« (oben) beim Feichtinger.

Nun wußte man alles. Es dauerte auch nicht lange, daß man ihn wieder zu Gesicht bekam. Er kam nach einem halben Stündchen desselbigen Weges gegangen, in einem anderen, trockenen Anzug, der nicht minder schlecht saß als der frühere, wieder mit steifem Kragen und gestärkten Manschetten, und auf dem Kopf trug er nun – o, Entsetzen! – einen Zylinderhut. Auf die Stirn hatte er sich, soweit man es sehen konnte, irgendein Karbolpflaster geklebt. Und nun stiefelte er unentwegt wieder auf die Bootshütte los. Die kleine Mariedl kriegte ordentlich einen Schreck, als sie ihn wieder kommen sah; aber diesmal nahm sie sofort die fachmännische Leitung der Sache in die Hand. Sie packte ihn beim Rockschoß und zog ihn dorthin, wo sie ihn haben wollte. Dann zeigte sie mit dem Fingerchen, wohin er zu steigen habe, und als sie ihn so glücklich im Boot hatte, löste sie die Kette und schob das Boot mit ihm hinaus.

Draußen wäre er nun also gewesen, gerade vor der Terrasse, wo die versammelte Jugend mit Kennerblicken und kritischen Mienen in sichtlicher Spannung verfolgte, was sich da wohl noch weiter begeben werde. Es war klar, der Mann hatte noch nie in einem Boot gesessen. Die Ruder hängte er in die unrichtigen Gabeln, ganz als gälte es, sich die Weste zuzuknöpfen. Natürlich war es nun schwer, mit ihnen zu hantieren. Dabei wußte er nicht, wann er zu ziehen und wann zu streichen habe, und zu alledem kam noch, daß er das Steuer nicht ausgehoben hatte. Er quälte sich also in 11 durchaus zweckwidriger Weise ab; aber wenn auch das Boot kreuz und quer und im Zickzack herumgerissen wurde, wenn es gelegentlich sogar vollständige Kreise in seinem regellosen Zug beschrieb, hinaus kam es schön langsam doch ins Weite. Die jugendlichen Fachmänner sahen das alles mit tiefer Verachtung, und bei jeder einzelnen Bewegung und bei jedem Handgriff wurde die Unzweckmäßigkeit und Unsinnigkeit fachwissenschaftlich festgestellt. Luitschi Bittmann faßte sein Urteil in den lapidaren Satz zusammen: »Das ist ein Mann ohne Dunst!« Er wollte damit sagen, daß der Unglückliche keinen Begriff vom Rudern habe. Eine von den Mädeln, von der man wußte, daß sie im Dichten vorzügliches zu leisten in der Lage sei, machte sich sofort an die Ausarbeitung einer Ballade, die mit der einen weiten Horizont erschließenden Frage begann: »Wer ist der Herr in dem lockigen Haar, der in das Wasser gefallen war?«

Der Doktor war inzwischen so weit hinausgetragen worden, daß man ihn kaum noch sehen konnte, und da ich bereits erwähnt habe, daß Mattsee im Salzburgischen liegt, so ist es eigentlich ganz überflüssig zu bemerken, daß, als Doktor Grund mit seinem Zylinderhut sich mitten auf dem See befand, ein schwerer Regenguß niederging. Da sich aber gleichzeitig auch ein schneidiger Ostwind erhob, trank Meister Schaffler sein Bier aus, das ihm eine seiner dankbaren Kundschaften gewidmet hatte, legte seinen Rock ab und ruderte dem »armen Hascher« nach, um ihn zurückzuholen. Denn »von allein« würde der sich ja doch nie wieder heimfinden. Schaffler hatte dankbare Kundschaften; er war nicht nur der Schwimmeister, sondern auch der Barbier und der Uhrmacher des Ortes. Über seine Kunst als Uhrmacher waren die Ansichten allerdings verschieden, aber als Barbier – da waren alle Stimmen einig. Er war einfach furchtbar. Die Bauern, die er rasierte, trugen ihr Los still mit dumpfem Groll, weil sie 's nicht besser kannten und glaubten, daß das einmal in der heiligen Weltordnung so sein müsse, und daß es daher 12 vergeblich wäre, sich dagegen aufzulehnen. Die Stadtherren aber unterwarfen sich einer solchen Weltordnung nicht; die verwilderten lieber zu Waldmenschen, ehe sie sich seinem Messer ausgeliefert hätten. Nicht so die Stadtjünglinge. An diesen hatte er eine treue und dankbare Kundschaft. Er schmeichelte ihnen immer mit dem betörenden Vorwurf, daß es schon wieder »die höchste Zeit« sei, und rasierte dann fest drauf los, wo es eigentlich gar nichts zu rasieren gab. Die jungen Leute fühlten die moralische Verpflichtung, Männer zu sein, und standhaft ertrugen sie ihre Leiden in dem Hochgefühl, daß sie die Opfer ihrer stark entwickelten Männlichkeit seien. Und wenn dann alles vorbei war, da fühlten sie sich so glücklich und waren so dankbar, lebendig davongekommen zu sein, daß sie gern über das Künstlerhonorar hinaus auch noch ein Krügel Bier springen ließen. Meister Schaffler trank eine gediegene Handschrift und nicht leicht hätte ihn eine dankbare Kundschaft in Verlegenheit bringen können, etwa nur deshalb, weil sie zu zahlreich gewesen wäre.

Auf der Terrasse wartete man geduldig, bis Schaffler den Doktor hereinlotste. Als sie einfuhren, schien schon wieder die Sonne. Um so besser konnte man seinen Schützling beobachten. Ein Jammerbild. Das Wasser troff nur so von ihm, wie ihn der stämmige Schaffler über den Fußweg nach Hause brachte. Dem Zylinder waren die Haare wie von Entsetzen gesträubt; der einst steife Hemdkragen wies auch nicht die Spur der vergangenen Herrlichkeit auf – wie der Mann aussah, dafür hätte er ganz gut noch einmal in den See gefallen sein können.

Einen Menschen, der einem zweimal hintereinander das Schauspiel bietet, in komplettem städtischen Anzug bis auf die Knochen naß zu werden, den gewinnt man schließlich lieb. Das ist doch ein Anblick für Götter; man unterhält sich großartig dabei und fühlt endlich eine Regung von Dankbarkeit für das gehabte Vergnügen. Die Jugend wurde darüber einig, daß Doktor Grund ein ganz famoser Fall 13 sei, und daß man ihn eigentlich hätte erfinden müssen, wenn er nicht selber die glückliche Idee gehabt hätte, Mattsee mit seiner schätzbaren Anwesenheit zu beehren. Er ließ sich aber auch nicht lumpen, und mit wahrhaft königlicher Verschwendung bot er die Anlässe zur allgemeinen Unterhaltung. Man bekam ihn kaum noch trocken zu sehen, und was bei anderen im leichten Rudertrikot kaum beachtet wurde, das gestaltete sich bei ihm, da er nach wie vor städtisch gekleidet umherging, immer gleich zu einer Katastrophe. Die anderen warfen, bevor sie sich entschlossen auszufahren, erst einen kundigen und prüfenden Blick gen Himmel; Doktor Grund zog aber stets vertrauensselig aus und mußte dann immer wieder wie begossen – nein, nicht wie, sondern wirklich begossen nach Hause laufen.

Kaum hatte er halbwegs gelernt, sein Boot so ungefähr – sehr genau nahm er es ja nicht – dorthin zu dirigieren, wohin er es haben wollte, als er es sich in den Kopf setzte, allein zu segeln. Mariedl fühlte sich von schweren Besorgnissen bedrückt, als er sie bat, ihm zu zeigen, welches Segel zu seinem Boot gehöre. Er legte sich dann den handlichen Mast mit dem lateinischen Segel dran ins Boot und ruderte hinaus, um sich draußen seine Sache zu richten. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß Meister Schaffler ihn wieder heimholen mußte, und zwar in recht kläglichem Zustand. Die erlauchte Korona beim Seewirt aber, die mit Doktor Grund schon auf einem sehr guten Fuße stand, und die sich durchaus keinerlei Zwang mehr auferlegte, fand die Geschichte höchst pyramidal.

Eines schönen Nachmittags war nach vorheriger Vereinbarung ganz Mattsee ausgeflogen. Ein langer Zug von Booten hatte sich formiert, und zwei Seen hatte man durchgerudert, um in dem freundlichen Orte Seeham zu landen. Dort gab es ein »Hotel,« offiziell auch »Pension« genannt, mit einem großen Saal, in dem sich ein Klavier befand, und ein »Spielzimmer«, in dem ein Ungetüm stand, das 14 mit dem Ehrennamen Billard belegt wurde. Es gab immer einige junge Leute, die auf diesem Ungetüm ihre Vorstudien für den Ernst des Lebens in einem wirklichen Kaffeehause machen wollten, wozu der Anreiz um so größer schien, als der Hotelbesitzer einsichtsvoll genug war, für die Benutzung dieses Billards keine Gebühr zu beanspruchen. Die Hauptanziehung bildete aber der große Saal mit dem Klavier; die Jugend wollte tanzen. Das Hotel hatte einen gewissen Ruf; es hieß, daß man dort gut essen könne, etwas teuer allerdings nach Mattseer Begriffen, aber das kam weniger in Betracht. Die geehrten Gäste halfen sich über dieses Bedenken dadurch hinweg, daß sie das, was sie zu verzehren gedachten, meist selber in ihren Booten mitbrachten. Schließlich mußte ja der Hotelier einsehen, daß es nicht sein mehr oder minder reichhaltiges Menü war, was sie lockte, sondern der große Tanzsaal mit dem Klavier, dessen Benutzung übrigens auch nichts kostete.

Es ging hoch her im Tanzsaal. Cäsarine Wittig saß am Klavier und spielte der Jugend zum Tanze auf. Neben ihr stand ihr Vater, der berühmte Kliniker, der sich auf einige Tage losgemacht und einen Abstecher nach Mattsee zu seiner Familie unternommen hatte. Es berührte ihn seltsam, was er da beobachtete. Eine große Quadrille war im Zuge, und es ging dabei sehr geräuschvoll zu. Die Teilnehmer kamen aus einem unbändigen Lachen gar nicht heraus, und alles lachte über Doktor Grund, der ganz absichtslos den Mittelpunkt der Gesellschaft bildete. Naß war er diesmal nicht, aber das war hier auch nicht nötig, um ihn unterhaltend zu machen. Er tanzte, recht schweigsam, aber stillvergnügt und mit seligem Gesichtsausdruck mit, und es war offenbar, daß er vom Quadrilletanzen nicht mehr Begriffe hatte als vom Bootfahren. Er wurde von seiner Tänzerin, einem kleinen Mädel, das in der Altersfrage immer keck zwei Jahre dazulog, geschoben, und wenn er sich dann zu seinen Evolutionen anschickte, dann hatte die ganze 15 Gesellschaft nur Augen für ihn und kam aus dem Lachen nicht heraus.

Luitschi Bittmann war aber heute auch zu köstlich in seinen sarkastischen Bemerkungen, mit denen er von dem hohen Standpunkt seiner enormen Überlegenheit aus nicht kargte. Sein tiefer Ausspruch, daß der Doktor zwei linke Füße habe, machte Furore und fand seine sachgemäße, allerseits beifällig aufgenommene Ergänzung in einer Zusatzbemerkung der jungen Dame, die eine besondere Stärke im Dichten hatte, daß auch seine Arme falsch eingehängt seien. Die jungen Damen wie die jungen Herren hatten fast durchgängig einen gewissen Zug ins Große. Was die Mädchenschar betrifft, so wollten sie fast alle für älter gehalten werden, als sie tatsächlich waren. Dieses schier unglaubliche Phänomen ist insonderheit in den frühen Entwicklungsstadien wahrzunehmen. Die jungen Herren aber sprachen mit gut forcierter Baßstimme und ließen sich – das war schon der helle Größenwahnsinn – von Schaffler rasieren. Luitschi Bittmann hatte sogar schon einen Titel auf seinen Visitkarten, einen selbstkomponierten zwar, der sich aber doch recht imposant ausnahm – Freiwilligenaspirant. Man hat sich über den schönen Titel längere Zeit den Kopf zerbrochen, aber dann war man der Sache doch auf den Grund gekommen. Mit dem Gymnasium war es nämlich durchaus nicht gegangen; man hatte es nach längeren fruchtlosen Bemühungen aufgeben müssen. Um nun wenigstens das Freiwilligenrecht für Luitschi zu sichern, hatte man für ihn einen mehrjährigen Vorbereitungskursus ins Auge gefaßt. Dieser Entschluß war kaum gereift, als Luitschi auch schon auf Visitkarten und Meldezetteln sich den »Charakter« eines Freiwilligenaspiranten beilegte, wodurch er sich die ungeschmälerte Hochachtung seiner Freunde und Altersgenossen errang. Bringt man noch in Anschlag, daß ihm voraussichtlich die Meisterschaft im Springen von Tremplin nicht entgehen konnte, so wird man einen annähernden Begriff von der Bedeutung seiner sozialen Stellung in Mattsee erlangen.

16 Doktor Grund schien absolut nichts davon zu merken, wie sehr er der verehrlichen Gesellschaft zur Erheiterung diente. Er tanzte unverdrossen weiter, wie es eben ging, in stiller, glückseliger Selbstzufriedenheit. Als die Quadrille unter großartigem Geschrei zu Ende gelangt war, begab er sich zu Cäsarine ans Klavier, um ihr für die Opferwilligkeit zu danken, mit der sie aufgespielt hatte.

»Haben Sie sich wenigstens gut unterhalten dabei?« fragte Cäsarine.

»Ich habe mich nie im Leben besser unterhalten,« versicherte er mit glücklichem Lächeln.

Nun wollte Cäsarine den Doktor ihrem Vater vorstellen, aber es war unnötig, da die beiden Herren einander schon kannten. Es war merkwürdig zu beobachten, welche Umwandlung mit Doktor Grund vor sich ging, als er mit dem großen Kliniker ins Reden kam. Er klappte nicht zusammen vor dem berühmten Mann, er gewann vielmehr zusehends an Haltung, Sicherheit, Männlichkeit; man empfing den Eindruck, als ständen da zwei Männer beisammen, die zueinander gehörten, und hatte sich früher ein Mißverhältnis zwischen ihm und der ihn umgebenden Jugend zu seinen Ungunsten ergeben, so verschob sich dieses Verhältnis nun zu seinen Gunsten. Hofrat Wittig zeigte eine gewisse Beflissenheit, den weltfremden jungen Gelehrten auszuzeichnen und ihn womöglich im Ansehen bei den Anwesenden zu heben. Er hielt Stücke auf den jungen Mann, und es hatte ihn verdrossen und schien ihm seiner unwürdig, daß man ihn so von allen Seiten gehudelt hatte. Er begrüßte ihn also mit ostentativer Herzlichkeit und sprach absichtlich laut, daß es die anderen nur auch hören sollten, wenn es gerade etwas Verbindliches oder Auszeichnendes war.

»Ah, Kollega, wie kommen Sie da her?« begann er liebenswürdig.

»Ich war etwas überarbeitet, Herr Hofrat, und stark herunter, und da hatte man mir Mattsee empfohlen. Ich 17 würde da in absoluter Ruhe und stillster Zurückgezogenheit leben können.«

Der Hofrat blickte fragend auf. Für einen, der die absolute Ruhe aufsucht, war dieser stauberfüllte Tanzsaal, diese lärmende, lachende, schreiende, bei Klavierbegleitung tollende Menge eigentlich doch nicht ganz das Richtige.

»Allerdings,« fuhr Doktor Grund, der den Blick verstanden hatte, fort, »die wahre Waldeinsamkeit ist das nicht, aber ich finde, es ist noch besser als diese. Ich befinde mich wunderbar dabei. Die Jugend, die mich umgibt, macht mich gesund und glücklich. Ich habe so viel an Jugend und an Glück nachzuholen.«

Cäsarine richtete einen warmen Blick auf ihn; jetzt fing die Sache an, auch sie zu interessieren.

»Sie müssen aber die Kur ein wenig teuer bezahlen,« entgegnete ihm der Hofrat mit Beziehung.

»Sie meinen, weil ich ausgelacht werde, Herr Hofrat? Aber das geschieht mir ja nur recht. Ich muß es erst lernen jung zu sein. Die Herrschaften kann ich nicht ändern, möchte es auch nicht, aber ich kann mich selbst bessern, und dazu bin ich eben an der Arbeit. Übrigens, Herr Hofrat, habe ich an Ihnen noch eine schwere Unterlassungssünde gut zu machen.«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Ich habe Ihnen noch nicht einmal gedankt.«

»Ach, wegen meines Artikels im ›Zentralblatt‹ über Ihr Buch? Da bedurfte es wahrhaftig keines Dankes; ich schrieb den Artikel, weil mich die Sache interessierte.«

»Und dabei habe ich eine Förderung erfahren, wie noch nie zuvor im Leben. Ihr Urteil hat Gewicht, Herr Hofrat!«

»Es soll mich freuen, wenn der Artikel Ihnen genützt hat. Ich wünsche nämlich ernstlich, daß Sie sich bei uns habilitieren, und was ich tun kann, Ihnen dabei an die Hand zu gehen, Herr Kollega, das soll mit Freuden geschehen.«

18 »Herr Doktor Grund hat ein Buch geschrieben?« fragte Cäsarine, die aufmerksam zugehört hatte.

»Und ein sehr interessantes,« erwiderte der Hofrat. »Das könntest sogar du lesen.«

»Das würde ich wohl nicht verstehen. Was haben Sie behandelt, Herr Doktor?«

»Der Titel des Buches lautet: ›Die Verwundungen bei Homer im Lichte der modernen Wissenschaft‹.«

Hier wurde das Gespräch unterbrochen durch die lärmenden Signale zum Aufbruch. Alles strömte zum Landungsplatz, um die Boote wieder zu besteigen. Nur Cäsarine ging nicht mit. Als die älteste Tochter des Hauses hatte sie sich, ihrer Neigung folgend, ganz in die Rolle des Hausmütterchens eingelebt. Sie wußte einen kleinen Kramladen in Seeham, in dem man Obst, Salat und Gemüse besser und billiger einkaufte als in Mattsee, und nun wollte sie die Gelegenheit benutzen, eine Ladung davon mit heimzubringen. Sie ging also und machte ihre Einkäufe, und als sie nach einer Viertelstunde wieder am Landungsplatz erschien, da war alles schon ausgerückt; nur der einzige Doktor Grund war zurückgeblieben.

»Warum sind Sie denn nicht mit fortgefahren, Herr Doktor?« fragte Cäsarine.

»Ich gehörte zu keinem der Boote.«

»Wie sind Sie denn herübergekommen?«

»Mit der Überfuhr, Fräulein Cäsarine.«

»Warum sind Sie jetzt nicht mit in diese eingestiegen?«

»Weil der Herr Hofrat mit Familie sie in Anspruch nahm.«

»Aber Sie hätten doch noch Platz gehabt.«

»Ich dachte, es könnte zu viel werden, und ich fürchtete lästig zu fallen.«

»Was wollen Sie aber nun tun?«

»Warten, bis die Überfuhr zurückkommt.«

»Das dauert eine Ewigkeit, und Sie würden sich langweilen. Wollen Sie sich mir anvertrauen, Herr Doktor?«

19 Der Doktor lächelte verlegen. So eine Frage! Ob er wollte – wenn er ihr nur keine Ungelegenheit bereitete.

»Ich frage ja auch nur,« erklärte Cäsarine, »weil ich im Skuller zurückfahre und dieser eigentlich nur für eine Person eingerichtet ist.«

»Da würden am Ende zwei Personen eine zu schwere Belastung bilden?«

»Zwei Leute – es ist ein bißchen viel für das zarte Ding, aber es geht. Wir haben es oft scherzeshalber ausprobiert, allerdings nur beim Bad und in der Nähe des Ufers, nicht aber auf eine so weite Strecke.«

»Am Ende ist es recht gefährlich?«

»Nein, Herr Doktor,« erwiderte Cäsarine lachend, »gar so gefährlich ist es nicht.«

»Fräulein Cäsarine?«

»Was denn, Herr Doktor?«

»Ich habe nur Ihretwegen gefragt.«

»Um mich seien Sie außer Sorge.«

Cäsarine brachte ihre Ladung am Bug unter und wies dem Doktor den schmalen Sitz am Steuerbord an, und erst als er festsaß, nahm sie behutsam ihren Platz ein und stieß ab. Sie handhabte die Riemen mit großer Sicherheit und ließ sie nach jedem Stoß elegant über die Wasserfläche streichen. Das leichte, über Gebühr belastete Boot hatte einen ungewohnten Tiefgang, und die Bordkanten ragten um kaum Spannbreite aus dem Wasser. Die Luft war ruhig und schwül, und da die Sonne sich hinter einer Wolkenwand versteckt hatte, nahm Cäsarine ihren Strohhut ab. Der Doktor verhielt sich auf seinem Plätzchen sehr ruhig und sah bewundernd auf sein schönes Gegenüber. Wie ein Diadem hatte Cäsarine ihr reiches, braunes Haar gesteckt, und er fand auch in ihrer Haltung die Anmut einer Königin, obschon sie das bäuerliche Dirndlkleidchen trug und, was bei Königinnen sonst sehr selten der Fall ist, ihr frisches, wie eine reife Aprikose rotangehauchtes Antlitz ein wenig von der Sonne gebräunt war.

20 »Nun haben Sie doch Ihre Überfuhr, Herr Doktor,« begann Cäsarine zu plaudern, als sie freie Fahrt hatte.

»Ich werde niemals mehr behaupten, daß ich ein Pechvogel bin. Wenn einer schon die Überfuhr versäumt hat, und er kriegt dann doch so einen Fährmann, dann ist er offenbar von den Göttern begünstigt.«

»Fährmann? Sagen wir vielleicht Überfuhrie.«

»Das ist gut; sagen wir Überfuhrie. Mit einer solchen würden auch meine homerischen Helden gern über den Acheron gefahren sein.«

»Das möchte ich bezweifeln, obschon Sie natürlich sich in Ihrem Homer besser auskennen müssen, aber das weiß ich, daß mir noch niemals auf so klassischer Grundlage der Hof gemacht worden ist. Sie leben wohl noch immer ganz in der homerischen Welt?«

»Nicht so ganz mehr. Es ist jetzt eine andere Welt, eine Welt des Schreckens, aber ohne Schönheit, in der ich lebe.«

»Darf man fragen?«

»Ich arbeite an einer Geschichte der Entwicklung des Sanitätswesens im Kriege.«

»Daß Sie sich immer mit so blutrünstigen Sachen abgeben!«

»Es ist mein Geschäft. Ich bin Anatom und ein wenig Anthropolog.«

»Und Sie lesen auch den Homer als Anatom?«

»Auch als Anatom, und ich nehme ihm nichts von seiner Größe, wenn ich beweise, daß er durchaus vertrauenswürdig bleibt unter der modernen medizinischen Kritik.«

Der Doktor wurde warm bei seinem Thema. Er belehrte seine schöne Partnerin darüber, daß die alten Griechen genaue Kenntnisse von der Anatomie gehabt hätten, und wies das an Beispielen aus der antiken Plastik nach, dann erläuterte er den Hauptinhalt seines Buches, in dem er dargetan hatte, daß jede einzelne der bei Homer vorkommenden 21 Verwundungen durchaus korrekt geschildert sei und auch vor der modernen Wissenschaft bestehen könne.

Cäsarine hörte aufmerksam zu und sagte dann lächelnd: »Wenn Sie noch oft die Überfuhr versäumen sollten, Herr Doktor, dann werden Sie noch eine Gelehrte aus mir machen.«

Da wurde der Doktor ernst.

»Fräulein Cäsarine,« sagte er, »Sie sind die einzige, die sich nicht lustig machen darf über mich!«

»Ich denke nicht daran, Herr Doktor. Mir war es wirklich eine Freude, von Ihnen zu lernen, und Sie werden ein gutes Werk tun, wenn Sie mich öfter unterweisen.. Denn ich bin schrecklich unwissend.«

»Es wäre eben kein Unglück gewesen, wenn Sie auch nicht aufgeklärt worden wären über die Verwundungen bei Homer. Dagegen kann ich Ihnen sagen, Fräulein Cäsarine, daß ich von Ihnen viel mehr lerne, als Sie je von mir lernen könnten.«

Cäsarine lachte in fröhlicher Ungläubigkeit auf.

»Das sollte kein Scherz sein, Fräulein Cäsarine.«

»Was könnten Sie von mir lernen!«

»Vielleicht die Kunst, zu leben, vielleicht das Glück, jung zu sein.«

»Sie sind selber jung, Herr Doktor.«

»Ich bin es nie gewesen und niemals auch« – er unterbrach sich und strich mit der Hand über die Augen.

Sie kamen vorläufig nicht dazu, das Gespräch fortzusetzen. Ein heftiger Windstoß mahnte Cäsarine, ihre volle Aufmerksamkeit der Führung des Bootes zuzuwenden. Die Schwüle, die sie bisher bedrückt hatte, war nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen. Der See wurde schwarz, die Wogen gerieten in Unruhe und begannen kleine weiße Kämme zu tragen. Der Himmel hatte sich ganz umdüstert und sah sich nun recht unheimlich an. Die Sonne, die bisher zwischen dem mächtigen Massiv des Untersbergs und der großen Wolkenwand und über diese hinaus leuchtende Strahlenbündel 22 hervorgesandt hatte, obschon sie selbst verdeckt war, erschien nun wie völlig ausgelöscht.

»Wie rasch das Bild sich ändert!« rief Doktor Grund.

»Man läßt sich von dem Salzburger Wetter doch immer wieder überraschen, wenn man es noch so gut zu kennen glaubt,« erwiderte Cäsarine. »Namentlich unterschätzt man jedesmal die Schnelligkeit, mit der es loszubrechen pflegt. Ich hatte bestimmt gehofft, daß wir noch trocken nach Hause kommen würden.«

»O, wenn ich dabei bin –«

Cäsarine lachte. »Nun, einigermaßen sind Sie das Naßwerden ja auch schon gewöhnt; das tröstet mich doch halbwegs.«

»Und ich bin trostlos, daß Sie meinetwegen leiden sollen.«

»Ihretwegen?«

»Wäre ich nicht auf dem Wasser, das Wetter wäre sicher nicht gekommen.«

»So teilen wir denn also Freud und Leid miteinander, Herr Doktor.«

»Helfen wir uns mit der Philosophie, Fräulein Cäsarine.«

»Nur auf die Philosophie möchte ich mich doch nicht verlassen,« entgegnete Cäsarine und zog eifrig die Riemen, um so rasch als möglich vom Fleck zu kommen. Das Boot hatte einen guten Schuß, und schnurgerade zog es seine Furche durch das unruhige Wasser. Ein mächtiges Heulen, Brausen und Rauschen ging durch die Luft, und den grellen Blitzen folgten rasche und harte Donnerschläge. Cäsarine ruderte ruhig, aber mit erhöhter Anstrengung weiter. Schon sprangen einzelne fürwitzige Wogen über Bord ins Boot, und als gleich darauf der Regen wolkenbruchartig herniedersauste, mäßigte sie wieder resigniert die Fahrt.

»Jetzt brauchen wir uns nicht einmal mehr zu beeilen,« rief sie zu Doktor Grund hinüber, »jetzt ist's doch schon alles eins. Wenn man einmal gründlich naß geworden ist, hat man wenigstens den Trost, nicht mehr nässer werden zu können.«

23 »Das Boot füllt sich mit Wasser,« meldete darauf der Doktor ängstlich.

»Das braucht uns keine Sorge zu machen, Herr Doktor. Unter Ihrem Sitz haben Sie eine Blechkanne; benutzen Sie diese, um das Boot auszuschöpfen. Bücken Sie sich dabei aber immer in gerader Richtung nach vorn, daß Sie uns nicht ins Schwanken bringen!«

Der Doktor befolgte das Kommando mit Eifer und hatte die Freude zu sehen, daß seine Bemühungen nicht ohne Erfolg blieben. Allerdings fielen solche Wassermengen vom Himmel, daß er unausgesetzt zu tun hatte. Einen Augenblick sah die Sache recht bedrohlich aus, als ein heulender Windstoß wieder den Kamm einer Woge ins Boot warf.

»Noch eine solche Ladung, und wir sinken!« rief der Doktor.

»Schöpfen Sie nur ruhig weiter,« entgegnete Cäsarine. »Übrigens – für alle Fälle – Sie können doch schwimmen, Herr Doktor?«

»Um mich seien Sie unbesorgt, Fräulein Cäsarine; viel wichtiger ist's, ob Sie nicht in Gefahr sind.«

»Davon ist gar keine Rede. Hören Sie mich aber an, Herr Doktor, und merken Sie wohl auf. Sollten wir doch ins Wasser kommen, was ich jedoch nicht glaube, dann halten Sie sich einfach am Boot fest. Ich schwimme inzwischen zu dem Ufer, das gerade am nächsten ist, und hole Sie dann mit einem anderen Boot.«

»Werden Sie aber in Kleidern schwimmen können?«

»Das ist gar keine Hexerei. Wir trainieren alle in Mattsee einmal in der Woche das Schwimmen in voller Bekleidung.«

Es kam nicht zu dem Experiment, obgleich der Sturm fortfuhr, recht ungebärdig zu tun. Cäsarine brachte das Boot geschickt über den großen zweiten See durch den schmalen Kanal in den ersten und dann nach kaum viertelstündiger Fahrt zur Bootshütte beim Bad, und hierauf gingen beide triefend nach Hause, um die Kleider zu wechseln.

* * *

24 Einige Tage später am Vormittag – die Korona war, wie üblich, beim Seewirt vollzählig versammelt – wollte Doktor Grund sich wieder einmal im Rudern üben. Als er unvermutet die Bootshütte betrat, bekam Mariedl wieder ihren Schreck, und um zu verhindern, daß er neuerdings Verwüstungen unter den Booten anrichte, schoß sie eiligst herum, damit sie alles fertig brächte, bevor er etwas anrührte. Dabei überhastete sie sich nun, stolperte und fiel ins Wasser. Meister Schaffler, ihr würdiger Vater, der auch beim Seewirt saß, und der gerade sein Glas mit der Neige angesetzt hatte – er kannte überhaupt nur die Blume und die Neige, – und etwas anderes kam in seiner Praxis nicht vor – sah es mit an und murmelte dazu nur: »So ein dummer Fratz!« Dann trank er ruhig aus.

Der Doktor aber stand, als er das Kind ins Wasser fallen sah, einen Augenblick wie erstarrt; seine Augen schienen voll Entsetzen aus ihren Höhlen treten zu wollen, und dann warf er sich mit ungeschickter Bewegung ins Wasser dem Kinde nach. Die versammelte Jugend lachte auf über die groteske Szene.

Mariedl, die Tochter Meister Schaffler's, war in ihrem praktischen Sinn unter drei Booten durchgeschwommen, um gleich bei der Landungsstiege aufzutauchen und von dort aus ans Land zu gehen. Der Doktor blieb aber beunruhigend lange Zeit unter dem Wasser. Meister Schaffler setzte sein Glas auf den Tisch und spähte hinaus. Dann warf er mit einem Ruck seinen Rock ab und sprang von der Terrasse kopfüber in den See. Die Rettung Ertrinkender war seine Spezialität. Er hatte bereits reichlich zwei Dutzend Menschen, die am Ertrinken waren, aus dem Wasser geholt und dafür auch schon eine Auszeichnung, das Silberne Verdienstkreuz, erhalten.

Es dauerte zwei ewig lange Minuten, ehe Meister Schaffler mit dem leblosen Doktor auf der Oberfläche erschien. Die Jugend lachte nicht mehr. Der Schrecken hatte sie gelähmt, 25 als sie das bleiche Antlitz des Doktors auftauchen sahen. Sie waren selbst alle bleich geworden, die jungen Leute; es war als hätte ein Hauch des Todes sie berührt. Still und scheu senkten sie die Köpfe und warteten angstvoll auf Nachricht aus dem Bad, wohin Schaffler den Leblosen getragen hatte, und das abgesperrt worden war, als der Hofrat, der gerade zur rechten Zeit gekommen war, mit Schaffler und der Bademeisterin die Wiederbelebungsversuche anstellte.

Cäsarine stand vor der Türe, regungslos und wie erstarrt in stummem Entsetzen, und erst als nach einer qualvollen halben Stunde der Hofrat die Tür öffnete, um ihr die Botschaft zu sagen: »Er lebt!« löste sich ihr die ungeheuere, grauenvolle Spannung in einem Strom von Tränen, so heiß, wie sie sie vielleicht noch nie geweint hatte.

Auf Anordnung des Hofrats wurde der Kranke in das Haus gebracht, das der erstere bewohnte, und das ganz nahe beim Bade lag. Doktor Grunds Wohnung lag weit abseits, und in seiner Junggesellenwirtschaft hätte kaum für eine entsprechende Pflege gesorgt werden können, die sich als sehr nötig erwies. Denn es war doch eine recht ernste Nervenkrisis, die der Verunglückte nun durchzumachen hatte.

Zehn Tage gingen dahin, ohne daß der Hofrat erlauben wollte, daß er daß Bett verlasse. Als er das erste Mal wieder aufstehen durfte, geleitete ihn Cäsarine in das Gärtchen hinter dem Haus, das sie bestellte, und in dem sie ihm einige prächtige Maréchal-Niel-Rosen aufgespart hatte. Sie führte ihn zu einem Bänkchen, auf dem sie es ihm mit Kissen bequem machte, und dann brachte sie ihm die schönen Rosen.

»Wie glücklich ich bin!« sagte er.

Cäsarine sah ihn lächelnd an.

»Kann man glücklicher sein?« fuhr er fort. »Ich werde krank, und sofort ist Hofrat Wittig zur Stelle, um mir seine berühmte Kunst zu teil werden zu lassen. Ich finde Aufnahme in seinem Haus und gewinne Sie zur Pflegerin!«

26 »Wenn Geben seliger ist denn Nehmen, dann bin doch wohl ich noch die Glücklichere.«

»Haben Sie Dank für alles, meine schöne Lehrmeisterin.«

Lehrmeisterin? Cäsarine wollte erst fragen, wie er das meine, aber die Frage verwirrte sie, ehe sie ausgesprochen war, und sie lenkte ab.

»Sagen Sie nur, Sie Unglücksmensch, Sie können ja gar nicht schwimmen!«

»Nein, schwimmen kann ich allerdings nicht.«

»Haben Sie mir damals im Boot nicht gesagt, Sie könnten schwimmen?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich wollte nur nicht, daß Sie meinethalben in Sorgen gerieten.«

»Wenn Sie nun aber nicht schwimmen können, wie konnten Sie der Mariedl nachspringen? Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

»Viel werde ich dabei wohl nicht gedacht haben, dazu war die Zeit zu kurz; eins stand und steht aber bei mir fest: Wenn ein Kind ins Wasser fällt, so darf man wohl mit ertrinken, aber dabei stehen und keinen Versuch machen, es zu retten, und sei es mit Gefährdung des eigenen Lebens – das darf man nicht.«

* * *

Einige Jahre waren vergangen; wieder einmal führte mich die Wanderlust durch Mattsee. Ich saß beim Seewirt und blickte hinüber ins verödete Bad. Die Sommergäste waren meist abgezogen, schon wallten die herbstlichen Nebel über dem See. Einen Mann sah ich noch im Bad, eine sehnige Gestalt. Der scheute die rauhe Luft und die niedrige Temperatur des Wassers nicht. Einen kleinen, etwa sechsjährigen Jungen hatte er bei sich, mit dem er sich unterhielt. Er warf den jauchzenden Kleinen im weiten Bogen ins Wasser und setzte ihm dann mit einem weitausgreifenden Kopfsprung nach, nahm ihn auf die Schultern und schwamm 27 wieder zurück mit ihm. Dann trocknete er den Kleinen sorgsam ab, worauf beide in die Kabine verschwanden, aus der sie nach wenigen Minuten angekleidet herauskamen. Inzwischen hatte eine schöne junge Frau ein Boot herangerudert und nahm die beiden auf. Der Kleine wurde zum Steuer gesetzt, das er ganz verständig zu handhaben wußte, und der Herr und die Dame ruderten so gleichmäßig und kräftig, daß das Boot bald meinen Blicken entschwand. Dann erinnerte ich mich erst. Ich hatte doch richtig gesehen, ein Irrtum war ganz ausgeschlossen. Das war ja Professor Grund, und jene süße Frau, das war seine Gattin Cäsarine, geborene Wittig.

 


 


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