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Der Kooperator


Vor acht Tagen war ein neuer »Kumprater« Kooperator, Hilfspriester. in den stattlichen Dechanthof eingezogen. Sein Amtsvorgänger hatte eine Expositur hoch droben im Gebirg erhalten. Er mochte wohl manchmal zurückdenken an das behagliche Leben im Dechanthof, das er nun mit einer beschwerlichen Seelsorge, dabei allerdings auch mit selbständigem Walten vertauscht hatte. Fast jeder junge Geistliche muß einmal als Expositus auf einen schwierigen Posten, um sich zu bewähren.

Dem neuen »Kumprater« hatte man zwei behagliche Stuben zu ebener Erde im Viddum eingeräumt. Martin Hutter war erst vor einem Monat geweiht worden. Nur seinen außerordentlichen Leistungen und dem glänzenden Erfolg seiner theologischen Prüfungen hatte er es zu verdanken, daß er frisch von der Weihe weg gleich auf einen der angenehmsten Posten in der Diöcese als Hilfspriester kam.

Es ging gegen Mittag. Der Kooperator Hutter saß in seiner Arbeitsstube. Die warme Sommerluft strich durch die Fenster und brachte den Duft der Blumen vom Garten des Viddums. Hutter hatte sich seine lange Studentenpfeife angezündet und blies den blauen Rauch des Knasters nachsinnend vor sich hin. Jetzt war er also in Amt und Würden. Aus dem armen Bauernbuben, den ein Wohlthäter hatte studieren lassen, war ein angesehener geistlicher Herr geworden, vor dem die Bauern die Hüte zogen. Er vertrat Gottes Stelle auf Erden, konnte Sünden nachlassen und vorbehalten. Er war mehr als andere Menschenkinder.

Die ganze Studentenzeit zog dem jungen Geistlichen an seiner Erinnerung vorüber … wie er als schüchterner kleiner Bub nach Brixen in das bischöfliche Gymnasium gekommen war, begleitet von den Segenswünschen seiner Eltern. Sein Wohlthäter, ein Dompropst von Brixen, welcher auf das aufgeweckte Büblein anläßlich einer Schulvisitation aufmerksam wurde, führte den kleinen Martin an der Hand und empfahl ihn auf das wärmste dem Herrn Direktor und dem Studienregens.

Der Martin lernte leicht, und bald war er der Erste in seinem Kurs. Was war das für eine Freude, wenn der junge Student in die Ferien kam mit einem glänzenden Zeugnis. Sein Vater, der sich mit einem Weib und noch sechs Kindern auf einem kleinen Gütel mühsam genug fortbringen mußte, konnte es gar nie begreifen, woher der Martin den guten Kopf habe. In seine andern Kinder, die Geschwister des Martin, konnte der Dorfschullehrer mit aller Mühe kaum das Einmaleins hineinprügeln. »Über'n Martin muaß rein der heilige Geist selber kommen sein!« pflegte dann der Bauer zu versichern. Die Mutter war im siebenten Himmel. Sie hatte ja einen zukünftigen geistlichen Herrn geboren. Eine größere Gnade läßt sich wohl für eine Mutter gar nicht mehr denken.

Das Gymnasium war durchgemacht und mit »Auszeichnung« absolviert. Dann kamen vier Jahre Theologie im fürstbischöflichen Seminar zu Brixen. Es waren Jahre ernster Arbeit, reiflichen Denkens und strenger Pflichterfüllung. Jetzt war der junge Geistliche am Ziel, eigentlich erst am Ausgangspunkt zu seinem Ziele. »Der Hutter Martin wird g'wiß no amal Bischof!« pflegten die Leute in seinem Heimatsdorf zu versichern.

Der »Kumprater« dachte zurück, wie vor einem Monat seine Primiz war. In der Brixner Domkirche hatte er sie gehalten. Der alte Dompropst, sein Wohlthäter, der immer noch lebte, hatte es sich nicht nehmen lassen, die Primiz seines Schützlings auf das glänzendste auszustatten.

In der Kirche waren sein alter Vater und seine alte Mutter gekniet und alle seine Geschwister. Als er nach seiner ersten Messe vom Hochaltar aus den Segen gab und sich alles auf die Knie warf vor dem Stellvertreter des Herrn und Heilandes Jesu Christi, hörte Martin seine alte Mutter bis zum Altar hinauf schluchzen vor Freude. Er hielt die goldene Monstranz in die Höhe. Ein Sonnenstrahl, der durch die bemalten Kirchenfenster brach, spiegelte sich in dem Kleinod. Mit lauter Stimme sang der Neugeweihte den Segen: »Christus vincit – Christus regnat – Christus imperat.« Lautlose Stille herrschte. Der Segen eines neugeweihten Priesters soll ja so kräftig sein wie der des Papstes selbst.

Dann ließ sich zum letztenmal mit ihren feierlichen Klängen die Orgel aus der Höhe vernehmen. In der Ferne krachten die Böller. Vor dem Dome setzten drei Musikbanden zugleich ein, dann ging es zum Festmahl.

Das war ein glänzender Tag gewesen. Die alten Eltern des Martin meinten, nun könnten sie sich wohl beide ruhig und glückselig in das Grab legen, weil sie diesen Ehrentag ihres Bua noch miterlebt hätten.

Was fehlte dem jungen Geistlichen nun noch zu seinem Glück! Im Dechanthof hatte er ein behagliches Heim für die nächsten Jahre gefunden. Sorgenlos konnte er in die Zukunft blicken. Seine beiden Stuben hatte sich der »Kumprater« auch schon ganz traulich eingerichtet. Die Photographien seiner Mitschüler vom theologischen Seminar hingen an den Wänden. Die Bibliothek hatte er in einem Schrank schön geordnet. In einer Ecke hatte er ein zierliches Tischchen mit seiner Streichzither aufgestellt. Alle die kleinen Andenken und Spielereien, die man im Laufe der Jahre sammelt, waren vorteilhaft unter die übrige Einrichtung verteilt.

Martin war ein findiger Kopf und verstand von den verschiedensten Handwerken einiges, so daß er sich jederzeit Unterhaltung schaffen konnte. Im Holzschnitzen hatte er es sogar zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Mit geschnitzten Pfeifenköpfen und Bilderrahmen machte er manchem eine Freude. Auch für die leeren Fenster seiner Stuben, an welchen die Vorhänge fehlten, hatte der Kooperator bereits eine sinnige Zierde erfunden. In Eierschalen, die an dünnen Drähten hingen, waren kleine Schlinggewächse eingesetzt, die nun mit ihren weißen Geschirren einen ganz eigenen Schmuck bildeten.

Eine gelle Glocke wurde im Hausflur geläutet. Es war das Zeichen zum Mittagessen. Martin klopfte die Pfeife in den Aschenbecher aus, zog sich den besseren Talar an und ging in das erste Stockwerk hinauf, wo er den Dekan und seinen Kollegen, den zweiten Kooperator, welcher schon ein Jahr im Amte war, bereits bei Tische fand.

Der Dekan war ein stattlicher behäbiger Herr, noch in den besten Jahren. Ein feistes rotes Gesicht saß auf einem kurzen Nacken. Hochwürden Erlacher hatte großen Einfluß in der Gegend, wenn er denselben auch nicht immer zu den edelsten Zwecken anwandte. Ein gewisser Zug verbissenen Trotzes lag um den Mund des Dekans. In den stahlgrauen Augen leuchtete es oft ganz seltsam auf. Fast war dann ein Ausdruck von grausamem Fanatismus in seinem Blick. Der Dekan Erlacher war mehr Politiker als Priester und zerrte schon seit Jahren den Hader der Parteien in das Gotteshaus. Er hatte schon manchen Unfrieden in seiner Gemeinde gestiftet, ja sogar Glieder derselben Familie einander verfeindet oder doch zum mindesten entfremdet. Die Wahlen für den Tiroler Landtag waren seit mehr als zwei Monaten vorüber. Der Dekan hatte jetzt wieder etwas ruhigere Tage. Während der Wahlen hatte er aber mitunter Agitationen betrieben, die ihm manche nicht vergessen konnten. Alte Bauern, die nicht mehr gehen konnten, wurden auf Befehl des Dekans zum Wahllokal geführt, so daß sich der Regierungskommissär des Ausrufes nicht enthalten konnte: wenn das so fortgehe, werde man zuletzt wohl noch die Toten vom Friedhof zur Wahl schleppen. Einigen Bauern, die sich etwas widerspenstig erwiesen, hatte der Dekan kurzweg ins Gesicht gesagt: wenn sie auf dem Sterbebette lägen, dann möchten sie nur den liberalen Kandidaten zu sich rufen, er, der Dekan, würde mit dem Sakrament keinesfalls kommen. Das wirkte denn auch in den meisten Fällen. Der Dekan hatte einen vollständigen Sieg seiner Partei in seinem Sprengel zu verzeichnen.

Beliebt war Erlacher nicht. Viele haßten ihn sogar im stillen. Alle aber fürchteten ihn, alle kannten ihn als einen Menschen, der, wenn es seine Zwecke galt, kein Mittel scheute, dem nichts heilig war, weder der Friede der Familie noch das Glück des einzelnen. Mit unbeugsamer Rücksichtslosigkeit pflegte er die Interessen der Kirche oder besser gesagt, der ultramontanen Partei über alles zu stellen. Das war also der nächste Vorgesetzte des jungen Martin Hutter.

Der zweite »Kumprater«, Joseph Patscher, war das direkte Widerspiel Martins. Was dieser hochgewachsen war, war jener klein und schmächtig. Patscher konnte nie ruhig auf seinem Stuhle sitzen, rückte beständig nervös auf demselben hin und her und humpelte dann wieder um den Tisch. Den rechten Fuß hatte Patscher mit einem roten Tuch verbunden. Er hatte sich vor einigen Tagen daran verletzt, und nun eiterte die Wunde. Dabei lachte der junge Geistliche immer gezwungen auf. Es war überhaupt in seinem ganzen Wesen etwas Unnatürliches, Scheues. Patscher konnte niemand ins Gesicht sehen und ließ die Augen stets fast furchtsam umherschweifen. Es war, als ob ihn eine geheime Schuld drücken oder er sich wegen etwas schämen würde. Sein fahles gelbes Gesicht trug einen Zug der Ermüdung, wie ihn etwa Nachtschwärmer aufzuweisen haben. Um die Augen zogen sich große blaue Ringe. Schlaffe Wangen und eine hängende Unterlippe, die der ganzen Miene oft etwas geradezu Blödes gab, vervollständigten das Bild.

Jungfer Monika, die Häuserin, kam mit der Suppe. Die Monika war eine Dirn anfangs dreißig und entschieden häßlich zu nennen. Eine breite Stumpfnase, wulstige Lippen, die Augen fast geschlitzt, machten sich unter einer auffallend niederen Stirn breit. Sonst strotzte ihr Gesicht und ihre ganze Gestalt von Gesundheit. Die Arme trug sie bloß. Ein feiner rötlicher Haarflaum lag darüber wie ein Pelz.

Das Tischgebet wurde verrichtet. Die Monika stand in einer Ecke bei der Thür und betete mit. Als man beim Braten war, hörte man draußen einen heftigen Wortwechsel, in dem die gelle Stimme der Häuserin besonders hervorstach.

»I muß eini!« hörte man eine andere weibliche Stimme sagen. Dann wurde die Thür aufgerissen. Ein junges Mädchen erschien auf der Schwelle und blieb zaghaft stehen.

»Was giebt's denn schon wieder?« herrschte sie der Dekan an und band die Serviette fester.

»I bitt' schön, hochwürdiger Herr Dekan, mei Vater, der Sagschneider, schickt mi. Es geht zu End' mit ihm. Wir wissen uns alle nimmer z' helfen. Wenn der Herr Dekan ihm die letzte Ölung –«

»Dös wird wohl no Zeit haben bis zum Abend!« unterbrach sie der Dekan unwirsch. »Nit amal unter'm Essen hat man a Ruah!« Der Kooperator Patscher brach in sein krampfhaftes Lachen aus, kreuzte das kranke Bein über das gesunde und rückte auf dem Stuhle hin und her.

»Er liegt schon in den letzten Zügen mei armer Vater!« stotterte das Mädchen.

Der Dekan schenkte sich ein neues Glas Wein ein und polterte: »So, so! Gelt, wenn den Leuten der Tod auf der Zungen sitzt, nachher wär' man ihnen gut g'nua. Aber bei Lebzeiten da wird mit dö Liberalen umanand'gangen. Dei Vater is alleweil beim Bezirksrichter g'steckt, den der Teufel selber ins Land bracht hat. Iatz geht's wohl aus ei'm andern Ton. Eigentlich verdient er's gar nit der alte Sagschneider, daß man ihm die letzte Ölung spendet. Schad' um das heilige Öl für so an Luther! Nutzen wird's ihm do nix!«

Den Körper des Mädchens durchlief ein heftiges Zittern. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann bitterlich zu weinen. Die Monika war in das Zimmer getreten, räumte die Schüsseln vom Tisch und meinte höhnisch: »Siehst, Burgele, so geht's, wenn einer sei Lebtag lang z' wenig betet hat und mit dö Libaralen umgangen is – nachher will unser Herrgott a nix mehr von ihm wissen!« Der Kooperator Patscher lachte und rückte auf seinem Stuhl. Das Burgele vom Sagschneider hatte bei den Worten der Häuserin einen Augenblick die Hände von ihrem Gesicht entfernt. Eine flammende Röte schoß ihr bis in den Nacken.

Martin Hutter war aufgestanden. Er stützte sich mit einer Hand auf den Tischrand. Die Hand zitterte. Er wurde abwechselnd rot und blaß. Der Dekan warf einen forschenden Blick auf ihn.

»Wenn der Herr Dekan es erlaubt,« sagte Martin, »werd' ich dem Sagschneider die Sakramente spenden, damit si der Herr Dekan nit selbst z' bemühen braucht.« Patscher lachte gedankenlos auf und zeigte auf seinen Fuß: »I kann nit abi bis zum Sagschneider,« lachte er noch immer.

Der Dekan schwieg eine Weile und meinte dann mit anscheinendem Gleichmut: »Mir kann's recht sein!«

Martin empfahl sich und eilte auf seine Stube, um das Notwendige für den Versehgang zu ordnen. Das Burgele war inzwischen zum Meßmer um den Sakristeischlüssel gesprungen. Man besorgte noch das Erforderliche schnell in der Kirche. Martin trug das Sakrament. Der Meßmer ging mit der Glocke voraus. Die Leute beugten das Knie, wo sie vorüberkamen.

Als Martin Hutter aus dem Zimmer des Dekans getreten war, hatte er bei demselben bereits etwas auf dem Kerbholz. »Dem werd'n wir d' Schneid' schon no abkaufen!« brummte der Dekan für sich. Der Kooperator Patscher machte, durch das Zimmer humpelnd, Gehversuche.

Unterwegs erzählte das Burgele dem jungen Geistlichen an ihrer Seite, wie ihr Vater schon so lange krank sei und wieviel er schon gelitten habe. Es sei wohl die Erlösung für ihn, wenn er die Augen für ewig schlösse. Und dennoch käme es ihr so hart an, sich ohne den Vater auf der Welt zu denken. Sie habe ihn so lieb und er sei immer gut mit ihr gewesen. Und daß er zu den Liberalen halte, sei gar nicht wahr, fügte sie schüchtern hinzu. Ihr Vater sei immer ein gottesfürchtiger Mensch gewesen. Wenn er mit dem Bezirksrichter öfters verkehrt habe, so habe das eben das Geschäft mit sich gebracht. »Wenn wir'n nur no lebendiger antreffen, mein' armen Vater!« meinte das Diandl.

Der »Kumprater« horchte nur mit halbem Ohr auf das, was das Sagschneider-Diandl sprach. Ein Sturm tobte und wühlte in seiner Seele. Er fühlte die mannigfachsten Empfindungen in sich erwachen. Der Auftritt im Zimmer des Dekans hatte einen tiefen Eindruck in ihm hinterlassen. Das war also die Religion der Liebe, die man ihn gelehrt hatte. Das waren ihre Priester. Nein, so waren nicht alle, so konnten nicht alle sein. Er hatte selbst die edelsten Männer unter ihnen kennen gelernt. Sein Wohlthäter war ja einer davon. Aber daß gerade ihm, der seinen Beruf aus innerer Überzeugung und heiligem Eifer ergriffen hatte, das Geschick einen Vorgesetzten bescherte, den er nun in tiefster Seele verachten mußte, das war grausam. Und er verachtete den Dekan. Das verhehlte sich der junge Geistliche keinen Moment mehr. In seinen Augen gehörte der Hochwürdige Erlacher nunmehr unter diejenigen, welche Christus mit Geißeln aus dem Tempel trieb. Und er mußte schweigen, zusehen. Was würde er wohl noch alles zu sehen bekommen!

Man war zur Sägemühle gekommen, die eine halbe Stunde außerhalb des Dorfes am Bache lag. Ein paar Obstbäume beschatteten das niedrige Haus. Der Bach rauschte, die Säge stand still, lag ja ihr Besitzer auf dem Totenbett.

Martin Hutter trat mit dem Meßmer und dem Burgele in die niedrige Stube. Da lag der Sagschneider in seinem breiten Bett und röchelte schwer. Die Hände hatte er über der Bettdecke gefaltet und hielt damit die brennende Sterbekerze. Ein altes Weib aus der Nachbarschaft kniete neben ihm und betete laut um eine glückselige Sterbestunde, dem mit dem Tode Ringenden von Zeit zu Zeit aus einer Schale Weihwasser mit einem Buchsbaumzweig ins Gesicht sprengend. Die Tropfen des Weihbrunns vermischten sich mit den kalten Schweißtropfen, die dem alten Sagschneider auf der Stirn standen.

»Vergelt's Gott z' tausendmal, Hochwürden!« murmelte der Sterbende, die Augen aufschlagend. »Der Herr Dekan wird wohl koa Zeit nit g'habt haben.« Hutter entfernte das noch immer laut betende Weib vom Bette. Die Nachbarin ging mit dem Burgele und dem Meßmer aus der Stube. Dann spendete der junge Geistliche dem Sagschneider die letzte Wegzehrung. Als die heilige Handlung vorüber war, suchte er ihm in seinem Bett eine etwas bequemere Lage durch untergelegte Kissen zu verschaffen, nahm ihm die Sterbekerze aus der Hand und stellte sie auf einen Leuchter neben das Bett.

Die Nachbarin war unterdessen in die Küche gegangen und begann geräuschvoll für den Hochwürdigen und den Meßmer einen Kaffee zu kochen. Das Burgele hatte sich auf das Küchenfenster gesetzt und weinte.

»Dös hab' i mir schon denkt,« sagte die Nachbarin, »daß der Herr Dekan nit selber zum alten Sagschneider kommen is. Aber weil er iatz nur versorgt is auf die große Reis' in die Ewigkeit. Bin i froh! Mir is schon ängstli worden neben ihm. Von dem jungen Kumprater wird's heut wohl der erste Versehgang sein.«

»A jung's Herrl no!« meinte der Meßmer.

Da trat der Kooperator in die Küche und rief das Burgele zu ihrem Vater. Das Mädchen ging langsam in die Stube, während Martin Hutter vor das Haus ins Freie trat, bis der Sagschneider mit seiner Tochter fertig gesprochen hätte.

Da drinnen ging ein Leben voll Arbeit und Mühe zu End'. Und dem alten Mann hatte man die Tröstungen seiner Religion, in der er getauft und auferzogen war, gegen die er sich nie versündigt hatte, verweigern wollen, bloß weil er mit dem liberalen Bezirksrichter verkehrte. Dem jungen Geistlichen war zu Mute, als ob er es laut predigen müßte das Evangelium der Liebe, daß es alle verstünden und daß es allen zu Herzen ginge.

Dann kehrte er in die Stube zurück und betete bei dem Sterbenden, der es bald darauf überstanden hatte. Ein eigener Zug des Friedens lag auf dem wetterharten Gesicht des Bauern. Seine gefalteten Hände hatten ein kleines Kruzifix gegen die Brust gedrückt, das ihm der Geistliche gegeben. Martin schloß dem Toten die Augen. Das Burgele kniete zu Häupten des Bettes und weinte leise in die Kissen hinein. Die Nachbarin hatte die Sterbekerze ausgelöscht. Der Meßmer saß noch in der Küche und trank seinen Kaffee.

Dem Burgele war nun alles von der Welt geschieden, was es besaß. Seine Mutter hatte das junge Mädchen kaum mehr gekannt. Ein älterer Bruder war bereits als Kind gestorben. Solange sie dachte, hatte sie allein mit dem Vater in der einsamen Sägemühle gewohnt. All ihr Sinnen und Trachten, ihre ganze Sorge hatte sich um den Vater gedreht.

»Das Burgele wird wohl iatz in an Dienst treten müssen!« sagte die Nachbarin, welche wieder in die Küche zurückgekehrt war. »Die Sag' wird verkauft werden müssen. Es sein viel z'viel Gelder drauf. Der alte Sagschneider hat si in dö letzten Jahr' recht kümmerli durchbringen müssen. Es hat koa G'schäft mehr gehen wollen, seit sie im Markt draußen die große Dampfsag' baut haben!«

»Freili! freili!« meinte der Meßmer, dem die alte Bäuerin frischen Kaffee eingeschenkt hatte, »heutzutag' muß alles mit Dampf gehen. Und da kann der Bauer nimmer bestehn.«

In der Stube hatte sich das Diandl erhoben und ging auf den jungen Geistlichen zu: »I hab' Ihnen no gar nit dankt, Hochwürden, daß Sie da außer zu uns gangen sein. Meinen's, mei armer Vater kommt iatz wohl in Himmel?« fragte sie mit einem ängstlichen Blick nach dem Toten.

»G'wiß, Burgele!« beruhigte sie Martin. »Er hat brav g'lebt und sei Schuldigkeit than auf der Welt. Unser Herr wird ihm a gnädiger Richter sein!«

»I dank', i dank'!« stammelte das Mädchen mit thränenerstickter Stimme und küßte Martin die Hand.

»Und was wirst du iatz nachher anfangen?« fragte sie der Geistliche nach einer Weile.

»Dienen gehn!« entgegnete das Mädchen entschlossen. »I hab' starke Arm' und an guten Willen. Und unser Herrgott wird wohl weiter helfen.«

»Es wird das beste sein, Burgele,« sagte Martin, »du bist a fleißig's Diandl und wirst g'wiß an guten Platz finden.«

Das Burgele war zu einem kleinen Wandschrank getreten und holte eine alte Geldtasche aus demselben. Sie wollte dem Kooperator einen Guldenzettel in die Hand drücken: »Dös wär' für zwei heilige Messen für die Seel' von mei'm Vater. I wär' sov'l froh, wenn der Hochwürdige Kumprater dö zwei Messen selber lesen thät'.«

Martin schob ihre Hand zurück: »Dö Messen werd' i lesen. Aber das Geld b'halt' nur, Diandl. Du kannst es schon sonst brauchen.«

Das Burgele steckte das Geld wieder verlegen ein und holte einen weißen Gnadenpfennig aus ihrem Rocksack: »Dann weiß i nit, was i dem Hochwürdigen Herrn geben soll. Der Gnadenpfennig is von Maria Absam. Mei Vater hat mir'n selber amal mitbracht, wie er dorthin wallfahrten gangen is. I hab' den Pfennig immer in Ehren g'halten. Wenn i dem Hochwürdigen Herrn damit a Freud' machen könnt' …« Sie sah bittend zu dem Geistlichen auf. Martin nahm den Pfennig zu sich, drückte dem Burgele die Hand und sagte: »So a liab's Andenken is mehr wert als Geld und bringt mehr Segen!«

»O, nit der Red' wert is es!« meinte das Burgele, indem ein Strahl der Freude über ihr verweintes Gesicht zuckte. Die Sonne, welche sich tagsüber die meiste Zeit hinter trüben Wolken versteckt hatte, brach jetzt durch die kleinen Fensterscheiben, spielte über das braune Haar des Sagschneider-Diandls, das den Kopf gesenkt hatte, beschien die jugendlich-kräftige Gestalt des »Kumpraters« in seinem langen schwarzen Talar und zitterte mit ihrem lichten Schein wie himmlische Versöhnung über das Gesicht des Toten. Es war still, lautlos still in der Stube. Jedes hörte den Atem des andern. Da trat der Meßmer über die Schwelle. Der junge Geistliche schreckte wie aus einem Traum empor und begann hastig die kirchlichen Gerätschaften auf dem Tische in den seidenen kunstvoll gestickten und mit religiösen Emblemen versehenen Beutel zu packen.

»I werd' wegen der Leich' alles besorgen,« sagte er zum Burgele, als er auf den Hausgang trat. Der Meßmer war vorausgegangen. Martin ergriff beide Hände des jungen Mädchens: »Sei getrost, Burgele, und denk' an die göttliche Vorsehung. Und wenn dir dran g'legen is, daß auch a menschliches Herz mit dir fühlt: du erbarmst mir in die Seel' eini, hinein. Diandl!« Nach einer Weile fügte der Geistliche, sich verabschiedend, leiser hinzu: »I werd' am Abend no amal herschauen, Burgele. Bis dahin is dei Vater aufgebahrt. I schick' glei den Tischler vom Dorf außer und die alte Meßmerin! B'hüat bi Gott! Wein' di aus! Es wird dir leichter sein! Und am Abend wollen wir dann mitsammen reden, was für die nächste Zeit am g'scheutesten z' thuan is.«

Der »Kumprater« verschwand mit dem Meßmer unter den Obstbäumen und schlug den Rückweg nach dem Dorfe ein.

Als er im Dechanthof ankam, hatte Erlacher den Besuch eines Amtsbruders bei sich. Martin war es lieb, daß er seinem Vorgesetzten jetzt nicht unmittelbar unter die Augen treten mußte. Er hätte seinen gerechten Unwillen schwer verbergen können. Der Kooperator Patscher hatte sich mit seinem wunden Fuß zu Bett gelegt. So war Martin in seinen Stuben ganz ungestört. Er hatte wieder die Zuflucht zu der Pfeife genommen und ging nun rauchend mit langsamen Schritten durch seine Behausung.

Was er heute erlebt, bewegte noch immer seine Seele. Er mußte fortwährend der stillen einsamen Säge gedenken und des weinenden Mädchens. Die Gestalt des Burgele schien oft leibhaftig vor ihm zu stehen. Dann zog er wieder das Gnadenpfenniglein hervor und betrachtete es. Eine Seite trug die Worte: »Heilige Maria in Absam bitte für uns!« Auf der andern Seite befand sich ein Brustbild der Gebenedeiten in einer Art Rahmen. Vielleicht stellte der Untergrund auch eine verzierte Fensterscheibe dar; denn das Wunderbild von Absam bei Hall im Unterinnthal hat man in der Fensterscheibe eines Bauernhauses gefunden.

Martin fragte sich nun selbst, was er eigentlich abends wieder bei der Sägemühle wolle. Seine Pflicht als Seelsorger hatte er gethan, und die rief ihn erst wieder, wenn man den alten Sagschneider zu Grabe trug. Aber hatte er nicht auch Pflichten als Mensch? Sollte er sich des armen verwaisten Diandls, dem kein Mensch half und riet, nicht annehmen? Oder würde das gegen seine seelsorgerlichen Pflichten verstoßen? O nein! Er war fest entschlossen, das dem Burgele gegebene Versprechen zu halten.

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, nahm er das Brevier und ging darin lesend auf und ab. So wurde es Abend, ohne daß ihn jemand auf seiner Stube gestört hätte. Selbst Monika ließ sich nicht blicken, die sonst bei jeder Gelegenheit nach dem »Kumprater« schaute und Martin durch ihr aufdringliches Wesen schon mehrmals lästig gefallen war.

Das Abendessen verstrich so schweigsam als möglich. Es wurden außer den üblichen Gebeten kaum mehr als zehn Worte gesprochen. Patscher war auf seiner Stube im Bett geblieben. Der Dekan erwähnte keine Silbe von dem ersten Versehgang Martins, ja fragte nicht einmal, ob der alte Sagschneider gestorben sei. Wenn sie ihn zur Begräbnis brauchten, würden sie wohl kommen, mochte sich der Gewaltige denken. Von Zeit zu Zeit schoß er über den Tisch einen tückischen Blick nach dem jungen Geistlichen. Ein höhnischer Zug flog um seine Mundwinkel. Martin atmete auf, als die schweigsame Mahlzeit zu Ende war und er sich wieder verabschieden konnte.

Als die Dämmerung hereingebrochen war, verließ er den Dechanthof und schlug den Weg nach der Sägemühle ein, diesmal nicht die durch das Dorf führende Bauernstraße, sondern einen einsamen schmalen Wiesenpfad wählend.

Das Burgele mußte ihn gesehen haben und kam ihm vor das Haus entgegen. Beide drückten sich schweigend die Hände. Dann traten sie in die Stube, in der der alte Sagschneider bereits aufgebahrt lag. Ein Öllicht brannte zu Häupten der Leiche. Zu Füßen stand auf einem Tischchen zwischen zwei brennenden Wachskerzen das Geschirr mit dem Weihbrunn, und die Stube war gesteckt voll. Die Bauern und Weiber vom Dorf waren gekommen, um für den Toten zu beten. Es herrschte eine erstickende dumpfe Luft, die das Atmen beengte. Martin trat bald wieder an der Küche vorüber, in der die Nachbarin für einige Bekannte Kaffee bereitete, ins Freie.

Das Burgele war ihm gefolgt. Sie schlugen beide, ohne selbst zu wissen, wie es kam, den Weg nach dem schon ziemlich gelichteten kleinen Lärchenwald ein, der einige Minuten von der Sägemühle entfernt lag, dem alten Sagschneider gehört und ihm und seiner Tochter das tägliche Brot geliefert hatte.

Martin und das Burgele sprachen unterwegs kein Wort. Als sie den Wald betraten, hatte der junge Geistliche dem Diandl die Hand gereicht, welche sie zagend ergriff. Nun führte er sie wie ein Kind an seiner Seite. An einem Hügel setzten sich beide auf zwei nebeneinander liegende Baumstrünke.

»Der Hochwürdige Herr is so gut mit mir,« sagte das Mädchen nach einer Weile. »I weiß nit, womit i's verdien'.« Dann vertraute sie Martin alle ihre Zukunftspläne an und wie sie zufrieden sei, wenn sie auch nur einen ganz bescheidenen Unterschlupf finden würde. Glänzende Verhältnisse sei sie nie gewöhnt gewesen und von Jugend auf zur Arbeit erzogen und angehalten worden.

Martin lobte den Mut des Burgele und erzählte von seiner eigenen Jugend- und Studentenzeit. Es war inzwischen Nacht geworden, eine laue schweigsame Sommernacht. Der Vollmond stand über den Bergen und hüllte alles in seine lichte Dämmerung. Der »Kumprater« und das Burgele saßen noch immer auf der Anhöhe und plauderten über das und jenes. Ein eigenes Gefühl hatte in der Brust des jungen Geistlichen Platz gegriffen. Er hatte zu dem Diandl an seiner Seite ein solches Zutrauen, als ob er ihm alles sagen könnte, was je seine Seele bewegte. Das Ungewohnte der Situation trug auch dazu bei, ihn in eine ganz seltsame Stimmung zu versetzen. Im Seminar erzogen, immer unter strenger Aufsicht, hatte Martin vielleicht noch sein Leben nie so lange mit einem jungen weiblichen Wesen gesprochen wie heute. Das Leben der menschlichen Seele hatte er nur aus Büchern kennen gelernt und war dahin gekommen, alle Seelen in gewisse Kategorien zu teilen, sich jedes innere Leben nur im Rahmen seiner Lehre zu denken.

Wie anders trat ihm heute das arme Sagschneider-Diandl entgegen. Da lebte und atmete ein Wesen, welches in alle seine Lehren nicht passen wollte. Und fast wollte es den jungen Geistlichen bedünken, als ob das, was man ihn gelehrt, nur im toten Buchstaben existierte, das menschliche Leben jedoch auch in seinen einfachsten und natürlichsten Äußerungen und Formen weit darüber hinausginge.

Ein eigener Duft ging von dem jungen Mädchen an seiner Seite aus, der seinen Sinn gefangen nahm, seine gewohnte nüchterne Überlegung hemmte. Es mußte sein Herz selbst verändert sein; er kannte es nicht mehr, so neue und völlig ungeahnte Empfindungen tauchten in ihm auf. Sollte es wirklich außerhalb seiner heiligen Lehre auch noch etwas Begehrenswertes geben? Sollte es wirklich eine Welt geben, die mit der seinen, in der er bisher lebte, siegreich in die Schranken treten könnte?

Das Diandl an seiner Seite, wie es so dasaß, das Kinn in eine Hand gestützt, während ihm die langen Zöpfe auf die Brust fielen, sah fast aus wie ein verwunschenes Waldfräulein. Sie gehörte so gar nicht jener Welt an, die dem jungen Geistlichen bisher Trost, Frieden und Erhebung geboten hatte. Es lag etwas ganz anderes in ihr. Je mehr sich Martin in dessen Bann fühlte, desto mehr erkannte er, wie sich sein Sinn von seiner eigenen Welt abwandte und nach jener andern hinübersteuerte, die er nicht kannte, wo er nie gewesen war. Aber da drüben lockte und leuchtete es so wunderbar, blühten und dufteten die Blumen, strahlte der Sonnenschein – während er sich selbst vorkam wie in Nacht und Frost gehüllt, sehnsüchtig hinüberstarrend nach jener schönen unbekannten Welt!

Martin sah vor sich nieder. Sein Atem flog schneller. Er fühlte etwas über sich kommen, dessen er nicht mehr Herr war. Sollte jene glänzende Welt der Himmel sein? Nein! schrie es in ihm auf, was du da sinnst und trachtest, ist Sünde, schwere Sünde, Todsünde und bringt dir in dieser und jener Welt den Tod und das Verderben! Reiße dich los! Es gilt dein Seelenheil! Die lachenden Gefilde, die deine Augen entzücken, der Duft der Blumen, der dich berauscht – es ist eitel Spiegelwerk des Satans! Und das Reich des Satans ist es, nach dem du dich hinübersehnst. Zwischen den Blumen lauern die Schlangen. In den Gefilden gähnen die Abgründe. Zurück, zurück! Es gilt deine unsterbliche Seele!

Martin hob den Kopf. Er sah das Burgele schweigend neben sich sitzen im hellen Mondschein. Jetzt schaute sie empor. Ein unsäglicher Liebreiz lag in ihrem Gesicht, das sich halb zutraulich, halb befangen zu ihm wandte. In ihren Augen leuchtete ein Schimmer des Glückes.

Eine wahnsinnige Angst kam über den jungen Geistlichen. Er sprang jäh empor, so daß das Mädchen erschreckt in die Höhe fuhr.

»Wir müssen heim, Burgele!« sprach er mit zitternder Stimme. »Was sollen die Leut' denken?«

Das Diandl wiederholte mechanisch: »Die Leut' –« Es kam wie ein kalter Schauer über sie. Ihre Gedanken hatten in der letzten Stunde sich ja ganz anderswo bewegt. Sie hatte an keine Menschen gedacht, hatte überhaupt nicht gedacht, daß es noch jemand andern auf der weiten Welt gebe, als sie und den jungen Geistlichen, mit dem sie am Hügel im Mondlicht gesessen war.

Ein schwerer Seufzer machte die Brust des Mädchens erbeben. Also jetzt wieder zurück zu den Leuten, die ihr auf einmal noch fremder erschienen, als früher. Hätte sie doch dort sitzen können im Wald ewig lang, ohne Aufhören, ohne Ende.

Warum ihr der »Kumprater« jetzt nicht mehr die Hand reichte? – Der aber ging schweigsam an ihrer Seite; und als das junge Mädchen einmal völlig unbewußt den Versuch machte, seine Hand zu ergreifen, sah sie, wie er sie fast erschrocken zurückzog. Hatte sie ihn gekränkt, ihm wehe gethan? Sie wollte fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen.

Jetzt standen sie am Ausgang des Waldes. »Bald zehn Uhr,« sagte Martin, der seine Uhr herausgezogen hatte.

»Die Zeit ist so schnell vergangen. I weiß selber nit, wie,« sagte das Burgele halblaut.

»Schnell – schnell –« murmelte der junge Geistliche für sich. Dann ergriff er beide Hände des Diandls, zog sie näher zu sich und küßte sie auf die Stirn. »Leb' wohl, Burgele,« sagte er leise – »und gute Nacht, und bet' heut vor dem Einschlafen a andächtiges Vaterunser für mi, schließ' mi ein in dei Gebet. I kann's brauchen,« schloß er fast unhörbar.

Das Burgele hatte den Kopf gesenkt. Zwei große Thränen liefen ihr langsam über die Wangen. Sie wußte selbst nicht, wie ihr war. Der Geistliche wollte ihre Fürbitte haben. O, sie wollte beten für ihn, heiß und innig beten, daß es dringen sollte bis zum himmlischen Thron – für ihn und für sich selbst.

Martin hatte die Hände des Mädchens fahren gelassen und schlug einen schnelleren Schritt ein. Er sprach nichts mehr. Nur einmal war es dem Burgele, als ob er halblaut die letzten Bitten des Vaterunsers murmeln würde: »Herr führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel!« –

Es war niemand mehr im Sagschneiderhaus, als die alte Nachbarin, welche die Totenwache hielt. Sie hatte auf der Zunge, das Mädchen zu fragen, wo es denn so lange geblieben sei. Als die Bäuerin aber den »Kumprater« hinter dem Burgele eintreten sah, schwieg sie still, nur warf sie einen erstaunten Blick auf die beiden, die zu Füßen der Leiche standen und miteinander zu beten schienen.

Martin reichte dem Burgele und der Nachbarin die Hand und trat ins Freie.

»Wirst wohl iatz am g'scheutesten schlafen gehen!« sagte die Bäuerin. Das Burgele nahm einen Weihbrunn und schlich still nach seiner Kammer.

Der junge Geistliche beschleunigte seine Schritte noch mehr. Es war ihm, als ob er fliehen müßte von dem einsamen Haus am Wald und als ob ihm mit jedem Zoll Entfernung, den er zwischen sich und jene Schwelle legte, der Atem leichter ginge.

Nun stand er vor dem Dechanthof. Das Hauptthor war geschlossen. Er hatte es nicht anders erwartet. Die kleine Hinterthüre, welche vom Garten in den Viddum führte, stand jedoch regelmäßig die ganze Nacht offen. Er konnte also unbemerkt auf seine Stube kommen.

Auch die Hinterthüre war verriegelt. Warum das nur heute! Nun mußte er läuten und die Häuserin wecken. Ein Gefühl der Beschämung mischte sich mit dem des Ärgers in Martins Brust. Wenn die Fenster seiner Stuben nur nicht Gitter tragen würden, so könnte er wenigstens durch diese in den Viddum gelangen. Es blieb nichts anderes übrig. Er mußte läuten.

Der Ton der Glocke war kaum verhallt, als der Riegel an der Thüre zurückgeschoben wurde und die Monika mit einem brennenden Licht erschien. Sie muß an der Thüre gepaßt haben! dachte Martin. Ein erbitterter Zorn wallte in ihm auf. Er hätte die Dirn am liebsten zur Rede gestellt, was sie auf ihn zu passen habe und was es sie überhaupt angehe!

Der junge Geistliche schluckte krampfhaft und kämpfte seine Aufregung nieder. Das ohnedies unschöne Gesicht der Häuserin hatte sich, als sie des »Kumpraters« ansichtig wurde, zu einer abstoßenden höhnischen Fratze entstellt. »I hab' mir schon denkt, daß der Hochwürdige heut später heimkommen wird,« sagte sie dreist, ihm den Weg durch die Thüre verstellend.

Martins Geduld riß. Er schob die Dirn ziemlich unsanft beiseite und ging nach seiner Stube. Die Monika folgte ihm mit dem Kerzenlicht auf dem Fuße nach. Sie trat mit ihm ein, stellte das Licht auf den Tisch und machte keine Miene zu gehen.

»Was gibt's no?« fragte Martin, sich zornig nach der Person umdrehend.

Die Monika war auf ihn zugetreten und faßte ihn vertraulich am Arm: »Der Herr Dekan wird von dem späten Heimkommen nix g'hört haben. Er hat an festen Schlaf. Sonst hat er's nit gern, wenn die Hochwürdigen Herrn in der Nacht außerm Viddum sein. Und dem Patscher,« schloß die Häuserin mit einer verächtlichen Gebärde, »will i, wenn er was g'hört hat von dem Läuten, schon was vorlügen, daß wer vom Dorf da war.«

Der junge Geistliche fühlte, wie ihm Zorn und Scham blutrot ins Gesicht stiegen. Diese Person, die ihm in der innersten Seele zuwider war, wagte es, sich ihm als Vertraute aufzudrängen. Was hatte er gethan! Wohin war er geraten!

Die Monika hielt noch immer seinen Arm gefaßt. Er riß sich mit einer heftigen Gebärde los. Die Dirn trat wieder auf ihn zu und flüsterte: »Und wenn der Herr Kumprater mit dem Sagschneider-Diandl auch bei der Nacht im Wald g'wesen is, i verrat' nix –« Die Monika hatte sich dicht an ihn gedrängt. Er fühlte, wie ihr Atem schnell ging. Jetzt sah er ihr ins Gesicht. Die wulstigen Lippen der Häuserin, ihre glänzenden Augen, die flammende Röte, der ganze leidenschaftliche Ausdruck ihrer Miene – ein Blitz der Erkenntnis fuhr durch die Seele Martins. Jetzt wußte er, um welchen Preis sich die Häuserin zu seiner Vertrauten machen wollte! Zugleich erfaßte ihn aber ein solcher Abscheu und Ekel, daß er das Weib, welches einen ihrer bloßen Arme unter den seinen geschoben hatte und schwer atmend die Brust gegen ihn drückte, von sich stieß, daß sie taumelte.

Die Monika wurde totenblaß. Eine teuflische Tücke zuckte über ihr Gesicht. Der Kooperator hatte die Kerze vom Tisch genommen, drückte sie der Häuserin in die Hand und schob das Weib mit einem kräftigen Ruck zur Thüre hinaus, diese hinter ihr verriegelnd.

Einen Augenblick war alles still. Dann hörte er die Monika auf dem Hausgang auflachen und verstand die gemurmelten Worte: »Wart' nur, wart' nur, du heiliger Aloisy!« Die Tritte der Häuserin entfernten sich über die Stiege nach oben. Martin stand allein in der dunkeln Stube, in die nur einige schräge Strahlen des Mondes fielen. Er scheute sich Licht zu machen und ging im Dunkel zu Bette.

In der einsamen Sägemühle am Walde war die alte Bäuerin auf dem Stuhl neben dem Toten eingeschlafen. In der Kammer droben saß ein junges Diandl aufrecht im Bette und konnte kein Auge schließen. Von Zeit zu Zeit vergrub das Burgele den Kopf in die Kissen und weinte bitterlich. – – –

Fast zwei Monate waren seit dem Tode des alten Sagschneiders verstrichen. Man hatte ihn in der Kirchhofsecke begraben. Der Platz sei gut genug für ihn, meinte der Dekan Erlacher. Im Viddum ging alles seinen regelmäßigen Gang weiter. Eine gewisse Spannung zwischen Martin und seinem Vorgesetzten bestand noch immer und war wohl auch nie mehr zu beheben. Der Dekan kam seinem Hilfspriester mit genau berechneter Höflichkeit und eisig kalt entgegen. Martin hatte weder Lust, noch irgend einen Grund, eine wärmere Beziehung herzustellen. Ob der Dekan von seinem Waldspaziergang mit dem Burgele etwas erfahren hatte, er wußte es nicht. Einmal schien es ihm fast aus einer spöttischen Andeutung herauszuklingen. Direkt sprach jedoch Erlacher nie darüber.

Der junge »Kumprater« kam seinen Pflichten eifrig nach und machte sich bald in der ganzen Gegend beliebt. Es waren viele, die da meinten: Wenn wir nur lauter solche Seelsorger hätten, wie den neuen »Kumprater«.

Patscher war wieder auf die Füße gekommen und teilte sich mit Hutter in die seelsorgerlichen Pflichten. Die Bauern wußten eigentlich nie recht, was sie mit Patscher anfangen sollten. Sein scheues, fast abstoßendes Wesen wollte gar nicht mit dem priesterlichen Gewand harmonieren. Der ganze Mensch flößte eher Mitleid als Ehrfurcht ein.

Das Burgele war bei der Türscherbäuerin im Dorf in Dienst getreten und wurde gut behandelt. Das Grab ihres Vaters im einsamen Winkel des Freithofs war stets mit frischen Blumen geschmückt. Kein Tag verging, an dem sich das Burgele nicht einige freie Minuten zu verschaffen wußte, um ihren toten Vater heimzusuchen. Am Grab des alten Sagschneiders traf sie auch Martin öfters. In das Haus der Türscherbäuerin kam er nie. Eine eigene Angst hielt ihn davon ab. Im Friedhof sprachen sie dann miteinander. Keines erwähnte mehr etwas von jenem Gang in den Wald.

Die Sägemühle war versteigert worden. Der Kaufschilling reichte gerade hin, um die Schulden zu decken. Dem Burgele blieb aber auch kein Kreuzer von ihrem väterlichen Erbe. Sie war nun zeitlebens auf ihrer Hände Arbeit angewiesen.

Es herbstete schon, als das Burgele in der Morgendämmerung wieder am Grabe des alten Sagschneiders stand und betete. Auf einmal stand Martin hinter ihr. Der junge Geistliche wollte zur Frühmesse in die Kirche. Es war aber wohl noch eine halbe Stunde Zeit. Der Meßmer hatte noch nicht einmal geläutet.

»Guten Morgen, Burgele!« sagte der »Kumprater«.

»I wünsch's entgegen! Guten Morgen, Hochwürden!« sagte das Sagschneider-Diandl, dem die Thränen über das Gesicht rannen.

»Ja, was hast heut denn?« fragte sie Martin bestürzt.

Das Burgele erzählte nun von oftmaligem Schluchzen unterbrochen, wie die Türscherbäuerin ihr gestern den Dienst gekündigt habe. Und gleich heute müsse sie schon gehen, keine Stunde länger dürfe sie mehr im Hause bleiben! Sie sei eine schlechte Dirn, habe die Türscherbäuerin gesagt, welche den geistlichen Herren nachlaufe und ihnen schöne Augen mache. Die Häuserin, die Monika, habe ihr alles erzählt. So ein Ding, so ein nichtsnutzes, wolle sie nicht länger im Haus haben, schon ihrer erwachsenen Buben wegen nicht! Nun wolle sie ihr Bündel schnüren, schloß das Burgele, und in die weite Welt wandern, bis sie irgendwo sterben würde.

Ein Stich ging Martin durch das Herz. Das alles hast du verschuldet! sagte er sich. Du hast das arme Diandl elend gemacht für ihr Leben. Dann stieg wieder alles in seiner Seele auf, was er in den letzten zwei Monaten gelitten hatte, wie er sich beherrscht hatte, um unter einer äußeren kalten Maske den inneren Sturm zu verbergen. Seine Seele war noch gleich im Banne der widersprechendsten Empfindungen wie damals, als er mit dem jungen Diandl im Wald gesessen hatte. Er wußte heute ebensowenig Rat für all das, was in ihm tobte, wühlte, nach Erlösung schrie, wie damals. Nur war er über die Art seiner Empfindung klar geworden. Er wußte es, daß er das arme Diandl vom Sagschneider liebe, mehr liebe denn alles in der Welt, mehr denn seine alten Eltern, seinen Beruf.

Und jetzt stand sie weinend vor ihm, hinausgestoßen in die Welt. Sie konnte betteln gehen. Eine alte Basel im Markt drunten würde sie wohl noch eine Woche behalten, bis sie vielleicht anderswo einen Dienst gefunden habe, sagte das Burgele beruhigend, als es Martins Aufregung sah, und trocknete mit der Schürze die Thränen.

Das Burgele sollte also fort. Der junge Geistliche konnte es nicht fassen. Er wollte ja alles niederdrücken, alle seine Gefühle; wollte tot sein wie Stein und kalt wie der Bergquell – aber sehen mußte er das geliebte Mädchen dennoch von Zeit zu Zeit und mit ihr ein paar Worte sprechen! Das öftere kurze Zusammensein beim Grabe des alten Sagschneiders war für den »Kumprater« zum Bedürfnis geworden. Diese paar kargen Augenblicke füllten schon seit Wochen sein ganzes Dasein aus. Und jetzt sollte ihm auch das geraubt werden! Wie öde würde es dann um ihn werden, wie entsetzlich öde in seinem eigenen Innern!

Wieder faßte Martin wie damals das junge Mädchen an der Hand. Die beiden schlugen schweigend einen abgelegenen Wiesenpfad ein. Auf der Dorfstraße sahen sie von weitem die ersten Leute zur Frühmesse gehen. Jetzt läutete es auch zum erstenmal vom Turm der Dorfkirche. Wer sollte aber heute wohl die Frühmesse lesen, wenn der »Kumprater« mit dem Sagschneider-Diandl gegen den Wald ging?

Und das gingen sie. Die Sägemühle, die nun in fremden Händen war, ließen sie oberhalb ihres Weges liegen und betraten den Lärchenwald. Eine erquickende Luft herrschte. Die Vögel sangen. Es war so hell und frei da draußen, fast als ob man der Welt und den Menschen entrückt wäre.

Das Burgele hatte unterwegs wieder zu plaudern begonnen und war munter geworden. Auch in Martin zog ein ganz eigenes seliges Gefühl ein. Noch immer führten sich die beiden an der Hand. Dem jungen Mädchen war es, als ob sie jetzt nicht mehr straucheln könnte und als ob es jetzt so weiter gehen sollte, immerzu, in die Welt hinaus, das ganze Leben hindurch. Und das Burgele wäre gewandert, ohne zu klagen, ohne Ermüdung zu spüren. Ging ja er an ihrer Seite und führte sie. Sie fühlte und erwiderte den leisen Druck seiner Hand.

Jetzt waren sie auf jener Anhöhe. Dort standen noch die beiden Baumstrünke. Wie von einer inneren Gewalt getrieben, nahmen sie wieder dort Platz. Die Sonne ging auf und sandte ihre ersten Strahlen in das Thal und übergoß mit ihrem goldenen Schimmer die beiden Menschenkinder an der Berghalde, zog ihnen ins Herz und wob darin goldene Märchen von Jugend, Liebe und Glück.

»Du darfst nit fort, Burgele!« sagte Martin. »Das leid' i nit. I kann nimmer sein ohne di, Diandl. Und lieber geh' i mit dir betteln oder werd' a Bauernknecht, als daß i di lass'. I werd' koa guter Geistlicher, Diandl. I hab' di einmal z'viel gern! Ausziehen will i das geistliche Gewand!« rief Martin leidenschaftlich. »Unser Herrgott wird's mir verzeihen. Unser Herrgott wird's nit wollen, daß a Mensch z' Grund geht vor Elend und Gram und a Lüg' im Herzen tragt sein Lebtag lang!« Martin hatte das an allen Gliedern bebende junge Mädchen an sich gezogen und preßte ihr einen heißen Kuß auf die Lippen.

Das Burgele schlang die Arme um seinen Hals. Ihr war, als müßten Himmel und Erde vor ihr vergehen, als müßte sie nun fliegen können über Berg und Höhen, Martin immer umarmend und immer küssend. Das war Martin, ihr Martin, nicht mehr der Hochwürdige Herr »Kumprater«. Ein süßer Schauer durchlief ihren Körper. Sie lehnte den Kopf an seine Brust. Er strich ihr über das braune Haar und hob wieder ihr Gesicht, um sie auf Augen, Mund und Stirn zu küssen. Dem Burgele war, als ob ihr eine eigene Weihe damit zu teil würde. Fast inbrünstig küßte sie den Geliebten wieder.

Und der Sonnenschein flutete über den Bäumen. Die Vögel pfiffen. Bunte Schmetterlinge tanzten über den Blumen. Wie bald würden die nahenden Herbststürme die letzte Blume getötet, den letzten Vogel verstummen gemacht haben! Aber heute leuchtete alles noch in heller Pracht. Es war fast wie im Sommer. Und doch mußte alles unter die kalte weiße Schneedecke.

Ob wohl die beiden Liebenden an der Halde daran dachten, daß es auch für das Glück der Menschen Frost und Winter gebe, welche die duftigsten Blumen des Herzens zerstören können! Sie dachten an nichts. Sie waren ja allein in der Welt mit dem Sonnenschein, den Vögeln und den letzten Blumen des Jahres …

Ein gelles spöttisches Lachen ließ sich plötzlich hinter Martin und dem Burgele vernehmen. Beide fuhren empor. Die Monika stand hinter ihnen.

»Wünsch' gute Unterhaltung!« höhnte die Häuserin.

Martin fuhr auf sie zu: »Was suchst da!«

Die Monika verzerrte ihr Gesicht zu einer grinsenden Fratze, kreuzte die Arme übereinander und meinte: »Der Herr Dechant hat mi nur g'schickt, i sollt' den Hochwürdigen Herrn Kumprater suchen von wegen der Frühmess'. Aber jetzt is so schon z' spät. Es hat ja schon vor a Stund' z'sammg'läutet – und wird wohl der Patscher die Mess' g'halten haben. Der Herr Kumprater hat derweil wohl a andre Mess' g'halten?«

»Nachg'schlichen bist mir, elendig's Weib!« rief Martin, den ein rasender Zorn übermannte. Er faßte die Monika am Arm und wollte sie den Abhang hinunterstoßen. Die Häuserin kreischte auf: »Zu Hilf'! Zu Hilf'! Er will mi umbringen!«

Das Burgele warf sich zwischen die beiden. Martin ließ die Dirn fahren. Diese eilte keuchend den Abhang hinauf und rief droben angekommen noch höhnisch zu dem jungen Geistlichen hinunter: »B'hüat Gott, heiliger Aloisius!« –

Wie er aus dem Wald gekommen, wußte Martin selbst nicht mehr. Nur das wußte er, daß er auch den Rückweg mit dem Burgele gemacht hatte und nicht mehr über den abgelegenen Feldweg, sondern mitten durch die Dorfstraße. Er hatte das junge Mädchen bis zum Hof der Türscherbäuerin begleitet und war dann auf seine Stube in den Viddum gegangen.

Beim Mittagessen sprach der Dekan nicht mehr und nicht weniger mit ihm als gewöhnlich. Nur der Kooperator Patscher rückte noch viel unruhiger auf seinem Stuhl und warf furchtsam lauernde Blicke nach seinem Kollegen hinüber, fast wie man ein Wundertier anstaunt.

Nachdem das Dankgebet verrichtet war, ersuchte der Dekan Martin im höflichsten Ton um eine Unterredung. Martin folgte seinem Vorgesetzten schweigend in dessen Arbeitszimmer. Der Dekan bot ihm einen der grüngepolsterten Stühle mit den hohen Rücklehnen an. Martin setzte sich. Der Dekan saß ihm gegenüber.

»Sie werden wissen, um was es sich handelt?« sagte Erlacher, heute ausnahmsweise das Hochdeutsche für seinen heimischen Dialekt wählend. Er schien dadurch dem Ganzen einen feierlichen Anstrich verleihen zu wollen.

»Ich weiß es, Herr Dekan!« erwiderte Martin fest.

»Ich brauche Sie an das Gelübde, welches Sie abgelegt haben, wohl nicht zu erinnern?«, fuhr der Dekan fort.

»Ich kenne das Gelübde!« entgegnete Martin unbewegt und sah seinem geistlichen Vorgesetzten fest ins Auge.

»Und wie vereint sich damit Ihre heutige Handlungsweise?«

»Die vereint sich nicht damit! Das weiß ich am besten. Ich habe gegen das Gewand, welches ich trage, gesündigt. Ich bin nicht mehr würdig, es zu tragen. Ich werde es ablegen! Ich werde in der Welt mein Brot suchen und hoffe damit Gott wohlgefälliger zu werden, als mancher andere, der den Talar nicht zu Ehren des Herrn trägt!«

Der Dekan sprang empor. Er wurde purpurrot im Gesicht. Seine Faust ballte sich auf der Lehne des Stuhles. Auch Martin war aufgestanden.

»Junger Mensch!« rief Erlacher erbittert. »Das denken Sie sich sehr einfach! Sie haben Pönitenz zu leisten und sich der Strafe Ihrer geistlichen Obern zu unterwerfen! Man wird Sie in ein versperrtes Kloster schicken!«

»Der Strafe meiner geistlichen Obern und diesen selbst bin ich nur solange unterworfen, als ich dieses Kleid trage!« sagte der junge Geistliche und machte einen Schritt gegen den Dekan. »Mit dem Tage, als ich es ablege unterstehe ich keiner andern Obrigkeit mehr, als der staatlichen! Und diese Obrigkeit kennt kein Gesetz, das einen fahnenflüchtigen Geistlichen strafte. Das bitte ich zu bedenken, Herr Dekan! Wir leben nicht mehr im Mittelalter!«

»Leider!« rief der Dekan. »Sie werden aber den Fluch Gottes auf sich laden. Der wird Sie verfolgen, solange Sie leben, und Sie nie Ihr Glück finden lassen!«

»Ich werde arbeiten!« sprach Martin. »Bei jeder Arbeit ist der Segen des Herrn!«

Der Dekan zuckte die Achseln und meinte mit erzwungener Gleichgültigkeit: »Sie eignen sich vielleicht noch zum Freimaurer. Über den Vorfall sehe ich mich veranlaßt, noch heute Bericht an das fürstbischöfliche Ordinariat in Brixen zu erstatten!«

Martin verbeugte sich kurz. Als er durch die Thüre ging, rief er noch zurück: »Diesen Bericht dürfte Jungfer Monika mit unterfertigen, Herr Dekan?«

Der Dekan wollte zornig auffahren, machte aber eine rasche Wendung nach seinem Schreibtisch und begann gleich an dem Bericht für Brixen zu arbeiten. Einmal legte er die Feder weg und sprach nachdenkend für sich selbst: »Ein Starrkopf. Er ist's imstande. Aber ein Talent – ein Talent, wie wir es wohl brauchen könnten –«

Martin ging im Garten des Viddums auf und ab. Es litt ihn nicht in den Stuben. Nun war es entschieden. Nun war er aus seiner Bahn geschleudert. Was sollte weiter werden? Er würde arbeiten, arbeiten! Einer geistlichen Strafe würde er sich nie unterwerfen. Das erschien ihm unwürdig.

Das Burgele ging, als der Abend hereingebrochen war, zu ihrer Basel nach dem zwei Stunden entfernten Markt. Martin gab ihr ein großes Stück des Weges das Geleite. Wer sollte ihn hindern! Er fühlte sich nun als sein freier Herr.

Das Burgele trug ihre wenigen Habseligkeiten in ein rotes Tuch eingebunden. So wanderten die beiden den stillen Weg und sprachen über ihre Zukunft und bauten glänzende Luftschlösser.

Als Martin sich von dem Burgele verabschiedet hatte, mit dem Versprechen, sie schon in den nächsten Tagen besuchen zu wollen, da er auch mit dem Bezirksrichter im Markt zu reden habe, und er den Weg nach dem Viddum allein zurückmachte, fielen ihm seine Eltern und sein greiser Wohlthäter schwer, schwer auf das Herz. – –

Kaum acht Tage waren vergangen, als ein Wagen, der den alten Dompropst brachte, vor dem Dechanthof hielt. Es setzte eine erregte Scene zwischen Martin und seinem zweiten Vater, der ihm alles vorstellte: den Kummer seiner Eltern, seinen eigenen Gram, den Fluch des Herrn, welchen er durch seine unüberlegte Handlungsweise auf sein ganzes Leben lade.

Den milden Worten des greisen Priesters gelang es, Martin zu bewegen, mit ihm nach Brixen zu fahren. Der Dompropst blieb im Viddum über Nacht. In aller Frühe fuhr Martin mit seinem Wohlthäter aus dem Dorf und der Landstraße zu. Seine Sachen hatte der »Kumprater« in aller Eile gepackt. Der Meßmer sollte sie ihm nächster Tage nach Brixen bringen.

Als der Wagen durch den Markt kam, in dem das Burgele bei seiner Basel war, zog der junge Geistliche ein weißes Gnadenpfenniglein aus seinem Talar und drückte es inbrünstig an die Lippen. Zwei dicke Thränen liefen ihm über die Wangen. Das Burgele hatte Martin noch vorgestern, seinem Versprechen getreu, heimgesucht. Auch beim Bezirksrichter war er gewesen. Welchen Weg fuhr er jetzt! – – –

O Menschenherz, wie vieles wird auf dieser Welt anders beraten und gelenkt, als du es dir in deinen kühnen Phantasien ausgedacht hast! Fast fünfzehn Jahre sind verstrichen, seit Martin Hutter mit dem Dompropst nach Brixen fuhr. Der Dekan Erlacher ist seitdem gestorben, der Kooperator Patscher schon ein Jahr nach Hutters Fortgang. Die Monika lebt als Häuserin in einem Viddum Vorarlbergs. Den alten Dompropst deckt schon lang die kühle Erde. Von Martins Eltern lebt nur noch die alte Mutter. Auch zwei Geschwister starben. Die übrigen sind brave und tüchtige Menschen geworden.

Und Martin selbst ist bereits ein höherer geistlicher Würdenträger, zugeteilt einer der Kongregationen zu Rom. Die Voraussage der Bauern in seinem Geburtsdorf, daß der Hutter Martin noch einmal Bischof würde, dürfte sich wohl in nicht allzuferner Zeit erfüllen.

Als Martin vor fünfzehn Jahren nach Brixen zurückkam, wurde er noch am selben Tag vor den Bischof berufen, der ein gütiger Herr, ein hochgelehrter Theologe und dabei ein großer Menschenkenner war. Er stellte dem jungen Geistlichen alles ruhig vor, betonte ihm gegenüber namentlich die Carriere, welche er verlassen wollte, malte ihm eindringlich das Elend der Welt außerhalb des geistlichen Standes.

Martin kämpfte einen langen und schweren Kampf. Er verließ seinen Stand nicht. Die Erwägung, daß er damit seinen alten Eltern das Herz brechen würde, gab zuletzt wohl den Ausschlag. Der Bischof drückte ihn an seine Brust und segnete ihn, als ihm Martin seinen endgültigen Entschluß mitteilte. Ein großes Talent war der Kirche gerettet worden. Und die Kirche kann große Talente notwendig brauchen. Von einem versperrten Kloster war bei Martin nicht die Rede. Eine formelle, in gewissen Andachtsübungen bestehende Buße sühnte seine Seele für Zeit und Ewigkeit. Mit einem Kooperator Patscher wäre man in dem gleichen Fall sicherlich anders vorgegangen.

Bald nach seiner Rückkehr bezog Martin für drei Semester die theologische Fakultät der Jesuiten in Innsbruck und erwarb sich dort die Würde eines doctor sacrae theologiae. – – –

Ein heller Maientag lacht über dem Eisackthale. In der Pfarrkirche eines stattlichen Marktes hat der Bischof soeben die Firmung erteilt. Nun treten Seine Gnaden aus dem Kirchenportal, an seiner Seite eine hochgewachsene kräftige Gestalt: Martin Hutter, der beim Bischof auf Besuch weilt und nächster Tage in einer geheimen Mission des Vatikans nach Wien reist.

Aus der Volksmenge drängt sich eine noch immer jugendlich aussehende Dirn bis zu den beiden Geistlichen und küßt zuerst dem Bischof und dann dem Prälaten die Hand. Eine flüchtige Röte zuckt über Martins Gesicht. Er hat das Burgele, das Diandl vom alten Sagschneider, erkannt.

Das Burgele verschwindet wieder unter der Menge. Es steht nun schon fünfzehn Jahre im gleichen Dienst. Der junge Bezirksrichter, der kurz vorher geheiratet hatte, nahm das Diandl in sein Haus. Nun hatte sie geholfen seine Kinder aufziehen. Sie gehörte bereits wie zur Familie. Auch für die Existenz des jungen »Kumpraters«, der damals sein geistliches Gewand ablegen wollte, hatte der Bezirksrichter zu sorgen versprochen.

Ob der Prälat Martin Hutter, wenn er in stillen Stunden sein Herz befragte, sich nicht manchmal eingestehen mußte: Vielleicht wäre ich doch glücklicher, so recht tief drinnen in der Seele glücklicher, wenn ich mit dem Burgele auch nur irgendwo als ein armer Häusler leben würde?

Bei dem Mahle, das der Pfarrer im Viddum dem Bischof und seinen Begleitern gab, war Martin recht schweigsam und in sich gekehrt. Für heilige Beschaulichkeit nahmen es der Bischof und die Geistlichen am Tische.

Ende.

 


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