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Fünftes Kapitel

Der Herr Rat und die Unterredung

Am nächsten Tag trug's die Gertrauderin mit ihrem ersten Gang darauf an, daß sie ihren Vetter, den Rat, noch ehe er sich ins Amt verfügte, in seiner Wohnung treffen konnte. Sie sahen sich gerne, die beiden Geschwisterkinder; sie achteten einander, aber von Zärtlichkeit war diese Zuneigung immer fern geblieben. Als sie aufwuchsen, war sie ein lebhaftes, empfindsames Ding, er aber über seine Jahre hinaus still und ernst. Nun waren beide alt geworden, ohne von ihrem ursprünglichen Wesen abgekommen zu sein. Sie war lange schon Witwe, wußte ihren Einzigen in der Fremde und versprach sich von ihm eine gute Stütze, einen umsichtigen Wirtschafter. Im Hause des Rates ging's früher gesellig her; wie sich der Vereinsamte fühlte, wollte die Groggerin bei ihrem jetzigen Besuche wahrnehmen.

Der Rat begrüßte die Verwandte freundlich: »Du hier?« sagte er; »es ist schön, daß du wieder einmal heraufkommst. Setze dich; ich habe noch einige Minuten Zeit. Du willst wohl nachschauen, wie's jetzt bei mir aussieht. Die Anna führt mir jetzt die Wirtschaft.«

»Hat sie noch immer nicht geheiratet?«

»Sie ist keine Schönheit, und daß sie zu sehr ihrem Vater nachgeraten, macht sie auch nicht liebenswürdiger.«

»Dann ist sie aber gut und rechtschaffen.«

»Von beiden Dingen hab' ich nicht mehr, als eben ein Jurist braucht. Dafür macht mir der Alois um so tollere Streiche; er ist schon wieder in Graz.«

»Ich dürft' eh nimmer du und Bub zu ihm sagen; und wie du gewesen bist, sind heutzutage die jungen Leut' selten mehr.«

»Du bist doch zu Mittag unser Gast? Oder wenn du warten willst, die Anna ist nur einkaufen gegangen.«

»Ich hätt' eh auch ein kleines Anliegen an den Herrn Rat; wegen der Marie Klöckl hätt' ich dich fragen mögen.«

»Soviel ich weiß, steht's nicht gar so schlimm um sie; der Aktuar scheint sich zwar in eine grimmige Ansicht verbissen zu haben, aber es kommt aufs Kollegium an und dieses dürfte dieselbe kaum teilen ... Kennst du sie denn?«

»Ob ich sie kenn'? Sie ist ja bei mir aufgewachsen, ihre Godl bin ich...«

»Die Frau Groggerin ist eine so gute Frau, daß einer dran zu tun hätte, sich alle ihre Tauf- und Firmkinder zu merken ... Soll ich mir die Akten kommen lassen?«

»Ich tu' keinen Schritt, stell' keine Bitt' und red' kein Wort für sie, solang' ich sie nicht selber gesehen und bei ja und nein herausgebracht hab', ob sie wirklich so schlecht ist ... Glauben tu' ich's nicht, und deswegen bin ich da.«

»Du willst also eine Unterredung mit ihr? Nichts leichter als das; ich erwirke euch eine Stunde Zeit hiezu.«

»Wird nicht so viel hiezu nötig sein.«

»Ich kenne das; sobald ihr ins Reden geratet, vergeßt ihr Zeit und Ort. Und komm gleich mit; der Amtsdiener soll dich zur Arrestantin führen.«

»Ich möcht' aber früher noch was aus dem Gasthaus holen.«

»Dahin kann er dich begleiten.«

»Und muß er dabei sein, wenn ich ihr ins Gewissen red'?«

»Er hat stumm zu sein, hat aber Ohren; drum seht euch vor.«

Der pflichteifrige Beamte hatte sich während der letzten Wechselworte bereits aufgemacht. Beide gingen mitsammen über die Straße; er eine hagere, gedankliche Gestalt mit grauem Schnurrbart und desgleichen kurzen Bartvorstößen von den Schläfen herab, nach dem Zuschnitte der amtlichen Welt in den ersten vierziger Jahren; die Landsmännin eine runde, rührige Alte, welcher Hausverstand und Güte aus den Augen guckten. Nahe Verwandte hätte nicht leicht jemand an ihnen vermutet.

Was die Groggerin zu holen hatte, war das Weiche und Warme, das sie selbst um den Preis, ein Stück Weges zweimal machen zu müssen, für die arme Marie hervorgesucht. Der Amtsdiener wollte ihr die Last abnehmen, sie aber antwortete: »Wär' nicht schlecht! Die hat für mich genug schon getragen, und völlig abrackern möcht' ich mich, könnt' ich ihr damit erleichtern, was sie noch zu tragen haben wird.«

Leute, die früher die Kärntnerin zur Seite des gestrengen, angesehenen Justizmannes gesehen hatten, konnten sich jetzt darüber verwundern, sie in der Begleitung des Amtsdieners mit einem Wanderbündel auf verlegenen Pfaden zu erblicken.

Gefängnisse sind leicht zu erkennen an der Einschicht, zu der sie ihre Umgebung stempeln, an den dicken Mauern und insbesondere an den kleinen Fenstern mit ihren Herrgottstrostfängern, Verschalungen, welche jedem Ausblick, jedem Hinausruf wehren, aber doch einen Strahl des himmlischen Gnadenlichtes auffangen und in die enge, dumpfe Zelle leiten.

Auch die Klöckl Marie ist nicht besser untergebracht, und sie war nun schon die eine und die andere Woche, Tag und Nacht in so lichtarmer, öder, harter Einsamkeit sich selbst überlassen. Sie brütete ihr Lebtag gern für sich hin, aber das war sonst nur an Feierabenden nach lustiger Arbeit. – Hier war der Feierabend ohne vorauserworbenes Anrecht, ohne Erquickung, ohne Ende. Sie mußte feiern, ihre Hände hatten nichts zu tun, ihre Aufmerksamkeit keinen festen Punkt, ihre Gedanken kein gegebenes Ziel. Sie wußte nichts anzufangen, weder mit sich noch mit der langen, langen Zeit.

Wenn sie auf und ab gehend ihre Schritte zählte, oder auf die fernen Glockenschläge achtete, oder den Wandel des Lichtstrahls verfolgte, der immer nur einen flüchtigen Gast abgab, oder sich das Geräusch, den vereinzelten Ruf, den ungewohnten Lärm draußen in den Straßen zu deuten suchte, so hatte sie alles getan, wozu der Tag und die Umgebung sie anregen konnte.

Für den Einsamen ist sonst die Phantasie eine Trösterin oder nach Umständen eine Hetzerin und Quälerin; doch auch ihre Macht hat eine Grenze, auch ihr Spuk kann ermatten. Die Gefangene hatte wachsende Verwirrung, jähen Schreck, Todesängste, helle Verzweiflung, schwindelnde Hoffnung und tiefste Enttäuschung vor kurzem, in rascher Folge an ihrem lebendigen Leib und Leben in einem so hohen Grade durchgemacht, daß gegenüber dieser grausamen Wirklichkeit die Einbildungskraft mit ihren Erinnerungsbildern, ihren Übertreibungen, ihren der Nacht entnommenen Schauern kläglich versagte; der regen Täuscherin stand das Nervenzittern, das Herzklopfen, der Pulsschlag und das überhitzte Hirn der Dulderin nicht zur Verfügung – das alles war gleichsam vom großen Schicksalsschlage her noch zu gedrückt, zu stumpf und fühllos.

Daher gedachte die arme Marie ihrer Schreckenstage nicht tiefer und nicht viel anders als mit einem dumpfen Erstaunen. Sie hatte eine Erinnerung daran, aber sie brachte keine nachfühlende Teilnahme dafür auf. Die Erlebnisse hatten sich mit den wesentlichsten Zügen ihr eingeprägt und danach erzählt sie dieselben auch; sie konnte mit ihren Angaben in keinen Widerspruch geraten.

Das war ihre Stärke den Verhören gegenüber. Erst wenn ihr zugemutet wurde, was sie nicht getan, nicht empfunden, was nicht geschehen, trat sie aus ihrem Gleichmut heraus und widersprach lebhaft.

Also die grause Vergangenheit selbst gereichte der Verlassenen nicht zu sonderlicher Qual; ihretwegen hätte sie ruhig schlafen können. Was ihr den Schlaf raubte, war das endlose Müßigsein, das notgezwungene, und der Frost, dessen sie sich oft kaum zu erwehren vermochte.

Doch ja, auch Gewissensbisse fühlte sie, sogar die heftigsten und bittersten. Sie leitete dieselben aber nicht von der jüngsten trüben Vergangenheit, sondern aus den Dämmerungstagen der Kindheit her. Sie wußte sich schuldig, seit sie dachte, wenn ihr diese Schuld auch erst durch die schweren Heimsuchungen so recht zum Bewußtsein gekommen. Auch diese frühe, ursprüngliche Schuld ging auf ein totes Wesen zurück, dieses war aber keineswegs das tote Kind; sie hatte überhaupt mit den laufenden Wirrnissen nichts gemein, und es lag ihr rein gar nichts Tatsächliches zugrunde.

Gleichwohl glaubte sie an diese Schuld und einzig nur an diese. In ihr erblickte sie die Wurzel ihres ganzen heillosen Geschickes; ihretwegen hielt sie sich für schlecht und verworfen, ihretwegen freute sie das Leben nicht mehr und sehnte sie sich nach einem baldigen, wenn auch noch so grausamen Ende. Und was sie besonders drückte, niemand fragte sie nach dieser Schuld, weder der Richter, noch der Beichtvater, niemand zeigte ein Verständnis dafür, keiner trauten Seele konnte sie dieselbe bekennen; sie mußte sich allein mit ihr herumtragen und wußte nicht einmal einen Namen dafür. Es ward ihr nur so unendlich schwer ums Herz, wenn sie an diesem, nur ihr fühlbaren, für andere unsichtbaren Faden all ihr Ungemach aneinanderreihte. Dann nickte sie so vor sich hin, als wäre ihr das Verständnis für ihr ganzes Leben aufgegangen, und dann weinte sie, bis ihr die Augen weiteres Naß versagten.

War der liebe Sonnenstrahl zu Gast, dann versetzte sie sich am liebsten nach St. Gertraud zurück. Dort nahm sie im Geiste ihre Tätigkeit wieder auf, sich vergegenwärtigend, wo und wie alles liegt und steht, aller kleinen Ereignisse und Vorfälle gedenkend, welche Abwechslung in die einförmigen, aber doch nicht leeren Tage gebracht, und mit den wunderlichen Gestalten umspringend, die zu Scherz und Ernst Anlaß gegeben. Sie konnte sich dabei wieder jung, kindlich und harmlos fühlen, bis die Schatten näher rückten, in die sie dann befremdet starrte. Wie gern hätte sie der guten Frau Mutter Nachricht zukommen lassen, sie um Verzeihung bittend; aber war denn in ein Wort zu fassen, was sie ihr zu sagen hatte, und wer sollte der Fernen dasselbe so warm und innig überbringen, als sie es fühlte?

Auch in das Haus des Bezirksarztes dachte sie sich gern zurück, aber ohne Heimgefühl. Das war gleichsam ein schöner Garten, in welchen sie von ungefähr geraten war, der sich ihr aber nicht zum zweiten Male öffnen würde; das war ein Traum von anderer, milderer, lieblicherer Gegend, welche ihr Fuß nur einmal und nicht wieder betreten sollte.

Desto häufiger betete sie für die Guttäter in diesem Hause. Sie betete überhaupt oft und gern, aus Andacht, Verlassenheit und aus Langerweile. Doch wenn sie merkte, daß ihre Lippen sinnlos zu lallen begannen, schämte und ärgerte sie sich.

Beschränkt war ihr Gedanken-, zum Teile dumpf ihr Gemütsleben; aber die Zeit, die Langeweile, das Müßigsein unendlich. Wenn sie die Geduld verlor, wenn ihr Zornestränen kamen, so war zumeist diese Öde des Daseins daran schuld. Andere durchleben die Untersuchungs- und die Schuldhaft verschieden: erstere unter Furcht und Hoffnung, letztere im Stumpfsinn, bis sich's wieder lohnt, die Tage zu zählen. Die Gertrauder Marie kannte diesen Unterschied nicht; sie dachte sich die Hölle als einen endlos quälenden Müßiggang; und das Zähneklappern hatte sie nun auch schon verkostet.

Als die Gefangene zu ungewohnter Stunde, so bald nach dem amtlichen Morgenbesuch, den Schlüssel im Türschloß kreischen hörte, sprang sie von der harten Lagerstätte auf, als gewärtige sie abermals zum Verhör geholt zu werden; es hätte ihr keinen Verdruß bereitet, wieder ein bißchen ins Freie zu kommen und sich mit dem »giftigen« Männlein von einem Aktuar eine Zeitlang herumzuzanken. Sie tat aber einen Freudenschrei, wie eines solchen sie sich am allerwenigsten selbst mehr fähig gehalten, als sie leibhaftig die Frau Groggerin eintreten sah. Da war keine Täuschung möglich trotz des ärmlichen Zwielichtes; sie kannte zu wohl diese rührende Gestalt.

»Wie, die Frau Mutter, Sie hier? Sie selber? Und Ihr kommt, Euere ungeratene Marie heimzusuchen? Jetzt glaub' ich, daß mich der Himmel noch nicht ganz verlassen hat, und die Gnad' hätt' ich mir nicht mehr verhofft. Wie hat Euch denn eine solche Guttat einfallen können? Und ich muß der Frau Mutter völlig die Hand' und die müden Fuß' küssen.«

»Steh auf, dumm's Ding übereinand! Ich bin ja gefahren. Weißt eh, unser Bräunl zieht gut ... Und trag Er's nur herein, Mann! ... Ich hätt's nicht durchdringen können, so eng ist deine Tür. Wirst es gut brauchen können, was ich dir mitgebracht hab' ... nichts Meiniges; gehört eh alles dein und ein bißchen eine Unordnung wird jetzt sein in deiner Lad' ... ist mir im letzten Augenblick erst eingefallen, daß du's schon kalt haben könntest heroben .... So schau doch her, wo hast denn deine Augen? Ich werde doch nicht schöner geworden sein seit der Zeit. Da ist dein Umhängtuch, und da der Winterspenser, der warme, und die Unterröcke sind von den dichtesten, die du hast ... Wirst alles brauchen können, denn gar freundlich hast du's grad nicht hier.«

»Aber, Frau Mutter, das ist ja alles nichts dagegen! Daß ich Euch wiederseh', daß ich Euch hab' für ein gutes Stündl, daß ich Euch allen Verdruß, den ich Euch verursacht hab', abbitten kann, das ist ja so viel Glück, daß ich mich vor Freud' gar nimmer auskenn'! Und ich hab' so viel auf dem Herzen, das ich keinem anderen Menschen auf der weiten Welt als nur der guten Frau Mutter anvertrauen möcht'. Aber wollt Ihr euch nicht niedersetzen? ... müßt halt glauben, daß es die harte Ofenbank ist.«

»Komm lieber besser zum Licht her, daß ich dich ordentlich anschauen kann. Ein bißchen bleich und völlig vornehm siehst du aus ... ich mein' schon, es hat dich ein wenig hergenommen, das alles. Aber dein liebes, gutes Gesicht ist's halt doch noch! Und jetzt darfst du deiner alten Godl ein Bußl geben, weißt, wie allemal, wenn du mich zu meinem Namenstag schön angratuliert hast.«

»Wie gut die Frau Mutter ist! Es kann ja doch nimmer werden, wie's früher gewesen ist.«

»Zum Verzagen ist noch immer Zeit.«

»Ja, die Frau Mutter fragt ja nicht einmal, wer ich jetzt bin und wo ich jetzt bin; eine Kindesmörderin, heißt's, bin ich, und die Wallfahrt hätt' ich nur so zum Schein gemacht, um den Leuten einen Sand in die Augen zu streuen. So will's der Herr Aktuar aus mir herausbringen; ich kann ihm aber diesen Gefallen nicht tun, so wenig mir auch sonst liegt am Leben.«

»Ja, wenn du mir selber die Red' leicht machst, will ich dich allerdings fragen, wie nur eine Mutter fragen kann ...« Und die alte Frau faßte das unglückliche Mädchen bei den Armen und sah ihr mit ihren guten grauen Augen lange ins Gesicht; dann fuhr sie fort: »Gelt, meine liebe Marie! gelt, du lügst mich nicht an; gelt, du hast ja eh niemanden auf der Welt, der dich lieber hätt' als ich ... und nun sag mir's, wie du's ja immer gleich eingestanden hast, wenn du etwas – 's ist eh nur immer eine Kleinigkeit gewesen – angestellt hast gehabt: gelt, meine liebe Dirn, du bist nicht schlecht, du hast dich an deinem eigenen Kind nicht vergriffen?«

»Nein, Frau Mutter, das nicht!« antwortete die Marie schlicht; »ganz gewiß auch noch, das nicht! Ich tät' auf mein Kleines rechtschaffen schaun, wenn's am Leben geblieben wär'. Aber so viel ungeschickt bin ich gewesen, und nicht recht ausgekannt hab' ich mich, und halt gar so viel gach ist die Schwäch' über mich gekommen. Ich will Euch das alles erzählen, wenn ich einmal vom Herzen hab', was mich mehr drückt als alles andere. Schlecht bin ich halt doch, Frau Mutter! Ja schlecht, und deswegen hat mich Gott verlassen, deswegen hat mich die Muttergottes von Buch nicht erhört, deswegen ist Schand' und Elend über mich gekommen und deswegen ist's am besten, wenn's bald aus ist mit mir.«

»Du erschreckst mich ja völlig, närrische Dirn!« fuhr die Groggerin dazwischen, ungewiß, was sie von dieser Selbstanklage zu halten habe. »Wenn du dem Kind nichts getan hast, dann ist ja leicht ›Modi‹ gemacht und kann ein altes schwaches Weib für einen guten Ausgang stehen.«

»Jetzt muß Sie sich halt doch setzen, die gute Frau Mutter, wenn nicht auch Sie mich ungehörterweis' verstoßen will. Ich trag's schon lang' mit mir herum und hart zusammenzustellen ist's. Aber wahr ist's, von da an schon bin ich ein verlassenes, gestraftes Ding gewesen. Und von dem allem wär' nichts über mich gekommen, wenn ich mich dreinfinden hätt' können, ein lediges Kind zu sein.«

»Aber Marie, was redest du denn da zusammen?« drängte die Groggerin ungeduldig. »Fang einmal an, aber nicht von Adam und Eva, von denen aus wir alle elende sündhafte Menschen sind. Also kein lediges Kind hättest du sein mögen? Ja, kannst du denn selber was dafür? Und hab' ich dir's je fühlen lassen?«

»Das gewiß nicht; viel zu gut ist die Frau Mutter alleweil gewesen gegen mich. Gewußt hab' ich's aber dennoch wohl, wo ich hingehöre. Und daß ich gleich sage, was mich schon geärgert und 'kränkt hat, kaum daß ich angefangen hab' zu denken: meine Mutter, Gott tröst' sie – hab' ich nie recht leiden mögen; ich hab' ihr's nicht verzeihen können, daß sie mich ledigerweis' auf die Welt gesetzt hat, und es ist mir so vorgekommen, wenn eins schon selber schlecht d'ran ist, sollt' es nicht noch ein anderes unglücklich machen. Ein so boshaftes Mädel bin ich gewesen, Ihr wißt es eh noch, Frau Mutter! Und alles besser hab' ich verstehen wollen! Dann, wie ich in die Schul' gegangen bin, hab' ich einen ordentlichen Neid gehabt auf jede Kameradin, von der man gewußt hat, wer der Vater und wer die Mutter ist, und wo sie daheim ist. So gut ich's gehabt hab' bei Euch, Frau Mutter! – eine arme Keuschlerstochter wär' ich lieber gewesen; ich sag's wie's wahr ist, wenn's auch eine Schand' ist; denn ich hätt' Gott danken sollen, daß eine so mitleidige Seel' sich meiner angenommen. Drauf ist die Zeit gekommen, wo ich bei jeder Hochzeit hab' sein müssen; völlig verschaun hab' ich mich dabei können, und für mich ist nichts Schöneres auf der Welt gewesen. Es ist eigentlich zum Lachen: alleweil dasselbe und ich alleweil dabei, und alleweil mit dem heimlichen Wunsch, daß ich die Hauptperson hätt' sein mögen – als ob ein's alle Fingerlang wieder hochzeiten könnt'! Weiß die Frau Mutter noch von damals, wie der Herr Lehrer geheiratet hat? Auftragen helfen hätt' ich sollen; ich bin aber bei der Saaltür stehen blieben, und vom weißen Kleidl, von der Kron' und von den schönen Blumen der Braut hab' ich meine Augen nicht wegbringen können.«

»Ja, meine arme Marie! Ausgemacht hab' ich dich damals und ein verrücktes, ein dummes Ding geheißen, das wie eine Kuh in ein neues Tor dreinschaut; es ist ja soviel genötig hergegangen damals.«

»Und recht wär' mir geschehen, wenn mich die Frau Mutter abgedroschen hätt'; denn damals hab' ich mir vorgenommen: ledig bleiben auf keine Weis', und ein lediges Kind kriegen schon gar nicht, um alles in der Welt nicht! Solch ein Vornehmen wär' so übel nicht gewesen, aber es ist halt auch gleich der Stolz, der Hochmut dazugekommen, und warum das? Weil ich meine arme Mutter – Gott tröst' sie – verachtet hab' gehabt ... Die Buben haben mir nicht ankönnen, und ich hab' für besser gegolten, als ich gewesen bin. Dem einen, dem Kohlschreiber, muß es aber wegen meines Neides und wegen der sündhaften Gedanken, die meiner armen Mutter noch im Grab keine Ruhe gelassen, rein der Teufel eingegeben haben: daß er gleich vom Heiraten anhebt!«

»Ich hab' mir's gleich gedacht,« rief die Alte dazwischen, mit dem Kopfe nickend.

»Und wie er gestellt war,« fuhr die Gefangene fort, »hätt' er auch gleich heiraten können; und gern gesehen hab' ich ihn – ich kann's heut' noch nicht leugnen; und daß ein Mensch mit dem Heiligsten könnt' Schindluder treiben, hab' ich mir in meiner Verblendung nicht denken können. Heiraten! Das Wort hören und außer mir sein, ist eins gewesen. Ich hätte singen und springen können vor lauter Freud', und wenn ich einmal lustig und närrisch bin gewesen, hat's alleweil ausgegeben, hab' ich mich alleweil nicht recht ausgekannt: das weiß die Frau Mutter ohnedies. Und so hat er mich drangekriegt ...«

Die Marie schwieg, seufzend, den Blick in den Schoß gesenkt, den auch einzelne große Tränenperlen netzten.

»Ich hab' mir's eh gleich gedacht,« wiederholte die Groggerin verlegenheitshalber. Sie hatte sich mit ihren Gedanken, ihrem Mitgefühl ganz den Bekenntnissen des Mädchens hingegeben; sie kannte die seltsamen Seiten desselben und konnte die Selbstanklage nicht für ganz grundlos halten; sie hatte dabei nicht acht, daß ihr Schütling unter einer weitaus schwereren Anklage stand und daß, was sie umgab, ein hartes Gefängnis war.

Das Mädchen aber sprang auf und fuhr erregt fort:

»Und da sollt' eins nicht schlecht sein? Da sollt' ein anderes noch Mitleid haben mit mir? Ich habe schlecht von meiner Mutter gedacht und deshalb hat mich ein schlechter Mensch bei meinem Übermut packen können. Und hätt' ich nichts zu verschweigen gehabt, Frau Mutter, so lebte das Kind noch; und ich hätt' bei der Muttergottes keine Fehlbitte getan, mit was immer ich ihr hätt' kommen mögen; und ich wär' nicht krank geworden; und ich säß' nicht hier ... o du gerechter Gott!«

»Kind, was zuviel ist, ist zuviel!« wehrte die Groggerin, welche sich mittlerweile gefaßt hatte und wieder den ruhigen Überblick gewann. »Ein jeder Mensch hat einen dunklen Winkel im Herzen, in den nicht gut schauen ist. Es ist recht, wenn man hie und da hineinguckt, aber kleinmütig werden darf man deswegen nicht. Der Kleinmut macht einen nicht besser. Alles, was du mir da gesagt hast, gehört in den Beichtstuhl, gehört an die Brust einer mütterlichen Freundin, aber nicht vors Gericht. Sei zufrieden, daß dir dieses nicht zu viel anhaben kann ... ich bin's auch. Beruhige dich! Das zaghafte Gewissen macht dir keine Schand, aber du darfst ihm nicht zu viel nachgeben. Dein Mütterl müßte sich ja im Grab umkehren, wenn du dich so weiter um sie grämtest. Sie ist eine gute Haut gewesen ... du hast sie ja kaum gekannt; so früh hat sie sterben müssen. Sie hat halt keine Heimat haben können; aber kein Mensch hat's ihr nachtragen, daß sie ein gutes, schreckhaftes Kind hinterlassen hat ... Ja, jetzt hab' und kenn' ich dich wieder ganz, und solang' mir die Augen offen stehen, sollst du meine gute und liebe Marie bleiben!«

Diese Worte beruhigten wirklich. Die Gefangene weinte zum ersten Male lindernde, glückliche Tränen. Immer wieder umarmte und küßte sie dankbar-innig die edle Freundin, in deren Erfahrung und Überlegenheit sie Vertrauen setzen mußte. Auch die alte Frau konnte sich der Rührung nicht erwehren, und sie tat ihr wohl.

Als der Wächter meldete, daß die Stunde abgelaufen, deuchte es beiden Frauen viel zu früh.

»Ich bleibe noch einen Tag, ich komme morgen wieder,« flüsterte die gute Alte ihrem Liebling tröstend zu ... »Dann erzählst du mir von deiner schweren Stunde, und wie du denn doch noch die Wallfahrt vermocht hast ... aber ruhig, wir dürfen's ja sein.«

Als sich gegen Mittag die Frau Groggerin bei ihrem Vetter einfand, begrüßte sie dieser mit der Frage: »Bist du zufrieden mit deinem Besuche?«

»O mehr als das, Herr Vetter! Mußt mir wohl noch ein Stündl auswirken; und wenn du sie nur kennen lernen wolltest, du tätest gern etwas für meine liebe Marie. Ist's doch, als ob sie mir neu geschenkt worden wär'! Ich hab' mir's aber auch gleich gedacht ...«

»Nach Tische!« fiel hemmend der Herr Rat ein; »wenn's dir recht ist, setzen wir uns dann eigens hiefür zusammen. Jetzt laß dich, so gut es geht, von meiner Anna unterhalten und tu ihrer Küche die Ehr' an.«

Fräulein Anna glich dem Vater; sie war ein weiblicher Abklatsch desselben nicht bloß der Gestalt und den Gesichtszügen nach, sondern auch, was dessen geistiges Wesen anbelangt. Sie war aufmerksam gegen ihre Tante; sie erkundigte sich nach dieser und jener Sache ohne Aufdringlichkeit oder Vorwitz, also auch nach dem fernen Vetter, nach dem Haushalt in St. Gertraud, nach dem schönen Lavanttale und was es da Neues gebe. Sie verstand zuzuhören und selber das Wort zu führen. Alles war an ihr gescheit, aber auch nüchtern und reizlos.

Die alte Frau lobte, was zu loben war: die schöne Wohnung, und wie da alles an seinem Platze sei, die feine Zubereitung des Aufgetischten, und von dieser köstlichen Mehlspeise müsse sie sich von ihrer Fräulein Nichte eine Abschrift erbitten; und dem künftigen Herrn Gemahl sei Glück zu wünschen zu einer solchen Hausfrau, meinte sie. Fräulein Anna errötete nicht einmal.

Die Frau Groggerin machte sich dann insgeheim auch ihre eigenen Gedanken: Die muß schon, noch eh' sie Zähn' gekriegt, in einen sauren Apfel gebissen haben! Da ist ja selbst noch der Herr Vater gemütlicher. Seltsam, ihre Mutter ist so schön gewesen; und ich könnt' sie nicht gern haben, eine so nahe Verwandte sie mir auch ist, und wenn ich sie auch schandenhalber einladen muß, wieder einmal zu mir herabzukommen. Ja, ja, ihr Künftiger müßt' einen eigenen Geschmack haben, und »übertragen« ist sie ohnehin auch schon.

Und ihre Gedanken schweiften von dem verständigen Fräulein, von der Tochter eines hochachtbaren Mannes, von ihrer Verwandten hinweg zu einer Gefallenen, zu einer unter peinlicher Anklage stehenden Gefangenen, zur Marie, die nicht viel mehr als ein Findling war in ihrem Hause, aber ihrem Herzen um so näher stand. Ja, wenn die mit zu Tische gewesen wäre, Sonnenschein hätt' es gegeben!

Als das Mahl beendet war, begab sich der Rat in sein Schreibzimmer, und nachdem er darin ein paarmal auf und ab gegangen, lud er seine Cousine zu sich und sagte: »Da setz dich, gute Alte, und erzähl mir haarklein, wie du ihr, der Maria Klöckl, zugeredet und was du aus ihr herausgebracht hast.«

Dazu ließ sich die Frau Groggerin nicht zweimal mahnen; im Nu waren die Schleusen geöffnet, und was sie vorbrachte, ging der Eifrigen sichtlich von Herzen.

Darum mußte der Gestrenge dem Redefluß auch Einhalt tun, und mit seinem gewohnten Ernst erkundigte er sich bald nach diesem, bald nach jenem näher, durch Zwischenfragen, die einem Verhöre Ehre gemacht hätten.

»Und schreibst du denn auf, was ich dir da erzähl'?« fragte die alte Frau erstaunt.

»Laß dich das nicht beirren. Wir müssen alles schriftlich haben ... fahr fort.«

»Wenn ich wüßt', wo ich geblieben bin? Ja so ...« Und sie erzählte weiter, aber merklich abgekühlt; ihr gefiel nicht, daß der trockene Mensch gleich ein Schreibens daraus machte.

Und wieder die scharfen Zwischenreden, wo ohnehin alles klar war!

Die Alte mußte sich förmlich zusammennehmen; der Schweiß trat ihr auf die Stirn und schier unheimlich wurde ihr die Unterhaltung mit dem Hageren, der ganz den Herrn Rat hervorkehrte und so gar nichts mehr vom Vetter an sich hatte.

»Bist du fertig,« fragte dieser.

»Fertig, nun ja! Ich hätt' zwar viel noch zu sagen, aber ihr vom Gericht seid ganz eigene Leute.«

»Dann merk auf!« Und er las ihr ein kurzes Konzept vor! »Wenn du's richtig findest, so unterschreib es.«

»Richtig ja; aber ich hab' ja viel mehr gesagt. Wenn ich schon so unartig sein darf, viel zu wenig steht auf deinem Papier.«

»Tröst dich; für uns genug. Und da ich in deine Besonnenheit und Rechtschaffenheit ...«

»Na, ich bitt' schön, Herr Vetter!«

»... keinen Zweifel setzen kann, so ergibt sich daraus ein für die Angeklagte wertvolles Leumundszeugnis, sowie mancher Anhaltspunkt zur richtigeren Beurteilung ihres Wesens.«

»Und das ist alles, was du für sie tun kannst?«

»Jawohl,« sagte der Ernste; selbst er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Und wie ich glaube, habe ich damit deinen und ihren Dank verdient.«

»Das mußt du besser verstehen. Ich hätt' halt gemeint, du würdest jetzt hingehen und den aufsässigen Aktuar bei der Kappen nehmen. Aber vielleicht gibt's eh' mehr aus, wenn er's schriftlich kriegt. Und nun, wenn ich was ausgerichtet hab' bei dir, dann bedank' ich mich schön.«

»Du mißtraust mir noch immer?«

»Das nicht; ich denk' nur darüber nach, wie so ein Federstrich einen unglücklich machen und auch wieder retten kann.«

»Wenn du noch länger verweilst, kommst du doch morgen wieder zu Tisch?«

»Gern, Vetter! Aber der Herr Rat soll mich nicht wieder drankriegen.«

»Wieso denn?«

»Du hast mir ja zugesetzt, als sollt' ich selbst auch ins Kriminal .... Kopfweh hab' ich!«

Und damit empfahl sich das rührige Mütterlein.


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