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Zweites Kapitel

Der Frauentag

Und ein Frauentag führt in Maria-Buch viel Leute zusammen; um so gewisser, wenn derselbe wie Mariä Geburt in eine Zeit fällt, da die meiste und dringendste Feldarbeit schon getan ist. Die Schwalben rüsten sich zum großen Flug in eine mildere Heimat und auch in den geplagten Menschen rührt sich die Wanderlust.

Sie haben so lange der Scholle angehört, sie konnten von ihr nicht los, sie haben auf ihr gebückt geschaffen; jetzt aber richten sie sich auf und halten Umschau. Der Erntesegen ist eingebracht; er hat viel Schweiß gekostet, aber er erfreut auch und sichert ein Stück Zukunft, so daß ein zuversichtlicher, ein dankbarer Ausblick gar wohl am Platze ist.

Andererseits ist aber das schönste Stück des Jahres bereits um, die Tage werden kürzer, es herbstelt und der Herbst ist die lichtere Schwelle des dunklen, langen Winters; was kann, was wird dieser bringen? Sind die vollen Scheuern nicht allerlei Unbilden und Gefahren ausgesetzt? Ist der Stall gefeit? Muß nicht mit neuem Mute die Wintersaat bestellt werden und ist nicht doch noch so viel draußen auf den Äckern und in den Gärten, das des Schutzes bedarf und erst geborgen werden muß? Ja, in die Besitzfreude des Bauers mischt sich Sorge und Kummer; er fühlt sich von unsichtbaren Mächten abhängig, und ihnen sein Anliegen vorzubringen, ihnen sein Vertrauen zu bezeugen, wird ihm zum Bedürfnis, das ihn nicht minder demütigt als erhebt.

Das Landvolk wandert gern, wenn es von der Arbeit abkommen kann; aber es hat keine eigentlichen Ferien; es ergeht sich nicht frei und ungebunden – sein Wandern wird zum Wallfahrten. Und das Landvolk will die schöne Welt sehen, liebt Neues, will sein Bestes, ein empfängliches und gehobenes Gemüt in ungewohnte Gegenden tragen; aber es sucht nicht Kurplätze, Bergasyle, Modestätten, sondern Gnadenorte auf. Und am gelegensten deucht den Bauern, auszuziehen, wenn die sommersiedelnden Städter heimkehren, und während diese mit Wind und Wetter in beständigem Hader liegen, nimmt jener beides, wie's kommt, und es würde seiner Wallfahrt das rechte geistige Salz fehlen, wenn sie zu glatt abliefe.

Maria-Buch ist ein kleiner Wallfahrtsort mit einer großen Kirche; es berühmt sich eines gar vornehmen Ursprungs, wird aber von Bauern bewohnt und vornehmlich von Bauern besucht; es ist sehr alt, erzählt seine Legende in teilweise noch unverblichenen Farben und hat über dem mittleren Portal einen funkelnagelneuen Turm bekommen.

Die schöne Kaiserin kehrt aus dem Münster; ein vermessener Günstling steckt ihr ein heimliches Briefchen zu. Sie kann nicht rügen und strafen, ohne Aufsehen zu erregen, und der Zorn des hohen Gemahls, der ihr zur Seite die Kirche verläßt, träfe unbesehen und furchtbar. Klug das Gericht aufsparend birgt die junge Fürstin den frevelhaften Zettel vorläufig in ihr Andachtsbuch, das von kunstfertigen Mönchen säuberlich geschrieben und mit vielen andächtigen Bildchen auf Goldgrund geschmückt ist. Derlei Gebetbücher zählen heute zu den kostbarsten Altertümern – die Andacht ist seither billiger geworden, hat aber dafür an Saft und Kraft verloren. Die Kaiserin ergeht sich vom Altar weg lustwandelnd im nahen Tann und, wie's schon so sein will, sie verliert ihr Buch. Dasselbe wäre zu verschmerzen gewesen; aber die Schelmenreime darin, wenn sie in unrechte Hände gerieten, hätten großes Unheil stiften können. Begreiflich, daß die schöne Herrin selbst das Buch suchen ging, der Helferin der Christenheit ein schönes Haus gelobend, falls sie das teuere Kleinod uneröffnet wiederfände. Und das Buch lag in seiner ganzen Unschuld da, wo jetzt noch die Gnadenkirche steht; denn die schöne Kaiserin hat Wort gehalten, und daß der lüsterne Golo seinen Teil abbekommen hat, ist selbstverständlich.

So ist Maria-Buch entstanden, und daß es so vornehm dabei hergegangen, beirrt den Bauer nicht. Er denkt sich seine Helfer und Gönner am liebsten in Glanz und Herrlichkeit; die Heiligen im Himmel müssen doch wohl zu Ansehen gelangt sein, und eine schöne Kirche auf Erden baut sich nicht aus knauserigen Opferkreuzern auf.

Schon gestern, am Vorabend, sind die Kerzen am Gnadenaltare aufgezündet gewesen, haben viele Wallfahrer ihren Einzug gehalten und ist ihnen ein feierlicher Segen erteilt worden. Heut' aber rückt ein Fähnlein nach dem andern an; bald von dieser Seite, bald von jener Seite erschallt der Lobgesang: »Maria-Buch, du Gnadensaal, sei uns gegrüßt viel tausendmal« – so oder ein bißchen anders, deutsch oder windisch, und immer wieder läuten bewillkommend die Glocken und holt der Priester, mit Geleite aus der Kirche vortretend, die neue Schar ein. Und diese, umringt den Gnadenaltar, wirft sich vor demselben auf die Knie, wohnt der Messe, dem Hochamt, der Predigt oder der Litanei bei und gönnt sich nicht früher Rast oder kargen Imbiß, als bis sie ihrer Andacht Genüge getan. Die guten Leute haben sich heiser gebetet, sind bestaubt und wegemüde; sie sind zu wenig welteitel, als daß sie schon geordnet einzuziehen gedächten; sie tragen ihren Mundvorrat und ihre Ruhekissen meist in einem großen Bündel auf dem Rücken, und nicht selten schlägt dieses Bündel kopfüber auf den Boden, wenn sie sich andächtig niederwerfen; der Wirt im Örtlein hat mehr Heu und Stroh als Betten vorrätig; an Küche und Keller werden geringe Anforderungen gestellt; eine Bußfahrt ist kein Kirchtag.

Das Örtlein ist gleichwohl voller Leben. Das kommt und geht, eint und löst sich, schwirrt und schwärmt durcheinander wie um einen Taubenschlag! Und während alles so in Bewegung ist, was sinnt und säumt allein nur die fremde Dirn, welche die längste Zeit schon abgesondert, auf einem und demselben Fleck unter dem Kirschbaum sitzt?

Sie hat sich bisher keinem Zuge angeschlossen, scheint auch nach keiner erst zuwandernden Schar auszublicken und für sich selbst hat sie noch keinen Schritt in die Kirche getan.

Den Gnadenpfad behält sie dennoch unausgesetzt im Auge und wenn Sehnsucht, Andacht und Zuversicht einen schwärmerischen Ausdruck haben, so kommt er an diesem seltsamen Kinde zum Vorschein.

Ein blutjunges Geschöpf ist sie noch; sie ist fein und schön, doch ihr Gesichtchen ist leidvoll und manchmal scheint sie an der Rast nicht genug zu haben, sondern wie gebrochen in sich zusammensinken zu müssen. Dann macht sie den Eindruck, als wäre sie weit über ihre Jahre hinaus, als trage sie unverhältnismäßig schwer, als mache sie sich Gedanken, die von Glück und Frohmut fern abliegen, und als ziehe sich ihr ganzes Wesen zu einem letzten Entschluß und Trotz zusammen. Und das eigensinnige Mädchen zögert noch immer; will sie abwarten, daß sich die Menge verlaufe und die Kirche leer werde? An einem Frauentag bleibt sie den ganzen Tag offen und es lösen darin die einen die anderen ab. Oder will sie die Gnadenmutter für sich allein haben? O, die hat heute gar vielen Zutritt zu gewähren, auf viele herabzublicken, vieler Bitten und Anliegen ein mildes Gehör zu schenken. Was wiegt der verschämte Kummer, des einzelnen Leid, wo groß die Not und allgemein?

Der Tracht nach ist das Mädchen eine Lavanttalerin; weiß sie daheim keine Gnadenschwelle oder scheut sie dort mit Bekannten zusammenzutreffen?

Sie ist sauber gekleidet, aber für den weiten Weg hat sie sich schlecht vorgesehen und wenig mitgenommen. Nichts hat sie bei sich als einen kleinen Handkorb, einen länglichen, binsengeflochtenen »Zögger«. Den läßt sie aber nicht von ihrer Seite, den hält sie hartnäckig verschlossen. Der mußte mit, als sie vor einer Weile zum Brunnen ging, ihren Durst zu stillen, und der tut sich auch jetzt nicht auf, nun sie's hungert. Sie zieht nämlich ihr trockenes Stückchen Brot aus dem Fürtuchsack hervor; der rätselhafte Zögger steuert nichts bei.

Und wieder dieses geduldige Sitzen und Harren! Es ist längst nicht mehr warm; die Sonne zieht sich hinter den Waldberg hinab, die Abendschatten erstrecken sich über das halbe Tal schon, Kühle weht, die Dämmerung nimmt überhand und über den Flußauen verdichtet sich die Feuchte zu einem Nebelschleier. Es muß sie frieren, die arme Fremde, und ist ihr Auge nicht schon stumpf vom unverwandten Spähen nach der Kirchenpforte?

Endlich wird's davor still und öde. Die letzten Wallfahrer sind abgezogen oder haben sich durchs Örtlein verteilt. Doch ja, ein altes Mütterchen trippelt noch aus. der Kirche; es ist um die Betläutenszeit. Es naht auch schon der Mesner mit dem großen Schlüssel. Und nun ist plötzlich Leben gekommen ins Mädchen, das wie versteinert dagesessen.

Mit einem Sprunge ist die Dirn am Portal und mit hastigen Worten fällt sie den Pförtner an: »Guter Mann, laßt mich noch hinein... nur für einen Augenblick ... ich bitt' gar schön!«

Aber der Graukopf antwortet mürrisch: »Hast du nicht den ganzen Tag über Zeit gehabt oder mußtest du unter dem Baume Maulaffen feil haben?«

»Habt Mitleid! Ich möchte mit der Gottesmutter gern allein sein, und wenn sie mich erhören will, ist's ja bald geschehen ...« Und sie drückt dem Abwehrenden ein längst bereitgehaltenes Silbergröschl in die Hand.

Der strenge Tempelhüter weist es nicht zurück, aber sicherlich rührt ihn mehr noch das wunderliche Wesen, das ängstliche Ungestüm des Mädchens: »Nun so geh zum Altar vor,« sagt er; »ich will derweil in allen Winkeln nachsehen, es schleicht sich oft auch verdächtiges Gesindel ein.«

»Nein, Herr Mesner, so nicht! Ihr müßt bei der Tür zurückbleiben, müßt mich ganz, ganz allein lassen; ich brauch' wirklich nicht lang'.«

»Närrische Dirn! Und was hast du denn in deinem Zögger? Du wirst mir doch nicht die Kirche anzünden?«

»Dann verbrenne ich mit, und es wär' just kein Schad' um mich.«

»Also mach bald! Ich kann mir's eh denken, was du auf dem Herzen hast.«

»Das nicht schon, Mesner! Aber so oder so, Ihr erfahrt's heut' noch.« »Na, na, mach dir's nicht zu schwer, armes Kind!« tröstet der Alte, betroffen von dem furchtbaren Ernst im Gesicht, das sich im blassen Dämmerschein ihm zugewandt.

»Magst nicht den Zögger bei mir zurücklassen?«

»Grad' der muß mit. Und jetzt in Gottes Namen!«

In der Kirche ist's schon finster. Aber das ewige Licht brennt und das ist ein guter Wegweiser; es geht ein glutiger, purpurner Schein von ihm aus, und manchmal ist's, als wink' und nick' etwas im Lichtlein.

Dahinter breitet sich's mild wie Mondschein und strahlenförmig aus. Das ist der Silberwolkenkranz, der die Madonna umgibt; man kann daher nicht im Zweifel sein, wo ihr Gnadensitz ist.

Auch auf dem Hochaltar liegt weißlicher Schimmer und in einem unterscheidbaren Grau kann man selbst die Stufen zählen. Wenn sich darauf dunklere und hellere runde Flecke bemerkbar machen, so sind das die Kniemale, die von unzähligen Pilgern herrühren; von der Andacht läßt sich sogar der Stein erweichen.

Die Seitenstatuen blicken und blinken nur da und dort vor; sie schauen anders drein als untertags; vielleicht, weil sie sich nun weniger zusammennehmen müssen, weil sie sich ein bißchen gehen lassen dürfen. Manch eine schielt aber doch überrascht oder etwas unwirsch auf das Dirnlein herab, das ihre Nachtruhe stört: Was will denn die noch, sind wir heute noch immer nicht genug in Anspruch genommen worden? Und was kann sie denn darzubringen, was im Zögger haben? Ein Paar honigduftende Wachskerzen wohl, einige Rosenkränze für ihre Lieben, ein Amulett oder ein »Breverl« – wir kennen das, und es ist ohnehin schon alles geweiht. Aber ja, jedes hält gerade seine Gabe für die richtigste und beste.

Wenn so die aufgestörten Statuen denken, so sind sie denn doch einigermaßen auf dem Holzweg; sie kennen das Dirnlein noch nicht oder ihre Wissenheit macht sich's bequem.

Das Mädchen ist mutig eingetreten; sie merkt nicht, daß ihre Schritte widerhallen. All ihr Wesen ist Eifer: rasch zu machen gilt's; nur wenige Augenblicke sind ihr zugestanden, und wie Schweres, wie Wichtiges und Entscheidendes drängt sich da zusammen!

Sie öffnet den Zögger und was Licht und Schimmer in der Kirche, scheint sich mit einem Male zu verfalben.

Sie hebt ihre Gabe heraus und legt sie auf den Altar. Auf Leinen gebettet ist dieselbe, und ein seidenes Tüchlein bedeckt sie noch. Leicht wie Spinneweben ist dieses, und zitternde Finger entfernen es – die Muttergottes muß alles sehen.

Es ist, als hielte die ganze Kirche den Weihrauchduft ein; es ist, als zöge ein Schauder durch den heiligen Raum: ein regungsloses Kind liegt auf dem Altar, der Madonna zu Füßen, eine arme, winzige verlorene Kreatur!

Auf den kalten Steinen aber wimmert die Pilgerin, und ein schreckliches Gebet entringt sich ihrer jungen gequälten Brust: »Heilige Maria, Muttergottes, den ganzen Tag und auf dem ganzen Weg her hab' ich an dich nur gedacht, auf dich mein Vertrauen gesetzt; mehr beten kann ich nimmer. Weck mir's auf, mein armes Kind; es schläft so furchtbar lang' und nimmt von meiner Brust keine Wärme an. Weck mir's auf; es ist ja ein Bub', und du wirst weniger Kreuz mit ihm haben. Weck mir's auf – dir ist's ein Leichtes; und laß mich wieder sein liebes Schreien hören! Wenn's aber nicht kann sein, muß ich glauben, daß ich's umgebracht habe, daß ich schlecht bin und du mich verworfen hast – und dann ist mir eh schon alles eins.« Heißere, trotzigere Tränen waren wohl nie noch auf den Stein gefallen. Als erachte sie sich unwürdig, mit ihren sündhaften Augen zu sehen, wie sich an ihrem Kinde das gehoffte Wunder vollziehe, hat sie, die heillose Mutter, ja gar nicht aufgeblickt, im Staub liegend, gebrochen an Körper und Geist, wie sie ist.

Jetzt aber springt sie auf; sie will sehen und horchen – wenn der Kleine jetzt noch nicht wach ist, sich nicht rührt und nicht schmerzhaft sein Mündlein bewegt, ist alles weitere Hoffen umsonst. Sie beugt sich über das Kind und ihr Blick – erstarrt: erkennt sie erst jetzt, daß dasselbe tot, entstellt, für das Grab schon gezeichnet ist?

Ein Ruf schmerzlichster Enttäuschung, ein unsäglicher Wehschrei entfuhr ihr und wie leblos fiel sie auf die Altarstaffel zurück.

Aber nein, keine unnütze Schwäche, und es wird auch noch Ärgeres zu überstehen sein. Schon stapft der Mesner heran ... er soll über keine üble Wirtschaft zu greinen haben: daher rasch wieder eingepackt und mit dem Bettlein, mit dem hilflosen Kind und mit dem bergenden Tüchlein in den Zögger zurück! Der Kleine braucht nicht mehr so weich zu liegen, und um das ist noch grausiger das Tun der Enttäuschten.

»Du hast mich völlig erschreckt, Dirn!« sagte der Pförtner herbeikommend. »Ist dir was zugestoßen?«

»Es ist weiter nichts; die Muttergottes kann nicht einen jeden erhören.«

»Und du hast deinen Zögger schon wieder eingeräumt? Muß was Schönes drinnen sein!«

»Ihr seid wohl neugierig, Mann? Hier haben wir Licht... so schaut her, wenn euch nicht graust.«

Und beim rötlichen Schimmer des Altarlämpchens tat er einen Blick in den ihm offen dargereichten Handkorb und unter das seidene Tüchlein... selbst das verklärende Licht konnte über die kleine Leiche keinen Lebenshauch mehr verbreiten.

»Ums Himmels willen, was ist denn das?« rief der Kirchendiener entsetzt aus. »Mit einem toten Kind kommst du zu der Muttergottes? Das heißt Gott versuchen, und für so verrückt hätt' ich dich doch nicht gehalten. In einem solchen Falle soll man Gott danken, daß er das Kleine wieder zu sich genommen; gut aufgehoben ist's so.«

»Wie Ihr's halt versteht, Mesner!«

»Solcher Kinder laufen doch genug herum auf der weiten Welt und ein leichtes Fortkommen hat noch selten eins gefunden. Oder tu' ich dir vielleicht unrecht, wenn ich dich für eine ledige Dirn ansehe?«

»Was ich bin, leugne ich nicht. Die Mannsbilder sind nicht immer so, wie sie sein sollten.«

»Jetzt schau, daß du weiter kommst; zusperren, betläuten muß ich, und die Kirchen ist just keine Spinnstube.«

»Ich tat' schon warten, bis Ihr fertig seid, wenn Ihr mich zum Herrn Pfarrer führen möchtet.«

»Zum Pfarrer willst?«

»Fürs arme Würmchen da möcht' ich ein kleines Fleckchen in der geweihten Erde. Ich kann schon zahlen, wenn's nicht gar zu viel kostet.«

»Ja, der Pfarrer muß wohl verständigt werden, und du kannst mit dem toten Kinde nicht länger herumziehen, das ist richtig. Ein Kindertrüherl wäre bald beisammen und morgen in aller Früh' ... ja, wart' vor der Kirchentüre und bet' den englischen Gruß, auf daß alles gut ausgehe.«

In den gleichmäßigen Schlägen der Glocke klang nichts von dem Weh und der Unruhe, welche im Herzen der Mutter mit dem toten Kinde Einkehr gehalten. Wallfahrtskirchen haben gewöhnlich ein schönes Geläute, Dasselbe kündet Frieden und Freude, trügt aber oft auch!

Neben einer großen Gnadenkirche steht meist auch ein geräumiger Pfarrhof, der den Sommer über von mehr Priestern als im einsamen Winter besiedelt ist. Sprachenkundig sollen sie sein, diese Hilfsgeistlichen, um den bunten Pilgerscharen in verschiedenen Zungen, jedem in der seinen, den ersehnten Trost spenden zu können. Der ständige Vorstand dieser stets wechselnden Priesterschaft soll mannigfache und nicht ganz gewöhnliche Eigenschaften in sich vereinigen. Ein gesetztes Alter, Erfahrung und Wohlwollen werden bei ihm, wie billig, vorausgesetzt; außerdem soll er mit den Behörden umzugehen wissen, dem weitläufigen Schreibgeschäft vorstehen können, denn er ist von Staats wegen Beamter, und überhaupt mit der Hirtenklugheit keine geringe Weltkenntnis verbinden. Ist er überdies selbst ein Leidender, so versteht er desto besser die Mühseligen und Geladenen; hat er ein Gebrechen, so fühlt er mit den Gebrechlichen; und da er gewöhnlich reich bepfründet ist, fällt ihm das Wohltun leicht.

Pfarrer Ferdinand Perchtold entspricht diesen Anforderungen nicht übel. Er hat Ansehen und Einfluß; er ist zugänglich und freundlich; er ist durch die billige Verteilung der eingelaufenen Meßstipendien ein Segen für die armen Kapläne in der Nachbarschaft und im weiteren Umkreise.

Seine geistlichen Pflichten tut er gern kurz ab – begreiflich; denn er ist seines Wohlbefindens nicht lange sicher. Und ein bißchen leutscheu ist er auch, weil ihn die Gicht und die Atemnot plagt, weil ihm jede ernstere Aufregung schadet. Seine Augen blicken gut und verständig; in der Jugend mögen sie für schön und gefährlich gegolten haben.» Wenn ihn der Schmerz nicht verzerrt, ist wohlgebildet sein Mund und beredt. Seine Haare sind gleichmäßig ergraut; er trägt sie kurz. Gestalt und Gang sind etwas unbehilflich geworden – ach, baufällig wird das Haus, in welches die Krankheit ihren Einzug gehalten.

Pfarrer Perchtold hatte für die Lavanttalerin, die soeben eintrat, einen mißtrauischen Blick: eine natürliche Schutzwaffe das; denn der Unwürdigen nahen immer mehr als der Würdigen. Aber sein Auge milderte sich sofort, als die rührende Erscheinung vor ihm hielt. So sieht keine Landstreicherin, so keine verlorene Dirn aus.

»Du willst dein Kind einsegnen lassen? Laß sehen.«

Unwillkürlich griff der geistliche Herr nach der großen Dose nebenan auf dem Schreibtisch, und eine Handbewegung bedeutete der unglücklichen Mutter, ihr Kind wieder zu bedecken.

»Das wirst du freilich erst wieder lebendig sehen am Tage, der unser aller Auferstehung ist. Ist es denn getauft?«

»Wohl, wohl, das Kreuz hab' ich darüber gemacht, wie's den ersten Schrei ausgestoßen hat.«

Der Priester schüttelte das Haupt.

»Und geweint hab' ich über das arme Ding; das ist freilich nur sündhaftes Wasser gewesen. Dann hab' ich aber selber die längste Zeit nichts gewußt von mir.«

»Du hast also keinen rechten Beistand gehabt?«

»Mitten in der Nacht, im Keller drunten ... ich hätt' noch Bier zu holen gehabt ...am Sonntag ist's gewesen, und viel zu tun hat's gegeben für die Kellnerin... da ist's plötzlich über mich gekommen.« »Arme Haut, du hast heut' zu viel schon durchgemacht, scheint's! Ich will auch nicht fragen, wie du deine Ehre verloren. Aber hast du denn gar nichts vorkehren können fürs kleine, frierende Wesen?«

»In meinen Unterrock hab' ich's eingewickelt gehabt ... ich hab' ihn eh noch da in meinem Zögger, und mein Halstüchl, das da, hab' ich darüber gebreitet, daß es nicht so schreien und das Haus aufwecken möcht', und des vielen Wein- und Bierdunstes wegen.«

»Und darunter ist es erstickt,« sagte der Pfarrer ernst und bestimmt.

»Ich habe geglaubt, es schläft, wie ich wieder zu mir gekommen bin. Und wie ist's denn, Hochwürden, wenn so verhüllt die Taufkinder weither in die Kirche getragen werden?«

»Du wirst Anstände haben, Anstände bei Gericht...«

»Es war' mir eh das Liebste, wenn ich nicht mehr zu leben hätt'!«

»Meinst du, unsereiner sähe nicht auch schon gern seiner Auflösung entgegen? Es gehört ein starker Glauben dazu, körperliche Qualen auszustehen und auszuharren, und mehr noch, wenn auch die Seele wund ist ...« Das hatte der Pfarrer mehr für sich hingesprochen.

Sodann fragte er streng: »Drauf hast du die Wallfahrt angetreten, um den Verdacht abzulenken?«

»Aber Herr Pfarrer ...!« rief die Unglückliche mit einem herzdurchbohrenden Schrei aus; sie mußte sich an der Tischkante festhalten, um nicht umzusinken.

Der Geistliche blickte gespannt in ihr zuckendes Gesicht, in ihre Tränen und schwieg. Die Fremde erging sich aber in keine weitläufigeren Aufklärungen, sondern fuhr ergebungsstumpf fort: »Auch das will ich über mich ergehen lassen, und die Welt soll glauben, was sie will; die Muttergottes von Buch weiß es besser ... Und darf ich für mein Kleines um ein ruhiges Platzl bitten?«

Der Pfarrer tat, als hätte er gerade das Wichtigste überhört; einen früheren Faden aufgreifend fragte er: »Du bist eine Lavanttalerin?«

»Ja, die Frau Groggerin in St. Gertraud hat sich von Kind auf meiner angenommen; die letzte Zeit bin ich ihre Kellnerin gewesen.«

»Dein Name?«

»Marie Klöckl.«

»Heißt so der Vater oder die Mutter so?«

»Den Vater hab' ich niemals kennen gelernt und die Mutter ist gestorben; ich hab' ihr längst schon Abbitte geleistet im Geist!«

»Wieso?«

»Daß sie mich ohne ehrlichen Namen in die Welt gesetzt, hat mich lang' gekränkt; jetzt bin ich selber schlechter, als sie gewesen ist.«

Auch auf das ging der Priester nicht genauer ein, sondern seine nächste Frage lautete: »Und du willst uns glauben machen, daß du dich gleich nach deiner schweren Stunde hieher auf den Weg gemacht, und daß dir das nicht zu hart angekommen?«

»In St. Gertraud bin ich am Montag früh fort. Ein paarmal bin ich unterwegs liegen geblieben. In Obdachegg hat mich eine Bäuerin gelabt ... die weiß, wie mir gewesen ist.«

Eine Weile überließ sich der hochwürdige Herr dem Nachdenken; sein Gesicht ward wieder milder.

»Ich kann dein armes Würmlein nicht ohne weiteres einsegnen; es muß zuvor ein Totenbeschauzettel ausgestellt werden. Du mußt zum Bezirksarzt nach Judenburg, mit deinem ganzen Zögger da, und zwar heute noch ... Doch wart', ich gebe dir ein Briefchen mit und meine Kuhdirn kann dich begleiten. Verzag nicht ganz; vielleicht geht's besser aus, als es den Anschein hat.«

Die Vernommene schwankte mühsam hinaus und der Gestrenge blickte ihr mit feuchten Augen nach.

Dann erhob sich der Pfarrherr selbst und begab sich in die Küche: »Gebt der Fremden ein warmes Süpplein, aber bald! Auch ein Glas Wein wird ihr gut tun. Und die Kuhdirn soll nach Judenburg mit ihr zum Doktor Schlag, und gut acht haben auf sie. Glücklicherweise ist der Weg kurz, und es gibt Mondschein durch den Wald.«

So anstrengend der Tag für ihn gewesen, der Pfarrer wartete gleichwohl die Rückkehr der Magd ab, ehe er sich zur Ruhe begab, die sich leider zu oft nur schöner anließ, als sie vorhielt.

Nach fünf Viertelstunden etwa kam die Kuhdirn, und sie hätte sich auf dem Rückweg sehr beeilt, sagte sie. Mit der Fremden sei kein rechtes Weiterkommen gewesen. Schon einen Büchsenschuß weit vom Haus sei sie schwach geworden und bald habe sie mehr getragen als geführt werden müssen. Ihre Hände hätten eine Hitze gehabt, nicht zu sagen, und völlig wirr geredet hätte sie. Aber alles habe sie ruhig mit sich geschehen lassen, auch daß sie ihr den Zögger abgenommen, und daß derselbe einen abscheulichen »Gruchn« gehabt hätte, müsse sie sagen. Sie selber, die Karntnerin, sei wohl ein armes »Hascherl«, und lieb sein müsse sie, und gezittert hätte kein Espenlaub mehr wie sie. Wie sie zum Doktor gekommen, hätte der die Kranke kaum anzuschauen gebraucht und gesagt hätte er gleich: »Frau Mutter, wir kriegen einen Gast, und nur gleich ins Bett mit ihm, 's ist höchste Zeit!« Das läßt sich die alte Frau nicht zweimal sagen; sie nimmt die Fremde unterm Arm, und ich hätte ihr den Zögger geben sollen, meint sie. Aber der Doktor hat eine gute Nasen; er schaut so ins Körbl hinein und sagt: Mutter – er duzt die Frau Mutter – Mutter, sagt er, das ist nichts für dich; das nehm' ich in mein Zimmer, das geht den Bezirksarzt an. Zu mir aber sagt er – ich hab' nicht erst zu sagen gebraucht, wer mich schickt – dem Herrn Pfarrer lass' ich mich bestens empfehlen, und schönen Dank für sein Briefel; ich werd' es lesen, sobald ich allein bin; zuvor muß ich aber noch zu der Kranken. Und so läßt er mich stehen, und fort ist er, als hätt' er ein Feuer zu löschen gehabt. Muß wohl schlecht stehn mit derselben, die ich hingebracht hab'.«

Und die Magd ist sich bewußt, einen umständlichen Bericht erstattet zu haben. Ihr Herr ist auch gar nicht unzufrieden damit. »Jetzt geh schlafen, Julie,« sagte er; »es wird dir nicht schaden, eine kleine Bewegung gemacht zu haben.«

Und wie er wieder allein ist, überlegt der Hochwürdige noch das eben Vernommene. Daß er sich der Verlassenen annimmt, noch eh' er meine Zeilen gelesen, ist brav! Mit solchen – Heiden ist leicht auszukommen, murmelt er für sich hin, und er meint den Doktor damit. Und weiter: Es ist ein eigenes Kind, diese Fremde; es wär' ein prächtiges Geschöpf, so ohne Falsch, wie mir deucht ... wer sich an ihr versündigen konnte, ist von denjenigen, die Ärgernis geben und denen der Herr den Mühlstein an den Hals und die Tiefe des Meeres zugedacht hat. Nun, vorläufig weiß ich sie gut aufgehoben ...

Der Brief des Pfarrers aber lautet: »Lieber Herr Doktor! Ich schicke Ihnen ein Mädchen aus dem hinteren Lavanttale ins Haus und empfehle dasselbe nicht minder Ihrem Mitgefühle als Ihrer amtlichen Aufmerksamkeit. Die Arme hat sozusagen unmittelbar nach ihrer schweren Stunde mit ihrem toten Kinde den weiten Weg hierher zurückgelegt, in guter Absicht, in überschwenglichem Vertrauen, wie ich glaube. Ich habe sie scharf ins Verhör genommen und halte sie für mehr unglücklich als schlecht. Daß sie sich in keiner guten Haut befindet, werden Sie sofort selbst erkennen, besser als ich. So günstig man auch den Fall deute, das Gericht wird kaum zu umgehen sein. Das corpus delicti befindet sich in ihrem Handkorbe. Mit bestem Gruße an Ihre Frau Mutter – Ihr Verehrer Pfarrer Perchtold.«

Doktor Schlag hauste mit seiner Mutter, einer Beamtenswitwe, welche die kargen Tage mit Würde überstanden hatte und nun der besseren sich ohne Überhebung freute; sie war tätig, ordnete mit Geschmack, und wenn das Frauenleben der kleinen Kreisstadt schon merklich feinere Formen annahm, so ging dies hauptsächlich auf ihre Anregung, ihr Beispiel zurück. Ein zierliches Frauchen, schien sie mehr gealtert als verblüht; gesundes Braun hält lange vor. Ihr Sohn, das einzige Kind, war ihre Sorge, ihre Freude, ihr Stolz. Derselbe, schlank, hochgewachsen, gelenk, war amtlichen und wissenschaftlichen Eifers voll. Seit anderthalb Jahren zum Bezirksarzt ernannt, stand er mit seinen höheren Kollegen vom Kreisamte im besten Einvernehmen. Er brauchte nicht Kunden anzulocken; sein fachlicher Ernst, sein einnehmendes Wesen und sein richtig zugreifendes Wohlwollen bewirkten ein wachsendes Zutrauen. Er hatte verschmäht, sich mehr nach einer Geldheirat als nach Praxis umzusehen, und seine Mutter fern und einsam zu wissen, hätte er nicht ertragen. Das Muttersöhnchen stellte gleichwohl seinen Mann.

Nun hatte er längst trotz der vorgerückten Nachtstunde den Inhalt des Zöggers gemustert und die kleine Kindesleiche untersucht. Auch den wissenschaftlichen Befund hat er schon zu Papier gebracht. Und mehr als einmal hat er bereits wieder beobachtend und lindernd am Krankenbette geweilt. Jetzt vertieft er sich nochmals in die Zeilen seines geistlichen Freundes, an seinem dichten, dunklen Schnurrbärtchen kauend oder wohl gar mit den schönen Zähnen nach der Mouche der Unterlippe langend, wie's seine Art ist, wenn er nachsinnt und zu einer Diagnose, zu einem Gutachten sich zusammennimmt.

Ihm, dem Pfarrer, hat sie wohl mehr gebeichtet, meint er, als sein Brieflein erraten läßt. Ich will morgen zu ihm. Anzeichen eines jähen Eingriffs ins junge Leben, einer äußeren Gewalttätigkeit sind nicht vorhanden. Das Kind ist erstickt ... kann sich nicht einfach die schützende Decke verschoben und das Mündlein verlegt haben? Sie unternimmt mit Lebensgefahr eine Wallfahrt, kommt mit überschwenglichem Vertrauen und sollte mit bösem Willen gegen ihr Kind gewütet haben? Hatte sie unterwegs nicht reichlich Gelegenheit, es tot oder lebendig auszusetzen? Wir wollen sehen. Sie übersteht's, eine gesunde, eine schöne Natur. Vorläufig bleibt sie bei mir ... vielleicht schlichtet sich die Sache, eh' die Ärmste noch völlig zum Bewußtsein kommt, und bleibt ihr die Schande erspart.

Mit derlei Betrachtungen und Vorhaben begibt sich der Doktor zur Ruhe. Sie stimmen merkwürdig überein mit den letzten Gedanken des befreundeten Geistlichen, und so sind an diesem Frauentage zwei Männer mit schönem Gewissen, ohne dessen vielleicht selber inne zu werden, schlafen gegangen.


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