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Waffenlärm

»Stellen wir,« schlug uns Harold vor, »Ritter und Rundköpfe vor – du machst einen Rundkopf!«

»Laß mich ungeschoren,« versetzte ich schläfrig. »Das haben wir gestern erst gemacht, und auf keinen Fall wäre an mir die Reihe, Rundkopf zu sein.«

Die Wahrheit ist, ich war faul und der Ruf zu den Waffen rührte mein Herz nicht. Wir drei Jüngeren lagen der Länge nach ausgestreckt im Gras unter den Obstbäumen, die Sonne brannte heiß – es war klarer, fröhlicher Juni – und mir kam's vor, als ob die üppige Wiese noch nie so in Saus und Braus gelebt, derart in Butterblumen geschwelgt hätte. Grün und Gold war das Leitmotiv des Tages. Statt irgend etwas »vorzustellen«, wozu lautes Gebrüll und saurer Schweiß unumgänglich waren, kam es mir weit angenehmer vor, behaglich dazuliegen und ich selbst zu sein mitten unter grün- und goldschimmernden Bäumen, und als sorgloser Bummler ein träumerisches Märchenland, ganz grün und golden, zu durchwandern! Aber der beharrliche Harold ließ sich nicht so leicht um sein Vergnügen bringen.

»Wenn du das nicht magst,« begann er von neuem, »so wollen wir die Ritter von der Tafelrunde sein, und ich,« seine Augen funkelten, »ich bin der Lancelot!«

»Wenn ich nicht der Lancelot sein darf, so mache ich überhaupt nicht mit,« entgegnete ich finster.

Es lag mir gar nicht so viel daran, aber König Arthurs Tafelrunde begann herkömmlicherweise mit diesem Rollenstreit.

»O bitte, bitte!« flehte Harold, »du weißt ja, wenn Eduard dabei ist, krieg' ich den Lancelot so wie so nie – es ist eine Ewigkeit her, daß ich nicht der Lancelot war!«

»Nun gut,« sagte ich, großmütig nachgebend, »dann bin ich der Tristram.«

»Aber das geht ja nicht!« rief Harold ganz verzweiflungsvoll. »Der Tristram ist doch immer Charlotte! Wenn sie nicht den Tristram machen darf, spielt sie ganz gewiß nicht mit! Bitte, bitte, sei doch nur dieses Mal ein andrer!«

Charlotte sagte gar nichts, aber sie starrte schwer atmend vor sich hin. Der unerreichte Jäger und Harfner war ihr Held, ihr romantisches Ideal, und ehe sie seine Darstellung durch einen Fühllosen mitangesehen hätte, würde sie sich lieber weinend ins dumpfige Schulzimmer gesetzt haben.

»Mir auch einerlei,« lenkte ich ein. »Ich bin, was ihr wollt – am Ende Sir Kay! Nun aber – los!«

Und wieder einmal zogen in der Geschichte dieses Landes die eisengepanzerten Ritter sporenklirrend, Abenteuer suchend und Unrecht sühnend, durch das grüne Dickicht, und die Räuber, immer ihrer fünf gegen einen, fielen unter ihren Streichen oder zogen sich verzagend in ihre Höhlen zurück. Wieder einmal wurden Jungfrauen beschützt, Drachen der Leib aufgeschlitzt und Riesen, von denen das Baumgut nur so wimmelte, um mehrere so wie so überflüssige Kopflängen gekürzt, während Palomides, der Sarazene, am Quell unser harrte und Sir Breuse Saunce Pité in schmählicher Flucht davonjagte, geschreckt von dem kunstvollen Speer, der sein Grauen war und sein Mörder werden mußte. Und abermals wurden die Turnierschranken aufgerichtet in Kamelot, und alles strahlte und strotzte in Silber und Gold; die Erde erbebte unter dröhnendem Hufschlag, Eschenstäbe zersplitterten und vom Himmelsgewölbe schallten die Schwerthiebe auf Harnisch und Helm zurück. Das Siegesglück schwankte launisch hin und her, bis endlich Lancelot finster und grimmig sein Roß in die Schranken drängte, Tristram aus dem Sattel hob – keine allzu schwere Aufgabe! – und das Gottesurteil herausforderte. Der edle Ritter aus Cornwallis aber wimmerte, uneingedenk des teuer bezahlten hohen Ruhms: »Du thust mir weh, sag' ich dir! Und so zerreißt ja mein Kleid!«

Und da geschah es, daß Sir Kay, der dem Bedrängten zu Hilfe eilte, plötzlich still hielt mit seinem Roß, denn er hatte mit einemmal zwischen den Aepfelspalieren etwas Scharlachrotes aufblitzen sehen, und jetzt schallten Hufschlag und lachende, plaudernde Stimmen ganz deutlich an sein Ohr und an das der ritterlichen Genossen.

»Was gibt's?« fragte Tristram, sich aufrichtend und sein lockiges Haar zurecht schüttelnd, während Lancelot schon den schimmernden Schranken enteilte und sachte nach der Hecke hinritt.

Wie an den Boden gewurzelt stand ich noch einen Augenblick, dann flog ich mit dem Schrei: »Soldaten!« vollends dicht zur Hecke, während Tristram sich mühsam aufrappelte, um uns nachzuschleichen.

Die Landstraße entlang kamen sie, zwei und zwei, behaglich im Schritt dahergezogen. Das Scharlachrot flimmerte einem vor den Augen, Pferdegeschirr klirrte und Sättel quiekten wonnevoll, während die Reiter, in eine Wolke von Staub gehüllt, als echte Helden, die sie waren, ganz gelassen ihre kurzen Thonpfeifchen rauchten. In berauschendem Ruhmesglanz zog die Truppe hufeklappernd vorüber, während wir, auf und ab hopsend, Hurra brüllten und aus allen Kräften winkten, eine Huldigung, die von den großen ritterlichen Mannen mit freundlicher Herablassung aufgenommen wurde. Im selben Augenblick, als der letzte Roßschwanz vorüber war, waren wir auch durch die Hecke geschlüpft, um ihnen nachzulaufen. Soldaten waren für uns nicht das tägliche Brot. Kein so erschütterndes Ereignis war seit dem vorletzten Winter mehr eingetreten, wo eines Nachmittags in der farblosen Eintönigkeit der aufgeweichten schmutzbraunen Erde und des bereiften laublosen Gezweigs die Meute mit gellendem Gekläff durch den Zaun gebrochen und unser Gehege im Nu von Rosseshufen zerstampft mit leuchtend roten Jagdfräcken gesprenkelt worden war. Das war auch schön gewesen, aber heute war's noch etwas ganz andres, denn was konnte dieser Truppendurchmarsch zu bedeuten haben, als daß Kampf und Blutvergießen in der Luft lagen?

»Glaubst du, daß es eine Schlacht gibt?« keuchte Harold, atemlos vor Aufregung.

»Versteht sich,« gab ich im Laufen zurück. »Wir kommen gerade noch recht: Nur schnell, schnell!«

Vielleicht daß ich's hätte besser wissen sollen und können. Und doch –? Die Hühner und Schweine, die unsern Hauptumgang ausmachten, waren nicht in der Lage, uns über die politischen Verhältnisse der Gegenwart und den tiefen Frieden zu belehren, worin die meerumgürtete Heimat ruhte, in der Schulstube aber steckten wir eben tief in den Wirrsalen und Kämpfen der weißen und roten Rose, und wußten wir nicht aus heimischen Balladen und Legenden zur Genüge, wie die Ritter einst gerade dieses Gelände von ihren Quartieren im Dorf aus durchzogen hatten? Und jetzt – das waren Soldaten, unverkennbare Krieger, und was sollten die hier zu schaffen haben, wenn nicht Schlachten zu schlagen? Blutgeruch witternd, folgten wir ihrer Spur!

»Wie's den Eduard reuen wird,« schnaubte Harold, »daß er das ekliche Latein angefangen hat!«

Das war in der That ein harter Fall! Eduard, der geborene Krieger und Feldherr unter uns, amare konjugieren – auch noch gerade dieses fade Zeitwort! – zwischen vier grauen Wänden, und Selina, die der Anblick eines roten Rocks in schauernde Verzückung versetzte, deutsch radebrechen!

»Ja, ja,« überlegte ich bei mir, »die Aeltesten zu sein, hat auch seine Mucken.«

Eine bittere Enttäuschung war es für uns, daß die Truppe unbelästigt durchs Dorf kam. Jede einzelne Hütte, so erklärte ich meinem Gefährten, hätte mit Schießscharten versehen, stark besetzt und bis aufs äußerste verteidigt werden müssen. Aber keinerlei Widerstand wurde geleistet, und die Soldaten waren auch von einer Sorglosigkeit, einem Mangel an Vorsicht, der an Ruchlosigkeit grenzte.

Beim letzten Haus dämmerte ein trügerischer Schimmer von Vernunft in meinem kriegstrunkenen Kopf auf, und ich erteilte Charlotte, die richtig hinter uns dreingelaufen war, strengen Befehl, nach Hause zu gehen. Mit heißem Widerstreben gehorchte die Kleine und trat zögernd den Heimweg an, voll bitteren Herzeleids, daß sie keinen von den herrlichen Rotröcken tot und erschlagen sehen sollte. Harold und ich aber zogen standhaft weiter, hinter jeder Hecke den Feind vermutend, stets gefaßt, den tödlichen Schuß aus irgend einem Busch aufblitzen zu sehen.

»Glaubst du, daß es Indianer sein werden,« forschte mein Bruder, den Feind meinend, »oder Rundköpfe, oder was?«

Ich überlegte mir den Fall, denn Harold verlangte immer klare Antworten und ließ sich sehr ungern mit Mutmaßungen abspeisen.

»Indianer werden's wohl nicht sein,« gab ich ihm endlich zum Bescheid, »und Rundköpfe auch nicht – die haben sich schon lange nicht mehr in der Gegend blicken lassen. Es sind jedenfalls Franzosen.«

Harold machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Franzosen?« wiederholte er. »Nun, das thut's auch! Mir wären zwar Indianer lieber gewesen.«

»Wenn's Indianer wären,« gab ich ihm zu bedenken, »so würde ich – ich würde lieber nach Hause gehen. Denn wenn Indianer einen gefangen nehmen, so wird man erst skalpiert und dann am Spieß geröstet – so arg machen's die Franzosen doch nicht.«

»Weißt du das gewiß?« fragte Harold etwas beunruhigt.

»Ganz gewiß,« versetzte ich zuversichtlich. »Franzosen, die sperren einen in ein Ding, das Bastille heißt, und dann schickt man einem einen Brotlaib mit einer Feile drin, damit feilt man die Gitterstäbe durch und läßt sich an einem Seil herunter, und dann schießen sie auf einen, treffen aber nicht und man läuft, was man laufen kann bis zum Strand, rettet sich schwimmend auf ein englisches Schiff und ist wieder daheim.«

Harold war nicht nur erleichtert, sondern sein Gesicht strahlte; das Programm hatte viel Anziehendes.

»Wenn sie's versuchen, uns gefangen zu nehmen,« sagte er, »so laufen wir also nicht davon – oder?«

Indessen dauerte es recht lange, bis dieser erbärmliche Feind sich sehen ließ – wir waren mittlerweile in seltsam fremdländische Gegenden gelangt, die höchst unbewohnt und unwirtlich aussahen, und wo bei einbrechender Nacht leicht Löwen auf Raub ausziehen konnten. Ich hatte Seitenstechen und Harolds beide Strümpfe schlotterten kläglich. Eben fing ich an, düsteren Zweifeln an der vielgepriesenen französischen Tapferkeit Raum zu geben, als der Offizier mit lauter Stimme einen Befehl gab, die Mannschaft sich im Sattel stramm setzte und zu traben anfing. Im Nu waren Roß und Reiter, die schon einen ziemlichen Vorsprung gehabt hatten, unsren Blicken gänzlich entschwunden, uns aber fiel das Herz in die Schuhe und es schwante uns, daß wir genasführt worden waren.

»Laden sie jetzt?« rief Harold mit matter Stimme, aber krampfhafter Kriegslust.

»Ich glaube nicht,« erklärte ich zögernd. »Wenn's zur Schlacht geht, hält der Offizier immer eine Rede, und dann ziehen alle die Säbel und die Trompeten werden geblasen, und – aber, halt, wir können den Weg abschneiden! Wenn wir querfeldein laufen, fangen wir sie noch!«

Und querfeldein ging's, dann kamen wir auf eine andre Landstraße, über die wir hinwegstampften, um abermals querfeldein zu laufen, keuchend, mit sinkender Zuversicht, doch ohne die Hoffnung ganz fahren zu lassen. Die Sonne ging unter und es fing sachte zu regnen an; wir waren mit Schmutz überzogen, atemlos, fast zu Tode erschöpft, aber wir ließen nicht nach und stolperten weiter, bis wieder eine Landstraße kam, die so unbekannt, so grausam unbekannt aussah, wie ich nie eine Landstraße gesehen habe. Nicht ein Wegweiser, kein freundlicher Fingerzeig auf ihrer ganzen unabsehbaren weißen Fläche! Der Regen dauerte fort; es wurde dunkel, wir konnten uns die traurige Wahrheit nicht mehr wegleugnen – wir waren hoffnungslos verirrt. Es gibt Augenblicke, wo auch ein richtiger Junge weinen darf, und ich hätte auch geweint, wenn Harold nicht dabei gewesen wäre. Dieses treuherzige Kind sah im älteren Bruder eine untrügliche Gottheit, und ich fühlte wohl, daß er sich so sicher und beschützt fühlte, als ob eine ganze Leibwache mit gefälltem Bajonett hinter ihm herzöge. Wovor ich aber am meisten Angst hatte, waren seine Fragen, die ohne Zweifel bald wieder beginnen würden.

Während ich in stummem Hilfeflehen der fühllosen Natur ins Antlitz starrte, drang ein Laut an mein Ohr, der mich mit neuer Hoffnung belebte. Es war Rädergerassel, das näher und näher kam, und – o Wonne! – ich erkannte jetzt das wohlbekannte Gesicht unsres alten Hausarztes. Wenn je ein Gott »aus der Maschine« stieg, so war es dieser vom Himmel gesandte Freund, der, als er uns erkannte, halten ließ und mit einem fröhlichen Grußwort aus dem Wagen sprang.

»Waren Sie dabei?« so stürmte Harold auf ihn zu. »War's eine furchtbare Schlacht? Wer hat gewonnen? Sind viele tot geschossen worden?«

Der Doktor machte ein verblüfftes Gesicht, bis ich ihm den Hergang erzählte.

»Aha! Ja, versteht sich!« sagte er dann mit tiefem Ernst, aber wunderlichen Grimassen. »Die Sache ist die, daß heute keine Schlacht stattfindet – man hat sie des zweifelhaften Wetters wegen aufgeschoben. Ihr sollt aber gebührend in Kenntnis gesetzt werden vom Wiederbeginn der Feindseligkeiten. Für den Augenblick thut ihr am besten, in meinen Wagen zu steigen und euch nach Haus bringen zu lassen. Ihr seid eine nette Strecke Wegs gelaufen! Wie leicht hätte man euch als Spione ergreifen und kriegsrechtlich erschießen können!«

Diese Gefahr war uns gar nie in den Sinn gekommen! Das Gruseln, das uns bei dieser Vorstellung überlief, erhöhte noch das Heimatsgefühl, womit wir uns gegen die molligen Wagenkissen schmiegten, und der Doktor verschönte uns die Fahrt durch haarsträubende Kriegsgeschichten, die er persönlich im blutigen Feld erlebt hatte, denn er mußte allem nach in allen fünf Weltteilen den Kriegspfad beschritten haben. Die Zeit, die so viel Schönes zerstört, enthüllte uns späterhin auch den mehr als wackeligen Grund, worauf diese Legenden ruhten, aber was schadet das? Es gibt Höheres als thatsächliche Wahrheit, und als er uns an der heimischen Schwelle absetzte, waren wir nahezu ausgesöhnt mit dem Schicksal, daß die Schlacht »aufgeschoben« worden war.


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