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Dritter Teil

Frau Kienitz zog die Petroleumlampe, die über dem runden, mit marmoriertem Wachstuch überzogenen Tisch hing, etwas tiefer, damit die beiden jüngeren Kinder, die dort Schularbeiten machten, besseres Licht erhielten.

»Ihr könnt doch nichts sehen, verderbt euch doch bloß die Augen, warum sagt ihr denn nichts?«

Der Junge blickte geistesabwesend auf, begann nur unwillkürlich das Lesestück, das er auswendig lernte, halblaut vor sich herzusagen, um über die Störung hinwegzukommen. Das kleine Mädchen, krumm über ein Buch gebeugt, glaubte, daß jetzt der Augenblick gekommen wäre, um ein lautes Wort sprechen zu können. Nach dem dämmrigen Hintergrund der Berliner Stube fragte es: »Elsbeth – weißt du noch ...«

»Wie soll ich denn hier lernen«, fuhr aber sofort der empörte Bruder dazwischen. Und mit kläglicher Stimme zur Mutter:

»Kann ich nicht in die Gute Stube gehen und mir da die Lampe anzünden?«

»Nein! Und du, Trude, bist jetzt still, störst Ernst nicht mehr! Wenn ihr nachher fertig seid, geb' ich euch 'was zum Würfeln, aber jetzt still, alle beide!«

Frau Kienitz setzte sich wieder zu der ältesten Tochter. Zwischen ihnen, auf einem Stuhl, stand eine braune Steingutschüssel mit grünen Bohnen. Sie nahm eine Handvoll und begann sie wie Elsbeth zu putzen.

Der Regulator tickte, der Kanarienvogel in dem mit einem Tuch bedeckten Käfig regte sich, durch das plötzliche Sprechen wieder munter geworden, auf seiner Stange. Aus dem oberen Stockwerk, durch die Decke hindurch, klang, fehlerhaft gespielt, die Rhapsodie von Liszt.

»Du übst gar nicht mehr, Elsbeth!« Frau Kienitz sprach halblaut, mit Rücksicht auf die lernenden Kinder.

Elsbeth begann nur eifriger zu arbeiten, antwortete nicht.

»Ja du denkst, ich quengele bloß an dir 'rum! Aber du machst mir Sorge, deine Unruhe jetzt immer! Was hast du denn eigentlich? Sprich dich doch mal offen aus zu deiner Mutter, ich könnte dir vielleicht raten! Oder denkst du, daß ich's nicht gut mit dir meine?«

»Doch!«

»Glaub' mir, ich kann dich vor vielem bewahren, ich bin auch mal jung gewesen und weiß, wie es einem Mädel in deinem Alter ums Herz ist. Ja – ja, den, den man gern haben möchte, kriegt man nicht immer.«

Und als Elsbeth auch jetzt stumm blieb, sagte sie: »Natürlich hat man euch beide zusammen gesehen und mir's wiedererzählt. Das sind dann die guten, guten, neidischen Freundinnen – ärgere dich nicht, denn ich geb' nichts drauf. Ich weiß ja, daß ich dir vertrauen kann – ich kann's doch?«

Als Elsbeth nickte, sagte sie: »Aber sei gescheit, Mädel, damit du nicht zu unglücklich wirst, wenn's auseinandergeht. Weine nicht, das macht jede von uns durch – ich wollte dich bloß darauf vorbereiten, daß dich's nachher nicht zu sehr trifft!«

Aber Elsbeth weinte leise vor sich hin, sah dann die Mutter an und sagte – kaum hörbar: »Wenn man ihn von mir trennt – dann ...«

Gleich darauf wurde sie wieder stumm, griff nach den Bohnen – zog die Fäden ab. Stillschweigen herrschte nun in der Stube – lange Zeit.

»Vater kommt!« sagte die Mutter, plötzlich auffahrend.

In der Entreetür draußen knackte der Schlüssel. Beim Schein eines Öllämpchens, das im Korridor brannte, legte Herr Kienitz Überzieher und Hut ab, rieb sich nochmals auf dem Strohdeckel, der vor der Stubentür lag, die Stiefel ab, und trat ein.

»Gu'n Abend!« Er zog ein rotes, baumwollenes Taschentuch und schneuzte sich die Nase – er tat es, indem er sich dabei bückte und abwandte, als sei dieser Vorgang etwas Unschickliches und nach Möglichkeit zu verbergen, das kräftige Geräusch schwächte er jedoch nicht ab.

»Gu'n Abend« hatten alle geantwortet. Er sah von der Frau auf die Kinder, da man ihm aber mit keiner Mitteilung entgegenkam, ging er nach dem Ofen und zog den dahinter versteckten Stiefelknecht vor. Als er die großen, schweren Dinger – sie hatten lange Schäfte, deren obere Hälfte noch das gelbe, ungefärbte Leder zeigte – endlich von den Füßen gezogen, trug sie die jüngste Tochter in die Küche, wo die Mutter jetzt auf einem Holztablett das Abendbrot für den Vater zusammenstellte: Zwei Brotscheiben mit Butter bestrichen, einen Harzer Käse und eine Flasche Bier.

Elsbeth brachte das Tablett und stellte alles auf die Wachstuchdecke, an jener Stelle des Tisches, wo der Vater zu sitzen pflegte. Und dann aß Herr Kienitz, langsam, ohne rechten Appetit, und blickte auf die Abendzeitung, die er, zusammengefaltet, wie er sie unter dem Strohdeckel draußen vor der Entreetür gefunden, vor sich hingelegt hatte. Bevor nicht das Eßgeschirr abgeräumt war, rührte er jedoch die Zeitung nicht an. Und als nun das Tablett in die Küche getragen wurde, ging Herr Kienitz nach dem Kleiderschrank, an dessen Ecke ein roter Türkenfes hing, setzte ihn sich als Hauskäppchen auf, stopfte sich die lange Weichselrohrpfeife und zündete sie an. Endlich kam sie in Zug und Herr Kienitz griff nach der Zeitung.

Frau Kienitz, die hereingekommen war, sagte bekümmert: »Vater, du ißt jetzt immer so wenig, hast du denn nicht noch Appetit auf was anderes? Soll ich dir vielleicht eine Stulle mit gehackter Heringsmilch und Zwiebeln machen, das ist gut für'n Magen!«

»Warum hast du's denn nicht gleich gemacht, immer kommst du nachher erst damit!«

»Vater, ich geh schon und mach's Ihnen zurecht«, sagte Elsbeth. Herr Kienitz hatte seine Kinder von klein auf daran gewöhnt, daß sie ihn mit »Sie« anredeten.

»Nein, jetzt nicht mehr, nun ist's zu spät!« Er griff nach der Zeitung, beachtete nicht mehr, was man ihm sagte, las, die Augenbrauen hochgezogen, mit sorgenvollem Ausdruck. Aber plötzlich schlug er ärgerlich mit der Hand auf den Tisch: »Verdammtes Geklimpere da oben!« Er blickte nach der Stubendecke. »Die wird's nie lernen, immer dieselben Fehler! Elsbeth, spiel du mal ein bißchen, damit sie aufhört!«

»Was soll ich denn spielen?«

»Frag doch nicht immer erst, irgendwas, bloß nichts Klassisches! Und wenn du einen Fehler machst, nicht verbessern, gleich weiter!«

Elsbeth zündete nebenan in der Guten Stube die Lichter des schwarzen Klaviers an, schlug den Deckel des alten, klapperigen Instruments auf, suchte unter den Noten.

»Daß du nicht mal ein einfaches Stück so spielen kannst, aus dem Kopf! Zwei, drei Salonsachen müßtest du wenigstens, und zwar auswendig, glatt vortragen können, wenn du mal wo eingeladen bist und aufgefordert wirst. Aber jedesmal stehst du dann blamiert da, weil du ohne Noten nichts kannst – es sieht aus, als wenn du nichts gelernt hast, und was ist alles zu deiner Ausbildung getan worden, wieviel Geld hat das gekostet!«

»Vater, laß doch!« bat Frau Kienitz.

»Ach, das Mädel stellt sich zu dumm an, die wird nie einen Mann kriegen! Und was ist mit Neuhaus?«

Das war der Name des großen Wäschegeschäfts an der Ecke Potsdamer- und Kurfürstenstraße, für das Elsbeth gestickte Einsätze lieferte. Den mühsam verdienten Taler gab sie jeden Sonnabend der Mutter zur Ergänzung des knappen Wirtschaftsgeldes.

»Diesmal ist es nichts« – sagte Frau Kienitz, »es sind zuviel, die sich damit ein Taschengeld verdienen wollen und mit noch weniger zufrieden sind.«

»Lauter adlige Damen« – rief Elsbeth herein. »Herr Neuhaus will jeder 'was zu verdienen geben, deshalb geht's die Reihe 'rum!«

»Vater, hier kann ich nicht lernen«, empörte sich plötzlich der Junge – »und wir haben heute so viel auf. Kann ich mich denn nicht in die Gute Stube setzen, wenn Elsbeth fertig ist?«

»Spiel nicht, laß es sein! Komm 'rein! Seid jetzt still, allesamt, daß Ernst seine Aufgaben machen kann. Warum hast du denn nicht schon am Nachmittag gelernt? Wohl wieder 'rumgetrieben? Und da willst du eine Freistelle auf dem Gymnasium bekommen, gar nicht d'ran zu denken!« Er seufzte tief auf. »Ach – nichts wie Sorgen und Kummer hat man mit den Kindern, alle wollen hoch hinaus, aber faulenzen rum! Was hat mich die Elsbeth gekostet, daß ich sie in die höhere Töchterschule schicken konnte, die Gemeindeschule wäre ebensogut gewesen oder noch besser sogar. Dann wäre sie irgendwo schon längst Ladenmädel, verdiente was, läge mir nicht mehr auf dem Halse. Aber die da«, er wies nach der Schwelle, wo Elsbeth jetzt stand, »die ist ja nun zu schade für so was!«

»Vater, ich werde mir morgen eine Stelle suchen, damit ich Ihnen nichts mehr koste!«

»Stille biste, kein Wort mehr, verstanden! Sonst nehm ich den Rohrstock!«

Frau Kienitz winkte Elsbeth. »Komm, wir setzen uns in die Küche, Vater ist wieder mal zanksüchtig!«

»Nein, ich ärgere mich bloß, daß aus dem Mädel nichts wird. Rum sitzt sie hier, wartet aufs Geheiratetwerden, wer soll denn die heiraten! Aber dadran bist du bloß schuld«, fuhr er seine Frau plötzlich an, »du hast ihr die Raupen in den Kopf gesetzt!«

Frau Kienitz verschwand mit Elsbeth. Das kleine Mädel nahm seine Bücher und lief rasch hinterher, ehe die Tür zugemacht wurde.

Und dann saß Herr Kienitz da, den roten Fes auf dem Kopf, die lange Pfeife im Munde, paffte dicke Rauchwolken und sah zu, wie sein Sohn lernte.

Bei Kabelitz, dem gemütlichen Weißbierwirt in der Kurfürstenstraße, hatte Walter seinen Mittagstisch. Für das Abendbrot kaufte er sich nach wie vor selber alles Notwendige ein, obwohl er sich's jetzt hätte leisten können, außerhalb zu essen. Denn gleich am nächsten Tage nach Alberts Besuch war ihm vom Büro eines Justizrats Michaelson »im Auftrage des Herrn A. Sandbohm« eine Postanweisung über hundertfünfzig Mark geschickt worden. »Die weiteren Raten gehen Ihnen am ersten Tage jedes Monats bis auf Widerruf pünktlich zu«, hatte auf der Rückseite des Postabschnitts gestanden.

Mit wunderlichen Empfindungen hatte Walter den Empfang des Geldes bestätigt und nachher einen recht steif geratenen und mühsam abgequälten Dankbrief an Albert geschrieben. Über das fatale Gefühl, die Summe angenommen zu haben, half er sich durch den Gedanken fort: »Sühnegeld von Onkel Herbert«, ohne sich aber über die mystischen Zusammenhänge weitere Gedanken zu machen, absichtlich nicht.

An den Tagen, da er Elsbeth erwartete, und jede Woche hatten sie wenigstens eine Zusammenkunft nach jenem Geburtstagsbesuch, kaufte er etwas reichhaltiger ein, kleine leckere Sachen, die trotz der Liebe mit ihrer appetitlähmenden Wirkung doch den Gaumen reizen mußten. Heute hatte er bei Oswald Nier, berühmt durch seine »ungegipsten Weine«, ein Fläschchen »Château bagatelle« zu dem Pumpernickel, Lachsschinken und Pfirsichen genommen, aber nun fehlte ihm ein Pfropfenzieher, denn mit dem seines Taschenmessers zerbröckelte er nur den Korken.

So unangenehm es ihm war, mußte er nun doch zu seiner Wirtin.

Frau Vietz saß in der Küche beim Abendbrot, sie aß mit Vorliebe Quarkstullen mit Schnittlauch bestreut. Ihr Gegengruß war auffallend karg, und reserviert hörte sie sich Walters Anliegen an, stand aber nicht auf, um ihm den Korkenzieher zu geben. Nein, nach einem entschlossenen Schlucken sagte sie: »Herr von Eschwege, wenn Sie nich jetzt bei mir jekommen, dann wäre ich nachher bei Ihnen jekommen, ich wollte man bloß noch vorher meine Stulle essen, denn ich fürchte, die Unterhaltung wird mir den Appetit verschlagen, mir regt alles gleich immer so furchtbar auf. Ja, Herr von Eschwege, man redet im Hause über die Besuche von das junge Mädchen bei Ihnen. Ich für mein Teil hätte mir ja jerne blind und taub jestellt, obwohl mir Ihre Frau Mutter dringend jebeten hat, ihr zu benachrichtigen, wenn ich auch nur das Jeringste von sowas bemerken sollte. Nu aber haben mir andere mit die Nase draufjestoßen, und da kann ich nich anders und muß Ihnen sagen, daß ich die Besuche nicht mehr dulden darf. Eine Anzeige oben von den Herrn Jimnasiallehrer Bock genügt, um mir vor Gericht zu bringen. Aber das werden Sie ja als studierter Jurist ebenso gut wissen wie unsereins und mir also nicht unjlücklich machen wollen …«

Verblüfft über diesen unerwarteten Angriff, fand Walter nicht gleich die Antwort. Dann sagte er lächelnd: »Heute läßt sich nun nichts mehr ändern, denn ich erwarte meine Braut und verstehe nicht, warum man Anstoß daran nimmt. Selbstverständlich lasse ich mir solchen Affront nicht gefallen und werde die Konsequenzen ziehen!«

»Es jeht nicht, Herr von Eschwege! Oben, auf den Treppenabsatz steht Herr Dr. Bock und kiekt über das Jeländer weg und paßt auf, wie Sie ihr reinlassen. Ich weiß es von Verzingetorixen, der ihn bei überrascht hat, als er vom Boden kam. Bei die Hauswirtin hat er sich schon beschwert und mit Kündigung gedroht, und mir will er die Polizei auf'n Hals hetzen, wo ich in Ehren weiß jeworden bin. Er hat auch 'ne Liste ins Haus rumjehen lassen und Unterschriften jesammelt. Ich bin 'ne olle Frau, ich kann nicht vor Jericht, ich laß mir nicht wejen Kuppelei ins Zuchthaus sperren …«

»Selbstverständlich ändert das die ganze Sachlage, ich werde …«

»Er hat auch rausjekriegt, wer das Fräulein ist und will an ihren Vater schreiben, denn er sagt, so'n junges Ding jehört in eine Besserungsanstalt, wenn es die Eltern nicht erziehen können. Er jiebt doch Religionsunterricht in die erste Klasse, darum muß er so streng sein!«

Walter ging in sein Zimmer – stand da – überlegte – sah nach der Uhr – es fehlte noch eine Viertelstunde, ehe Elsbeth kommen konnte. Rasch zog er die Lederschuhe aus, fuhr in die Hausschuhe, öffnete geräuschlos die Tür und spähte nach oben. Das Haus war still und leer. Da stieg er leise und schnell die Stufen hinauf, kam an die Tür mit dem Schild: »Dr. Ernst Bock, Oberlehrer« und eilte nun auch noch das letzte Treppenstück hinauf, das, ohne Läufer, zur eisernen Bodentür führte. Dort setzte er sich hin, zündete eine Zigarette an und wartete …

Und als, in dieser singenden Stille hier oben laut vernehmbar, die Kirchturmuhr schlug, öffnete sich vorsichtig des Herrn Oberlehrers Tür und Dr. Bock, eine lange Pfeife unter den Arm geklemmt, trat heraus, beugte sich über das Geländer, spähte nach Walters Zimmer. Ja, die helle Spalte war sichtbar, die Tür also wieder zum Empfang geöffnet.

Behaglich schmauchend, die Ellbogen aufs Geländer gestützt, harrte er der Dinge, die kommen sollten, aber plötzlich wandte er sich jäh um, die Tabakspfeife entfiel seinem Munde …

Vor ihm stand Walter, totenblaß, zitternd vor Erregung.

»Wegen der Gardinen, der Tabaksrauch«, sagte Dr. Bock kläglich, wagte es aber nicht, sich nach der Pfeife zu bücken, starrte Walter nur an, immer in der Erwartung, im nächsten Augenblick geohrfeigt zu werden.

Doch Walter, so sehr es ihm auch in den Fingern zuckte, beherrschte sich. Er deutete nur nach der Tür und sagte: »Marsch!« Und wie ein geprügelter Hund schlich der Herr Oberlehrer, seine Pfeife im Stich lassend, in die Wohnung.

Mit ein paar Sätzen sprang Walter hinunter, wechselte die Schuhe, nahm Hut und Stock und eilte auf die Straße, wartete an der nächsten Ecke, wartete, wartete …

Wartete stundenlang, aber Elsbeth kam nicht.

Am nächsten Tag bekam er durch die Paketfahrtpost einen Brief. Nur ein Zettelchen in dem Umschlag:

»Vater hat mich geschlagen, ich kann nie mehr kommen. E.«

Walter saß wie erstarrt. »Geschlagen, seinetwegen geschlagen!« In der ersten Aufwallung wollte er hin zu diesem Vater. Aber was konnte er ihm sagen! Doch nur, daß er Elsbeth liebe …

»Ach – wenn ich doch mit jemandem sprechen könnte, aber ich habe ja niemanden, der mir raten könnte, daß ich's nicht noch schlimmer mache, als es schon ist!«

Eisrieke!

Wenige Minuten später war er auf dem Wege nach der einsamen Villa. Es war, als er nun über das Wiesengelände schritt, jene Spätnachmittagsstimmung, in der er hier oft mit Elsbeth gewesen. Die Haubenlerchen trippelten vor ihm her auf dem schmalen Fußwege, die Goldammer sang in den Erlen ihr melancholisches Liedchen, satter Duft entquoll der feuchten Erde. Trupps von Feldarbeitern kehrten heim, schlugen die Richtung nach Wilmersdorf oder Schöneberg ein, rauchten ihre kurze Hängepfeife – süßlich-aromatische Wolken blieben noch lange hinter ihnen in der stillen Luft hängen. Auch »Rotkopp«, der stämmige Flurwächter mit seiner scharfen Dogge kam daher, ging nach dem schon zu Ackerland gemachten Teil der Wiesen, der jetzt, da die Gemüse reiften, von dem lichtscheuen Gesindel nachts oft geplündert wurde.

Das Joachimstalsche Gymnasium war eine Welt für sich in seiner selbstgewählten Abgeschiedenheit, wie verwunschen lagen die Lehrerhäuschen um den Riesenbau. Doch da begann das Wiesengrün aufs neue, die einsame Villa wurde sichtbar.

Einen Augenblick blieb Walter stehen, überlegte noch einmal. Aber der Drang, mit jemandem über das zu sprechen, was sein Herz erfüllte, trieb ihn vorwärts.

Er fand das Geschwisterpaar auf der grünübersponnenen Veranda. Das hagere Mädchen, wieder ganz betroffen bei seinem Anblick, hatte ihn dorthin gewiesen.

Und auch Rieke hatte unwillkürlich die Hand aufs Herz gedrückt. Doch gleich darauf lächelte sie, streckte ihm die Hand hin und sagte beglückt: »Also doch!«

»Ich hab's dir ja jleich jesagt, Rieke!« Albert war viel aufgeregter als seine Schwester. »Hab' dir's jleich jesagt, wenn ich 'ne Sache in die Hand nehme, denn flutscht's ooch! Also, was bringen Sie Schönes, Herr von Eschwege, außer das schöne Wetter, das ja jestern ooch schon war! Kieken Sie mal, was ich hier mache, aber das werden Sie nie nich erraten. Das sind Ringäppel – aufjeweicht in Wein. Die reihe ich nu an 'ne lange Strippe und hänge sie im Garten auf. Wozu? Der schöne Jeruch lockt die Nachtschmetterlinge an – nicht bloß die ollen Mottenköppe, sondern auch Totenköppe! Heute bei die Windstille hoffe ich auf einen besonders juten Fang!«

Albert rieb sich die Hände, strahlte übers ganze Gesicht.

»Dein Unjeziefer, wen soll denn das interessieren«, sagte Rieke unwillig. »Jeh, hol' 'ne Pulle Wein rauf und sage Minnan, daß sie 'ne Portion Aufschnitt bringt! Wir haben eben jejessen, aber Sie doch noch nicht!«

»Danke, ich bin viel zu erregt, könnte jetzt keinen Bissen 'runterbekommen. Ein Glas Wein ja, die Kehle ist mir trocken!«

Albert war davongelaufen, Walter und Rieke nun allein, sahen sich in die Augen. Die, die ihm da heute gegenübersaß, war nicht mehr komisch, nicht mehr Eisrieke, sondern eine würdige Dame mit scharfen und klugblickenden Augen.

»Es ist was passiert?« fragte sie halblaut.

Und als Walter nickte, sagte sie: »Warten Sie noch, bis er zurückkommt, er soll's auch hören! Unjlückliche Liebe? Na, ich hab's sofort jewußt, als Sie kamen. Wissen Sie, ich war lange in keine Kirche nicht, aber letzten Sonntag bin ich hier ins Joachimstalsche jewesen, da wird auch Jottesdienst abjehalten. Der Prediger hat von Hiob erzählt, und es hat sich wohl jeder sein Teil bei jedacht, ich am meisten. Ja, nu weiß ich's: Meine Sache ist die Sache der Liebe, und darum muß ich wie Hiob leiden, um auch in schlimmer Zeit meinen Jlauben an die Liebe zu erproben. Und wenn ich den nich verliere, werde ich meinen Lohn im Himmel kriegen. Ja, ich jlaube an ein Jenseits, und dort werd ich meinen Herbert finden. Aber ja, ich war nahe d'ran, meinen Jlauben zu verlieren und hätte ihn auch verloren, wenn Sie nicht plötzlich aufjetaucht wären. Sie sind Herberts Ebenbild, sind im Leben auch nicht besser d'ran wie er, aber Sie sollen und müssen nu standhalten, was da auch kommt, in Ihrer Liebe!«

Eine dickbauchige Flasche unterm Arm, eine andere in der Hand erschien Albert wieder auf der Veranda. »So, für den ersten Augenblick werden die beiden hier jenügen, die andern hole ich dann. Burjunder beißt alles aus'm Jehirn weg, was nich reinjehört, wie Petroljum die Wanzen aus die Bettstelle!«

Rieke sah ihn streng an. »Benimm dir«, sagte sie. »Jieß ein, wir wollen trinken – ich auch!«

Und dann stießen sie, ein wenig geniert durch diese Feierlichkeit, mit den Gläsern an. »Prost!« sagte Albert zu Walter und »Prösterkin!« zu seiner Schwester. »Also, was is los, langt der Zuschuß nicht?«

»Albert«, sagte Rieke drohend, »setz dir nu und sei still!« Er merkte, daß sie jetzt keinen Spaß verstand, gehorchte, bot nur noch Zigarren an und hörte dann schweigend an, was Walter erzählte.

Als dieser fertig, sagte er: »Morgen früh jeh ich in die Schule und dreh den Doktor Bock den Schnörgel nach links, denn der ist einer von die Sorte, die mir nicht nach Tertia versetzen wollten. Und von da jeh ich dann jleich ins Museum und kauf mir den Rabenvater. Und Sie«, wandte er sich an Walter, »jehen inzwischen nach die Wohnung, befreien Ihre Braut und fahren mit ihr nach Heljoland und lassen sich dort trauen, Papiere brauchen Sie da nicht, das Reisejeld jeb' ich Ihnen jleich, wahr, Rieke?«

Die aber saß ganz verstört da, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Nein – nein – nein«, sagte sie, »nischt mit Jewalt, nischt mit Jewalt. Die Liebe muß siegen, janz allein!«

 

Den nächsten Vormittag, es war ein Sonntag – hatte Walter von früh an in der Nähe von Elsbeths Wohnung wartend verbracht, wie es ihm Rieke geraten. Immer in der Hoffnung, Elsbeth sprechen zu können, wenn sie, wie doch sonst immer, zur Kirche ging.

Vergebens, sie hatte das Haus nicht verlassen. Von innerer Unruhe gequält, saß er nun am Nachmittag am Fenster, blickte auf die Spaziergänger, die, familienweise oder mit Bekannten vereinigt, dem Nollendorfplatz zustrebten, um über das Wiesengrün nach Wilmersdorf zu wandern.

Die Schwalben jagten sich unter dem blauen Himmel, große, leuchtende Wolkenschiffe glitten dahin. Drüben, von einem Dach, stieg ein Taubenschwarm auf und begann zu kreisen.

Vor den Häusern, die alle von Menschen leer, hockten auf Gartenzäunen oder Fußbänken die Portierfamilien, die daheim blieben, zur Sicherung der Wohnungen. Die Sprößlinge holten aus den Kellerlokalen Weißbier, und das große, runde Glas, einem Fünfliter-Maß ähnlich, ging nachher von Mund zu Mund, angefangen beim Vater bis zum jüngsten Kind, dem es die Mutter mit beiden Händen hielt. Und dann war immer noch so viel im Glase, daß alle noch einmal trinken konnten und für Vater doch noch ein ansehnlicher Rest blieb.

Plötzlich sah Walter drüben, auf der anderen Seite, eine Mädchengestalt in weißem Kleid und Florentiner.

Elsbeth – ja, das war sie doch!

Schon sprang er die Treppen hinunter, stürmte an dem erschrockenen Verzingetorix vorüber zum Hause hinaus, lief ihr nach, holte sie ein.

»Elsbeth!«

Als wenn sie nicht gemerkt, daß er neben ihr war, ging sie weiter. Ihr Gesicht war erstarrt, der Blick der Augen haftete in der Ferne.

»Elsbeth!« flehte er, suchte ihren Arm zu ergreifen, vergebens, sie hielt ihn zu fest an den Körper gepreßt. Stumm ging er nun neben ihr her. Wie im Traum nahm sie am Nollendorfplatz die Richtung nach den Wiesen, schritt den sandigen Feldweg hinunter, der am Amalienhause vorüberführte.

Aber dann, hier, wo keine Menschen mehr waren, blieb sie plötzlich stehen, wie eine, die nicht mehr weiter weiß. Jetzt erst schien sie sich Walters Gegenwart bewußt zu werden.

»Vater hat mich fortgejagt, ich soll mich zu Hause nicht mehr blicken lassen!«

Es wirkte auf ihn so ergreifend, daß sie nicht weinte, daß ihre Augen so starr blickten. Ihr blondes Haar, halb gelöst, quoll unter dem Hut hervor.

»Elsbeth!«

Sie blickte ihn an, aber sah sie ihn auch wirklich? Er war sich dessen nicht sicher, so seltsam war der Blick, der nun hinaufglitt zu den Schwalben, wie der eines Kindes, das dieses zierliche Haschen der Vögel da oben in der blauen Luft zum erstenmal sieht.

Da begriff Walter, daß er eine Kranke vor sich habe, die er jetzt nicht fragen und ausforschen könnte, die er in Sicherheit bringen mußte, damit sie sich nicht ein Leid antat.

Und wie zu einem verirrten Kinde sagte er: »Komm, komm, Elsbeth, jetzt wird alles wieder gut!«

Willig ließ sie es nun geschehen, daß er sie unter den Arm nahm und sie führte.

Doch bald blieb sie wieder stehen, sah ihn an und sagte mit einer merkwürdigen kindlichen Stimme, die er nie von ihr gehört: »Daß du's nur weißt, mein Vater hat mich fortgejagt, weil ich ein verworfenes Frauenzimmer bin, das die Geschwister verdirbt. Vater ist sehr, sehr böse auf mich, weil ich mich 'rumgetrieben habe – er hat es mir vorgelesen aus einem Briefe alle Leute wissen es ...«

Sie sprach ganz leise vor sich hin, er verstand kaum, was sie sagte, war froh, daß sie nun wieder so willig mitging. Schwer hing sie an seinem Arm, ihre Füßen begannen zu stolpern.

Endlich, endlich tauchte die »einsame Villa« im Wiesengrün auf, endlich war das Gartentor erreicht, konnte Walter die Klingel ziehen. Gleich darauf mußte er Elsbeth mit beiden Armen halten, ihre Knie knickten ein, sie war ohnmächtig geworden.

Minna kam, schloß auf, erkannte die Situation, griff sofort zu. Beide trugen die Kranke ins Haus. Gleich im ersten Stock stieß das Mädchen eine Tür auf, ein Bett stand da wie zum Empfang bereit. Dort legten sie Elsbeth nieder.

Und dann sagte Minna: »Ick mache hier alles, jeh'n Se man ruff zu die Herrschaft! Sajen Se bloß noch, ob ick 'n Doktor holen soll, uff'n Kurfürstendamm wohnt eener, janz frisch zujezojen, Levin heißt er!«

»Haben Sie Eau de Cologne, zum Schläfeeinreiben?«

»Nee, bloß 'n Mijränestift, det is ville besser! Erst muß sie aber die Schuhe aushaben, und dann muß ick ihr die Bluse uffhaken. Villeicht is sie ooch bloß zu feste jeschniert, denn davon kommen die mehrsten Ohnmachten. Is woll Ihre Braut, na, dann müssen Sie jetzt raus, sagen Sie man die da oben Bescheid!«

Aber da raste schon Rieke die Treppe hinunter, prallte fast mit Walter zusammen.

»Ich hab' Ihnen kommen sehen, ich will bei ihr! Minna, schnell bein Doktor! Jochen soll jleich anspannen und euch entjejenfahren. Renne, daß dir die Schuhe um die Ohren fliegen, Jott, ach Jott, nu is's wohl schon alles zu spät!«

Und jetzt kam auch Albert, die Dohle auf seiner Schulter hielt sich nur durch wippenden Flügelschlag im Gleichgewicht. »Jrade die Seite mit Ohnmacht is wieder aus dem Buch raus, aber hier haste Senfspiritus, reib ihr den unter die Nase, da wacht selbst ein Scheintoter von auf!«

Sie war schon bei Elsbeth in der Stube, schloß die Tür.

»Kommen Sie«, sagte Albert zu Walter, »helfen können Sie jetzt doch nicht! Wenn der Doktor da is, können wir ja horchen, was los is. Erzählen Sie mir inzwischen, wie das nu allens so jekommen is, und dann wollen wir Männer überlegen, was nu weiter zu tun is. Haben Se sich denn wenigstens den Jimnasiallehrer jekooft? Kann er noch sitzen, und was machen seine Backzähne? Weiß der Moralfatzke nu, was er für Unjlück anjerichtet hat?«

Der junge Arzt hatte auf Riekes viele Fragen zuletzt nur immer noch bloß die Schultern hochgezogen. Jetzt sagte er: »Ich komme also morgen früh noch vor der Sprechstunde her. Sollte sich der Zustand verschlimmern und sich die Patientin trotz der Pulver noch unruhig verhalten, was ich aber nicht annehme, lassen Sie mich sofort rufen, ich habe Nachtklingel.«

Verstört saß dann Rieke in der Sofaecke. »Das arme, arme Ding das, und alles bloß wegen das bißchen Liebe! O Jott, is das eine Welt, o Jott, was jiebt es doch für erbärmliche Menschens! Wenn sich der Busen des Mädchens nach die Einsegnung zu wölben beginnt, wird er reif für die Liebe, für die erste Liebe, die so heilig ist, wie nischt auf die Welt. Wenn die von andere beschmutzt wird, soll man sich nicht wundern, wenn man das Mädchen ins Irrenhaus und ihren Jeliebten ins Zuchthaus bringen muß, weil er einen von die Bande totjeschlagen hat.«

»Das besorge ich mit'n jelben Onkel, den ich mir schon besorgt habe«, sagte Albert, »ich quittiere dann jleich für meine jeknickte Jimnasialbildung! Aber jetzt wollen wir mal erst was anderes überlegen. Soll man nicht die Ollen benachrichtigen, wenigstens die Mutter? Ehe wir aber hinkommen, is Zehne und das Haus zu! Und vom Nachtwächter aufschließen lassen und die Leute vielleicht aus die Betten holen ...« Unschlüssig blickte er Walter an.

»Ich werde morgen früh sofort hingehen, jetzt möchte ich hier nicht weg! Wenn es nun doch Nervenfieber ist?«

Albert machte eine verächtliche Handbewegung. »Die Doktors! 'n Kollaps is's, der kommt und verjeht! Und Sie werden ihn auch kriegen, wenn Sie jetzt nicht einen ordentlichen Konjak trinken, warten Sie, ich hol' einen!«

»Kannst du unter sonne Umstände kümmeln?« fragte Rieke angewidert.

»Erst recht! Ich kümmele auch nicht, ich konjake bloß, und ihr werdet auch, daß eure Lebensjeister wieder ein bißchen frischer werden. Bei jede Beerdigung werden Konjaks getrunken, und das hier heute is so jut wie 'ne Beerdigung!«

»Begreifen Sie jetzt«, sagte Rieke zu Walter, »warum mir Ihr Onkel nicht heiraten konnte? Nee, so'n Schwager, wie der da, paßt nicht für einen adligen Gardeoffizier!«

Er hatte gar nicht hingehört, lauschte nur immer nach der Richtung, wo Elsbeths Zimmer lag. »Ich möchte gern zu ihr, es muß doch jemand bei ihr wachen! Kann ich es nicht, ich mache keinerlei Umstände, brauche auch nichts. Zu Hause hätte ich doch keine Ruhe!«

»Natürlich können Sie hierbleiben«, sagte Albert. »Wir jehen auf die Veranda, ich hole ein paar Pullen aus dem Keller, wir machen es uns jemütlich!«

Walter wehrte traurig ab. »Nein, ich setze mich in ihr Zimmer, in den großen Sessel. Denn, wenn es etwa schlimmer wird, will ich den Arzt holen …«

Rieke schüttelte den Kopf. »Nee – Minna ist doch ans Nachtwachen jewöhnt, und dann kann doch Jochen rennen! Sie legen sich hier auf die Schäselonge und als Zudecke kriegen Sie meine Reisedecke!«

»Nein, ich will bei ihr sein, ich ängstige mich um sie. An allem bin ich ja schuld – ich …«

»Fangen Sie bloß nicht so an«, sagte Albert.

»Stille biste!« fuhr ihn Rieke an. »Du hast keinen Charakter. Wenn dir Vater nischt vermacht, würdest du mit Fliegenstöcker auf die Höfe jehen oder als Toppstricker an die Ecken sitzen!« Und sich zu Walter wendend: »Also, wie Sie wollen, setzen Sie sich auch unten bei ihr, warten Sie aber noch so lange, bis Minna Ihnen 'n paar Filzpariser jebracht hat. Janz neue, ich hab' sie damals jekauft, als ich noch immer auf Herberten wartete. Na, nu kriegen Sie sie!«

Albert ging, ohne ein Wort noch zu sagen, aus dem Zimmer. »Jott sei Dank, daß wir ihn los sind, er wird noch ans Tremens zujrunde jehen, er delirumst ja jetzt schon! Ach Jott –«, sie seufzte tief auf. »So is's! Auf einmal ist das Herzeleid nach dem Jlück da! Und dann brauchen wir was, wo wir uns anklammern können, und da is's jut, wenn man an den Erlöser jlaubt. Weiter will er ja nischt, um uns zu helfen, warum soll man ihm da nicht den Jefallen tun und an ihn jlauben? Mir hat er meine Aufjabe jezeigt, jetzt weiß ich, was ich zu tun habe, jawoll, jetzt weiß ich's janz jenau.«

Sie stand auf, ging zu Walter und fuhr ihm übers Haar. »Alles ist Bestimmung und Fügung von unsern himmlischen Vater, weinen Sie also nicht! Jetzt schick ich Minna mit die Filzpariser! Wenn was ist, lassen Sie mir rufen, ju'n Nacht, Walter, ich sag von heute ab du zu dir und du sollst es zu mir sagen, also ju'n Nacht, Walter!« –

In dem großen Parterrezimmer brannte ein Öllämpchen. Walter saß am offenen Fenster und lauschte auf Elsbeths Atemzüge. Ab und zu einmal ein Unruhigwerden, ein Wimmerlaut, aber dann setzten doch wieder tiefe, gleichmäßige Atemzüge ein.

Das weite Wiesengelände lag im fahlen Mondlicht. Die Frösche quakten, vom Hühnerstall hinten im Hofe erklang manchmal das Krähen des Hahns.

Nach all' der Erregung war Walter von seiner Ermüdung überwältigt worden. Erwachte nun im ersten Morgendämmern durch die Vogelstimmen, richtete sich erschauernd auf, blickte erschrocken nach dem Bett.

Da saß Elsbeth aufrecht, starrte um sich. »Was ist das, wo bin ich hier? Wie kommen wir in diese Stube, du und ich, warum bin ich nicht in meinem Bett? Ach Gott«, sie schlug die Hände vors Gesicht, »ich weiß ja, ich weiß, ich weiß, sag' nichts!«

»Nicht weinen, Elsbeth, nicht weinen! Ich bin ja schon überglücklich, daß du wieder bei Besinnung bist! Wir sind bei herzensguten Menschen, ängstige dich nicht mehr, werde nur wieder ganz gesund!«

 

Doktor Levin war schon in aller Frühe dagewesen. Es galt, sich eine Praxis zu schaffen, und das war nicht leicht auf dem Kurfürstendamm mit seinen Trockenwohnern in den neuen hochherrschaftlichen Häusern. Hier, bei den reichen Sandbohms, schien ihm endlich das Glück zu blühen …

Er war überrascht, eine solche Besserung hatte er selbst nicht erwartet. »Am Abend wird ja die Temperatur wieder steigen, dann geben Sie das Pulver noch einmal! Sollte irgendeine Besorgnis sein, lassen Sie mich sofort rufen, ich komme jederzeit!«

»Ich möchte jleich immer von Fall zu Fall zahlen«, sagte Albert. »Doktorrechnungen so aus heiler Haut eines Morgens in'n Briefkasten kann ich auf den Tod nicht ausstehen!« Er gab ihm ein Zwanzigmarkstück. »Für jestern und heute – stimmt's so?«

Doktor Levin machte eine Verbeugung, wollte gehen.

»Nee«, sagte Albert, »so haben wir nicht jewettet! Is der Überschuß so jroß, daß Sie mir dafor auch mal untersuchen können? Denn sonst faß ich jerne noch mal in die Westentasche und lege was zu!«

»Wenn Sie meiner Hilfe bedürfen, ich stehe zur Verfügung!«

»Na, dann werd' ich mal über Sie verfügen, aber dann müssen Sie zu mir raufkommen, hier jeht's doch nich auf'm Flur!«

Er ging voran, öffnete die Tür zu seiner Stube und machte dem jungen Arzt eine einladende Handbewegung. »Platzen Sie, ich muß mir erst auspellen. Das jeht aber nicht so rasch, wie Sie vielleicht denken!«

Der Doktor sah mit einiger Verwunderung zu, wessen sich da alles Albert entledigte.

»Ja, da staunen Sie, aber das hab' ich alles auf Annoncen jekauft. Das Katzenfell, was ich mir jetzt abschnalle, is jejen Reißmatichtig! Ja, und das kleine Dings hier is ein sojenanntes Voltakreuz, wenn man das auf'n Magen trägt, wird es elektrisch! Das is bloß mein olles Bruchband, schön sieht's ja nicht mehr aus, aber ich hab' ja auch keinen Bruch, trag's bloß zur Vorsicht! Na, und das kennen Sie woll alleine, das ist ein Jägerhemd aus Wolle. So – und nu sehen Sie mir, wie mir Jott jeschaffen hat. Schön is anders, aber wir sind ja unter uns Männern, da brauch ich nich verführerisch auszusehen. Wenn ich das früher jewußt mit die Untersuchung, hätte ich vorher jebadet, aber bis jetzt hab' ich mir immer alleine behandelt, ich hab' ein ausjezeichnetes Medizinbuch, bloß, daß was drinne fehlt, sonst hätte ich Sie janich zu bemühen brauchen!«

Doktor Levin setzte das Hörrohr an, aber es war mit Schwierigkeiten verknüpft.

»Ja, recht ärgerlich«, sagte Albert, »auf'n Kopp jehen die Haare aus, und hier wachsen sie wild!«

»Mal recht tief Atem holen!«

»Es rasselt woll drinne, ja, ich habe schon lange Angst, daß ich was mit die Lunge kriege!«

»Bitte, mal jetzt nicht sprechen!«

»Ja, nich? Es klingt furchtbar hohl, wenn Sie auf den Bauch kloppen! Vielleicht 'ne kleine Magenerweiterung?«

»Worüber klagen Sie eigentlich?« fragte der junge Doktor, nachdem er Albert nach allen Regeln der Kunst abgehorcht und beklopft hatte.

»Über alles, Herr Doktor! Heute tut mir das weh, morgen das, bloß Zahnschmerzen hab' ich nie nich jehabt!«

»Sie sind kerngesund«, sagte Doktor Levin. »Lassen Sie das da alles weg, ziehen Sie sich leicht und luftig an und baden Sie recht oft!«

»Soll das etwa 'ne Beleidigung sein? Wenn ich mein Jägerhemd und mein Katzenfell und mein Voltakreuz und mein Bruchband nicht jehabt hätte, dann wäre ich eben nicht kernjesund. Und was Sie doch nicht 'rausjekriegt haben, nämlich meinen Bandwurm! Da können Sie noch so ville an meinen Bauch kloppen, der steckt den Kopp nicht raus, das Biest ist zu schlau! Womit hab' ich den schon zu locken versucht – er beißt nicht an. Na – nu werde ich mir in Ruhe wieder anziehen. Bitte schön – extra für Ihre Bemühungen an meinem Corpus delicti! Aber ich jlaube, ich kurier mir am besten alleine …«

Als der Arzt gegangen, legte Albert alles wieder an, was er vorher abgelegt, und ging zu seiner Schwester.

Rieke hatte auf der Diele gekniet, laut gebetet. »Amen«, sagte sie gerade.

»Also, der Doktor is weg, ich jlaube, er versteht nicht ville, sonst hätte er mir doch auch die Mandeln fühlen müssen. Nee, jieb ihr die Pulver nicht mehr! 'ne jute Hühnersuppe und ein schöner Eierkuchen is die beste Medizin.«

»Wo ist er denn, Walter?«

»Jleich als er mit dem Doktor jesprochen hatte, ist er losjetürmt! Er will bei die Mutter, horchen, was da eijentlich zu Hause losjewesen ist. Vielleicht knöppt er sich auch jleich den Jimnasiallehrer vor, wenn er ihn nich zum Duell fordert, er ist doch adlig, da hauen sie sich mit krumme Säbel.«

Aber Rieke hatte ihre eigenen Gedanken gehabt. Jetzt sagte sie: »Wenn's nu so jekommen wäre, wie mit mir damals, daß wir sie hätten in die Mäsong bringen müssen, ich jlaube, ich wäre dann auch wieder verrückt jeworden!«

»Oder bloß 'n bißken mehr noch als jetzt«, sagte Albert.

 

Walter klingelte an der Tür mit dem Schild: »Kienitz, Museumsbeamter.«

Elsbeths Mutter öffnete.

»Ich bringe Ihnen Nachricht von Ihrer Tochter!«

»Ach Gott«, sie wich zurück, »ist ein Unglück geschehen, sagen Sie's man gleich!«

»Sie lebt – ist bei guten Menschen!«

Ein befreiendes Aufstöhnen. »Kommen Sie 'rein – ich muß mich setzen ...«

Frau Kienitz ließ ihn in die »Gute Stube«, für die diese Bezeichnung bemitleidenswert-komisch wirkte und für deren Ausstattung man sich sicherlich jahrzehntelang Entbehrungen auferlegt hatte.

»Ihr Mann ist nicht zu Hause?«

»Ich bin allein, Vater ist im Dienst, die Kinder sind in der Schule. Aber sagen Sie doch bloß schon, was ist mit Elsbeth?«

Sie war in einen der beiden roten Plüschsessel gesunken – wies auf den andern, hob bittend die Hände.

»Ängstigen Sie sich nicht mehr, Frau Kienitz, ich habe Elsbeth gut untergebracht. Sie wissen, wer ich bin?«

»Ich kann's mir ja denken ...«

Sie konnte sich nicht mehr beherrschen, weinte laut auf, wurde erst ruhiger, als Walter nun zu berichten begann. Wischte sich immer wieder die Augen mit der blauen Schürze, starrte ihn dann an – ihn, der sie so sehr an jenen erinnerte, den sie abgöttisch in ihrer Mädchenzeit geliebt hatte ...

»Sagen Sie Ihrem Mann vorläufig nichts, ich werde Sie zu Elsbeth bringen, sobald sie Besuch empfangen darf.«

»Nein – ich will gleich zu ihr – gleich auf der Stelle. Sie hat doch nichts mitgenommen, braucht ja Wäsche, wenn sie krank liegt!«

»Sorgen Sie sich doch um so was nicht, sie hat alles.«

»Aber wenn ich mich erkundigen will – bei Ihnen, ich weiß nicht mal Ihren Namen, das dumme Mädel ist ja so verschwiegen gewesen.«

»Ich wohne an der Apostelkirche. Walter von Eschwege heiße ich!«

Entgeistert starrte ihn Frau Kienitz an. Und zaghaftleise kam dann die Frage: »In Ihrer Verwandtschaft, war da vielleicht ein Premierleutnant Herbert von Eschwege?«

»So hieß mein verstorbener Onkel! Bei der, die er heiraten wollte, ist jetzt Ihre Tochter!«

»Ihr Onkel!? Ich muß zu ihr – ich habe ihr was zu sagen –«

»Es geht nicht, heute noch nicht! Ich werde Sie morgen abholen, muß Sie auch erst informieren, Ihnen erzählen, wie unglücklich diese Frau durch meinen Onkel geworden ist ...«

»Unglücklich durch ihn? Aber ich habe ihr was zu sagen nein, Ihnen kann ich's nicht – bloß ihr selbst. Ach, ich hab's ja immer geahnt, daß das noch kommen würde.«

Nur schwer gelang es Walter, die Aufgeregte so weit zu beruhigen, daß sie sich schließlich fügte.

Als er dann endlich gehen konnte, ein Bündel mit Wäsche in der Hand, das er Elsbeth zu bringen sich erboten hatte – als er nun wieder im Getriebe der Potsdamer Vorstadt stand, kam ihm das, was er nun ahnte, wie romantischer Spuk vor.

Aus den Höfen der Häuser klangen Drehorgeltöne und Teppichklopfen, die Pferdebahn bimmelte – das Alltagsleben ging seinen Trott. Es war alles so natürlich und selbstverständlich, aber auch so nüchtern und traurig, denn nebenan – aus einer kleinen Seitentür des Krankenhauses wurde eben ein weißer, mit Seelilien geschmückter Sarg getragen und auf den schwarzen Leichenwagen geschoben.

Und trotz solchen Alltags jene Phantastik! Daß Onkel Herbert auch im Leben von Elsbeths Mutter eine Bedeutung gehabt haben sollte. – –

Nein, gehabt hatte. Jetzt, allein, sann sie der alten Geschichte nach. Wie sie eines Tages begreifen mußte, daß der schöne Traum zu Ende und das Unglück da war. Keine Rettung hätte es für sie vor der Schande gegeben, wenn ihr nicht damals der ehemalige Unteroffizier Kienitz, der mit seinem Zivilversorgungsschein eben einen Posten als Saaldiener bekommen hatte, einen reellen Heiratsantrag gemacht. Er wurde sofort erhört, denn in fünf Monaten spätestens mußte ihre schwere Stunde kommen. Dem ehemaligen Unteroffizier steckte es im Subordinationsblut, daß er gegen den Herrn Gardeleutnant als ersten Bewerber um die hübsche Zofe nichts einzuwenden hatte. Er verzieh ihr, da sie ihm vor der Heirat alles gebeichtet – verzieh ihr weiterhin durch all' die kommenden Jahre, verzieh ihr täglich und stündlich.

Diese Verzeihung war das fürchterlichste Martyrium geworden. Wie hatte Elsbeths Mutter unter der Moralanschauung des Mannes zu leiden gehabt. Wie oft war sie nahe daran gewesen, mit dem Kinde davonzugehen, irgendwo der Qual ein Ende zu machen!

Aber dann waren ja die beiden andern Kinder gekommen, echte Kienitzkinder -so brav, so redlich, so subalterner Gemütsart. Und der Herr Museumsbeamte Kienitz war mit den Jahren auch abgeklärter geworden, besonders seit er die nackten, griechischen Gipsgöttinnen bewachte. – –

Und nun, am Abend, kam er heim, setzte nach dem Essen seinen Türkenfes auf, schneuzte sich nach seiner Art, als wenn er etwas Unschickliches beginge, stopfte seine lange Pfeife, rauchte.

Mutter und Kinder saßen in der Küche, waren nacheinander hinausgeschlichen. Ein kleines Petroleumlämpchen mit messingnem Blendschirm erleuchtete den Raum, der Wasserhahn tropfte.

Und das war der einzige Laut in der beklemmenden Stille; alle hatten verweinte Gesichter, lauschten angstvoll nach der Stube, wo der Vater saß, bereit, jeden Augenblick einen neuen Wutausbruch über sich ergehen zu lassen ...

Und plötzlich stand Herr Kienitz auf der Schwelle der Küchentür. »Warum sitzt ihr hier draußen, 'reinkommen! Vorwärts, marsch! Oder soll ich erst den Rohrstock nehmen?«

Die Mutter winkte, blies das dunstende Lämpchen aus. Die Kinder hielten sich dicht an ihren Rock, setzten sich dann, drinnen in der Stube, zu ihr in den dunklen Winkel beim Ofen. Da hockten sie, wie die Küken bei der Glucke, starrten den Mann an, der ihr Vater war.

Herr Kienitz las die Zeitung – bei der Selbstmörder-Chronik verweilte sein Blick am längsten. Aber es stand nichts davon darin, daß man die Leiche eines jungen Mädchens mit blondem Haar und dem Monogramm E. K. in der Wäsche aus dem Landwehrkanal gezogen hätte.

Da wandte er sich jäh nach der dunklen Ecke: »Hast du die polizeilichen Abmeldungsformulare besorgt?«

»Sie liegen drinne auf dem Klavier!«

»Klavier! Ja, das wird jetzt verkauft, oder willst du spielen lernen?« fragte er die jüngere Tochter.

»Nein, Vater!«

»Und du auch nicht?« Diese Frage galt dem Sohn.

»Nein, Vater, ich hab' zuviel mit meinen Schularbeiten zu tun, die kann ich dann nicht ordentlich machen!«

»Dann wird der Klapperkasten also verkauft – hätte ich ihn nur nicht angeschafft! Hol' mir die Abmeldungen 'rein!«

Die Mutter brachte sie ihm selbst. »Willst du denn damit nicht noch warten?« fragte sie zaghaft.

Er hatte nur auf eine Äußerung gewartet, um losbrechen zu können: »Warten? Warum? Diese Person darf nicht mehr über meine Schwelle!«

Und alles, alles, was er gegen diese zweifelhafte Tochter auf dem Herzen hatte, schleuderte er nun noch einmal heraus. Nur, daß er diese zweifelhafte Tochter nicht mehr schlagen konnte wie neulich.

Bei diesem neuen Wutausbruch flüchteten Mutter und Kinder in die Schlafstube nebenan, krochen in die Betten und beteten zum lieben Gott, daß der Vater wieder ruhig werden möge.

Herr Kienitz füllte mit der Gewissenhaftigkeit eines Regimentsschreibers die polizeilichen Abmeldungsformulare aus und schrieb – da er im Polizeibericht nichts über den Tod der Tochter gefunden, in die letzte Rubrik: »Unbekannt verzogen!«

Nachher saß er und paffte dicke Rauchwolken. Ja, was ein Vater, der seine Kinder liebte, zu tun hatte, das wußte er aus der Bibel. Er war auch von seinem Vater gezüchtigt worden nicht nur mit der Rute. Denn eines Tages hatte ihn der Vater sogar nach einer Tracht Prügel mit einem Strick um den Hals und auf den Rücken gebundenen Händen vor das Kellerfenster gestellt, nur weil die Stiefelsohle zu früh durchgelaufen war. Stundenlang hatte er so am Marterpfahl stehen müssen, verhöhnt von den Straßenjungen.

Gerade, weil er in dem »Kind des Herrn Leutnants«, wie er es für sich nannte, immer etwas Besonderes gesehen, weil man Elsbeth sofort »die andere Rasse« ansah, hatte er in Edelmut etwas Besonderes aus ihr machen wollen, hatte sie in die höhere Töchterschule geschickt, ihr Musikunterricht geben lassen. Zum Dank dafür hatte sie Schande über ihn gebracht – das lüderliche Frauenzimmer. Ja das leichtsinnige Blut der Mutter hatte sie geerbt, man sollte eben – das war die Moral von der Geschichte – keine zur Frau nehmen, die ihre Unschuld schon verloren hatte.

Der Sonnenglanz des schönen Morgens füllte das große Zimmer der einsamen Villa. Das hohe Wiesengras war gestern gemäht worden, und der warme Wind wehte den Heuduft herein. An den Fensterscheiben tanzte erbittert eine Hummel, die den Ausgang nicht zu finden vermochte.

Vor einer Stunde war, von Walter begleitet, Frau Kienitz gekommen. Rieke hatte beide im Hausflur abgefangen und zu Walter gesagt: »Jeh bei Elsbeth, bereite ihr ein bißchen drauf vor, und wir beide« – zu Frau Kienitz gewandt – »setzen uns in die kühle Stube hier, da können wir uns am besten erzählen.«

Und dann, als sie ohne Beobachter waren, hatte sie Frau Kienitz ans Herz gedrückt, hatten beide geweint.

»Ja, ja, so hab' ich mir Ihnen vorjestellt – 'n bißken etepetete! Walter hat, als er mit das Wäschepaket kam, was jemunkelt, und wie ich unsern Herbert jekannt habe, reim ich mir alles zusammen. Sie sind die Vorletzte jewesen und ich die Letzte, wenigstens in Europa! In Amerika wird er frisch anjefangen haben – er war ja zu feurig. Aber kommen Sie, setzen Sie sich ...«

Es war eine lange, schmerzliche Unterhaltung geworden – man hatte sich zuviel zu sagen gehabt, ehe Rieke Frau Kienitz zu Elsbeth geführt. »Hier kommt Besuch« – sie hatte die Zaghafte ins Krankenzimmer geschoben, die Tür ins Schloß gedrückt.

Und nun hatten auch Mutter und Tochter sich ausgesprochen. Elsbeth saß, von Kissen gestützt, in einem amerikanischen Schaukelstuhl, schwach und blaß, matt und zaghaft im Wesen. Das Gesicht der Mutter aber war feucht von Tränen und glühte.

»Was hast du meinetwegen ertragen müssen – all' die Jahre – jetzt verstehe ich ja auch, warum er so unbarmherzig zu mir sein konnte. Sieh mal ...«

Sie ließ das Hemd von der Schulter gleiten, zeigte den Rücken: blaue und braune Striemen.

»Ich hab' mich vor dem Doktor geschämt, als er mit dem Höhrrohr kam. Die andern wissen es nicht! Aber wenn er nicht mein Vater ist ... Nein, Mutter, zurück noch einmal – lieber springe ich bei der Schleuse rein! Aber ich kann ja hierbleiben – wenn ich will – für immer! Weil ich das Kind bin – von dem andern! Denn sie hat ja schon gestern abend Andeutungen gemacht, bloß ich dachte – du weißt doch, sie ist ... Und davor habe ich heimlich Angst – laß aber nichts merken, denn sie ist ja so herzensgut und ihr Bruder auch – über den muß ich sogar lachen, wenn er mit seiner Dohle kommt. Hat er« – sie vermied das Wort Vater – »hat er nachher noch ...?«

»Nein, er war wohl zuerst auch erschrocken, als wir dich nicht in deiner Kammer fanden. Ich fürchtete schon, du seist zum Fenster 'rausgesprungen. Nachher dachte ich, du würdest wiederkommen – aber dann wurde das Haus zugeschlossen. Dann hab' ich den Jungen mit dem Schlüssel runtergeschickt, damit du reinkönntest – aber du kamst nicht. Bis um eins hat der Junge gewartet, dann hab' ich ihn raufgeholt. Bei der Polizei ist er gewesen – und im Krankenhaus, niemand wußte was! Vater ist jetzt ganz schweigsam – er tut, als sei alles in Ordnung, als wärst du überhaupt nie dagewesen!«

»Mutter – manchmal denke ich, ich liege noch im Fieber, so sonderbar kommt mir das alles vor – –«

Draußen wurde auffällig gehustet – dann die Tür aufgeklinkt. Rieke steckte den Kopf herein: »Na, habt ihr euch beide ausjeweint? Wo wollen wir denn nu frühstücken – ich jlaube, am besten hier, denn du darfst noch nicht 'rumlaufen, mein krankes Puttchen!«

Inzwischen war Walter, ohne daß er etwas von seiner Absicht angedeutet, auf dem Wege nach dem Museum. Er wollte mit Elsbeths Vater sprechen, sich vergewissern, welche Rechte Herr Kienitz jetzt noch, nachdem er die Tochter aus dem Hause gejagt, für sich in Anspruch nahm.

Die ganze weite Strecke, vom Wiesengelände bis ins Stadtinnere, hatte Walter zu Fuß zurückgelegt. Nun setzte er sich, zum kurzen Ausruhen, auf eine der Promenadenbänke Unter den Linden, suchte das Unbehagen über die bevorstehende Unterredung zu bekämpfen.

Wie gut kannte er, von seinen Besuchen in der Universität, das Morgenbild dieser Straße. Fast programmäßig entwickelte sich alles. Drüben, bei Kranzler und im Café Bauer, saßen die Fremden, die sich Berlin besahen, in Castans Panoptikum, nach der Siegessäule, dem Goldfischteich oder ins Museum zu den ägyptischen Mumien wollten ...

Dann erstarrten die Fußgänger plötzlich, rissen die Hüte von den Köpfen, denn da jagte, pfeilgeschwind, die Gummi-Equipage des Kaisers vorüber – dem Brandenburger Tor zu. Einen Augenblick hatte man die in die Polster zurückgelehnte Greisengestalt mit der Soldatenmütze gesehen, lange noch dem Flattern der Federn auf dem Hut des Leibjägers nachgeblickt ... Und nun ging man hochbefriedigt weiter, stand dann am Denkmal des Alten Fritzen, blickte nach dem berühmten Eckfenster des kaiserlichen Palais ... Und kam dann in den Lustgarten, wo die Würstelfrauen saßen, eine etwas abseits von den andern, denn an ihrem Kessel hing ein Stück Pappe mit der mystischen Aufschrift: »Vom Roßschwein!!« Welche Bedeutung denen, die da billiger als bei den andern Frauen heiße Wiener kauften, nicht ganz klar wurde oder vielleicht auch gleichgültig war.

Auch Walter war diesen Weg gegangen, jetzt stieg er die Freitreppe zum Museum hinauf, suchte den Saal mit den Gipsabgüssen der antiken Statuen.

Und dort, an eine Wand gelehnt, stand Herr Kienitz, mit der Linken die eine Barthälfte am Kinn gefaßt, in der Rechten eine Schnupftabakdose.

Die Absicht, ihn gleich anzusprechen, blieb unausgeführt, weil zu viele Besucher da waren. Ein wissenskundiger Herr nannte ein paar Damen, die er führte, die Namen etlicher Griechengötter, aber die Damen genierten sich, hinzusehen und eine von ihnen – sie hatte die kleine Kapotte mit einer großen Schleife der violetten Hutbänder unter dem Kinn eben fester gebunden – sagte beleidigt: »Nee – gehen wir man bloß wieder rasch raus, das ist ja hier noch doller als bei den schrecklichen Figuren auf der Schloßbrücke!«

Und nun war der Saal leer.

Walter, der am Eingang gewartet, ging entschlossen auf Herrn Kienitz zu, der – in Erwartung, daß er um eine Auskunft gebeten würde – den Kopf vorstreckte, die Hand ans Ohr legte.

»Ich bringe Ihnen Nachricht von Ihrer Tochter Elsbeth!«

»Hä?« Herr Kienitz richtete sich in seiner ganzen stattlichen Größe auf, ließ die Bartenden durch die hohle Hand gleiten, musterte Walter von oben bis unten. Und dann sagte er leise, höflich: »Dort ist der Ausgang!«

»Sie haben mich falsch verstanden, ich komme wegen Ihrer ältesten Tochter – wegen Elsbeth!«

»Mein Herr – ich habe Sie schon verstanden – der Ausgang ist dort! Außerdem – diese älteste Tochter ist tot!«

Walter sah den großen Mann, der so ruhig sprach, forschend an – in Herrn Kienitz' Augen war etwas, das ihn stutzig machte. Am besten war es wohl, wieder zu gehen. So faßte er an die Hutkrempe, wandte sich ab. Ehe er jedoch den Saalausgang erreicht, fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter.

Mit einem Ruck hatte er sie abgeschüttelt, sich Herrn Kienitz zugewandt. »Was heißt das?«

Leise und verbindlich kam es heraus: »Ich möchte doch wissen, mit wem ich eigentlich die Ehre habe?«

Walter nahm eine Visitenkarte aus dem Täschchen, reichte sie ihm.

Herr Kienitz blickte darauf, als läse er eine Gespensterschrift. Und dann sagte er: »Ein Lump dieses Namens hat meine Frau verführt – die – die Elsbeth war seine Tochter! Sind Sie der Lump, der das Mädchen in Schande gebracht, dann hab' ich ja meine Rache und wir sind quitt! Außerdem bin ich im Dienst.«

»Drohen Sie nicht und beschimpfen Sie weder den Toten noch mich. Der einzige Schuldige sind Sie. Ich halte Ihrer Erregung viel zugute – Sie haben Verleumdungen geglaubt – aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Elsbeth – –«

»Für mich ist sie tot!«

Herr Kienitz wandte sich ab, begann, als hatte er einem Besucher nur eine Auskunft erteilt, seinen Rundgang im Saal, der eben von einer Gruppe Provinzler betreten wurde.

Einen Augenblick noch zögerte Walter – dann ging er.

 

»Begreifst du jetzt, was für Unglück du über das Mädchen gebracht hast – über die Eltern?«

»Es wäre nicht so gekommen, Mama, wenn du dich rechtzeitig von Vorurteilen freigemacht hättest! Du bist aber ebenso verbohrt in deine Auffassung wie dieser Kienitz in seine!«

»Schscht! Mäßige dich, sprich nicht so laut!« Die Frau Hauptmann deutete, peinlich berührt, nach der Tür zum nächsten Stiftzimmer. »Die nebenan horcht« – flüsterte sie – »man versteht jedes laute Wort!«

»Fürchterlich!« sagte Walter.

»Ja, fürchterlich! Aber es muß ertragen werden.« Und mit leiser Stimme, immer nervös nach der Tür blickend, sagte sie dann: »Walter – begreifst du's denn nicht? Wir leben ja nicht bei den Schwarzen in Afrika, haben unsere festgefügte Gesellschaftsordnung! Du hast Verpflichtungen – für deine spätere Stellung – kannst nicht abseits gehen, außerhalb der Gesellschaft sein!«

»Fragt sich nur, wer die Gesellschaft ist – ob auch ich sie anerkenne!«

»Du bist verbohrt – nicht ich! Wenn du gesellschaftlich in Acht und Bann getan wirst, ist es zu spät. Als Offizier hast du dich durch falsches Mitgefühl unmöglich gemacht, bist in anrüchige Gesellschaft geraten – an der einen Dummheit, die dich die Karriere gekostet hat, laß es genug sein, verrammle dir wegen einer Liebschaft nicht den letzten Ausweg, eine standesgemäße Stellung zu erringen. Alles, was du sein und werden willst, hängt doch von der Anerkennung durch diese Gesellschaft ab. Oder – könntest du es vielleicht ertragen, daß man dich zwar gelten läßt, sie aber nicht? Willst du deine künftige Frau dem aussetzen – wenn sie überhaupt deine Frau werden kann?« »Soll ich vielleicht auf Hinz und Kunz Rücksicht nehmen, wenn es sich um mein Lebensglück handelt?«

»Es ist ja nicht Hinz und Kunz – es sind die Vons.«

»Ach Gott, Mama, ich – ja, jetzt sage ich: Glücklicherweise bin ich nicht mehr Offizier, bin frei von aller Bevormundung durch Kastengeist!«

»Lieber Junge, das Glück bekommt erst Wert, wenn es auch unsere Kreise anerkennen. Onkel Herbert ist an solcher Geschichte zugrunde gegangen.«

Walter war aufgestanden, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr fest in die Augen: »Mama – weißt du, wessen Kind Elsbeth ist? Onkel Herberts!«

Die Frau Hauptmann hatte sich ungestüm befreit, war aufgestanden. Ihr ganzes Wesen war eisige Ablehnung. »Komm mir doch nicht mit so 'was!« Und dann lachte sie bitter. »Also zu allem auch noch ein uneheliches Kind! Ich glaube, die Verrückte hat dich angesteckt – wie soll denn so etwas möglich sein?«

»Wenn du zuhören willst?«

Er konnte ihre Augen nicht sehen, während er sprach, denn sie hatte den Kopf in die Hand gestützt, blickte zu Boden, auf die kahle, weißgescheuerte Diele, wo die Sonnenkringel tanzten.

»So, nun weißt du alles!«

Er blickte, als sie jetzt den Kopf hob, in ein von Gram entstelltes Gesicht. »Ich weiß nur, daß diese Liaison dein Unglück ist! In so jungen Jahren kann man sich nicht für ein ganzes Leben binden. Diese Verquickung mit dem Schicksal Onkel Herberts ist ja wie ein Fluch auf dir! Ich hab's geahnt, ich hab' dich gewarnt, du hast nicht gehört – hast das Mädchen, das du so liebst, nicht in Ehren gehalten – schwere Schuld auf dich geladen, für die du nun büßen mußt!«

»Mama – glaubst auch du denn, daß ich Elsbeth verführt? Geküßt haben wir uns – aber sie ist so unschuldig weggegangen, wie sie gekommen ist. Ich hätte alles von ihr gefordert, wenn es nur eine Liebschaft oder, wie du sagst – eine Liaison – wäre. Aber das ist es nicht – ist es nicht!«

»Du bist ein leidenschaftlicher, unbeherrschter Mensch und wenn sie zu dir gekommen ist?«

»Sie konnte es tun, weil sie meiner sicher war. Ach, Mama – daß du mir nicht glaubst! Es entfremdet dich mir!«

»Erinnere dich: Du hast selbst gesagt, Naturgesetze sind stärker als Moralgesetze, es war in der Konditorei – an deinem Geburtstag!«

»Ja, da kam Elsbeth das erstemal zu mir, auf mein flehentliches Bitten, hatte mir Rosen mitgebracht. Wir hätten uns vergessen können, denn wir waren in süßem Taumel –«

»Genierst du dich nicht vor deiner Mutter?«

»Ich soll mich meiner schönsten Empfindungen schämen? Ach, Mama, ich habe vor ihr gekniet und sie angebetet! Ja, und ihr wundervolles blondes Haar habe ich gelöst, um meinen Hals geschlungen, so waren wir vereinigt. Das ist das Geheimnis jenes Abends, nie wieder haben wir es gewagt, denn wir hatten selber die Gefahr erkannt. Wäre mir das alles nicht so heilig – ja, Mama – heilig, anders kann ich es gar nicht nennen, würde ich davon zu dir gar nicht zu sprechen wagen.«

Ein Weilchen war es still – nach diesem erregten Ausbruch. Dann fragte die Mutter: »Wann – wann hat sie dir das von ihrer Geburt erzählt?«

»Du meinst, wann sie mich mit dieser schlau ausgedachten Lüge zu fesseln gesucht hat? Sie hat es selber erst jetzt erfahren, als die Mutter das Geheimnis preisgeben mußte.«

Eine Glocke ertönte im Hause, die Mittagsstunde war da. Die Frau Hauptmann sah unruhig auf ihre Uhr, die sie an einem schwarzen Samtband aus dem Kleide zog. »Schon so spät – ja, Walter ...«

»Ich weiß, Mama, du mußt pünktlich sein. Ich halte dich auch nicht auf – gehe schon, aber leider ohne Ergebnis.«

»Ich will nur dein Glück!«

»Das wollte Herr Kienitz für Elsbeth auch – als er sie mit dem Rohrstock blutig schlug!«

»Ich muß doch sehr bitten – –«

»Verzeih, Mama!«

»Nein – diese Gehässigkeit verrät ja, wie du jetzt zu deiner Mutter stehst! Ich erwarte von dir, daß du mit dieser Geschichte ein Ende machst – und zwar für immer! Denke an deine Zukunft, sei ein Mann, häng dir nicht einen Mühlstein um den Hals. Ein Mädchen, das sich zu solchen Sachen hergibt, heiratet man nicht. Löst du jetzt nicht das Verhältnis, nehme ich an, daß du mich vorhin belogen und daß du – –«

»Sprich nicht weiter! Wie hab' ich mich nach einer Mutter gesehnt, die mit mir mitfühlt – solch eine aber wie du – –« Er schwieg.

»Gott verzeih dir diese Sünde«, sagte die Frau Hauptmann, ging hinaus, ohne ihn weiter zu beachten.

Auf dem Rückweg, an der Potsdamer Brücke, hörte Walter plötzlich seinen Namen rufen.

»Eschwege – uhu – Eschwege!«

Es war Volkmar. »Morjen – Donnerwetter, haben wir uns lange nicht gesehen!«

In aufrichtiger Freude schüttelten sie sich die Hände – musterten sich wie nach einer langen Reise.

»Ja – gewiß, Schuld hab' ich! Das verflixte Examen, aber jetzt kannst du mir gratulieren, es ist überstanden! Ich war ja schon kein Mensch mehr, so hab' ich gebüffelt. Komm – ich lade dich ein – zu einem Frühschoppen!«

»Eigentlich muß ich – ich werde erwartet!«

»Von der Kleinen? Weiberknecht!«

»Es ist nicht meine Kleine, sondern meine Braut!«

Volkmar sah ihn erstaunt an. »Nanu – seit wann bist du verlobt? Und mir keine Anzeige? Gemein – aber du uzt mich wohl bloß?«

Als er Walter anblickte, änderte er sofort den Ton. »Also meine herzlichsten Glückwünsche« – er schüttelte ihm die Hand, faßte ihn unterm Arm. »Komm, Eschwege – setzen wir uns hier 'rein!« Er wies auf den Biergarten Am Karlsbad. »Sprechen wir uns mal wieder aus, wie früher, ich glaube, wir haben uns genug zu erzählen!«

Der Kellner hatte das Bier gebracht. Sie saßen ganz allein unter den alten Bäumen des Gartens. Überwunden von der Herzlichkeit Volkmars, selbst erfaßt von dem Drange, sich aussprechen zu können, hatte Walter berichtet – offen und ehrlich.

»Donnerwetter, ist das eine verflixte Geschichte« – sagte Volkmar jetzt. »Heiliger Bimmbamm – bist du da in eine Patsche geraten. Nimm's mir nicht übel, Eschwege, ich spreche so, wie du zu mir sprechen müßtest, wenn ich an deiner Stelle wäre. Entschuldige die Frage – aber kannst du nicht irgendwie den Rückzug antreten? Denn, offen gestanden, ich bin der Ansicht deiner Mutter. Die Sache ist zu verfrüht. Du kannst doch nicht auf Herrn Sandbohms hundertfünfzig Mark hin heiraten. Jedenfalls den Bruch mit der Mutter mußt du wieder leimen – du hast sie doch zu lieb und würdest es sicher über kurz oder lang bereuen. Nee, Eschwege, du hast dich eklig verrannt!«

»Fertig?« fragte Walter. »Also, sprechen wir von was anderem!«

»Nee, du kannst mich nicht so abtun! Ich zediere dir ja gern, daß du ein heißblütiger Mensch bist und die Geschichte aus deinem Naturell ansiehst. Aber, wenn du mir nun das Vertrauen geschenkt hast, und ich danke dir dafür, willst du doch auch ein objektives Urteil hören.«

Walter lachte höhnisch auf. »Volkmar – wahrhaftig, du könntest mein Großvater sein! Du denkst und sprichst wie ein Greis, aber nicht wie ein Junger. Offenbar weißt du nicht, was es heißt, das Glück unserer Jahre gefunden zu haben – das höchste Glück!«

»Schön, aber dieses Glück soll doch fürs ganze Leben vorhalten, nicht bloß für die zwanziger Jahre!«

»Ich lebe immer in der Gegenwart – das Alter hat andere Glücksmöglichkeiten, die Liebe ist ihm dann nicht mehr alles! Deshalb hab' ich zu jeder Zeit meines Lebens etwas gehabt.«

»Bin ich älter als du? Hab' ich schon was versäumt? Jetzt, nach dem Examen, werde auch ich meine Ansprüche der Jugend geltend machen!«

»Sprechen wir doch beide nicht so hochtrabend, dein Vater hört ja nicht zu! Nee, Volkmar, ich kenne das bei dir – mit deiner Vorsicht und Klugheit wirst du dich vor der großen Liebe wie vor einer Gefahr hüten! Auch jetzt käme sie ja viel zu früh für dich! Ehe du nicht ein auskömmliches Amt als Regierungsbaumeister hast, wirst du nicht ans Heiraten denken. Und so werden wieder ein paar deiner schönsten Jahre hingehen und du dein Leben weiter verplempern! Im besten Fall mit einer lautemperierten Liebelei – wahrscheinlich; aber, indem du abends das Karree Steinmetz- und Alvenslebenstraße abläufst!«

»Wenn du so von mir denkst! Bis jetzt hab' ich doch aber Recht behalten, denn statt glücklich, fühlst du dich doch heute hundeelend. Darum nehme ich's dir auch nicht übel, daß du eben so ausfallend wurdest –«

»Es tut mir leid! Aber – sieh doch mal, Volkmar: Ich setze für meine Liebe etwas ein – etwas, nein doch – alles! Weil ich vor dem größten Erlebnis meines Daseins stehe!«

»Eschwege – du sagtest doch eben selbst, wir sollten nicht pathetisch werden!«

»Aber hier muß ich, Volkmar! Diese Entscheidung dreht sich um – aber, lassen wir's – lassen wir's!«

»Und wie willst du – diese Pathetik führt doch zum Traualtar! Und dann – von der Pathetik könnt ihr doch nicht existieren! Früher, wenn einer nach der Kneiperei nicht zahlen konnte, sagte er: ›Pecunia causa!‹«

»Ja – das ist ja die Tragik, die Unsicherheit unserer Existenz in den besten Jahren!«

»Damit gibst du mir zu, was ich vorhin schon sagte. Und weil es so ist, mußt du dich fügen, Eschwege!«

 

Als Walter heimkam, steckte Verzingetorix den Kopf aus der Portierluke. »Pßt! Herr von Eschwege – es war einer hier, der nach Sie jefragt hat!«

»Sie sagen das ja so – so geheimnisvoll!«

»Ich jlaube, es war ein Jeheimer! Er wollte mir aushorchen, ob Sie 'ne Braut haben und ob die bei Sie wohnt. Ich hab' mir dumm jestellt und da sagte er, er würde noch mal wiederkommen!« »Schicken Sie ihn nur rauf zu mir!«

»Schön – ja, und bleiben Sie denn nu wohnen? Denn sonst muß ich heute den Zettel raushängen – hat die Vietzsche gesagt.«

»Ich sage Ihnen nachher noch Bescheid!«

Walter war noch nicht lange in seiner Stube, als mit hartem Knöchel an seine Tür gepocht wurde.

Ein schäbig aussehender Mensch stand da – in der Hand einen knotigen Spazierstock.

»Sind Sie der Leutnant a. D. Walter von Eschwege?«

»Sie haben die Ehre mit ihm!«

»Freut mir – freut mir unjemein, denn ich warte schon seit Uhre achte auf Ihnen! Aber Sie haben woll noch 'ne andere Bleibe, denn von hier sind Sie heute früh doch nich weggegangen. Na – nu wollen Sie aber woll wissen, mit wem Sie die Ehre haben – darf ich mir erlauben?« Er klappte seinen Rock zurück und zeigte eine auf das Futter genähte Blechmarke.

Walter las nur das Wort »Kriminalpolizei«. Da er hörte, daß sich im oberen Stockwerk eine Tür öffnete und das Geländer knackte, machte er eine einladende Handbewegung.

Der Schäbige sah sich zuerst einmal prüfend in der Stube um. »Es ist Anzeige gegen Ihnen erstattet worden wegen Entführung einer Minderwertigen – ich meine natürlich Minderjährigen.«

»Sie scheinen einen Kümmel zuviel getrunken zu haben!«

»Wenn man so lange wartet, muß man mal einen jenehmigen. Ihre Wirtin hat mir ja ooch 'n Jläsken vorgesetzt, weil ich so verschmachtet war. Ich soll« – er nahm plötzlich Haltung an – »in die bewußte Angelegenheit rescherschieren – verstehen Sie? Na ja – hier in die Stube is das Meechen nich, davon hab' ich mir heute früh schon überzogen, als ich hier 'n bißken baldowerte. Wo haben Sie ihr also verstochen – sagen Se's man jleich, Herr Leutnant a. D. und Stud. jur. – vielleichte jeht dann alles janz jlatt ab!«

»Wer hat die Anzeige erstattet?«

»Weeß ich – wahrscheinlich doch der Vater! Also – wo ist die Kleene?«

»Ist der Kommissar jetzt auf dem Revier?«

»Jewiß doch!«

»Dann kommen Sie – wir gehen zusammen hin. Mit Ihnen verhandle ich nicht weiter!«

»Ach so – so also wollen Sie! Na – um so besser – also los! Ich hätte Ihnen sowieso um Ihre werte Bejleitung jebeten!«

»Halten Sie den Mund – verstanden!« Das war Walters Offiziersstimme. Ganz verdattert sah ihn der Schäbige an.

Kopfschüttelnd und mitleidig blickte ihnen Verzingetorix nach, als sie beide das Haus verließen.

Die Vernehmung vor dem Kommissar verlief in anderen Formen – sehr höflich, sehr zuvorkommend.

»Sie geben also an, Herr Sekondeleutnant, daß Fräulein Agnes Louise Elsbeth Kienitz von ihrem Vater, dem Museumsbeamten Wilhelm Kienitz, in schwerster Weise körperlich mißhandelt und durch Verstoßung aus der elterlichen Wohnung obdachlos gemacht worden ist. Um die pp. Kienitz vor einem Selbstmord zu bewahren, den sie zu begehen offenbar die Absicht hatte, haben Sie – der Endunterzeichnete, die in einem krankhaften Zustand Befindliche zu einer Ihnen bekannten Dame und deren Bruder, dem Villenbesitzer Albert Sandbohm am sogenannten Priesterweg, Grenzmark Wilmersdorf-Charlottenburg, in Obhut gebracht und am nächsten Tag sofort die Mutter des Mädchens von dem Aufenthalt ihrer Tochter verständigt. Die als vermißt Gemeldete und später als entführt Bezeichnete befindet sich noch heute dort in ärztlicher Behandlung. Die Mutter hat ihre Tochter dort besucht und ist mit dem Wohnungswechsel einverstanden. Die polizeiliche Anmeldung der Zugezogenen wird erfolgen. Der Vater der pp. Kienitz hat Ihnen erklärt, daß seine Tochter für ihn nicht existiert, was gleichbleibend damit ist, daß er die weitere Unterhaltspflicht der Minderjährigen ablehnt, wie Sie aus der Unterredung mit ihm festgestellt haben, nachdem Sie einen vergeblichen Versöhnungsversuch gemacht haben.«

»So – da hätten wir wohl alles«, sagte der Herr Kommissar sehr befriedigt. »Nur noch die Unterschrift, Herr Leutnant.«

Walter setzte seinen Namen unter das Schriftstück.

»Danke sehr! Darf ich fragen: Vielleicht ein Sohn des Herrn Hauptmanns von Eschwege? Sehr erfreut, war ein Hauptmann – streng, aber gerecht! Ja – und der Kriminalschutzmann Birkholz bekommt jehörig eins reinjewürgt – ich zweifle nicht an der Berechtigung Ihrer Beschwerde. Hier, auf diesem Außenposten an der Grenze von Schöneberg, muß ich mich leider mit Hilfskräften begnügen, so gut ich kann. Laufen mir die Verbrecher über den Nollendorfplatz, sind sie in Sicherheit, da drüben ist Schöneberg oder Charlottenburg, da können meine Leute nicht nach, müssen bei der Verfolgung stehen bleiben denn da ist der Gendarm zuständig – janz verflixte Jejend hier, da muß ich mit dem, was man mir gibt, schon zufrieden sein. Aber nichtsdestotrotz – nischt für unjut – empfehle mich, Herr Leutnant!«

Und während Walter hinausging, hörte er den Kommissar mit Unteroffiziersstimme rufen: »Birkholz, reinkommen!«

 

Am andern Morgen erschien ein Gendarm vor der einsamen Villa – schon von weitem war seine blinkende Helmspitze im Wiesengrün zu sehen gewesen. Nun stand er vor Albert wegen der großen Hitze in weißen Hosen, sonst aber sehr bedrohlich in seiner blitzblanken Aufmachung.

»Kommen Sie etwa bei mir, Marquardt?«

»Bei Ihnen, Herr Sandbohm – und sojar dienstlich!«

»Na, was haben Sie denn Schönes?«

Aus seiner ledernen Tasche, die vorn zwischen den Uniformknöpfen gesteckt hatte., holte er ein Aktenpapier heraus, entfaltete es.

»Also – ja ...« er suchte eine bestimmte Stelle. »Ja – hier! Also von Berlin kommt die Anfrage, ob bei Sie jetzt ein junges Mädchen – warten Sie 'mal ...« er sah wieder auf das Papier – »ein junges Mädchen namens Agnes Louise Elsbeth Kienast – nee, Kienitz zujezogen ist?«

»Ob sie alle die Vornamen hat, weiß ich nicht – Kienitz – das stimmt und Elsbeth auch! Jawoll doch, das stimmt!«

»Seit wie lange?«

Der Gendarm notierte auch diese Antwort. »Warum haben Sie ihr noch nicht angemeldet?«

»Marquardt – tun Sie sich nich dicke! Das jeht Sie 'n Dreck an, verstanden? Schreiben Sie auf: Wegen die jroße Hitze.« Albert faßte in seine Joppentasche, holte eine seiner dicken Zigarren heraus und hielt sie dem Gendarm hin.

»Danke, aber ich darf nicht, Herr Sandbohm, ich bin im Dienst!«

»Quatsch, was haben Sie sich denn so, wer sieht uns denn hier?«

»Nachher, Herr Sandbohm, wenn Sie jestatten! Aber nu muß ich mir noch durch den Augenschein von die Anwesenheit von das Mädchen überzeugen!«

»Sie sind woll plemplem!« sagte Albert ärgerlich.

»Ich muß, Herr Sandbohm, Dienstvorschrift!«

»Na – sie ist mit Rieke im Garten – wir können ja mal durchgehen. Aber Sie wissen doch – was meine Schwester ist, die leidet an Jrünkoller. Und das junge Mädchen hat eben das Nervenfieber überstanden, die dürfen Sie auch nicht erschrecken – kommen Sie!« Albert ging voran, der Gendarm hinterher.

»Nanu – was soll denn das?« rief Rieke, die – mit Elsbeth – gerade dabei war, Erdbeeren zu pflücken.

»Nischt! Marquardt will bloß auf die andere Seite rüber wollte wissen, ob bei uns auch Obstdiebe jewesen sind. In die Villa Schulenburg haben sie das janze Spalierobst jeklaut!«

Eine kleine Tür führte aus dem Hintergarten wieder auf das Wiesengelände hinaus.

»Na – haben Sie ihr jesehen?«

»Die kenne ich ja« – sagte der Gendarm und nahm die hingehaltene Zigarre. »Ich erlaube mir, danke Herr Sandbohm! Ja – die kenne ich, die hab' ich oft mit'n jungen Mann hier auf die Wiesen jesehen. Na – nu haben Sie ihr auf jenommen vorläufig?«

»Was meinen Sie denn mit vorläufig?«

»Ach – Sie wissen jar nich? Die soll doch nu in Zwangserziehung kommen – in 'ne Besserungsanstalt!«

»Was is los?«

»Ach, ich dachte, Sie wüßten! Denn will ich nischt jesagt haben, machen Sie mir also keine Späne, Herr Sandbohm – warten Sie man erst ruhig ab!«

»Ja – was denn Besserungsanstalt?« fragte Albert, noch immer ganz fassungslos.

»Der Vater hat Antrag gestellt – die Tochter treibt sich rum is in schlechte Jesellschaft jeraten. Mir kam das ja schon dunnemals höchst verdächtig vor, als ich ihr mit dem Jüngeling ins Jras liegen sah – in die Düsterheit! Na – aber, Herr Sandbohm, ich muß jetzt weiter. Wenn Sie mir also das nächste Mal kommen sehen, dann wissen Sie, daß ich ihr hole. Hoffentlich verduftet sie nich schon vorher – mit'n paar silberne Löffel. Sie sollten da 'n bißken mißtrauischer sein, Herr Sandbohm, auch Ihre Schwester, und in Ihre Jutmütigkeit nich all' und jeden aufnehmen. Undank is der Welt Lohn, hab' ich schon in die Schule jelernt!«

Es waren – für alle – merkwürdige Tage, die nun kamen. »Da is was im Gange«, hatte Albert zu seiner Dohle gesagt, und in dieser Empfindung lebten auch Rieke und Elsbeth, ohne zu wissen, warum ihnen manchmal jetzt so seltsam-bang ums Herz war. Auch sie fühlten, daß etwas in der Luft schwebte, obwohl Albert nicht die geringste Andeutung gemacht, weshalb der Grünrock dagewesen, selbst zu Walter nicht, der doch jeden Tag gekommen war.

Über Rieke war auch nach den ersten aufgeregten Tagen etwas wie Erschlaffung gekommen, sie hatte wieder viel Wunderliches in ihrem Wesen, und man hörte sie oft, besonders in den Dämmerstunden, oben in ihrer Stube laut sprechen oder jammern.

Elsbeth aber, die nun endlich zu Kräften gekommen, wurde von innerer Unruhe zerrissen. Was sollte denn jetzt werden? Diese Zuflucht hier, das war doch nur ein Übergang, eine Rettung für den Augenblick. Aber nun weiter – weiter! Sie konnte doch nicht hier sitzen und – in Gemeinschaft mit diesen beiden alten, wunderlichen Menschen – ins Blaue dahinleben! Hier, in dieser grünen Einsamkeit, in dieser Sommerherrlichheit, bei diesen Menschen, für die die Zeit gleichsam stillstand, verträumte man ja die Tage wie im Märchenland – aber da hinten war doch die große Stadt, waren die Mutter, die Geschwister ... Sie begriff, daß sie seit jenem entsetzlichen Sonntagnachmittag, da sie alles hinter sich zurückgelassen, wie verzaubert gewesen – aber nun war doch der Bann wieder gewichen. Und auch viel romantischer Glanz war verblichen. Walter, der »hohe Herr«, der so aristokratisch-erhaben und sicher durch's Leben ging, hatte sich nach seinen eignen, freimütigen Geständnissen, als entgleister Offizier, als mittelloser Student offenbart, der von der Gnade dieser »Eisrieke« lebte, da ihm die Mutter die Unterstützung entzogen. Jeden Tag, wenn es der »Verrückten« in den Sinn kam, konnte das unter der Bezeichnung »Stipendium« gewährte Almosen unterbleiben. Und dann, offenbar rechnete die Mutter damit, stand er vor dem Nichts. Aus Besorgnis vor solch einer Wendung hatte er ja nicht einmal gewagt, einen Wohnungswechsel vorzunehmen, so verhaßt ihm auch das weitere Zusammenleben mit den Hausgenossen war, die ihm ihre feindselige Gesinnung nicht verbargen.

Die Fenster in der einsamen Villa waren weit geöffnet, die Abendluft blähte die Gardinen, eine Goldammer sang ihr spätes Liedchen in dem Lindenwipfel.

Albert saß, etwas bedrückt, schon auf seinem gewohnten Platz am Tisch, wo für das Abendbrot bereits gedeckt war, und sprach halblaut mit seiner Dohle. Rieke, ihm gegenüber, war in feierlichem Weiß, hatte große, starre Augen, die sich jetzt belebten, als Elsbeth und Walter, von Minna gerufen, in das Eßzimmer traten.

»Eßt erst eure Besingsuppe«, sagte sie – »nachher jeb ich euch 'ne Zitronenscheibe, da werden die blauen Zähne wieder weiß.«

Sie selbst aß kaum, starrte – wieder in sich versunken – in das Gold des Abendhimmels ...

»Hat's jeschmeckt?« fragte sie dann mütterlich. »Na, nu jiebt's noch Aal mit Jurkensalat!«

Minna trug das Gericht schon auf – räumte die Suppenteller ab.

Auch den Aal, so appetitlich er aussah, ließ Rieke unberührt, nur von den großen Ananas-Erdbeeren, die der Garten geliefert, aß sie selbstvergessen, nachdem sie jede einzelne Frucht dick mit Zucker bestreut hatte.

Sie blieb stumm, zwischen den andern schleppte sich eine mühsame Unterhaltung über Belanglosigkeiten hin.

»Was ist dir heute, Tante Riekchen?« fragte Walter plötzlich.

»Mir?« sie sah ihn lange an. »Ach Jott «, sagte sie wehmütig – »ein Jedenktag ist heute, da jeht mir so mancherlei durch den Kopp. Und dann habe ich woll auch 'n bißken zuviel Sonne jekriegt und hab' Koppschmerzen. Am besten, ich jehe rauf und lege mir lang. Minna soll mir ein paar Jurken schälen – sonne kühlen Streifen auf die Stirne ziehen den Schmerz raus. Aber, Kinderkins, laßt euch bloß nich stören – das täte mir leid ...«

Sie hatte sich erhoben – fuhr Elsbeth liebevoll übers Haar und reichte Walter die Hand. »Es jiebt Tage, da kann man nich so, wie man jerne möchte – ju'n Nacht!«

Als sie hinaus war, sagte Albert: »Richtig doch – ich hatte es janz verjessen. Heute is ja, wo sie dunnemals aus die Mäsong kam! An den Tag zieht sie sich immer ihr Weißes an – jiebt's Besingsuppe und Aal jrün mit Jurkensalat – wie damals. An den Tag kriegt sie immer Kopp- und ich Bauchschmerzen. Sonst haben wir dann immer noch 'ne Bowle jetrunken – aber die muß anjesetzt werden, und das dauert zu lange. Aber ich werde 'ne jute Pulle Wein aufmachen – in vino veritas! Suum cuique. Nich – nee? Na – dann himmelt euch beide an – ich hole mir jedenfalls was rauf und setz mir mit in die Laube! Ehe du jehst, Walter«, auf Riekes Vorschlag hatten sie Brüderschaft getrunken, »ja, ehe du jehst, sag's mir aber – ich möchte dir noch ein Stücksken bejleiten!«

»Der hat was in Petto«, sagte Walter. »Und du, Elsbeth, bist auch so sonderbar!«

»Ach – Walter! Mir ist das Herz so schwer – ich fürchte immer, daß neues Unglück kommt!«

»Das sind Nachwirkungen!«

»Nein, Nein! Aber – ich will's dir jetzt doch lieber sagen. Mutter hat mir einen Brief nachgeschickt – einen Brief von deiner Mama! Walter – ich bin dein Unglück!«

»Das steht wohl in dem Brief?«

»Hier – lies doch selbst!« Sie holte ein zerknittertes Schreiben aus der Rocktasche, hielt es ihm hin. Er trat, da es in der Stube schon zu dunkel war, ans Fenster und las:

»Mein Fräulein!

Ich kenne Sie nur aus den Schilderungen meines Sohnes Walter und weiß, daß Sie tiefen Eindruck auf sein leichtempfängliches Herz gemacht haben. Gäbe der liebe Gott, daß ich der Wahl meines Einzigen freudig zustimmen könnte – aber ich vermag es nicht, denn ich weiß aus seiner ganzen Veranlagung, daß ihm aus einer zu frühen Bindung nur Unglück erwächst. Ja, wenn er in gesicherter Lebensposition wäre, aber er ist doch leider erst im Übergangsstadium, um überhaupt einen neuen Beruf ergreifen zu können.

Fühlen Sie es nicht selbst, daß ich als Mutter die Beziehungen zu Ihnen, auch in Ihrem Interesse selbst, aufs schärfste mißbilligen muß, daß diese Liebe für beide Teile Unglück bedeutet? Erinnern Sie sich doch des Bibelwortes, dessen Schluß lautet: »Aber der Mutter Fluch reißt sie nieder!« Hier ist aber nicht mal der Segen des Vaters, denn der Ihrige ist ebenfalls gegen diese Beziehungen, weil auch sein Herz die Gefahr für Sie erkannt hat. Wenn ich, was ich nach diesem Brief aber für unmöglich halte, zu der Überzeugung kommen muß, daß Sie mich wirklich von meinem Sohn trennen wollen, wird sich erfüllen, was der fromme Spruch besagt.

Schon jetzt fällt es mir schwer, nicht feindlich an Sie zu denken – geben Sie mir daher einen Beweis Ihres guten und edlen Herzens, indem Sie sich nicht länger zwischen Mutter und Sohn stellen. Sie müssen, sonst würde Sie Walter gewiß nicht lieben, viele gute Eigenschaften haben – es wird Ihnen daher nicht allzu schwer werden, auch mich davon zu überzeugen. Wirken Sie auf meinen Sohn, der in bösem Trotz von mir gegangen ist, ein, daß er den Weg zu meinem Herzen wieder zurückfindet.

Sie sind beide noch zu jung, um einen Lebensbund schließen zu können, haben noch keine Prüfungen überstanden, ob sich diese Liebe auch im Unglück bewähren würde, und so müssen Sie und mein Sohn sich erst einmal erproben, wie fest diese Neigung auch in den Stürmen des Lebens ist und ...«

Walter las nicht weiter, zerriß den Brief in kleine Stücke und ließ sie, zum Fenster hinausgestreut, vom Abendwind verwehen.

»Stürme des Lebens – ach Gott, wie sich das anhört – als ob wir geborgen im Paradiese säßen!«

In der Abendstille – die Goldammer war längst verstummt – hörte man nur die Grillen hecheln und in der Ferne den Chorgesang der Frösche. Der Vollmond stand am Himmel, aus den feuchten Wiesen stieg ein weißer Dunst auf.

»Was soll ich deiner Mutter antworten?«

»Nichts! Damit sie glücklich ist, sollst du dein Glück aufgeben und mich unglücklich machen!«

»Aber – du liebst doch deine Mutter.«

»Ich erbittere mich immer mehr gegen sie!«

»Aber du kannst sie meinetwegen nicht verlieren!«

»Ich verlier' sie auch nicht, zwinge sie nur dazu, eine gute Mutter zu werden!«

»Daß sie zulassen soll, was vielleicht dein Unglück ist, wer kann es wissen! Du hast den Brief nicht zu Ende gelesen, es stand noch etwas darin! Würdest du ehrlich antworten, wenn ich dich auch etwas fragte, was dir vielleicht sehr peinlich ist?«

»Bitte, aber es gibt keine peinlichen Fragen, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen!«

»Hast du vor mir kein anderes Mädchen geliebt?«

»Doch – viele sogar!«

»Und – hat dir eine mehr gegeben, als ich es gewagt?«

»Sie wollten mich alle – restlos glücklich machen!«

»Und warum hast du dich von allen, du sagtest so – getrennt?«

»Weil ich sie nicht so geliebt habe, um mich nicht von ihnen trennen zu können!«

»Und von mir glaubst du dich nicht trennen zu können, auch wenn ...«

»Aber – Elsbeth! Was ist denn mit dir?«

»Sag doch! Oder sage wenigstens, wenn auch ich dich – restlos glücklich zu machen versuchte – würde es dann ebenso sein wie bei allen andern?«

»Ich antworte nicht mehr! Du treibst Selbstzerfleischung, Elsbeth!«

»Das heißt also Ja! Und du fürchtest dich! Ich aber nicht – nun will ich Gewißheit haben!«

»Die Gewißheit wirst du erhalten, wenn wir vor dem Altar gestanden haben. Elsbeth, glaubst du denn wirklich, daß du meiner Mutter wegen –«

Er sprach nicht weiter vor Traurigkeit, sah sie an. Das Zimmer war nun vom Vollmondlicht erhellt, ihr Gesicht deutlich erkennbar.

Als sie antwortete, schien sie eine ganz andere, so hart klang es: »Was kümmert mich deine Mutter! Meinetwegen will ich Gewißheit haben! Wenn wir vor dem Altar gestanden – ach, wann kann das sein! – käme die Gewißheit für mich zu spät! Und auch für dich, denn dann wärst auch du schon unglücklich!«

»Also – wieder meinetwegen!«

»Und meinetwegen! Denn was du mir vorhin gestanden hast – ja, bist du anders als er – dein Verwandter?«

»Vorsicht, da kommt jemand!«

Es war Albert. »Jottedoch, ihr sitzt ja hier wie Jespenster im Mondschein! Kommt doch raus, ich hab' 'n juten Troppen!«

»Nein, ich bin nun auch zu müde, ich gehe schlafen!« sagte Elsbeth.

»So is das nu mit die holde Weiblichkeit! Wenn die Natur am schönsten is, liegt sie und schnarcht!«

Walter griff nach Elsbeths Hand, aber als er den Arm um sie legen wollte, fühlte er Widerstand.

Sofort gab er sie frei. »Gute Nacht, Elsbeth!«

»Gute Nacht!«

Auf der Veranda fragte Albert, während er die Gläser vollgoß: »Wat hat sie denn? Ihr habt euch woll jekabbelt? Janz jut aber, daß wir nu alleine sind, da brauch ich nich mitzustiebeln und kann dir jleich hier das Bewußte erzählen. Aber erst wollen wir doch mal trinken, prösterkin!«

Und dann berichtete er von dem Besuch des Gendarmen.

»Zwangserziehung – Besserungsanstalt? Dieser Kerl! An mich wagt er sich nicht heran – nur durch Geheime und Gendarme, aber er wird wieder auf Granit beißen, wie bei der Kriminalpolizei, dafür sorge ich!«

Für die Kinder hatte Frau Kienitz Rindfleisch mit Rosinensauce gemacht – es war ihr und der Jungen Leibgericht. Für ihren Mann, dem sich die Rosinenkerne immer in den hohlen Zahn festsetzten, bereitete sie jetzt extra eine Schnittlauchsauce.

Sie blickte nach dem Regulator in der Guten Stube, in alter Gewohnheit noch, schüttelte dann aber, ärgerlich über sich selbst, den Kopf: Die Uhr ging ja nicht – seit dem Sonntag, da Elsbeth das Haus verlassen, hatte sie Herr Kienitz nicht mehr aufgezogen, und niemand anders als er durfte sich mit dem Regulator, der so schweres Geld gekostet hatte, zu schaffen machen.

»Wie spät is denn?« rief sie in die andere Stube, wo der Junge bei seinen Schularbeiten saß. Auf dem Wäscheschrank dort tickte der Wecker, Ernst blickte auf und gab Bescheid. »Hast noch massenhaft Zeit, Mutter«, setzte er hinzu, »erst in 'ner Stunde kann Vater kommen!«

»Bring mir mal seinen Fes raus – zum Abbürsten! Und du kannst es bezeugen, daß ich's getan – wenn er etwa wieder schimpfen sollte!«

»Mutter, wo ist er denn? Ich find ihn ja nicht!«

»Junge, weißte! Manchmal biste ...!« Ärgerlich ging Frau Kienitz in die Stube, blickte nach der Schrankecke, wo die rote Türkenmütze sonst hing – aber sie war nicht da. »Nanu – wo kann sie denn sein?« Auch das Abtasten auf dem Schrank erwies sich als vergeblich.

»Ist denn alles verhext hier! Das gibt doch wieder einen Mordskrach, wenn das Ding nicht da ist! Laß jetzt alles, helf mir mal den Schrank abrücken!«

»Ich muß doch Schularbeiten machen«, jammerte der Junge, ging der Mutter aber schon zur Hand. Nur ein vertrockneter Apfel und eine leere Garnrolle kamen zum Vorschein – kein Türkenfes.

»Hab' ich denn das Ding schon in der Hand gehabt?« Frau Kienitz lief verzweifelt von einer Stube in die andere. »Na, das kann ja wieder schön werden, ach, ich sag' schon, ich sag' schon! Vielleicht hat's Vater selber verschleppt, er ist doch jetzt immer so komisch! Am Ende hat er ihn auch eingeschlossen, damit er nicht verstaubt!«

»Mutter – wir haben morgen Diktat – hier, in der Stube ist doch der Fes nicht! Vielleicht hat ihn Trude verschleppt!«

Doch das kleine Mädchen war bei einer Freundin in der Nachbarschaft, man hätte es erst holen müssen, und Ernst war von seiner Arbeit nicht fortzubekommen.

Da klingelte es plötzlich – draußen, an der Entreetür. »Das is Trude, sie soll doch nicht klingeln, man kriegt immer 'n Schreck. Aber das Mädel lernt's nich – bluß gut, daß sie kommt! Bleib sitzen, ich mach schon auf!«

Als Frau Kienitz die Tür geöffnet, prallte sie unwillkürlich zurück – statt der kleinen Tochter stand ein großer, unbekannter Mann da.

»Frau Kienitz selbst? Ja – ju'n Tag! Ich bin ein Kollege Ihres Mannes aus'm Museum. Ich hab' Ihnen was zu bestellen, Frau Kienitz. Ihr Mann – na ja – wie soll ich sagen – Ihr Mann is plötzlich krank jeworden – janz plötzlich!«

Es war ihr, als sinke sie tiefer und immer tiefer – und doch hatte sie noch so viel Kraft, um die Tür zur Guten Stube zu öffnen und den Fremden eintreten zu lassen.

»Er ist wohl« – sie hielt sich das schlotternde Kinn fest – »is er tot?«

»Nee – tot is er nich jrade! Wir haben ihn mit 'ner Droschke erster Klasse nach die Charité jebracht – ja! Janz plötzlich ist es so jekommen, ja!«

»Aber wie denn?«

»Ihnen kann ich's ja sagen, Frau Kienitz, aber die Kollegen hab' ich's 'n bißken anders erzählt. Von wegen die Pension verstehen Sie? Da hab' ich also jesagt, er ist ausjejlitten – mit'n Kopp jejen einen Jipsabjuß jefallen, hat ihn bei zertöppert! Aber es war anders, janz anders! Doch ich hab' mir ja noch janich vorjestellt, Sauer heiß ich – Alfred Sauer. Ich kenne Kienitzen vons Militär her – wir beide haben zusammen jedient und sind auch zusammen mit'n Versorgungsschein abjejangen – ja, sind wir!«

Herrn Sauers Blicke gingen in der Stube umher und taxierten die Einrichtung, die offenbar auch der in seiner Guten Stube entsprach, nur daß er ein Klavier hatte, während es bei Kienitz fehlte, obwohl dort, wo der Stuhl stand, ein guter Klavierplatz war.

»Ist er denn?«

»Sie haben ihn dabehalten – is kein jutes Zeichen!«

»Aber wie?«

»Janz auf einmal! Wir hatten beide Dienst in die Säle nebeneinander. Ich stand da und er da, kein Mensch zu sehen, bloß vorher noch 'n paar junge Meechens. Was nu Kienitz is – der ärgerte sich immer, wenn sich sonne jungen Dinger die nackten Amors bekieken. ›So fängt's an‹ – hat er mal früher zu mir jesagt, und dann laufen sie später nachts in die Friedrichstraße. Na, der Saal war nu wieder janz leer, und ich nehme jrade 'ne Priese. Da denk ich – nanu, denk ich, was macht denn Kienitz? Also – Ihr Mann hat sich 'n roten Türkenfes uffjesetzt, und nu knöppt er sich die Weste auf und zieht aus das Hosenbein einen Rohrstock – sonnen richtjen jelben Onkel, wie ihn die Lehrer haben. Ich denk noch bei mir: ›Nanu – was is denn bloß mit Kienitz los‹ – da rennt er auch schon auf sonnen Amor los, schmeißt ihn vons Sockel und haut mit den jelben Onkel auf ihn los, als wenn er einen tollen Hund vor sich hätte. Ehe ich ihn noch zu fassen kriegen kann, hat er ihn schon kurz und klein geschlagen! Und auf einmal stolpert er und fällt mit's Jesicht in die Kreidestücke, und da liegt er und rührt sich nicht.«

Herr Sauer sah mitleidig auf die schluchzende Frau und den an der Tür stehenden Jungen. »Ja, so war das! Na zuerst hab' ich die Türkenmütze und den Rohrstock hintern Fenstervorhang versteckt und dann erst Alarm jeschlagen. Aber da kamen sie auch schon von alle Seiten, sie hatten ja das Krachen jehört. Jut man bloß, daß nich zu ville Publikum bei war. Dann haben wir Kienitzen auf 'ne Bank jesetzt, und ich hab' erzählt, daß er schwindlig geworden und hinjefallen ist – mit'n Kopp jejen! An die Stirn hatte er sich 'n bißken blutig geschlagen ja! Er war nu ooch bei Besinnung, kiekte uns alle an, antwortete aber auf keine Frage. Weil er so komisch war, meinte Kollege Abel, daß er vielleicht 'ne Jehirnerschütterung jekriegt hätte. Da haben wir ihn also in 'ne Droschke gepackt, und dann haben Lüdicke und ich ihn nach die Charité jebracht, ja! Und dann hab' ich's aus alter Freundschaft übernommen, Ihnen, Frau Kienitz, zu benachrichtigen. Ja – es passieren manchmal komische Sachen in die Weltjeschichte – ich für mein Teil denk mir, daß er ...«

Herr Sauer tippte sich an die Stirn. »Sowas kommt manchmal janz plötzlich und is dann ebenso plötzlich wieder weg.«

»Kann ich denn zu ihm?«

»Ja – ich hab' da ins Büro jesagt, daß Sie wohl kommen werden! Na, nu wissen Sie also Bescheid, und nu will ich man nach Hause machen, meine Olle wird ja nich wissen, wo ich heute bleibe. Ich wohne ja janz entgegengesetzt, beim Stettiner Bahnhof. Jrämen Se sich nich so, hat ja keinen Zweck nich, was sein soll, soll sein, ändern läßt sich da nischt! Früher oder später – mal kommt's bei jeden!« – –

Herr Sauer war gegangen, Frau Kienitz und Ernst saßen in der Küche.

»Mutter, soll ich nach der Charité, ich weiß, wo es ist!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe selber – und du mußt hierbleiben – wegen Truden. Ich schneid auch noch Stullen fürs Abendbrot, denn es kann vielleicht spät werden, ehe ich zurückkomme. Wartet nicht auf mich, geht wie immer schlafen!«

 

Ahnungslos, was sich ereignet, saßen Walter und Elsbeth an diesem Abend in der Laube. Wie in der letzten Zeit stets, herrschte auch heute eine schwermütige Stimmung zwischen beiden.

Jeden Abend waren jetzt Gewitter heraufgezogen. In der Ferne sah man es lange vorher schon wetterleuchten, hoffte immer, es würde nicht heraufkommen, aber dann grollte es plötzlich ganz in der Nähe, und die ersten, schweren Regentropfen fielen.

Als es heute zu tröpfeln begann – gelinde, als wollte ein langanhaltender Landregen einsetzen – gingen Walter und Elsbeth ins Haus, auf die Veranda, wo Albert und Rieke saßen.

»Hat's nich eben jeblitzt? Na – ja – nu donnert's auch – dann jeh ich lieberst ins Bett, da is man am sichersten. Meine Mutter hat mir immer von die Müllersfrau aus Schöneberg erzählt, die sich bei ein schweres Jewitter mit die Bibel ans offene Fenster jesetzt hatte. Bums – schlug's in – tot war sie. Nee, ins Bette is man am sichersten, es darf bloß kein eisernes sein!«

»Ich hab' eins«, sagte Albert – »ein Feldbett, wie der olle Kaiser. Bloß essen soll man nich bei's Jewitter, das kann der Blitz nich leiden!«

»Na – heute haben wir ja schon gegessen – hat's dir denn jeschmeckt, Elsbeth? Du ißt mir nich jenug, sonst müßtest du schon janz anders aussehen – hier in die schöne, frische Luft. – Riecht mal, wie die Erde riecht! Nee – aber ich leg mir jetzt. Sitzt man auch nicht wieder so lange. Da – habt ihr jesehen das war 'n Blitz, das hat janz in die Nähe einjeschlagen – ju'n Nacht, Kinderkins!«

Auch Albert verzog sich, als nun der Wind begann, stieg aber erst noch in den Keller und holte sich eine dickbauchige Flasche.

»Wenn der Regen nachher bloß nicht wieder so lange dauert«, sagte Walter, »vorgestern bin ich bis auf die Haut naß geworden, als ich nach Hause ging – und mit einem Schirm ich kann mich nicht an so ein Gestell gewöhnen!«

Elsbeth starrte in den Aufruhr der Natur, denn nun setzte das Gewitter mit aller Macht ein. Der Regen prasselte, die Baumkronen rauschten im Sturme. Von Minute zu Minute wurde das dunkle Zimmer, in dem sie jetzt saßen, grell erhellt durch die Blitze, denen das Knattern des Donners unmittelbar folgte!

Elsbeth hielt sich die Hände vors Gesicht. »Ich fürchte mich doch! Wenn's nun hier einschlägt? Das Haus steht so einsam wie eine Mühle.« Es klang sehr verzagt.

»Aber ist es nicht ganz wundervoll«, sagte er, sie an sich ziehend. »Ach einmal auch so ungehemmt sein können! Einmal!« Er küßte sie.

Engumschlungen saßen sie da – schweigend.

»Wo klirrt bloß immerfort das Fenster?« fragte er dann.

»In meiner Stube wohl – ich hab's offenstehen lassen. Ich traue mich jetzt aber nicht rüber, ich höre es auch schon immerfort, es wird Tante Riekchen stören, sie schläft doch nebenan.«

Als gleich darauf der Fensterflügel krachend anschlug, erhob sich Walter, »Ehe es entzwei geht ...«

»Du findest dich im Dunkeln nicht zurecht, ich gehe schon!«

Sie gingen beide. Saßen dann, wie vorher im Eßzimmer, in Elsbeths Stube, sprachen nicht, küßten sich nur.

Das jähe grelle Blitzlicht, das die Stube so seltsam erleuchtete, wurde endlich seltener, der Donner klang ferner, aber der Regen trommelte in gleichmäßiger Heftigkeit auf das Verandadach.

Walter hatte das Fenster wieder geöffnet. Ein wundervoller Duft von nassem Blättergrün wehte kühl herein.

»Wenn es jetzt nur aufhören wollte ...«

Elsbeth antwortete nicht.

Im Hause schlug eine Uhr. Walter zählte mit. »Schon elf!« sagte er.

Ein zartes Violett färbte die Stube, die ersten Vogelstimmen wurden vernehmbar.

»Ich hab's gewollt«, sagte Elsbeth, »ich werde nicht jammern, was nun auch wird!«

»Aber deine stumme Verzweiflung zerstört doch alles!«

»Bist du denn jetzt glücklich, restlos?«

»Elsbeth!«

»Ich weiß, daß du mich jetzt verachtest – und ich verachte mich selbst. Aber, ich wollte es, daß es so kommt!«

Ungestüm machte sie sich frei, als er sie an sich ziehen wollte.

»Nein, laß! Ich wollte dir geben, was ich dir geben kann, um dich glücklich zu machen, denn du hast mich durch deine Liebe so glücklich gemacht. Aber ich bin dein Unglück, ja ich weiß es! Du mußt dich frei von mir machen können – und jetzt kannst du es. Und jetzt ist alles vorbei – –«

Sie wich von ihm ans offene Fenster zurück. »Alles ist aus, geh, geh, wenn du es jetzt noch nicht weißt, dann morgen. Du hast deinen Beruf – deine Mutter! Ein Mädchen wie ich – geh!« schrie sie.

»Elsbeth – laß uns doch ruhig miteinander sprechen«, bat er.

Sie reichte ihm die Hand. »Walter, ich bin schuld – ich wollte es – schon lange. Du weißt nicht, was mein Vater gegen mich vorhat, hab's nur aus einem Gespräch von Albert mit Tante Riekchen erraten, sie wußten nicht, daß ich's mit anhörte.«

Während sie sprach, starrte Elsbeth in das fahle Morgengrau, das über den Wiesen lag. Jetzt deutete sie plötzlich auf eine Gestalt, die eilig näherkam.

»Das ist doch – ja, um Gottes willen, das ist doch meine Mutter! Um diese Zeit, da ist doch was Schlimmes passiert, oder der Gendarm kommt mich gleich holen – versteck dich – sie darf dich nicht sehen!«

Schon war sie bei der Tür, lief die Treppe hinunter, durch den Garten – der Mutter entgegen.

Fest umschlungen standen dann die beiden draußen, als müßten sie sich gegenseitig Halt geben.


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